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Die Autoren

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Seit dem Abschluss des Lehramtsstudiums der Sonder- und Grundschulpädagogik im Jahr 2011 ist Simon Sikora an der Universität Rostock als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation tätig. Er wurde 2017 mit einer Arbeit zur Lernverlaufsdiagnostik im Mathematikunterricht promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Diagnostik, Prävention und Förderung im inklusiven Mathematikunterricht.

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Seit dem Abschluss des Lehramtsstudiums der Sonderpädagogik mit dem Fach Mathematik im Jahr 2010 ist Stefan Voß an der Universität Rostock als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation tätig. Er wurde 2014 mit einer Arbeit zu curriculumbasierten Messverfahren im mathematischen Anfangsunterricht promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im gemeinsamen Mathematikunterricht und in der Verlaufsdiagnostik in schulischen Entwicklungsbereichen.

Simon Sikora, Stefan Voß

Mathematikunterricht in der inklusiven Grundschule

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033840-1

E-Book-Formate:

pdf:    ISBN 978-3-17-033841-8

epub: ISBN 978-3-17-033842-5

mobi: ISBN 978-3-17-033843-2

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Einleitung: Herausforderung Schulische Inklusion
  2. 1.1 Schulische Inklusion als persönliche Herausforderung
  3. 1.2 Schulische Inklusion als inhaltliche Herausforderung
  4. 1.3 Schulische Inklusion als organisatorisch-strukturelle Herausforderung
  5. 1.4 Zum Beitrag des vorliegenden Buches
  6. 2 Mathematiklernen im Grundschulalter
  7. 2.1 Zum Verständnis von Mathematiklernen
  8. 2.2 Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen
  9. 2.3 Die abweichende Entwicklung mathematischer Kompetenzen
  10. 3 Zehn Merkmale eines inklusionsförderlichen Mathematikunterrichts
  11. 3.1 Kompetenzorientierung
  12. 3.2 Adaptive Lehrkraftlenkung
  13. 3.3 Förderrelevante Diagnostik
  14. 3.4 Abstraktionsprozesse unterstützende Darstellungsmittel
  15. 3.5 Adaptive Sozialformen
  16. 3.6 Kommunikations- und Feedbackkultur
  17. 3.7 Strukturiertes Üben
  18. 3.8 Angemessene Differenzierung
  19. 3.9 Reagieren auf Lernschwierigkeiten
  20. 3.10 Talente fördern
  21. 3.11 Zusammenfassung – Ableitung von Handlungsmöglichkeiten
  22. 4 Inklusives Mathematiklernen nach dem Rügener Inklusionsmodell
  23. 4.1 Response to Intervention (RTI) als rahmengebendes Modell einer inklusiven Schule
  24. 4.2 Förderebene I: der Mathematikunterricht
  25. 4.3 Diagnostik bei Schwierigkeiten im mathematischen Lernprozess
  26. 4.4 Förderebene II: der mathematische Förderunterricht
  27. 4.5 Förderebene III: die sonderpädagogische Mathematikförderung
  28. 4.6 Zusammenfassung
  29. 5 Fazit
  30. Literatur

1          Einleitung: Herausforderung Schulische Inklusion

 

 

 

Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Vereinte Nationen, 2006), kurz Behindertenrechtskonvention (BRK), hat in der Bildungspolitik, der Bildungsforschung und auch in der pädagogischen Praxis für hitzige Diskussionen gesorgt. Insbesondere der Artikel 24 stand (und steht) dabei im Mittelpunkt der Debatte. Dort heißt es »Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen«. Mit der Unterzeichnung und der damit verbundenen Anerkennung der BRK als geltendes Recht wird – wie in den anderen Vertragsstaaten auch – in Deutschland ein von Diskriminierung freies Bildungssystem für alle Schülerinnen und Schüler, unabhängig ihrer Beeinträchtigungen, gefordert. Das durch die BRK erklärte Ziel verankert die damit einhergehenden humanitären Grundgedanken noch stärker als bisher im deutschen Bildungssystem. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, jedoch wird die Forderung nach schulischer Inklusion von Lehrkräften häufig berechtigterweise als anspruchsvolle Herausforderung erlebt. Es lassen sich drei Ebenen der Herausforderung für Lehrkräfte unterscheiden: die persönliche, die inhaltliche sowie die strukturelle (image Abb. 1). Diese Ebenen werden nachfolgend differenziert betrachtet.

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Abb. 1: Die Herausforderung schulischer Inklusion für Lehrpersonen

1.1       Schulische Inklusion als persönliche Herausforderung

»Auf den Lehrer kommt es an« (Lipowsky, 2006). Mit diesem einfachen Aussagesatz lässt sich der Stand der empirischen Bildungsforschung gut zusammenfassen. Schließlich stehen viele der positiven Einflussfaktoren auf das schulische Lernen von Kindern und Jugendlichen, wie die Auswahl gelingender Vermittlungsansätze oder unterstützende Tätigkeiten im Lernprozess, in engem Zusammenhang mit der Lehrperson (Hattie, 2013). Aber auch die Einstellung, die Motivation und das Selbstwirksamkeitserleben werden in engen Zusammenhang mit einer erfolgreichen Lehrperson gebracht (Baumert & Kunter, 2006). Insbesondere diese drei zuletzt genannten Aspekte scheinen auch im Reformprozess schulischer Strukturen hin zu einem inklusiven Bildungssystem eine tragende Rolle zu spielen.

Zur Einstellung von Lehrkräften gegenüber inklusiven Bildungskontexten liegt bereits eine breite empirische Datenbasis vor (Avramides & Norwich, 2010; Bosse & Spörer, 2014; Gebhardt et al., 2011; Hellmich & Görel, 2014; Hellmich, Görel & Schwab, 2016; Leipziger, Tretter & Gebhardt, 2012; Sermier Dessemontet, Benoit & Bless, 2011). Auf dieser Grundlage lässt sich konstatieren, dass eine positive Einstellung gegenüber schulischer Inklusion von Lehrkräften durch

•  das Begriffsverständnis von Inklusion,

•  deren Thematisierung in der Aus- sowie in der Fortbildung,

•  die eigenen Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen bzw. die eigene Berufserfahrung im inklusiven Unterricht,

•  den Grad der Behinderung als auch

•  eigene Selbstwirksamkeitsüberzeugungen einer Lehrkraft bestimmt wird.

Die persönliche Einstellung und das damit einhergehende Engagement, Inklusion als Innovationsaufgabe anzunehmen, ist auch von der eigenen Überzeugung bezüglich der Umsetzbarkeit abhängig (Hellmich et al., 2016; Schwarzer & Warner, 2014; Urton, Wilbert & Hennemann, 2015). Diese motivational-volitionalen Faktoren bestimmen insgesamt über die individuelle Innovationsbereitschaft, welche einerseits als Kernkompetenz von Lehrpersonen angesehen wird (KMK, 2004) und andererseits maßgeblich die erfolgreiche Umsetzung in Neuerungsprozessen – wie die Umsetzung schulischer Inklusion – mitbestimmt (Schwarzer & Warner, 2014). Rogers (2003) beschreibt verschiedene Typen von Menschen, die sich hinsichtlich des Zeitpunktes der Beteiligung an Innovationsprozessen unterscheiden (image Abb. 2).

Insbesondere bei umfassenden Neuorientierungsprozessen in Schulen ist die Beteiligung des gesamten Kollegiums von entscheidender Bedeutung. Dabei bleibt zu bedenken, dass der Reformationsprozess hin zu einer inklusiven Schule durchaus als auferlegter Innovationsprozess verstanden werden kann, in welchem sich leicht Widerstände entwickeln können. Diese finden in der Einteilung Rogers (2003) keine Berücksichtigung. Umso bedeutsamer sind das Wirken, die Überzeugungskraft und Ausdauer der »Vorreiterinnen und Vorreiter« und »frühzeitigen Anwenderinnen und Anwender« über eine erste Motivationsphase (Bildung von Handlungsintentionen) hinaus hin zu einer Volitionsphase (Konkretisierung zum aufgabenbezogenen Handeln und Aufrechterhaltung gegenüber Widerständen). Hierbei sind insbesondere Selbstwirksamkeitserwartungen, noch vor den tatsächlichen Fähigkeiten einer Person, von zentraler Bedeutung (Edelstein, 2002; Schwarzer & Warner, 2014). Insofern stellt das Thema Inklusion alle daran Beteiligten vor persönlich zu beantwortende Fragen wie »Welche Einstellung zur Inklusion habe ich?«, »Bin ich bereit, mich für Inklusion in der Schule zu engagieren?« oder »Welche Rolle möchte ich innerhalb des Innovationsprozesses einnehmen?«

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Abb. 2: Unterteilung von Innovationstypen nach Rogers (2003)

1.2       Schulische Inklusion als inhaltliche Herausforderung

Eine weitere wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Lehrperson stellt ihr sogenanntes Professionswissen dar (u. a. Baumert & Kunter, 2006; Borowski et al, 2010). Dabei handelt es sich nicht um ein eindimensionales Konstrukt, vielmehr wird eine komplexe Verbindung verschiedener Wissensbereiche sowie -facetten beschrieben. Mit Shulman (1987) hat sich eine Unterteilung des Professionswissens von Lehrkräften in drei Bereiche etabliert: das Fachwissen (content knowledge), das fachdidaktische Wissen (pedagogical content knowledge) und das pädagogische Wissen (pedagogical knowledge). Diese Einteilung spiegelt sich beispielsweise auch in der aktuellen Ausbildung von Lehrkräften wider.

Das pädagogische Wissen bezieht sich auf allgemeine Aspekte des Unterrichtens (Shulman, 1987), ist also fachunabhängig bzw. vielmehr fachübergreifend von Nutzen. Pädagogisches Wissen erstreckt sich über verschiedene Wissenschaftsdisziplinen, wie der allgemeinen Didaktik, der empirischen Bildungsforschung und der Psychologie. Neben allgemeinen Theorien, etwa wie sich Lernen vollzieht und welche Faktoren eher lernhinderlich oder -förderlich sind, spielen hierbei vor allem Prinzipien der Unterrichts- und Klassenorganisation eine zentrale Rolle (Emmer & Stough, 2001; Helmke, 2017). Effektives Classroom Management führt zu einem insgesamt störungsärmeren Unterricht (Evertson & Weinstein, 2006) und trägt somit dazu bei, die zur Verfügung stehende Lernzeit effektiv zu nutzen. Dadurch wird ein effektiver wie auch effizienter Lehr-Lern-Prozess ermöglicht (Helmke, 2017). Aktuelle Ausführungen zum pädagogischen Wissen schließen darüber hinaus weitere Elemente ein, z. B. Beratungs- und diagnostisches Wissen oder explizite Kenntnisse zum Umgang mit Heterogenität (Baumert & Kunter, 2006; Voss, Kunina-Habenicht, Hoehne & Kunter, 2015).

Fachwissen bezieht sich immer auf einen bestimmten Lernbereich bzw. -gegenstand und stellt somit eine Grundvoraussetzung für erfolgreichen fachbezogenen Unterricht dar (Ball, Hill & Bass, 2005; Shulman, 1987). Für das Fach Mathematik nennen Baumert und Kunter (2006) »akademisches Forschungswissen, ein profundes mathematisches Verständnis der in der Schule unterrichteten Sachverhalte, Beherrschung des Schulstoffes auf einem zum Ende der Schulzeit erreichten Niveau und mathematisches Alltagswissen von Erwachsenen, das auch nach Verlassen der Schule noch präsent ist« (S. 495).

Das fachdidaktische Wissen erstreckt sich nach Baumert und Kunter (2006) von der Ebene der im Unterricht gestellten Aufgaben (Aufgabenschwierigkeit, Sequenz der Aufgaben, Voraussetzungen zur Lösung) über die Ebene der Schülervorstellungen (diagnostische Möglichkeiten, typische Fehler und Strategien) bis hin zur Ebene der Veranschaulichung oder Erklärung (verschiedene Zugänge). So ist das fachdidaktische Wissen als Kombination fachlichen und pädagogischen Wissens anzusehen, welche die Grundlage zur Aufbereitung von Lerninhalten in Abhängigkeit unterschiedlicher Lernvoraussetzungen bilden (Shulman, 1987).

Damit professionelles Wissen von Lehrkräften nicht als träges Wissen endet (Gruber, Mandl & Renkl, 2000), muss es Ziel sein, dieses in professionelles Handeln zu überführen (Baumert & Kunter, 2006). So stellt Wissen eine notwendige Bedingung für Können dar, jedoch wäre es unzureichend, Können als die bloße Anwendung von Wissen zu beschreiben. Damit professionelle Handlungskompetenz entsteht, bedarf es der »Kontextualisierung dieses Wissens auf besondere Fälle« (Neuweg, 2005, S. 206). Dies verlangt einen Abgleich zwischen dem (allgemeingültigen) Wissen und der konkreten pädagogischen Situation, d. h. es muss gefragt werden: »Ist die Situation S ein Fall, in dem es angemessen ist, die Regel R anzuwenden, und wenn ja, wie?« (Ortmann, 2003, S. 34). Als neue inhaltliche bzw. fachliche Herausforderung führt schulische Inklusion zu Fragen wie »Welches weitere Wissen benötige ich, um inklusiv unterrichten zu können?« und »Welche Handlungskompetenzen muss ich entwickeln?«

1.3       Schulische Inklusion als organisatorisch-strukturelle Herausforderung

Zwar werden durch die BRK die Rechte von Menschen mit Behinderungen in besonderem Maße gestärkt, gleichwohl hat der eingangs in Kapitel 1 aufgeführte kurze Auszug seit Ratifizierung jedoch für Furore im schulischen Arbeitsfeld gesorgt. Dies liegt nicht zuletzt an verschiedenen ungeklärten Fragen, die sich auf die Rahmenbedingungen zur erfolgreichen Implementation eines inklusiven Schulsystems beziehen. Zwar wird den Rahmenbedingungen in empirischen Untersuchungen kein oder lediglich ein geringer Effekt auf das schulische Lernen von Kindern und Jugendlichen beigemessen (Hattie, 2013), jedoch ist unstrittig, dass es für erfolgreichen Unterricht gewisser grundlegender Voraussetzungen bedarf. Diese sind in erster Linie systemisch, d. h. schulpolitisch, im Rahmen von Gesetzen und Verordnungen sowie damit verbundenen Mitteln und Zuweisungen, festgelegt, sodass es unterschiedliche Ressourcen und Regelungen innerhalb einzelner Bundesländer, Schulamtsbereiche und Schulen gibt. In diesem definierten Rahmen ist es dann ein schulorganisatorischer Akt, eine erfolgreiche (inklusive) Schule zu realisieren, der primär von der Schulleitung getragen werden muss, letztlich jedoch auch vom Zutun des gesamten Kollegiums abhängt. Dies verlangt ein großes Engagement aller Beteiligten, gegebene Mittel, Strukturen und Ressourcen durch zielgerichtetes Planen, Handeln und Kooperieren effizient zu nutzen. In diesem Zusammenhang sind Verantwortungsbereiche und Aufgaben zu definieren und festzuschreiben. Fragen, die in diesem Zusammenhang zu klären sind, lauten beispielsweise »Welche (neuen) Aufgaben müssen eigentlich übernommen werden?«, »Mit welchen Mitteln können diese Aufgaben eigentlich umgesetzt werden und wo bzw. wie können ggf. zusätzlich notwendige Ressourcen bereitgestellt werden?« oder »Wie fällt der gesetzliche Rahmen aus, in dem sich alle Beteiligten bewegen?«

1.4       Zum Beitrag des vorliegenden Buches

Die zuvor genannten Aspekte verdeutlichen, wie bedeutsam jede Lehrperson für eine gelingende Gestaltung schulischer Inklusion ist. Sie muss als wesentlicher Teil des Reformationsprozesses verstanden werden. In diesem Sinne bedarf es zur gelingenden Realisierung schulischer Inklusion einer Lehrkraft, die

•  dem Konzept der Inklusion in Schule und Gesellschaft und der Verantwortungsübernahme für alle Kinder einer Klasse, unabhängig von individuellen Hintergründen und Dispositionen, positiv gegenübersteht,

•  über ein breites wie auch durchdringungstiefes Wissen hinsichtlich allgemeinpädagogischer, aber auch fachlicher und fachdidaktischer Aspekte verfügt und dies auch im schulischen Alltag anwenden kann,

•  auf beraterisches und diagnostisches Know-how zurückgreifen kann sowie auf Wissen zum Umgang mit Heterogenität,

•  hochmotiviert und engagiert ihren Lehrberuf ausführt und

•  innovationsoffen (aber kritisch reflektiert) und initiativ in Neuerungsprozessen ist.

Dies sind notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzungen erfolgreicher schulischer Inklusion. Geht es um den Umgang mit einer gesteigerten Heterogenität in der Klasse – und damit im Einklang mit der BRK insbesondere auch um die individuelle Förderung von Kindern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen –, ist neben den zuvor genannten Aspekten insbesondere auch sonderpädagogischer Sachverstand notwendig. Dieser ist vor allem durch förderrelevantes Wissen gekennzeichnet, welches präventive mit interventiven Gesichtspunkten kombiniert. Neben einem universellen Wissen über Entwicklungsprozesse, zentrale Meilensteine in der Entwicklung, Einflussfaktoren auf das Lernen und Maßnahmen für einen guten Unterricht ergänzen hier fachliche Kenntnisse über Art und Ausmaß verschiedener Störungen, deren Ursachen und spezifische Handlungsmöglichkeiten die pädagogische Expertise (Hartke & Diehl, 2013).

Mit dem hier vorliegenden Buch werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie einem Teil der Herausforderungen einer inklusiven Schule begegnet werden kann. In erster Linie dient dieses Buch dabei der Wissensvermittlung bzw. -erweiterung (inhaltliche Ebene der Herausforderung, image Kap. 1.2). Allgemeinpädagogische und fachdidaktische Aspekte werden um spezifische sonderpädagogische Gesichtspunkte ergänzt. Damit verbunden ist die Chance, zur positiven Einstellungsänderung gegenüber der Umsetzung beizutragen, denn: Wer über spezifisches Hintergrundwissen zu Problematiken im schulischen Lernprozess verfügt und zudem mögliche Handlungsansätze kennt, wird der Herausforderung schulischer Inklusion mit großer Wahrscheinlichkeit offener gegenüberstehen (persönliche Ebene der Herausforderung, image Kap. 1.1). Schließlich wird am Beispiel des Rügener Inklusionsmodells, ein praktisch erprobtes Konzept zur präventiven und inklusiven Beschulung in der Grundschule (Hartke, 2017; Mahlau et al., 2014; Voß et al., 2016), praxisnah illustriert, wie der organisatorisch-strukturellen Ebene der Herausforderung (image Kap. 1.3) durch festgelegte Strukturen, Verantwortungsbereiche und Handlungsabläufe in der inklusiven Schule begegnet werden kann.

Das Buch ist deshalb wie folgt aufgebaut:

•  Kapitel 2 thematisiert das mathematische Lernen in der Grundschule. Zunächst wird aufgezeigt, wie sich mathematisches Denken und Können von Kindern entwickelt und welche Hürden in diesem Prozess auftreten können (image Kap. 2.1 und image Kap. 2.2). In diesem Zusammenhang wird auch auf das Phänomen der Rechenschwäche eingegangen (image Kap. 2.3) und herausgearbeitet, dass rechenschwache Kinder ähnliche Lernprozesse wie alle Kinder durchlaufen, nur eben etwas langsamer. Der vermehrte Unterstützungsbedarf wird dabei konkretisiert.

•  Im Kapitel 3 werden zehn zentrale Merkmale postuliert und argumentativ vertreten, die einen hochwertigen und inklusionsförderlichen Mathematikunterricht kennzeichnen. Die Merkmale sind als fachspezifische Ergänzung bestehender Forschungsbefunde guten Unterrichts zu verstehen und dienen sowohl der Prävention als auch der Intervention bei mathematischen Lernschwierigkeiten. Im zusammenfassenden Kapitel 3.11 werden konkrete Handlungsempfehlungen aus den in den vorherigen Abschnitten dargestellten theoretischen Überlegungen abgeleitet und Bezüge zu den in Band 1 der Reihe »Handlungsmöglichkeiten Schulische Inklusion« (Hartke, 2017) beschriebenen Handlungsmöglichkeiten hergestellt.

•  Im Kapitel 4 wird eine Möglichkeit zur Umsetzung eines inklusiven Grundschulmathematikunterrichts geschildert. Dabei wird auf langjährige Erfahrungen bei der Konzeption und Evaluation des Rügener Inklusionsmodells zurückgegriffen. Es basiert auf dem US-amerikanischen Response-to-Intervention-Ansatz (RTI), der als ein tragfähiges Konzept angesehen werden kann, auch in Deutschland schulische Inklusion zu realisieren. Dieses Konzept wird einleitend in Kapitel 4.1 vorgestellt. Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass RTI lediglich ein Rahmengerüst für die Umsetzung einer inklusiven Schule darstellt, das sich durch die Kernelemente Mehrebenenprävention, datenbasierte Förderentscheidungen und evidenzbasierte Praxis auszeichnet. Wie diese Kernelemente inhaltlich gefüllt werden und wie sie ineinandergreifen, ist nicht konkret festgelegt, sondern obliegt einer individuellen Ausgestaltung. Somit werden durch die Schilderung des RTI-Ansatzes als Gesamtkonzept zunächst organisatorisch-strukturelle Aspekte benannt, welche in den Abschnitten 4.2 bis 4.5 durch inhaltliche Gesichtspunkte, bezogen auf das Fach Mathematik, exemplarisch konkretisiert werden.

2          Mathematiklernen im Grundschulalter

 

 

2.1       Zum Verständnis von Mathematiklernen

Der Frage, wie Menschen lernen, wird seit jeher nachgegangen. Dementsprechend wurden dazu im Laufe der Zeit verschiedene Theorien entwickelt. Es soll an dieser Stelle nicht um eine umfassende Diskussion der verschiedenen Ansätze gehen, vielmehr ist es Ziel dieses Abschnitts, das gegenwärtige Verständnis des Lernens mathematischer Konzepte aufzuzeigen, da sich daraus wichtige Implikationen für die in diesem Buch dargestellten Überlegungen zur Gestaltung eines inklusiven Mathematikunterrichts in der Grundschule ergeben.

Das Mathematiklernen unterliegt einer grundsätzlichen Schwierigkeit. Entgegen den Gegenständen anderer Naturwissenschaften kann man mathematische Begriffe nicht sehen oder anfassen, ein Zugang muss daher mithilfe von Zeichen, Symbolen, Wörtern oder schematischen Darstellungen geschaffen werden (Duval, 2000). Es stellt sich somit die Frage, wie derart abstrakte Begriffe und Konzepte »in den Kopf gelangen«. »Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Lernen ein aktiver und konstruktiver Prozess ist, der im Wesentlichen vom Kind bzw. vom Lernenden selbst vollzogen werden muss« (Hasemann & Gasteiger, 2014, S. 63). Dem aktuellen Verständnis vom Lernen liegen also kognitivistisch-konstruktivistische Grundannahmen zugrunde (Reusser, 2006), welche die Rolle der Lernenden und ihre Eigenaktivität betonen (Reiss & Hammer, 2013). Auf die Mathematik bezogen formuliert Fischbein: »Mathematik lernen heißt Mathematik konstruieren« (1990, S. 7).

Neue Inhalte werden für Lernende verfügbar, indem sie an bestehende geknüpft werden. Lernen ist also eine »Verfeinerung früheren Wissens« (Bruner, 1970, S. 57). So entsteht im Laufe der Zeit ein immer komplexer werdendes Gefüge von Wissensstrukturen, oftmals als Wissensnetz bezeichnet und modelliert. Diese Metapher eines Netzes kann hilfreich für das Verständnis der Organisation von Wissensstrukturen im Gedächtnis sein. Bereits verinnerlichte Begriffe sowie damit assoziierte Beispiele, Bilder oder Situationen bilden die Knoten des Netzes, die Maschen charakterisieren die Beziehungen, in denen diese Begriffe, Beispiele, Bilder oder Situationen zueinanderstehen. Die nachfolgende Abbildung 3 kennzeichnet ein solches hypothetisches Wissensnetz am Beispiel der Zahl 3.

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Abb. 3: Hypothetisches Wissensnetz zur Zahl 3 (in Anlehnung an Hasemann & Gasteiger, 2014, S. 64)

In diesem Modell ist Lernen als Vernetzung skizziert. Damit ein neuer Begriff verstanden wird, muss der Sachverhalt mit dem bestehenden Wissensnetz verknüpft werden. Der Wissenserwerb verläuft dann kumulativ (Shuell, 1986). Kumulativ meint weder additiv noch linear, der Begriff sollte vielmehr interpretiert werden als »strukturiertes Anhäufen‘« (Hasemann & Gasteiger, 2014, S. 65), das »im Laufe der Schulzeit ein immer tiefer gehendes Verständnis von mathematischen Inhalten und Methoden erzeugt« (Reiss & Hammer, 2013, S. 68). Daraus ergibt sich im Umkehrschluss: Passt ein Begriff oder Sachverhalt, mit dem ein Mensch konfrontiert wird, nicht zu den bereits vorhandenen Wissensstrukturen, kann dieser nur schwer (oder gar nicht) in bestehende Strukturen integriert werden. Übertragen auf den Unterricht folgt daraus, dass bei der Einführung neuer Inhalte das Vorhandensein des für die Verknüpfung notwendigen Vorwissens sichergestellt werden muss.

Ein konstruktivistisches Verständnis des Lernens legt nahe, dass jedes Kind sein eigenes Wissensnetz knüpfen muss. »Darum ist Begriffsbildung auch ganz und gar die Sache des Begriffsbildners. Niemand kann ihm diese Aufgabe abnehmen« (Aebli, 1981, S. 99). Zwar muss die Lernanstrengung von jedem Kind selbst geleistet werden, Wissen ist also nicht übertragbar, allerdings sollte dies nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass Lernen kein sozialer Prozess sei. Im Gegenteil: Lernen erfolgt oft erst durch einen Austausch mit anderen in Gesprächen und Diskussionen, in denen Lernende gedankliche Anregungen erhalten. In diesem Verständnis ist soziales Lernen ein Prozess der Ko-Konstruktion (Reusser, 2006). Im Elementarbereich wird diesem Ansatz besondere Bedeutung beigemessen (van Oers, 2004).

Was folgt nun aus den Erkenntnissen zum Mathematiklernen? »Gestaltet man Unterricht vor diesem Hintergrund, so kann es nicht darum gehen, Wissen allein zu vermitteln oder zu lehren, sondern viel eher darum, Lerngelegenheiten zu schaffen, die den Lernenden ermöglichen, auf der Basis ihres Vorwissens neues Wissen zu konstruieren« (Hasemann & Gasteiger, 2014, S. 65). Dürfen Lehrkräfte also nicht mehr »unterrichten«, weil sich das Kind letztlich doch selbst »bilden« muss? Diese Lehre aus den aufgeführten Modellvorstellungen zu ziehen, wäre ein fataler Fehlschluss. Lernimpulse, beispielsweise als herausfordernd empfundene Problemstellungen, aber auch präzise formulierte Fragen und Aufforderungen, werden benötigt, um Nachdenken, Probieren, Erforschen und einen Austausch der Kinder untereinander anzuregen. Die Methode der direkten Instruktion (image Merkmal »Reagieren auf Lernschwierigkeiten« in Kap. 3.9), bei der der Lernprozess stark von der Lehrkraft gelenkt wird, gilt in Bezug auf klar abgrenzbare akademische Lernziele sogar als hoch effektiv (Hattie, 2013). Wichtig ist also eine ausgewogene Balance zwischen Instruktion und Konstruktion (Presmeg, 2014; image Merkmal »Adaptive Lehrkraftlenkung« in Kap. 3.2). Reusser (2006) fasst den Akt des Lernens treffend zusammen: »Alle Konstruktionsschritte bei der begrifflichen Organisation von Erfahrungen müssen von den Lernenden – auf angebotenen oder selbst gefundenen Wegen – individuell und in sozialen Bezügen selbst vollzogen werden« (S. 154). Die verantwortungsvollste, vielleicht auch schwierigste Aufgabe für die Lehrkraft besteht darin, die Lernstände der Kinder im Blick zu behalten, um darauf aufbauend adäquate Lern- und Unterstützungsangebote für die individuellen Konstruktionsprozesse der Schülerinnen und Schüler abzuleiten.

Das Kapitel 2.1 führte überblicksartig und idealtypisch in die (allgemeine) Theorie des Lernens ein, wie sie in aktuellen mathematikdidaktischen Ansätzen und Konzepten vertreten wird. So rezepthaft und komplexitätsreduziert wie hier dargestellt, sind Lernprozesse und die didaktische Theorie im Allgemeinen jedoch nicht. Reich (2012, S. 194) gesteht ein: »Methodisch hat bisher keine Lerntheorie alle Lernvorgänge hinreichend erklären oder verständlich machen können«. Dennoch werden die dargelegten konstruktivistischen Annahmen für den Erwerb mathematischer Kompetenzen keineswegs (grundlegend) infrage gestellt (Krauthausen & Scherer, 2007).

2.2       Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen

Mathematische Kompetenzen entwickeln sich im Grundschulalter nicht einfach von selbst, sondern bedürfen der gezielten Entwicklung durch pädagogische Handlungen (Simon & Grünke, 2010). Schulisches mathematisches Lernen muss als ein dynamischer Prozess verstanden werden, der sich im Laufe der Zeit in Abhängigkeit von einer Vielzahl Einflussfaktoren und Wechselwirkungen unterschiedlich entwickelt. Dieses multifaktorielle Bedingungsgefüge wird von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere der Entwicklungs-, Neuro- und Kognitionspsychologie, untersucht (zusammenfassend Kuhn, 2017).

Die Entwicklungspsychologie liefert dahingehend Hinweise, wie Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler in Unterricht und Förderung gezielt unterstützen können: Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist das erfolgreiche Rechnenlernen durch das Erreichen von systematisch aufeinander aufbauenden Kompetenzstufen gekennzeichnet (Fritz, Ricken & Gerlach, 2007; Krajewski & Schneider, 2006). Mit jeder Stufe sind zentrale mathematische Einsichten und Konzepte verbunden, zu denen Kinder im Laufe der Zeit gelangen sollen. In folgendem Exkurs (image Infobox 1) wird das Entwicklungsmodell früher mathematischer Kompetenzen von Fritz et al. (2007) erläutert.

Infobox 1: Entwicklungsmodell früher mathematischer Kompetenzen nach Fritz et al. (2007)

Fritz et al. beschreiben den mathematischen Lernprozess in ihrem Entwicklungsmodell früher mathematischer Kompetenzen in fünf Entwicklungsniveaus, welche hier grob beschrieben werden. Eine ausführliche Darstellung ist bei Fritz et al. (2007) bzw. Fritz und Ricken (2009) zu finden.