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Joachim Vieregge

Einfach

gute

Gedanken

Heilung unseres feinstofflichen Körpers

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I.

Seltsame Phänomene im leeren Raum

Dass der sogenannte leere Raum angefüllt ist mit sonderbaren nichtmateriellen Phänomenen, die teils erschrecken, teils beglücken und beseligen, darüber gibt es viele Zeugnisse in allen Kulturen (in der Bibel, den Upanishaden, der Bhagavadgita). Man kann dabei zwei Arten von Phänomenen unterscheiden. Die negativen, dunklen, unangenehmen und schädlichen sind Projektionen unseres Denkens, die uns meist nicht bewusst sind. Sie können uns als Gedankenformen auch von anderen geschickt werden, wenn wir dafür empfänglich sind. Die beglückenden und heilsamen sind reine Lichtgestalten des Geistes, die zu uns aus Bereichen kommen, die unser Verstand nicht erreicht. Sie werden oft als Engel gesehen. Es können aber auch hochenergetische farbige oder symbolische Lichtformen sein. Beide, Engel wie symbolische Formen, werden sofort als heilsam und beglückend, als intuitiv übermitteltes weises Wissen erlebt, das von einer geheimnisvollen höheren Kraft oder Intelligenz geschickt wird.

Kinder haben noch am ehesten offene Sinne für solche Wesenheiten. Mehrmals habe ich erlebt, wie Kinder, mit denen ich meditierte, Engel neben sich stehen sahen, die einen Flügel um sie legten, um sie vor Unglück zu schützen. Sie erkannten ihre weißgoldene Lichtform und fühlten die selbstlose Liebe und Stärke, die sie ausstrahlten. Kinder sprechen gerne hiervon, wenn sie sich in einer wertschätzenden Atmosphäre aufhalten. Inzwischen gibt es viele Bücher, in denen Berichte über Engelserfahrungen von Kindern stehen.1

Vor vielen Jahren saß ich zum Meditieren in einem stillen Wald nahe dem Meer. Wie seit Jahren üblich, machte ich die buddhistische Shamatha-Meditation mit halboffenen Augen. Völlig überraschend – ich weiß nicht mehr, wie lange ich schon meditiert hatte – erschienen vor meinem Körper zwei kreisrunde Scheiben aus farbigem Licht, die sich rasch im Uhrzeigersinn (von vorn gesehen) drehten wie Räder mit Speichen. Sie maßen etwa 30 Zentimeter im Durchmesser. Das eine Rad auf der Höhe des Herzens strahlte in goldenem, smaragdgrünem, weißem und rosafarbenem Licht, dessen Farben wegen der raschen Drehung ineinander übergingen. Das andere Rad war vor meiner Stirn; es war genauso groß, aber sein Licht hatte eine zart violette, gelblich-weiße Tönung und es drehte sich rascher als das Herzrad. Als ich diese Erscheinungen wahrnahm, war ich auf eine ruhige Art und Weise angenehm überrascht und unaufgeregt friedlich, so als wäre es die normalste Sache der Welt. Ich dachte nur kurz bei mir: “Aha, es gibt sie also doch!” Aber da waren sie auch schon nicht mehr zu sehen. Ich hatte vor langer Zeit die Bücher von Leadbeater gelesen und mich auch sonst immer schon für außersinnliche Wahrnehmungen interessiert. Deshalb wusste ich, dass ich das Herzchakra und das Stirnchakra gesehen hatte. Diese Erfahrung hinterließ eine Zuversicht in mir, transmateriellen Phänomenen in Zukunft zu vertrauen, ohne großes Aufhebens darum zu machen.

Wenn man die Augen schließt und sich auf die Geräusche im Raum konzentriert, nimmt man alles schärfer und klarer wahr; dasselbe geschieht, wenn man sich auf die Empfindungen auf der Haut konzentriert. Das sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass unsere Wahrnehmungen von der Konzentration der Sinne auf ein Objekt abhängen. Schwieriger ist das mit den Augen. Nur durch die im Gedächtnis abgespeicherten Erinnerungen an vorbeifahrende Autos, die wir mit offenen Augen gesehen haben, kann man beispielsweise mit geschlossenen Augen ein bestimmtes an- und abschwellendes Geräusch als ein Auto erkennen, freilich nicht in allen Details, zum Beispiel nicht die Farbe des Lacks. Noch schwieriger wird es mit dem Sehen der inneren Organe. Wir spüren das klopfende Herz, aber wir werden es nie sehen können. Allenfalls können wir uns mit geschlossenen Augen an Videos erinnern, die Mediziner während einer Herzoperation aufgenommen haben.

In allen diesen Beispielen geht es um das Sehen materieller Objekte, was manchmal schon schwer genug ist.

Wie ist es nun aber, wenn wir etwas Gegenstandsloses, aber ebenso Reales mit geschlossenen Augen wahrnehmen wollen? Für “geschlossenes Auge” sagen wir auch “geistiges Auge”, um anzudeuten, dass diese Art des Sehens mehr mit geistiger, also mit bewusster Konzentration zu tun hat, während das normale Sehen mit offenen Augen wohl eher ein rasches Registrieren dessen ist, was materiell sichtbar ist.

Nehmen wir einmal an, wir wollten Raum mit dem geistigen Auge wahrnehmen, nicht einen Raum, der eingegrenzt wird durch vier Wände, sondern den uns umgebenden Raum an sich. Was würde man dann sehen? Natürlich sieht – besser ist hier das Wort “wahrnehmen” – man dann kein bestimmtes inneres Bild. Was man dann wahrnimmt, vorausgesetzt man ist wirklich konzentriert, ist etwas Seltsames: Man nimmt einen eigenartigen Zustand des Friedens bei gleichzeitiger innerer Entspannung wahr. Offenbar ist im Raum “etwas”, was uns guttut. Ich würde das “Friedensraum” nennen. Wenn man sich länger auf die Wahrnehmung dieses Innen-/Außen-Raumes einlässt und mit den Gedanken nicht zu oft abschweift, dann spürt man eine Erweiterung des Bewusstseins, da ja Raum etwas Unbegrenztes ist im Gegensatz zur festen Materie, und dies beruhigt insgesamt den Organismus und tut wohl. Das ist es, was die Meditationserforscher herausgefunden haben: Meditation auf den Raum löst Stress und fördert das Wohlgefühl.2 Vielen macht diese Praxis zu Beginn Schwierigkeiten, da es ängstigt, das geistige Auge an nichts Festem orientieren zu können; deshalb wird dazu geraten, die Konzentration zunächst auf das Ein- und Ausatmen zu richten, während man den Geist (das Bewusstsein, nicht das Denken!) in den Raum schweifen lässt. Während dieser Praxis auf den leeren Raum können seltsame Dinge passieren, so dass die spirituellen Traditionen dazu raten, einen Lehrer oder erfahrenen Meditationsmeister als Begleiter zu haben, damit man mit den positiven wie negativen oder gar schockierenden Erfahrungen sinnvoll umgehen kann.

Zunächst wird man erfahren, dass der Raum mit einer feinen schwebenden Substanz angefüllt ist, die man in den esoterischen Traditionen auch “Äther” nennt. Der Äther bewegt sich, wird mal als dichter und mal als feiner erfahren – und dann kann man mit dem geistigen Auge manchmal erleben, dass er in verschiedenen Farben leuchtet, die strahlender sind als alles, was man bisher an Farben mit dem offenen Augen gesehen hat. Das Zweite, was das geistige Auge sehen kann, sind verschiedene lebendige und sich bewegende Formen, die Gedanken ausstrahlen. Sie können unangenehm und erschreckend oder beglückend sein. Ich will hier eine eigene Erfahrung schildern.

Für gewöhnlich meditiere ich am Morgen etwa eine Stunde lang in der Tradition der tibetisch-buddhistischen Shamatha-Praxis, die von Chögyam Trungpa Rinpoche begründet wurde. Doch manchmal richte ich in schwierigen Lebenssituationen nach der Meditation die Bitte an meinen Führungsengel, mir weiterzuhelfen. Ist jedoch mein Glaube an die Existenz von Engeln und Erzengeln nicht stabil, bitte ich meinen Führungsengel um ein Zeichen, dass er existiert und mich erhört hat. Völlig überraschend geschah es so eines Tages während der Sitzmeditation, dass sich links von mir neben meinem Sitzkissen ein großes weibliches Wesen niederließ, das ein langes türkisfarbenes und kostbares, von Goldfäden durchwirktes Brokatkleid trug und sich Olga nannte. Dieses göttliche Wesen zeigte sich aber nur bis zu den Schultern; den Hals und das Gesicht sah ich nicht. Freude und Glücksgefühle durchströmten mich, aber nicht übertrieben oder euphorisch, sondern auf eine ruhige, gefasste und friedliche Art.

Wie sehr diese Begegnung mein intuitives und spirituelles Denken öffnete, zeigte sich drei Tage später. Da erinnerte ich mich plötzlich, dass ich vor Jahren einen telepathisch begabten Heiler aufgesucht hatte, als ich in einer ähnlich schwierigen Lebenssituation gewesen war. Ich schlug in einem meiner Tagebücher nach, in dem ich den Ablauf des damaligen Besuchs beschrieben hatte. Mir stockte der Atem, als ich da las, dass der Heiler in der medialen Sitzung sagte, er sehe einen Engel um mich, der Olga heiße und der für mein Wohlergehen sorgen würde. Offenbar knüpfen Engel Fäden rückwärts und vorwärts, die die eigene Lebensgeschichte zusammenhält und bewusstmacht.

Über das Eingreifen von Engeln, um jemanden vor Schlimmem zu bewahren, gibt es viele Berichte. Ich berichte hier von einem “spirituellen Zwischenfall”. Auf der Fahrt mit dem ICE von München nach Freiburg im Breisgau musste ich in Mannheim umsteigen. Ich war nach Freiburg eingeladen, um ein Seminar für Familienaufstellungen zu leiten, und dort erwarteten mich etwa 16 Teilnehmer. In Mannheim wartete mein ICE nach Freiburg auf dem Gleis am selben Bahnsteig, auf dem mein Zug aus München angekommen war. Als ich den Zug nach Freiburg bestiegen hatte und auf der Suche nach einem leeren Abteil den Gang entlanglief, berührte mich jemand ganz leicht an der Schulter und ich kehrte intuitiv um und stieg aus. Kaum stand ich auf dem Bahnsteig, forderte der Lautsprecher uns auf einzusteigen, denn der Zug nach Köln würde sogleich abfahren. Da erst bemerkte ich, dass ich in den falschen Zug eingestiegen war und nach Köln statt nach Freiburg gefahren wäre. Mir war augenblicklich klar, dass mich ein Engel an der Schulter berührt und mich zum Aussteigen veranlasst hatte; denn weder war eine Person hinter mir im Gang gewesen noch hatte mich eine Person angesprochen. Der Engel hatte mich davor bewahrt, die Seminarteilnehmer zu enttäuschen und zu verärgern. Meine Erleichterung kann man sich vorstellen.

Eine zunächst schockierende, dann aber beseligende Erfahrung gibt das nächste Beispiel wieder. In einer körperpsychotherapeutischen Gruppensitzung, die ich leitete, erklärte eine Teilnehmerin, dass sie vor allem darunter leide, dass sie unter Druck stehe, für ihre berufliche Anerkennung ständig kämpfen zu müssen. Ihre Arbeit käme nie von Herzen, sondern sei immer mit Wut und Ärger gekoppelt, die sie aber meistens unterdrücke. Sie leide durch diesen Stress auch an chronischen Magenschmerzen. In der Gruppe konnte sie ihren Zorn mit lauter Stimme und indem sie mit Fäusten auf ein Kissen einschlug so weit ausdrücken, dass die Verspannungen im Solar-Plexus-Bereich und am Zwerchfell nachließen. Nach einer darauffolgenden Ruhe- und Integrationsphase, während der alle Teilnehmer mit geschlossenen Augen im Kreis auf dem Rücken lagen, berichtete sie, dass ihr etwas Unglaubliches widerfahren sei; aber sie habe Scheu, das vor der Gruppe zu erzählen. Dazu aber ermutigte ich sie. Sie berichtete, sie habe während der Entspannungsphase ein starkes, strahlend weißes Licht über sich gesehen, und in dem Licht sei von oben eine weiße Lichttaube herabgeschwebt und sei durch ihr Solar-Plexus-Chakra in ihren Körper eingedrungen. Sie fühle sich seitdem von einem tiefen inneren Frieden erfüllt. Jetzt wisse sie auch, dass sie sich zeitlebens nach diesem friedvollen Zustand gesehnt habe, als wäre das ihr eigentliches Wesen. In der ganzen Gruppe war dieser Frieden zu spüren, als die Teilnehmerin das erzählte. Ich erinnerte sie daran, dass die weiße Taube ein bekanntes spirituelles Symbol für den göttlichen Frieden ist.

Zum Schluss ein weiteres Fallbeispiel, das noch deutlicher diesen Wandel von einer negativen Gedankenform zu einem positiven und heilenden Phänomen im feinstofflichen Körper zeigt. Eine Klientin litt darunter, dass sie nie ausdrücken konnte, was sie fühlte, wenn es um ehrlichen Austausch mit anderen ging. Entweder schwieg sie aus Scham und Angst, lächerlich gemacht zu werden, oder sie sagte Dinge, die sie so gar nicht meinte. Auch ihre Kreativität – sie ist Tanztherapeutin – litt darunter. Diese Blockierung spürte sie vor allem in der Kehle. In ihrer Kindheit war ihr vor allem vom Vater stets zu verstehen gegeben worden, sie habe nichts zu sagen und solle still sein, wenn Erwachsene sich unterhielten. In der psychospirituellen Therapiesitzung sah sie über ihrer Kehle in der Aura ein haariges, böses Wolfsgesicht, das sie sehr ängstigte. Das böse Gesicht bedeutete ihr mit Schärfe: “Schweig! Du hast nichts zu sagen!” Die Klientin wusste sofort, dass das Wolfsgesicht und dieser bedrohliche Gedanke ein und dasselbe waren und dass sie davon jahrelang eingeschüchtert worden war, so dass sie nie ihre innere Wahrheit, vor allem ihre Gefühle, vertreten konnte. Sie war nun bereit, diese negative Form aus ihrem feinstofflichen Körper heraus nach oben ins Licht gehen zu lassen. Durch feine Energiearbeit über ihrem Kehlchakra, bei der man diese Gedankenform ins Licht gehen lässt, entstand ein energetischer Leerraum in der Aura. Wenn der Klient jetzt rezeptiv bleibt und bereit ist, das aus den lichten Räumen zu empfangen, was sich offenbaren will, und mental nicht interveniert, dann erlebt er meistens etwas völlig Überraschendes und Beglückendes, und mit ihm erlebt der Therapeut das. In unserem Fall sah die Klientin in einem weiten lichten Raum eine große Frau aus goldblauem Licht, aus deren Schoß unablässig wunderschöne kleine Lichtkinder hervorkamen. – Einen schöneren Ausdruck von Kreativität hätte sie sich nicht wünschen können. Beim Abschied sagte sie noch: “Diese Kreativität lebt auch dann in mir, wenn ich nicht daran denke.”

II.

Was ist der feinstoffliche Körper?

Zeugnisse von abendländischen Sehern

Der Versuch, Menschen dabei zu helfen, ihr Denken von inneren negativen Bildern und Ideen, die krank und schwach machen, zu heilen, reicht viel weiter zurück in die Vergangenheit als die Medizin. Ehe die materialistisch orientierte und naturwissenschaftlich begründete Medizin ihren weltweiten Siegeszug antrat, war die Therapie von Krankheiten die Arbeit von spirituellen Lehrern oder Priestern und Schamanen, die ein höheres und erweitertes Bewusstsein von der Realität hatten als die normalen Menschen. Sie konnten in Kontakt mit geistigen heilenden Wesenheiten, wie zum Beispiel Naturgeistern, Gottheiten, Heiligen und Engelwesen, treten, indem sie mit ihrem Geist den materiellen Körper verließen (Exosomatose), ohne ganz getrennt von ihm zu sein. Dabei betraten sie die lichten immateriellen Welten feinstofflicher Energien, die man in der Antike auch “etherikos”, Äther, nannte. Von diesen Seinsebenen aus empfingen sie die Botschaften der Liebe der spirituellen Wesenheiten und konnten sie um Rat und Hilfe für die Heilung von Mitgliedern ihres Volkes oder von ganzen Volksgruppen bitten. Der Dialog spielte sich allerdings nicht rational und unter Verwendung des normalen Denkens ab, sondern über intuitives Wahrnehmen, das die Dreidimensionalität überschritt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich wahrnahm und sich zu entfernt liegenden Orten schneller als Licht bewegen konnte. Von den Sphären der feinstofflichen Körper aus konnten sie auch in den Auren ihrer Mitmenschen krankmachende Gedanken sehen, noch ehe sie den Menschen organisch schädigten, so dass sie frühzeitig mit der Heilarbeit begannen, wenn der Patient es wollte. Weil sie über den Äther mit allen Wesen verbunden waren, fühlten sie auch den Schmerz der Leidenden als ihren eigenen und waren voller Erbarmen sowie bemühten sich, sie von den Leiden zu befreien. Da sie aber auch das Karma des Leidenden sahen, wussten sie um den rechten Zeitpunkt ihres Eingreifens. Was dann heilte, war also nicht die Person des Priesters oder spirituellen Heilers, sondern sein mit den metaphysischen, den göttlichen Seinsebenen erfüllter oder mit ihnen identifizierter Geist, der durch sie wirkte.

Die krankmachenden Gedankenformen waren den Menschen seit dem Altertum bekannt. In der Bibel werden sie stets als “Dämonen” oder “unsaubere Geister” bezeichnet. Dieses spirituelle Wissen, das sei hier schon vorweggenommen, ist weltumspannend. Im tibetischen Buddhismus heißen die negativen Gedankenformen “döns”, bei den Sufis und bei den Hindus “papa cinda”. Sie nehmen die Formen von Dämonen (asuras, papapurusha) oder Teufeln an.

Askleipios war in der griechischen Antike der bekannteste unter den spirituellen Heilern. Er wurde in seiner Doppelnatur als Mensch und als Gott gesehen, verehrt und konsultiert, denn er wirkte wie alle spirituellen Heiler auf beiden Existenzebenen gleichzeitig, sonst hätten die Menschen ihn nicht verstanden. Seiner Gottesnatur entsprechend war sein Wirken nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Deshalb entstanden in verschiedenen Gebieten Griechenlands Heiltempel für Asklepios ähnlich den Ashrams und Klöstern spiritueller Lehrer in Indien und Tibet.

In jenen Zeiten wurden die Ursachen von Krankheit im Abfall oder in der Trennung der Menschen vom Götterhimmel gesehen. Indem Menschen ihren lichten und unsterblichen göttlichen Wesenskern durch negatives Denken und Tun aus niederen, lasterhaften Motiven heraus verdunkelten, wurden sie psychosomatisch krank, wobei die Krankheit mit der geistigen Ignoranz begann, ehe sie Gefühl und Körper ebenfalls betraf. Die Heiler wussten, dass der göttliche Wesenskern, die “Psyche” des Menschen, von Licht und Liebe erfüllt ist und dass dieses Liebeslicht allein heilt. Deswegen war alle spirituelle Heilung immer mit Liebe verbundene Lichtheilung. Das gilt auch noch heute, wenn man die Arbeit der großen Heiler der Moderne anschaut. Allerdings ist sie viel schwerer geworden, weil die Pakete der Ignoranz sich seit dem Altertum von Inkarnation zu Inkarnation ungeheuer verfestigt haben und wesentlich mehr Menschen unter ihnen leiden. Es gibt aber auch Anzeichen, dass in unserem Zeitalter des Materialismus die Sehnsucht nach einem Wandel hin zum Guten und nach geistigem, transmateriellem Glück immer stärker wird. Man hat begonnen, die Verbindung von religiösem Glauben und Gesundheit auch wissenschaftlich und medizinisch ernst zu nehmen. Daran hat die Quantenphysik einen erheblichen Anteil.

Das Wirken des Askleipios beruht auf dem weitverbreiteten Wissen in der griechischen Antike, wonach das wahre Wesen des Menschen mit dem Wahrnehmen des Lichtkörpers erfasst wird.3 Viele Beobachtungen beim Sterben und außerkörperliche Erfahrungen haben zu der orphischen Seelenlehre geführt, die besagt, dass die Psyche des Menschen identisch ist mit dem subtilen Körper, der sich während des Sterbevorgangs vom Soma, dem materiellen Körper, ablöst, ins Licht geht und folglich unsterblich ist. Der subtile Körper kann während des irdischen Lebens als Lichtkörper wahrgenommen werden, der den physischen Körper umgibt und durchdringt. Man sagte, dass der physische Körper sich im Seelenkörper befindet, sozusagen als materielle Verdichtung des subtilen Körpers, der primär existiert. Man hat die Substanz des Licht- oder Seelenkörpers außer als “Äther” auch als “Hauch” (griech. speiros) bezeichnet; ein Hinweis auf den geistigen Aspekt des Menschen, und noch heute wird der Begriff “Inspiration” mit Einatmen und geistiger Eingebung gleichgesetzt. Es gibt zwar keine letzte Sicherheit darüber, ob es Pythagoras (geb. 582 v. Chr.) auf Samos war, der diese esoterische Lehre von der Lichtkörpernatur des Menschen selbst entdeckte und an seine Schüler weitergab, aber immerhin wurde sie in den Zentren des Pythagoras in Süditalien gelehrt.

Die spätplatonischen Philosophen Plotin, Porphyrios, Proklos, Damascios und Johannes Philoponus (zwischen 200 und 500 n. Chr.) befassten sich näher mit dem Wesen metaphysischer Erkenntnis, wobei sie auf die Ideen von Aristoteles und Pythagoras über die Seele Bezug nahmen. Das eigentliche Erkenntnisorgan seien nach Philoponus nicht die Sinne, sondern der Geist, “denn er sieht und hört als Ganzes durch das Ganze und ist in allen übrigen Sinnen aktiv.”4 Der Geist ist ein sinngebendes, die einzelnen sinnlichen Eindrücke verstehendes und vereinheitlichendes Prinzip. Dieser Geist habe nun einen eigenen Körper, in dem alle Sinneseindrücke auftreten. Über den Geistkörper können auch – das war den antiken Philosophen bekannt – entkörperlichte Wesenheiten und Gedanken/Vorstellungen auftauchen und übermittelt werden, und zwar gute wie böse. In reiner Form erscheint der Geistkörper als “augoeides” oder als “Strahlenkörper”. Damascios sagt dazu: “Die Seele besitzt ein gewisses strahlendes Vehikel, sternengleich und ewig. Dieses ist nun in unserem [grobstofflichen] Leib sicher eingeschlossen.”5 Auch die Lichtform, in der ein Mensch einem anderen erscheinen kann, war den Griechen bekannt. Er erschien in einer Eiform aus weißgoldenem Licht. Diese vermittelt primordiale Bewusstseinsformen des Universums an den Menschen. Man nimmt an, dass auf diese Weise auch Sinn und Form der pythagoräischen Zahlen geschaut wurden. Proklos und Porphyrios verfügten offenbar über genauere Erkenntnisse zur Struktur des feinstofflichen Körpers, die verschiedenen Bewusstseinszuständen entsprechen. (Wir werden Ähnliches in alten hinduistischen Aussagen wiederfinden.) So heißt es bei Porphyrios über die Seele:

“Wenn sie in ihrem reineren Zustande ist, so ist sie mit einem Körper verbunden, der dem immateriellen [Zustand] am nächsten liegt, nämlich mit dem ätherischen [griech. aitherion] Körper.

Wenn sie aber vom Verstand [griech. logos] zur Projektion der Vorstellungskraft [griech. phantasia] übergeht, ist sie mit dem sonnenähnlichen [griech. helioides] [Körper] verbunden.

Wird sie weiblich und verlangt leidenschaftlich nach Form, gleicht ihr Körper dem Mond [griech. selenoides].

Und wenn sie in die aus feuchten Dämpfen bestehenden Körper hinabtaucht – [dies geschieht] immer dann, sobald sie in einen amorphen Zustand gerät –, befällt sie tiefe Unwissenheit über die Wirklichkeit, sie verdunkelt sich und wird kindlich (…).”6

Wenn man die Analysen der griechischen Mystiker und Philosophen mit den heutigen Analysen der Quantenphysiker und Bewusstseinsforscher über das Universum und transmaterielle Phänomene vergleicht, ist man erstaunt darüber, wie sehr sich die Aussagen ähneln. Beide gehen von einem Ursprungsbewusstsein in einem Ursprungsuniversum aus, das vor dem normalen menschlichen Bewusstsein liegt und das ihm zugrunde liegt. Die Quantenwissenschaftler nennen es das universale Informationsfeld oder auch das Vakuumfeld, das aber potenziell alles enthält, was sich hier und jetzt und damals und zukünftig überall im Universum manifestiert hat beziehungsweise manifestieren kann. Sie beweisen, dass unser Bewusstsein wie ein Hologramm arbeitet, indem Teilerkenntnisse das universale Ganze enthalten, und dass man sich dessen bewusst wird, je mehr das Bewusstsein die dreidimensionale Raumzeit überschreitet und in die vierte und fünfte Dimension übergeht. Für die griechischen mystischen Philosophen und Wissenschaftler sind Lichterfahrungen Erscheinungen des Bewusstseins in Übergangsräumen, wo die kleinsten Energieteilchen Lichtquanten aussenden. Hier nimmt sich das Bewusstsein sozusagen selbst wahr in seiner Feinstofflichkeit, ehe es, wenn es sich noch mehr ausdehnt, lichtlos wird. “Licht” meint hier das an elektromagnetische Masse gebundene Licht, das wir alle kennen.

Wenn man moderne Klassifikationen des feinstofflichen Körpers heranzieht, wie sie zum Beispiel bei Ken Wilber zusammengefasst als Stufen der Bewusstseinsentwicklung diskutiert werden und wie sie bei dem Mystiker und Heiler Stylianos Atteshlis (genannt Daskalos) beschrieben werden, so entspricht der ätherische Körper des Porphyrios dem spirituellen oder kausalen Körper, der “sonnenähnliche” Körper dem mentalen oder noetischen Körper und der “weibliche” Körper dem astralen oder emotionalen Körper. Interessant ist auch die letzte Aussage von Porphyrios: Das lichte und spirituelle Wissen geht in dem Maße verloren, in dem sich das Bewusstsein mit der materiellen Seite der Existenz verbindet – eine Aussage, wie sie sich in allen buddhistischen und hinduistischen Schriften und Lehren findet.

Über die Schichten des feinstofflichen Körpers steht nach Ansicht der Griechen der Mensch auch mit dem Makrokosmos in Verbindung. So lehnt sich Proklos an Platon an, wenn er sagt: “Der Mensch ist eine kleine Welt, ein Mikrokosmos. Denn er besitzt genau gleich wie das Universum Geist und Verstand, einen göttlichen und einen sterblichen Körper. Er ist wie das Universum aufgebaut.”7

Eine wichtige Quelle über die Existenz des Lichtkörpers ist die Bibel, wo über den Auferstehungskörper von Jesus Christus etwas gesagt wird. Es sei hier die Erscheinung Christi vor den zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus erwähnt, ferner seine Erscheinung vor Maria Magdalena am Grab und schließlich sein Erscheinen vor allen Jüngern am Berg in Galiläa, wo er ihnen den Missionsauftrag erteilt. Nach allem, was wir bisher über den Lichtkörper gesagt haben, der während des Sterbens aus dem materiellen Körper aufsteigt, müssen wir annehmen, dass Christus den Jüngern in dieser Lichtkörperform erschien. Wenn man bedenkt, welche Wunder der Heilung er vollbrachte, welch zutreffende Aussagen er über die Zukunft machte, welche geistigen Wandlungen er zu seinen Lebzeiten schon und danach bei unzähligen Menschen auslöste und schließlich welche unfassbare Liebe er verströmte, dann übersteigen die Kraft, Größe, Strahlkraft und Ausdehnung seines Auferstehungskörpers menschliches Vorstellungsvermögen. Ein gottgefälliges, tugendhaftes und spirituelles Leben und eine tiefe Liebe zu Jesus Christus sowie selbstlose Liebe zu allen Menschen schienen die Voraussetzung dafür zu sein, den Auferstehungsleib Christi wahrzunehmen – soweit man die Ursachen für Christi Erscheinen überhaupt ergründen oder benennen kann.

Das gnostische Evangelium pistis sophia stellt klar, dass mit dem Auferstehungskörper nicht ein vom physischen Leib abgesonderter Lichtkörper gemeint ist. Vielmehr sei er eine Art Ursprungskörper oder Urkörper, aus dem alle Körper hervorgehen und dessen göttliche Essenz sich als Heiliger Geist sowohl im physischen als auch im feinstofflichen Lichtkörper ausprägt. Eine ähnliche Schau vom Wesen des Menschen hatte zu unserer Zeit der christliche Mystiker Daskalos: Die zeitliche [sterbliche] Persönlichkeit [einschließlich des physischen Körpers und der Aura] werde durchstrahlt von dem ätherischen Herz der unsterblichen, permanenten Persönlichkeit. Manchmal wird sie auch “blaue Perle” genannt, zum Beispiel vom indischen Mystiker Muktananda, oder “Diamantkörper” von den tibetischen Buddhisten. Die sterbliche Persönlichkeit sei sozusagen eine Projektion oder ein Schatten der permanenten Persönlichkeit. Diese zeichne alle Erfahrungen aus den psychischen und noetischen (Gedanken-)Welten auf, auch aus früheren Inkarnationen, und bewerte sie moralisch mit Hilfe der Schutzengel. Das ätherische Herz oder die permanente Persönlichkeit wiederum sei eine heilig-geistige Ausstrahlung der heiligen Monade “Mensch” oder, wie Daskalos auch sagt, des sich selbst bewussten Seelenselbst. Wir werden später, wenn wir über die Elementale sprechen, auf diese Zusammenhänge zurückkommen.

Die religiösen und metaphysischen Ansichten der griechischen Antike über die Zusammenhänge zwischen Mensch, Universum und dem unsterblich Ewigen, Gott, sind die Grundlagen für die spirituellen Therapiesysteme der folgenden Jahrhunderte. Es gibt zwei Richtungen, in die sich die ursprünglich ganzheitliche Therapie entwickelt. Die eine geht den spirituell-religiösen Weg, um Menschen auf der Grundlage der mystischen Erfahrung einer Einheit mit himmlischen Kräften (Gott, Götter) von Leid zu befreien. Diese “Schule” lehrt zuvorderst einen spirituellen Weg, auf dem sich dann auch eine Heilkunst gründen kann. Auf diese esoterische Tradition gehen wir zunächst ein.

Am Anfang standen dabei mystische Erfahrungen in den esoterischen Schulen (zum Beispiel in Eleusis beim Dionysoskult). Sie ermöglichten durch direkte Schau, in die Schüler durch Lehrer eingeweiht wurden, das Sehen der feinstofflich-geistigen Lichtnatur des Menschen und deren Reinigung von negativen Lebenseinstellungen. Dadurch konnten auch kranke Laien geheilt werden. Das Ziel dieser Schulen war aber die Erfahrung der “unio mystica”, des Einsseins mit Gott beziehungsweise den Göttern. Dazu musste der Schüler (Adept) einen längeren Reifungsprozess durchmachen, in dem sein Bewusstsein auf diese Erleuchtungserfahrung vorbereitet wurde. Schiller hat in seiner Ballade “Das verschleierte Bild zu Sais” das Ideal dieser Mysterienschulen dargestellt. Sie erzählt das Schicksal eines Adepten, der ungeduldig, seinem Lehrer widersprechend und unvorbereitet das Götterbild der “Wahrheit” entschleiert und dadurch geistig auf Dauer krank und verwirrt wird.

Die mystisch-religiös begründete Heilkunst verliert im Westen im Laufe der Jahrhunderte mit der zunehmenden Deutungshoheit des Vatikans über geistige Heilung und Krankheit und der Säkularisierung der Kirche ihren Nimbus und blüht nur noch in einzelnen Klöstern, wenn sie von Mönchen oder Nonnen geleitet wurden, die unmittelbare Gotteserfahrungen hatten. Berühmt sind hier die Werke von Katharina von Siena und Franz von Assisi. Für den deutschen Sprachraum werden wir auf Hildegard von Bingen gesondert eingehen.

Die andere Richtung des geistigen Heilens entsteht ebenfalls in Griechenland, nimmt aber einen eher empirisch-säkularen Verlauf, indem sie die biologischen, organischen Vorgänge in der Natur mit den Menschen in Beziehung setzt. Krankheit entsteht durch Disharmonie zwischen beiden. Der Arzt Hippokrates wurde hier maßgebend mit seiner Lehre von den vier Körpersäften im Menschen (Blut, Galle, schwarze Galle und Schleim). Er setzte sie mit Temperatur- und Feuchtigkeitszuständen in der Natur in Beziehung. Außerdem erkannte er, dass diesen Säften Gefühlsneigungen entsprachen; so zeigte zu viel Gallensaft im Körper eine Neigung zu cholerischen Ausbrüchen – ein Befund, den wir auch heute noch verstehen können, wenn man Ärger in die volkstümliche Redewendung “da läuft einem die Galle über” kleidet. Die traditionelle chinesische Fünf-Elemente-Lehre kennt denselben Zusammenhang. Obwohl naturwissenschaftlich orientiert, stellte Hippokrates sich aber eine spirituelle Kraft vor, die diese Harmonie universell bewirke. Er nannte sie “enormon”, das heißt innewohnende Kraft. Die Lehren von Hippokrates wurden von dem römischen Arzt Galen (geb. 129 n. Chr. in Pergamon) weiterentwickelt zu einer ersten medizinischen Wissenschaft,8 die auf anatomischen Untersuchungen und chirurgischen Erfahrungen beruhte. Sie wurde für die folgenden Jahrhunderte bestimmend in der Medizin.

Erscheinungen und Botschaften himmlischer Wesen werden erfahren, wenn ein Mensch die verschiedenen Schichten des feinstofflichen Körpers durchschreiten kann und die sich dort erscheinenden Lichtformen aus ätherischer Substanz mit freiem, unvorbelastetem und demütigem Geist annehmen kann. Wenn wir alle bekannten Zeugen solcher spirituellen Erfahrungen studieren, sehen wir, dass sie in Zeiten der Bedrohung oder des Niedergangs von gelebter Spiritualität der jeweils herrschenden Religionen geschahen – im Geist der Fürsorge für Leidende und der Hingabe an Gott. Die großen geistigen Lehrer lebten und handelten von einem göttlichen Geist erfüllt, den sie durch jahrelange spirituelle Praxis, ethisch vorbildliche Lebensführung und Gebet entwickelten. Aber wenn wir uns das Leben des Jakob Böhme ansehen, dann staunen wir, wie ein so einfach lebender Mensch ohne jede spirituelle Schulung und Erziehung wahrhaft revolutionäre Gotteserfahrungen haben konnte, die viele Menschen tief religiös werden ließen. In der indischen Kultur hat es öfters als im Westen solche gottbegnadeten heiligen Menschen (Satgurus/Avatare) gegeben, die segensreich wirkten und Menschen von negativen Denk- und Verhaltensmustern reinigten. Hier sagt man, dass solche Heiligen in vielen früheren Inkarnationen ein tugendhaftes, bescheidenes und wohltätiges Leben führten, so dass ihr Karma heranreifte und sie dann als Satguru auf Erden erschienen. Ich denke, man kann diese Vorstellungen auch auf Menschen im Westen beziehen kann, zumal das Inkarnationskonzept in seinen Ursprüngen auch im Christentum zu finden ist.

Einer der frühesten abendländischen Berichte transpersonaler spiritueller Erfahrungen stammt von Hildegard von Bingen. In den Jahren nach 1141 schreibt sie ihre spirituellen Visionen und den Entstehungsprozess ihrer mystischen Erfahrungen auf. Sie weiß, dass sie damit eine göttliche Gnade erfahren hat. Aufgeschrieben hat sie das Geschaute wegen eines göttlichen Auftrags, den Hildegard in “Wisse die Wege” wie folgt schildert:

“Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, des Gottessohn, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die jedoch nicht brannte, sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen legt. Nun erschloss sich mir plötzlich der Sinn der Schriften, des Psalters, des Evangeliums und der übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testaments … Die Gesichte, die ich schaue, empfange ich nicht in traumhaften Zuständen, nicht im Schlafe oder in Geistesgestörtheit, nicht mit den Augen des Körpers oder den Ohren des äußeren Menschen und nicht an abgelegenen Orten, sondern wachend, besonnen und mit klarem Geiste, mit den Augen und Ohren des inneren Menschen, an allgemein zugänglichen Orten, so wie Gott es will …” Und etwas weiter teilt Hildegard zu Beginn ihres Buches “Scivias” mit, dass sie eine Stimme vom Himmel her sagen hörte: “Du also, o Mensch, der du all dies nicht in der Unruhe der Täuschung, sondern in der Reinheit der Einfalt empfängst, hast den Auftrag, das Verborgene zu offenbaren. Schreibe, was du siehst und hörst!”9

Noch genauer beschreibt sie die außersinnlichen Wahrnehmungen in einem Brief an einen Benediktinermönch Wibert, der – eine Ausnahme in der damaligen Zeit – an ihren Visionen, an der Qualität der Lichterfahrungen und ihren exosomatischen Vorgängen aufrichtiges Interesse hatte.

“Und meine Seele steigt – wie Gott will – in dieser Schau empor bis in die Höhe des Firmaments. (…) Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Breite mag ich an ihm zu erkennen. Es wird mir als “Der Schatten des Lebens” bezeichnet. Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf. (…) In diesem Licht sehe ich zuweilen, aber nicht oft, ein anderes Licht, das mir das “Lebendige Licht” genannt wird (…) solange ich es schaue, wird alle Traurigkeit und alle Angst von mir genommen, so dass ich mich wie ein einfaches junges Mädchen fühle und nicht wie eine alte Frau.”10

Hildegard weiß, dass man die Visionen und ihr Entstehen mit dem normalen Verstand nicht begreifen kann: “Und was ich schreibe, das schaue und höre ich in der Vision und setze keine anderen Worte als die, die ich höre und in ungefeilten lateinischen Worten, so wie ich sie in der Vision höre, kundtue. (…) Die Worte in dieser Schau klingen nicht wie die aus Menschenmund, sondern sind die wie eine blitzende Flamme und wie eine im reinen Äther sich bewegende Wolke. Die Gestalt des Lichts vermag ich aber nicht zu erkennen, wie ich ja auch die Sonnenscheibe nicht ungehindert anschauen kann.”11

Man erinnert sich an die Schilderung des Pfingstwunders in der Apostelgeschichte des Lukas (2. Kapitel), wenn man diese Erleuchtungserfahrungen der Hildegard liest. Dem Zeitgenossen mögen auch die Berichte aus Nahtoderfahrungen einfallen, in denen ähnlich über heilige Lichterfahrungen und Visionen berichtet wird. Am weitesten gehen da vor allem die Berichte von Mellen-Thomas Benedict und Betty Eadie. Die Visionen nun als “Allegorien” oder “Symbole” zu bezeichnen, wie man es öfter liest, kann nicht befriedigen; denn ihre Formen und Farben sind jenseits menschlicher Einbildungskraft und entstammen einer unfassbaren göttlichen Quelle, von der sie direkt zu Hildegard gekommen sind. Auch wenn sie im Rupertsberger Kodex gemalt festgehalten wurden, geben sie sicher nur in schwachem Abglanz die Leuchtund Strahlkraft des Geschauten wieder. Man könnte sie am ehesten mit ostchristlichen Ikonen vergleichen, die von Heiligen mit Sehergabe in ein Bild “übersetzt” wurden. Wir werden später noch auf die Lehren und Visionen von Daskalos eingehen, dem wir das Verstehen der großen Engelselementale in den feinstofflichen Körpern verdanken. Von daher können wir auch heute in Liebe und Verehrung des Heiligen Geistes, der Hildegard von Bingen ergriff, gedenken.

Hildegards Verbindung zum Göttlichen hat sich natürlich auch auf ihre Umgebung ausgewirkt. Ihr Kloster wurde ein Ort, an dem Kunst und sakrale Musik gepflegt wurden und vor allem die Pflanzenheilkunde erforscht und angewendet wurde. Eine für damalige Zeiten fortschrittliche Betrachtung der Sexualität und der Diagnose und Vorbeugung von Frauenkrankheiten zeugen von dem freien Geist Hildegards.

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