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Wibke Hartewig

Traumberuf Tänzer

Ausbildung, Einstieg, Praxis

Henschel

www.henschel-verlag.de

www.seemann-henschel.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89487-744-6

© 2013 by Henschel Verlag in der Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar.

Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Lektorat: Sabine Bayerl

Umschlaggestaltung: Ingo Scheffler, Berlin

Titelfoto: Elisa Carrillo Cabrera, Erste Solotänzerin des Staatsballett Berlin, in »Showtime« (Ch. Eric Gauthier), Gala zur Spielzeiteröffnung 2010/11. © Enrico Nawrath

Inhalt

Vorwort

I Tänzer werden – Tänzer sein

Tanzen – ein weites Feld

»Die Liebe zum Ballett hat mir niemand nehmen können« – Maria-Helena Buckley

»Mich hat die Radikalität gereizt« – Alexandra Marschner

»Eine ästhetische Lücke füllen« – Adrian Navarro

»Die ganze Zeit in Bewegung sein« – Julek Kreutzer

»Unbedingt selbstkritisch bleiben« – Ramon A. John

II Die Tanzausbildung

Standortbestimmung: Aktuelle Entwicklungen der Tanzausbildung

Die Vielfalt gelehrter Techniken

Körperbewusstsein, Körperwissen

Verbindung von Theorie und Praxis

Der selbstbewusste, kreative Tänzer

Ausbildung als Vorbereitung auf den Beruf

Besonderheiten der Vorausbildung

Tanzausbildungsstätten

Die Wahl der passenden Schule

Unterschiede zwischen staatlichen und privaten Ausbildungsstätten

Inhalte der Vollzeitausbildung

Die Aufnahmeprüfung

Ablauf

Aufnahmekriterien

Stimmen aus der Praxis

Ausbildung aus dem Blick der Tanzmedizin: Interview mit Liane Simmel

Erfahrungen aus dem Ausbildungsalltag

III Der Sprung ins Berufsleben

Berufswelten

Der Berufsmarkt: Stellen, Strukturen, Entwicklungstendenzen

Arbeitsbereiche, Arbeitsformen

Im Job – Stimmen

Unterstützung beim Berufseinstieg: Juniorkompanien & Co.

Auditions

Ablauf

Auswahlkriterien

Vorbereitungsmöglichkeiten

Jobvermittlung und Agenten

Netzwerke(n)

Soziale Absicherung

Nach der Tanzkarriere: Transition und alternative Berufe

Zu guter Letzt

Anhang

Staatliche Tanzausbildungsstätten im deutschsprachigen Raum

Private Tanzausbildungsstätten im deutschsprachigen Raum

Europäische Tanzausbildungsstätten

Musicalausbildungsstätten im deutschsprachigen Raum

Workshops, Fort- und Weiterbildungen

Wettbewerbe, Preise

Festivals, Tanzplattformen

Tanzzentren, Spielstätten, Kompanien

Agenturen, Management

Jobbörsen und Audition-Infos

Fördermöglichkeiten: Projekt-/Basisförderung, Stipendien, Residenzen

Soziale Absicherung

Berufsverbände und Tanzorganisationen

Tanzarchive im deutschsprachigen Raum

Tanz-Portale

Fachzeitschriften

Literatur

Anmerkungen

Dank

Die Autorin

Vorwort

Wie werde ich Tänzerin oder Tänzer? Wann sollte ich mit der Ausbildung beginnen? Welche Bewegungserfahrung muss ich für ein Tanzstudium mitbringen? Welche Schule ist die richtige für mich? Wie bestehe ich die Aufnahmeprüfung? Wie sieht der Berufsmarkt aus? In welchen Bereichen kann ich als Tänzer* arbeiten? Was kann ich verdienen? Wie schaffe ich den Berufseinstieg? Wie läuft eine Audition ab? Tanzhochschulen und -institutionen werden mit derartigen Fragen überhäuft, in Internetforen werden sie leidenschaftlich diskutiert. Nicht selten jedoch bleiben sie auch unausgesprochen oder kursieren nur im Kreise derer, die im Geheimen oder offen von einer Tanzkarriere auf den Bühnen der Welt träumen.

Diesen Fragen nachzugehen und die Suche nach individuell gültigen Antworten zu unterstützen, ist Ziel des vorliegenden Handbuchs. Es wendet sich an alle, die Informationen zum Beruf des Tänzers suchen: an Tanzbegeisterte, die mit dem Gedanken spielen, ihr Hobby zum Beruf zu machen, an Tanzschüler und fertig ausgebildete Tänzer, die sich in Bezug auf ihre weitere Ausbildung, den Berufseinstieg und Berufsalltag informieren und (neu) orientieren wollen, aber auch an Eltern und Förderer, die ihren Kindern oder jungen Talenten zur Seite stehen möchten.

Um das vielfältige Berufsfeld ›Bühnentanz‹ aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und hinter die Kulissen von Ausbildungsstätten, Veranstaltern und Entscheidungsträgern zu blicken, habe ich Tänzer und Tanzstudierende, Schulleiter und Tanzpädagogen, Choreographen und Theaterleiter interviewt und ihr persönliches Wissen mit Informationen aus eigenen Recherchen zusammengeführt. So ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das wichtige Aspekte der Tanzausbildung und des Berufsalltags aufgreift und dazu anregen möchte, sich weiter mit diesen Themen auseinanderzusetzen und Angebote der Ausbilder und Arbeitgeber kritisch zu hinterfragen.

Das Buch konzentriert sich auf den Beruf des ›Bühnentänzers‹ bzw. der ›Bühnentänzerin‹ und klammert damit sowohl den Gesellschaftstanz als auch den Tanzsport aus, die jeweils eigenen Regeln und Zielen folgen. Im vorliegenden Band wird Tanz sowohl als Kunstform in den Blick genommen als auch als Profession, mit der ein Tänzer einen relevanten Teil seines Lebensunterhalts verdient – und zwar mit Tanzauftritten vor Publikum, nicht durch Tanzunterricht oder andere tanznahe Tätigkeiten. Der Begriff ›Bühne‹ ist dagegen in weiterem Sinne zu verstehen: als Auftrittsort in einem Theater ebenso wie in anderen öffentlichen und privaten Räumen oder an einem Film- und Fernseh-Set. Bühnentänzer können unterschiedlichste Tanzarten praktizieren: sei es Ballett oder zeitgenössischen Tanz, Jazz oder Hip-Hop, um nur einige wenige zu nennen.

Im Mittelpunkt der Ausführungen stehen die Tanzszene und -ausbildung in Deutschland (bzw. im deutschsprachigen Raum). Zwar sind Tänzer beruflich stark international ausgerichtet und überschreiten immer wieder Landesgrenzen, doch Ausbildungslandschaft und Berufsmarkt sind abhängig von der nationalen Kulturförderung, den nationalen Bildungs- und Sozialsystemen und daher von Land zu Land verschieden. Der Fokus auf Deutschland ermöglicht einen Blick auf die Details und die inneren Zusammenhänge dieser spezifischen Tanzszene. Viele Aspekte sind jedoch übertragbar, insbesondere auf andere europäische Länder; zudem besitzen viele Informationen und Hinweise etwa zur Wahl der Schule, zu tanzmedizinischen Themen, Auditions und Networking länderübergreifende Gültigkeit.

I. Tänzer werden – Tänzer sein

Tanzen – ein weites Feld

»Es gibt tausend Arten von Tanz, tausend Arten von Tänzern und tausend Arten von Produktionen«, stellt die Tänzerin Etoile Chaville mit Blick auf die professionelle Tanzlandschaft fest. Und formuliert damit, warum es ein geradezu aussichtsloses Unterfangen darstellt, den Beruf ›Tänzer/Tänzerin‹ mit seinen Aufgaben, Voraussetzungen und der dazugehörigen Ausbildung eindeutig zu definieren. Tanz hat heutzutage derart viele Facetten, dass detaillierte Beschreibungen höchstens für konkrete Tanztechniken oder Stile einzelner Choreographen gelingen.

Bis in die späten 1980er-Jahre hinein (und in manchen Broschüren der Agentur für Arbeit leider noch heute) wurde Bühnentanz an deutschen Theatern mit Ballett gleichgesetzt. Alle anderen Tanzformen waren ein »aus der Reihe Tanzen«, wie es ein Berufskundebuch aus dieser Zeit in seiner Kapitelüberschrift zu modernem Tanz, Tanztheater, Musical und dem experimentellen Tanz der entstehenden freien Szene formuliert. Das hat sich mittlerweile geändert: Unterschiedliche Tanztechniken und Arbeitsweisen haben Einzug in die Theater und die Tanzausbildung gehalten, die Gattungen sind vielfältiger und durchlässiger geworden.

Mit professionellem Tanzen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten ist im deutschsprachigen Raum zunächst einmal an den öffentlich subventionierten Stadt- und Staatstheatern möglich, die neben (neo)klassischem und zeitgenössischem Ballett – das dort nach wie vor fast überall als Trainingsbasis dient – zunehmend auch modernen und zeitgenössischen Tanz sowie Tanztheater zeigen. Daneben existiert die freie Szene mit ihren freien Kompanien, Einzelkünstlern und Projekten, die sich mit Hilfe von öffentlichen Fördertöpfen, privaten Sponsoren und Unternehmern, Koproduktionsnetzwerken, Auftritten und Gastspielen finanziert. Hier lassen sich alle denkbaren Tanzformen finden: vom hochvirtuosen modernen und zeitgenössischen Tanz über experimentelle Performance-Formate hin zu den vielfältigen Ethno-Tanz- und Street-Dance-Arten. Bezahlte Jobs für Tänzer mit Hintergrund im Jazz, Hip-Hop, Show-, Musical-, Stepp- oder Gesellschaftstanz bietet besonders der privatwirtschaftliche Sektor: sei es auf privaten Bühnen, bei Galaveranstaltungen und Shows, in der Musik- und Eventbranche, auf Kreuzfahrtschiffen, in Diskotheken, in der Werbung oder im Fernsehen.

Die Tanzlandschaft lebt vom kontinuierlichen Technik-Mix: nicht nur von der Vielfalt nebeneinander bestehender Techniken, sondern auch von deren Verschmelzung. Mal werden einzelne Elemente zur Weiterentwicklung des eigenen Stils aufgegriffen, mal prallen Techniken aufeinander: So vermischen sich etwa Jazz und Kampfsport, afrikanischer Tanz und Modern Dance, Kontaktimprovisation und Tango oder Breakdance und Ballett. Auch sind die Grenzen zu anderen Künsten durchlässig, und Improvisationstechniken aus den Bereichen Schauspiel und Physical Theatre, Gesang, Sprache usw. werden in den Tanz integriert.

Wer heute Tänzer werden möchte, tut gut daran, verschiedene Techniken zu erproben und sich aus der Fülle der Möglichkeiten das auszusuchen, was zu seinen körperlichen Voraussetzungen, seinen Bewegungsvorlieben und ästhetischen Idealen passt. Denn jede Technik verlangt unterschiedliche Bewegungsqualitäten, die dem einen mehr, dem anderen weniger liegen: Fühle ich mich wohl, wenn ich möglichst lange in der Luft schwebe, oder ziehe ich meine Energie aus dem Boden, mag ich harte, gebrochene Bewegungen oder lieber weiche, ineinanderfließende?

Darüber hinaus ist jede Art von Tanz in eine eigene ›Tanzkultur‹ eingebettet, mit der sich der angehende Tänzer identifizieren können sollte. Dazu gehören die jeweilige Ästhetik und das darin transportierte Körperbild, der musikalische Rahmen, das zugrunde liegende Konzept und dessen historische, gesellschaftliche und politische Dimensionen, aber auch das jeweilige Publikum und die entsprechenden Aufführungsorte. Den Zuschauer im Opernhaus, den Besucher des trendigen Clubs und das beim Battle mitfiebernde Break-Community-Mitglied trennen in vielerlei Hinsicht Welten.

Ebenso vielfältig und individuell wie das weite Feld ›Tanz‹ sind auch Werdegang und Berufsalltag von Tänzern. Daher wäre es verfehlt, den einen ›richtigen‹, erfolgversprechenden Weg in den Beruf nachzeichnen zu wollen oder allgemeingültige Fakten eines ›typischen‹ Tänzeralltags aufzulisten. Um dennoch einen Eindruck von diesem Beruf zu vermitteln, werden im Folgenden fünf verschiedene Karrieren geschildert. Sie beruhen auf Gesprächen mit angehenden, aktiven und ehemaligen Tänzerinnen und Tänzern unterschiedlicher Sparten. Da gibt es zum einen die ehemalige Solotänzerin einer großen Ballettkompanie, die die Veränderung der klassischen Szene in den letzten Jahren hautnah erfährt; dann die Ballettschülerin, für die Tanz zwar alles bedeutet, die ihn aber aus guten Gründen trotzdem nicht zum Beruf macht. Es folgt die Erzählung eines Tänzers, der in zwei Welten zu Hause ist: Zunächst tanzte er in klassischen Kompanien, bevor er in die freie zeitgenössische Szene wechselte. Danach erhält eine Tanzstudentin das Wort, die nach langer Aufnahmeprüfungstournee mit ihrer zeitgenössischen Ausbildung in die freie, experimentelle Szene strebt, und schließlich der frisch engagierte Tänzer einer mittelgroßen, modernen Stadttheaterkompanie, der weiterhin auf der Suche nach dem passenden Weg ist. Die Beispiele sind repräsentativ, und es werden darin Merkmale des Tänzerdaseins angesprochen, die auch von anderen Gesprächspartnern dieses Buches erwähnt wurden. Sie geben Einblick in die unterschiedlichen Sparten, in denen der Großteil der Tänzer im deutschsprachigen Raum professionell unterwegs ist.

»Die Liebe zum Ballett hat mir niemand nehmen können« – Maria-Helena Buckley

»Ballett ist wie eine Religion für die, die es ernsthaft machen.« Dass Kunst eine zentrale Rolle in Maria-Helena Buckleys Leben spielt, wird ihr bereits in die Wiege gelegt: Beide Eltern sind Künstler und fördern die Talente ihres Kindes, wo sie können. Weil es ihr an Körperspannung fehlt, schickt der Vater sie zum Ballettunterricht in eine private Akademie um die Ecke mit bestem Ruf. Bald liebt sie das Tanzen, und mit neun Jahren ist es ihr dann schon ernst: Sie hat viel Ballett gesehen, sich von einer ehemaligen Tänzerin des New York City Ballet, bei der sie zwischenzeitlich trainiert hat, begeistern lassen und träumt davon, ebenfalls auf der Bühne zu stehen. Täglich nimmt sie Trainingsstunden und wechselt mit 14 an eine private Ballettschule, wo sie das Glück hat, von einer der großen Primaballerinen ihrer Zeit unterrichtet zu werden, die sich auch als wunderbare Lehrerin erweist.

»Ich lebte in der Illusion der Wichtigkeit dessen, was ich machte, besonders als Kind: Ballett, das war das Heiligste und Schönste, was es auf der Welt gab. Das half auch über Probleme mit meinen Eltern und im Privatleben hinweg. Sogar als ich später am Theater schwierige Zeiten hatte: Die Liebe zum Tanz hat mir niemand nehmen können. Wenn alles schön war, dann war es wirklich schön. Dann gab es nichts, was ich damit vergleichen könnte. Es gibt nichts Schöneres als diesen Beruf.«

Mit 16 trainiert sie in den Winterferien bei der Ballettkompanie der Oper mit und nimmt kurze Zeit später an der Audition für das Corps de Ballet teil – mit Erfolg. Zwar soll sie eigentlich das Abitur machen, doch der Unterricht lässt sich mit dem Engagement nicht vereinbaren, und Buckley bricht die Schule ab. Zwei Wochen nach Antritt steht sie bereits in Schwanensee auf der Bühne. »Als ich angefangen habe, war es viel, viel schöner als geträumt. Später kamen dann die Intrigen, Schmerzen und Eifersüchteleien dazu, die hatte ich so nicht erwartet. Man merkt es erst, wenn es einen selbst betrifft. Aber anfangs war alles ein Traum.«

Für die jungen Eleven wird nachmittags ein Extratraining angeboten, in dem Buckley ganz akribisch Grundlagen lernt. Sie merkt schnell, dass ihre Technik noch nicht perfekt ist. Sie hat Angst vor den schwierigen technischen Stellen: Manchmal klappt es, manchmal nicht, erwartet wird aber, dass es immer 100-prozentig klappt. Zum Glück helfen ihr die Ballerinen der Kompanie bei der Verbesserung ihrer Technik und vervollständigen so ihre Ausbildung.

Mit 18 wechselt sie an ein kleineres Stadttheater, nicht zuletzt weil ihre Hauptmentorin, ihr großes Vorbild, ebenfalls dorthin engagiert wird. Hier lernt sie ihre spätere beste Freundin, eine gleichaltrige Tänzerin, kennen. Allen Vorurteilen vom Konkurrenzkampf in der Ballettwelt zum Trotz gehen die beiden ihren weiteren Berufsweg zusammen, tanzen an den gleichen Häusern und werden etwa zeitgleich befördert; sie unterstützen sich mental – und teilen vor allem ihre Ballettbesessenheit. »Wir waren echte Ballettfanatiker. Die anderen haben uns schon fast belächelt dafür, dass wir uns den ganzen Tag ausschließlich mit Ballett beschäftigten. Abends haben wir Vorstellungen angeguckt, im Theater oder auf Video, und haben gemeinsam getanzt, geübt, viel Spaß gehabt.« Sie kaufen sich jedes Ballettbuch, später auch Bücher zur Anatomie und Physiologie und eignen sich so im Selbststudium Wissen an, mit dem sie bis zu diesem Zeitpunkt noch kaum in Berührung gekommen sind.

Nach zweieinhalb Jahren wechseln beide an die Oper der Großstadt zurück, zunächst mit einem Gruppenvertrag. Es dauert drei weitere Jahre harter Arbeit, bis Buckley zur Solistin ernannt wird, ihre Freundin später sogar zur Ersten Solistin. »In den großen klassischen Kompanien muss man sich in der Hierarchie hocharbeiten. Das war mir immer klar. Deshalb war ich auch nicht wie viele meiner Kollegen geschockt, als ich bei meinem ersten Engagement in die Gruppe gesteckt wurde, obwohl ich doch vorher in der Ausbildung die ganzen Solo-Partien gelernt und meine Primaballerinenträume kultiviert hatte.«

Buckley sieht ihren Solotänzerinnen-Status vor allem als Ergebnis jahrelanger Arbeit an, Dranbleiben und Sich-Durchbeißen ist ihre Devise, und dafür liefert ihr ihre Liebe zum Tanz die nötige Motivation. Außerdem entspricht sie körperlich dem Klischee der klassischen Tänzerin: langer Hals, hübscher Kopf, schöne Füße, Technik, Ausstrahlung. Und sie wird – wie viele ihrer Solo-Kollegen auch – innerhalb der Kompanie entdeckt und gefördert: von einem Gastchoreographen, der sie von Anfang an in seinen Stücken gut besetzt.

Dass sie so viele Jahre bei einer Kompanie bleibt, hat sie nie geplant, lange denkt sie, dies sei nur ein Zwischenstopp. Sie tanzt beispielsweise am American Ballet Theatre vor und bekommt die Chance, dort anzufangen. Da sie zeitgleich ihren zukünftigen Mann in der alten Kompanie kennenlernt, entscheidet sie sich letztlich aus privaten Gründen dagegen. Im Nachhinein bedauert sie es etwas, dass sie mit 30 nicht noch einmal den Sprung gewagt hat und zu einem spannenden Choreographen in eine kleinere Kompanie gewechselt ist:

»Ich war 20 Jahre auf der Bühne, mit Spitzenschuhen, Tutu und Krönchen, war glücklich, hatte eine sehr gute Position und sehr viel Glück. Aber wenn ich sehe, wie die Choreographen mit ihren Leuten arbeiten, vermisse ich das manchmal. In einer kleineren Kompanie zu arbeiten, nicht in dieser großen Hierarchie, und vielleicht individueller, wo es dann auch um mich geht, wo sich ein Choreograph mit mir beschäftigt und mir auch Freiheiten lässt. Hier haben die Gastchoreographen natürlich auch Stücke für die Kompanie gemacht, aber es gab immer schon ein Schema, in das man reinpassen musste. In einer kleineren Kompanie ist man plötzlich wichtig.«

Im Verlauf ihrer Bühnenkarriere kann Buckley beobachten, wie sich gewisse Dinge in den großen Ballettkompanien verändern. So hat sich etwa das Corps de Ballet stark verjüngt; Jugend, hohe Beine und ein schöner Körper scheinen nun in stärkerem Maß ausschlaggebende Kriterien für ein Engagement zu sein. Für Buckley hat sich damit eine Kluft zwischen Gruppe und Solisten, dem ›Dekor‹ und den Rollen aufgetan. Früher bestand durch die Altersdurchmischung im Corps eine Hierarchie, welche die Gruppe zusammenhielt: Die Jüngeren konnten sich von den Älteren etwas abschauen, wurden von ihnen korrigiert und häufig auch getröstet. Das ist nun nicht mehr möglich; dafür ist der Tanz noch sportlicher, athletischer und virtuoser geworden. Außerdem bringen die Berufsanfänger mittlerweile andere Erwartungen mit: Sie möchten schneller etwas erreichen – durchaus verständlich, wenn umgekehrt von ihnen verlangt wird, dass sie als fertige Tänzer an die Bühnen kommen und ihnen auch als Eleven keine Zeit mehr eingeräumt wird, ihre Ausbildung durch Extratraining und allmähliches Sammeln von Bühnenerfahrung zu vervollständigen. Dadurch sei, so Buckleys Eindruck, der Respekt den Älteren gegenüber etwas verloren gegangen. Die Neuen werden in der Regel rascher mit Solopartien betraut, allerdings hoffen sie oft vergeblich auf eine Beförderung, da keine Zeit bleibt, jemanden wirklich aufzubauen. Auch das Rollenstudium findet weniger Raum: »Die Direktoren sehen irgendwo Talent, und auf die Bühne, fertig, los, die wird das schon irgendwann kapieren.«

Der Abschied von der Bühne beginnt für Maria-Helena Buckley schleichend, eine lange Phase des Abbaus. »Plötzlich bekam ich nicht mehr so viele und gute Rollen, obwohl sich bei mir leistungsmäßig nichts verändert hatte. Ich hatte immer geglaubt, dass es reicht, sein Bestes zu geben, gut zu sein. Man muss aber auch politisch korrekt sein, das heißt, viel Zeit vor der Ballettdirektion verbringen und immer wieder nachfragen.« Buckley muss damit zurechtkommen, dass andere ihre Rollen übernehmen, dass sie mit ihren 33 Jahren plötzlich als alt abgestempelt wird, obwohl sie das Gefühl hat, künstlerisch erst richtig in Fahrt zu kommen. »Vorher war alles so anstrengend. Jetzt weiß ich, warum ich das mache, und jetzt darf ich nicht mehr.« Da man nach 15 Jahren Festengagement am selben Haus unkündbar wird und bis zur Rente in einer anderen Position weiterbeschäftigt werden muss, bekommen die meisten Tänzer kurz vorher ihr Kündigungsschreiben – so auch Buckley. Doch darf das laut Gesetz niemals der offizielle Grund der Kündigung sein. »Sie dürfen nicht sagen, warum jemand wirklich gehen muss, also erfinden sie ihre Gründe. Das ganze Negative, das nagt am Selbstbewusstsein. Man zweifelt viel an sich, man muss trotzdem den Mut haben, auf die Bühne zu gehen, aber man wird immer unsicherer.«

Für Buckley ist es eine riesige Enttäuschung zu erleben, wie respektlos die Ballettdirektion sie behandelt. »Du gibst alles, deine Seele, und dann wird dir einfach in einem Brief gesagt: Tschüss, alles Gute für Ihre Zukunft. Kein Gespräch mit dem Intendanten. Man ist nicht darauf vorbereitet, dass man ohne Probleme ersetzbar ist. Es zählt überhaupt nicht, was du geleistet hast. Das ist sehr, sehr schwer.«

Es dauert eine Weile, bis der Schmerz nachlässt. »Man muss sehr aufpassen, dass man nicht verbittert wird. Ich bin froh, dass ich den Leuten von der Direktion mittlerweile wieder normal begegnen kann. Aber das hat eine Zeit gedauert.«

Als Tänzerin sieht Buckley für sich keine Alternativen. Sie will keine halben Sachen machen und hört von einem Tag auf den anderen mit dem Tanzen komplett auf – was dazu führt, dass sich alle alten Verletzungen bemerkbar machen und sie unter starken Schmerzen leidet. Zum Glück hat sie noch während ihrer aktiven Tanzzeit die Kamera entdeckt, die ihr, wie sie im Rückblick sagt, vielleicht das Leben gerettet hat. Heute, zwei Jahre nach Ende ihrer Bühnenkarriere, ist Maria-Helena Buckley in einem neuen Beruf angekommen, in dem sie ihrer großen Leidenschaft Ballett weiterhin treu bleiben kann: als selbstständige Tanzfotografin.

»Die Traumwelt, in der ich damals gelebt habe, hat sich verändert, aber es war ein Traum, ein guter Traum von mir, der zwischendurch auch Alpträume beinhaltete. Das Aufwachen war sehr schmerzhaft, aber es hat mir auch etwas Neues gegeben. Jetzt wo ich draußen bin, kann ich sagen, dass man in dieser Traumwelt auch sehr geschützt ist – trotz aller Probleme und Dramen. Allein in der freien Szene mit drei Berufen, das ist schon eine ganz andere Geschichte.«

»Mich hat die Radikalität gereizt« – Alexandra Marschner

Zuerst ist es der Gruppendruck im Kindergarten, der dafür sorgt, dass die vierjährige Alexandra Marschner »auch so ein Tutu« will. Nach einem Jahr Kinderballett hat sie fürs Erste genug. Das nächste Mal ist es ihre Freundin, die sie mit acht zu einem Ballettkurs beim Turnerbund mitnimmt. Hier fängt Marschner Feuer. Zwischen acht und dreizehn trainiert sie bereits zweimal die Woche. Der Tanzsaal wird ihre Welt, ihr zweites Zuhause.

»Spätestens mit zwölf habe ich aus dem Ballett-Unterricht-Besuchen etwas gemacht, was mit Meditation zu tun hat. Ich wusste damals den Namen nicht, aber dieses ganze Rituelle. Man hatte die und die Stulpen, und man musste das und das Körbchen bereithalten. Allein die Fahrt dahin. Und diese Musik. Die habe ich mir sogar zum Einschlafen angehört. Das hat mich beruhigt, das habe ich einfach gerne gehört. Es hat eine große Rolle gespielt, dass das Tanzen feste Strukturen geschaffen hat. Beim Ballett gab es auch Stress, aber guten.«

Marschner lebt ihren Bewegungsdrang aus, ist ehrgeizig, erweist sich als begabt und bringt es so weit, dass sie mit 13 Jahren mit dem Spitzentanz beginnen darf. Sie liebt die Momente, in denen sie ihren Körper vollkommen beherrscht, in denen sie an ihre Grenzen gehen und über sich hinauswachsen kann. Rückblickend und um einige Erfahrungen in anderen Bewegungskünsten reicher, ist sie sich sicher: »Es war auch die Radikalität, die ich brauchte. Also Kampfsport oder Ballett. Bei etwas anderem schlafe ich ja ein.«

Im folgenden Jahr kugelt sie sich im Training zweimal das Knie aus. Nach dem zweiten Mal geht sie zum Orthopäden, der feststellt, dass die Ränder der Gelenkpfanne zu flach sind. Ihre Mutter bekommt zu hören: Wenn das meine Tochter wäre, würde ich sie nicht mehr ins Ballett lassen. Marschners Mutter überlässt ihrem Kind die Entscheidung: »Du sollst das machen, was du möchtest.«

Alexandra Marschners Vertrauen in ihre Fähigkeiten ist erschüttert. Ihr ist klar, dass der Knieunfall jederzeit wieder passieren und es so mit dem ernsthaften Tanzen nichts werden kann. Vonseiten ihrer Ballettlehrer bekommt sie keine Hilfe angeboten. Sie will dem Schicksal ein Schnippchen schlagen und wechselt mit 14 an eine private Ballettschule, die ihr professioneller erscheint, weil sie streng dem Lehrplan der Royal Academy of Dance folgt. ›Wenn ich wechsle‹, so versucht sie sich zu beruhigen, ›passiert das mit dem Knie nicht mehr.‹

Aber die Schule wird für sie zur großen Enttäuschung: Zwar kann sie sich die Grundlagen noch einmal ganz von vorne erarbeiten, doch variieren die Übungen an der Stange bis zur nächsten Prüfung nie, und sie kommt kaum zum Tanzen. Nach einem Jahr ist ihr die Lust am Ballett vergangen. Sie hört vorerst komplett auf.