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Fußnote


1 Siehe DER BUTLER 4 Die Puppe von Curd Cornelius (BLITZ-Verlag)

SCHATTENCHRONIK – GEGEN TOD UND TEUFEL
Band 1


In dieser Reihe bisher erschienen:

2901 Curd Cornelius Die andere Ebene



Curd Cornelius



DIE ANDERE EBENE





© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Innenillustration: Ralph Kretschmann
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-561-6



Vorwort


Amanda Marbely, eine steinreiche Lady aus London, beerbt ihren überraschend früh verstorbenen Cousin aus Königstein im Taunus. Um das gigantische, jedoch sehr bedeckt gehaltene Firmenimperium des geliebten Verwandten aus Deutschland in Augenschein zu nehmen, übersiedelt die schrullige Lady zunächst ins Siegerland.

Die internationalen Geheimdienste ziehen im Hintergrund bereits ihre Fäden. Das Innenministerium stellt der Lady, die unversehens zur reichsten Frau auf Erden wurde, ihren besten Agenten zur Verfügung. Richard Wallburg. Er wird zum vornehmen Butler mit vielen Talenten und Geheimnissen.

In seiner Eigenschaft als Butler von Lady Marbely tritt Wallburg mit einer amerikanischen Geheimorganisation in Verbindung. Dort hat man sich auf außergewöhnliche Vorfälle spezialisiert. Kämpfe mit monströsen Wesen, verteilt auf der gesamten Welt. Doch von einem Tag zum anderen verschwindet die komplette Organisation. Sie löst sich im wahrsten Sinne des Wortes in Nichts auf. Wenig später meldet sich ein Überlebender bei Richard Wallburg. Robert Linder, der führende Topspezialist der verschwundenen Organisation, hat Unglaubliches zu erzählen.

Mithilfe der steinreichen Lady beginnt der Neuaufbau, um die negativen Mächte auf beiden Ebenen (im Diesseits und im Jenseits) weiter bekämpfen zu können. Weitgehend unabhängig von den bekannten internationalen Geheimdiensten und der Bundesregierung.

Im Team sind bereits tatkräftige Helfer. Mick Bondye und Cassy Benedikt. Ein Voodoo-Vampir und eine Ebenenwechslerin die zuvor für New Scotland Yard gearbeitet haben. Neu rekrutiert werden drei schwedische Agenten ...

(Die genauen Hintergründe zur Schattenchronik-Serie finden sich in der Taschenbuch-Reihe DER BUTLER, die exklusiv in einer Sammler-Edition nur unter www.blitz-verlag.de zu beziehen ist.)



Vergangenheit


Martin hatte sich tief in der Bettdecke vergraben, und als seine Großmutter die Geschichte von der bösen Eisprinzessin beendet hatte und das Buch zuklappte, zuckte er zusammen.

Sie beugte sich zu ihm hinunter und strich über sein hellblondes Haar. „Du musst keine Angst haben, Martin“, sagte sie mit sanfter Stimme. Die kleinen hellen Augen in ihrem gutmütigen, von leichten Falten durchzogenen Gesicht sahen das Kind freundlich an. „Sie wird dir nichts tun.“

„Sie ist grausam, und sie lebt schon viele hundert Jahre auf dieser Welt“, flüsterte Martin und schielte Richtung Fenster. „Ich möchte diese Frau nicht sehen.“

Die Großmutter kniff ihm leicht in die Wange. „Das wirst du auch nicht, mein Junge.“ Sie lachte. „Außerdem ist es nur eine Geschichte.“

„Aber du hast gesagt, dass die Frau gelebt hat. Sie war eine schöne Königstochter, die trotzdem keinen Mann hatte.“

„Sie konnte sich wohl nicht entscheiden. So ist das manchmal im Leben.“

„Dann wurde sie traurig und später böse.“

Die Großmutter zupfte seine Bettdecke zurecht. „Ach, Martin. Das nächste Mal lese ich dir eine lustige Geschichte vor.“

„Und dann ist sie von dem Burgturm gesprungen, weil ihr Herz so kalt wie Eis geworden war. Seitdem kommt sie immer wieder und lässt Menschen und Tiere auch zu Eis werden.“

„Schlaf gut, Martin“, sagte seine Großmutter und löschte das Licht.

Doch Martin brauchte diesmal Zeit, um einzuschlafen. Wenn er seine Augen schloss, sah er die Eisfrau mit den schwarzen Haaren und der leichenblassen Haut. Sie schaute ihn mit bösen Augen an.


*


Als seine Eltern Jahre später einen Hund aus dem Tierheim zu sich holten, um ihm ein neues Heim zu geben, hatte der kleine Martin die böse Eisprinzessin längst wieder vergessen. Begeistert übernahm er die ihm übertragenen Aufgaben, und kümmerte sich mit Hingabe um Drago. So lautete der Name des Mischlings, halb Schäferhund, halb Terrier. Er ging morgens und nachmittags nach der Schule mit ihm spazieren. Abends übernahm das sein Vater, aber nur wenn er als Polizist keine Spätschicht hatte. Dann tat Martin auch diesen Gang, denn seine Mutter hatte mehrere Kurzarbeitsstellen, um die Familie zu unterstützen.

So marschierte Martin auch an diesem Abend mit Drago zum Waldrand. Hund und Mensch verstanden sich blind, eine Leine brauchten beide nicht. Martin erzählte Drago von seinem Tag in der Schule und der Hund spitzte die Ohren. An seinen Augen war zu erkennen, dass er Martin aufmerksam zuhörte.

Es war Mitte Oktober und bereits stockdunkel, als Martin mit Drago die kleine Waldlichtung betrat, die sie täglich aufsuchten. Drago erledigte dort regelmäßig sein Fitnessprogramm. Er spurtete, schlug Haken, bremste ab, raste wieder los. Sprang in alle Richtungen und dehnte sich ausgiebig.

Martin sah ihm dabei zu und wartete geduldig, bis Drago sein Toben beendet hatte. Zufrieden hechelnd kam der Mischling dann jedes Mal zu seinem Freund zurückgetrabt, um sich kraulen zu lassen. Doch diesmal blieb Drago wenige Meter abrupt vor Martin stehen. Der bemerkte die angespannte Haltung seines Tiers, sah die aufgerissenen Augen und das gesträubte Fell. Sofort wusste Martin, dass etwas nicht stimmte. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und leuchtete Drago, aus dessen Kehle ein langgezogenes, tiefes Knurren kam, wie mit einem Spotlight an.

„Was ist mit dir?“ Martin fuhr herum. Doch hinter ihm war nichts. Er drehte sich wieder zu Drago um, der weiter verharrte und knurrte. „Was hast du denn?“

In diesem Moment sprang Drago mit einem langen Satz zu ihm und stellte sich schützend vor Martin. Und nun sah auch der Junge, was sein Tier so aus der Fassung gebracht hatte. Zwischen Sträuchern und Bäumen stand eine Frau, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Sie kam nicht aus seinem Heimatdorf. Die fremde Frau war grässlich bleich, ein beunruhigender Kontrast zu ihren pechschwarzen Haaren und dem dunklen Kleid.

„Wer sind Sie?“, fragte Martin mit fester Stimme, dabei hielt er Drago am Halsband fest. Der Körper des Hundes vibrierte. So hatte Martin das Tier noch nicht erlebt.

Die Frau antwortete nicht, sie starrte nur stumm vor sich hin, und Martin war es, als schwebe sie ihm entgegen. Ihre Gestalt floss durch die Sträucher. Der Mond war wieder hinter einer Wolke verschwunden, alles war in Dunkelheit getaucht, zu erkennen nur das weiße Gesicht der unheimlichen Frau. Martin bemerkte die lodernden Augen, da der Abstand sich immer weiter verringert hatte.

Und dann passierte es. Drago riss sich los und sprang mit einem wilden Wutgebell auf die Gestalt zu.

„Drago!“, schrie Martin, doch sein Hund schien ihn nicht zu hören. Das erste Mal.

Als der Schäferhundmischling die Gestalt fast erreicht hatte, war diese von einer Sekunde zur anderen verschwunden, um zeitgleich, einige Meter entfernt, auf der Waldlichtung wieder zu erscheinen. Drago bremste so abrupt ab, dass er sich fast überschlagen hätte.

Martin registrierte den Standortwechsel der fremden Frau mit Fassungslosigkeit und Entsetzen. Drago hatte mit diesem Phänomen keine Probleme. Augenblicklich änderte er die Richtung und spurtete kraftvoll auf die Lichtung zu.

„Nein! Nein!“ Martin brüllte, bis sein Hals schmerzte, doch vergeblich. Sein treuer Weggefährte rannte wie von Sinnen weiter, stoppte vor der Frau und bellte ununterbrochen, so laut wie es Martin zuvor noch nie von ihm gehört hatte.

Diesmal verschwand die Frau nicht. Aus ihrem Gewand kam ein hellhäutiger Arm hervor. Die langen Finger berührten Drago und augenblicklich erstarb sein Bellen. Kein Jaulen, kein Ton. Nichts. Martin spürte, dass seine Knie zu zittern begannen. Drago wirkte wie versteinert. Sein Fell schien zu erbleichen, im Mondlicht sah er aus wie eine Hundestatue aus Glas.

„Nein!“ Martin liefen Tränen über die Wagen, als er ebenfalls auf die Lichtung hastete.

Die Frau breitete die Arme aus und Drago kippte um. Martin knickte ein, als er sah, dass Drago auf dem Wiesenboden in zwei Teile brach.

„Drago!“ Martin wusste, dass sein Hund gestorben war. Die schwarze Frau hatte ihn getötet.

Und jetzt schwebte sie auf ihn zu.

Martin spürte, wie tiefe Angst seine Kehle zuschnürte. Stocksteif stand er da, unfähig sich zu rühren. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Obwohl es ihm unerklärlich war, dass die Frau sich so schnell bewegen konnte, wusste er, dass Flucht keinen Sinn machte. So blieb er stehen und wartete ebenfalls auf den Tod. Er war erst elf Jahre alt und trotzdem bereit, seinem Freund und Weggefährten zu folgen.

Doch dann passierte etwas, das ebenfalls unglaublich war. Mondlicht beschien die beiden Eisblöcke, die zuvor einmal Drago gewesen waren, und aus ihnen heraus floss eine zweite Gestalt. Wieder eine Frau, doch sie war das genaue Gegenteil der ersten. Sie trug ein weißes Kleid und hatte lange, goldgelbe Haare. Ihr Gesicht war auch nicht bleich und böse. Sie war wunderschön und schaute Martin liebevoll an. „Martin“, sagte die blonde Frau.

„Ja …“, antwortete Martin nur.

„Hab keine Angst.“

„Aber, aber …“, stotterte der Junge. „Drago …“ Er deutete auf die beiden Eisblöcke. „Die Frau hat meinen Hund getötet.“

„Er ist nicht tot, Martin“, antwortete die Frau, die ebenfalls zu schweben schien. „Drago, dein Freund, ist nun ein Teil von mir. Wir werden dich beschützen. Hab keine Angst.“

Martin zitterte, mit aller Kraft versuchte er sich zusammenzureißen.

„Mein Name ist Jalo“, sagte die blonde Frau.

Für einen Moment glaubte Martin die gütigen Augen seiner Großmutter zu erkennen. Sie war vor einiger Zeit verstorben, kurz bevor seine Eltern Drago ein neues Zuhause gaben.

„Die Frau … Die schwarze Frau, Jalo.“

„Sie ist nicht mehr da, Martin. Hab keine Angst mehr. Ich werde immer für dich da sein.“

Martin drehte sich im Kreis. Er war alleine am Waldrand. Schluchzend kniete er sich zu seinem treuen Freund nieder und umarmte dessen Kopf aus Eis. Dann begann er hemmungslos zu weinen.

Drago schmolz langsam unter Martins Tränen.