Sophienlust – 207 – Ich brauche keinen Vati

Sophienlust
– 207–

Ich brauche keinen Vati

Wird sich Iris eines Besseren belehren lassen?

Elisabeth Swoboda

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-299-2

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»Schaut, das arme Schnurrli! Es sitzt da oben in einer Astgabelung und traut sich nicht herunter.« Heidi Holstens ausgestreckter Zeigefinger wies hinauf in das noch kahle Geäst eines hohen Nußbaumes. Der Baum stand am Rand des Schulhofes der Wildmooser Volksschule.

Scharen von Kindern zwischen sechs und zehn Jahren tummelten sich in dem Hof. Sie liefen kreuz und quer, lachten und krähten durcheinander. Die Jungen und Mädchen genossen die kurze Freiheit, bevor sie wieder zurück auf ihre Schulbänke mußten. Der Lärm, den sie dabei entwickelten, war so laut, daß sich das junge Kätzchen des Schulwarts verängstigt auf den Baum geflüchtet hatte.

»Wenn die Pause vorbei ist, kommt Schnurrli bestimmt wieder herunter«, meinte der sechsjährige Andi Schröder, aber seine gleichaltrige Freundin Heidi glaubte ihm nicht. Zweifelnd blickte sie zu dem Kätzchen empor, welches geduckt auf seinem luftigen Platz saß und Heidis Blick aus rätselhaften grünen Augen erwiderte.

Die Schulglocke ertönte, ihr Schrillen trieb die Kinder zurück in die Klassenzimmer. Heidi schloß sich ihnen nicht an, sie blieb stehen und beobachtete weiterhin das Kätzchen.

Andi merkte, daß Heidi zurückgeblieben war, er kehrte auf halbem Weg um. Felicitas Frey, kurz Filzchen genannt, folgte seinem Beispiel. Die drei ABC-Schützen bildeten ein meist unzertrennliches Kleeblatt.

»Wir müssen Schnurrli herunterholen«, erklärte Heidi. »Ich werde auf den Baum klettern.« Sogleich ließ sie ihrer Ankündigung die Tat folgen, doch der Stamm war glatt, und sie war zu klein, als daß sie mit ausgestreckten Armen den untersten Ast erreicht hätte.

Filzchen war auch nicht größer. Andi berührte den Ast wohl mit den Fingerspitzen, aber das nützte ihm nichts.

»Schnurrli! Komm herunter! Wir tun dir nichts!« Heidis Lockrufe erfolgten vergeblich. Das graugetigerte Tierchen streckte zwar probeweise die linke Vorderpfote vor, verkrallte sich damit in den Stamm, verharrte ein paar Sekunden lang unschlüssig in dieser Position und zog dann die Pfote wieder zurück. »Da habt ihr es«, seufzte Heidi. »Sie kann nicht herunter.«

»Holen wir den Schulwart«, schlug Filzchen vor. »Es ist seine Katze. Der Schulwart hat eine lange Leiter, er kann ganz leicht hinaufsteigen.«

»Pah, wer braucht denn eine Leiter.« Unbemerkt von den drei Kleinen hatte sich Henrik von Schoenecker zu ihnen gesellt. Er überragte das Kleeblatt um ein gutes Stück, denn er war schon zehn Jahre alt. Eigentlich hätte er im Vorjahr aufs Gymnasium überwechseln sollen, aber seine schulischen Leistungen, vor allem in Mathematik, ließen zu wünschen übrig. Er hatte so viele andere Dinge im Kopf, die Schule und das Lernen hatte er bis zum Vorjahr nur als lästige Nebensache betrachtet. In diesem Jahr legte er mehr Pflichtbewußtsein an den Tag, heuer wollte er den Übertritt unbedingt schaffen. Trotzdem hatte er es nicht eilig gehabt, den Schulhof zu verlassen.

»Henrik!« rief Heidi erfreut aus.

»Gut, daß du da bist. Traust du dich auf den Baum?«

»Na sicher.« Der Zehnjährige war Mutproben niemals abgeneigt. Der Nußbaum stellte an seine sportlichen Fähigkeiten keine besonderen Anforderungen, einige Klimmzüge und er hatte das Kätzchen erreicht.

»Hurra!« schrien Heidi, Andi und Filzchen wie aus einem Mund.

»Brüllt nicht so!« schimpfte Henrik. »Beinahe hättet ihr Schnurrli noch weiter hinaufgescheucht.« Vorsichtig barg er das Tier, drückte es mit dem linken Arm fest an seine Brust, mit der rechten Hand tastete er nach einem Halt an einem Querast. Der Abstieg war schwieriger als der Aufstieg, entsprechend langsam ging er vor sich.

Unterdessen waren die drei ABC-Schützen in ihrer Klasse bereits vermißt worden. Sie wurden zur Zeit von einer jungen Aushilfslehrerin unterrichtet, denn ihre angestammte Klassenlehrerin war erkrankt.

Lore Stingel war siebenundzwanzig Jahre alt, hatte aber als Lehrerin noch wenig Erfahrung, denn sie hatte jahrelang in einem Büro gearbeitet. Sie war mit einem Kollegen eng befreundet gewesen. Erst nachdem diese Beziehung in die Brüche gegangen war, hatte sie sich auf ihre eigentliche Berufsausbildung besonnen. Leider waren freie Lehrerstellen rar, und so hatte sie sich damit begnügen müssen, eine Stelle als Aushilfskraft anzunehmen, die überall dort einsprang, wo Not am Mann war. Mittlerweile war sie allerdings nahe daran, sich wieder eine Büroarbeit zu suchen. Der ständige Wechsel zermürbte sie. Kaum hatte sie sich auf eine Klasse eingestellt und ihre Schäfchen näher kennengelernt, hieß es Abschied nehmen und mit gänzlich fremden Kindern neu anfangen. Lore bemühte sich, stets gerecht zu sein, aber das war schwierig. Selbst unter den ABC-Schützen gab es gewitzte Köpfe, die ihre Unerfahrenheit ausnützten und sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit austricksten.

Nach Ende der großen Pause hatte Lore ihre Schüler und Schülerinnen mit erhobener Stimme zur Ordnung gerufen. Es dauerte eine Weile, bis sie an ihren Plätzen saßen. Und dann stellte sich heraus, daß drei Stühle leer waren.

»Bitte, Frau Lehrerin, es fehlen noch drei«, meldete sich die dunkelhaarige Irmi Theurer, eine kleine Streberin, die bereits in der ganzen Schule als Petze verschrien war. »Heidi, Andi und Felicitas sind noch im Hof. Soll ich sie hereinholen?«

»Nein, das erledige ich selber. Ich bin gleich zurück. Und ihr seid inzwischen mucksmäuschenstill!« befahl die junge Lehrerin mit einem drohenden Unterton.

Im ersten Moment schien Lore der Schulhof wie leergefegt zu sein, doch dann entdeckte sie die kleine Gruppe unter dem Nußbaum und einen ihr bisher unbekannten Jungen mitten in der Baumkrone. »Was soll das?« rief sie mit vor Ärger schriller, sich beinahe überschlagender Stimme. »Marsch, zurück in eure Klassenzimmer!«

Die Kinder, denen der barsche Befehl galt, zuckten nicht einmal mit der Wimper, aber Schnurrli fuhr der Schreck in alle Glieder. Blitzschnell entschlüpfte das Kätzchen Henriks schützendem Arm und suchte sein Heil neuerlich hoch oben in einer Astgabelung.

»Sie dumme Pute!« knirschte Henrik. »Mit Ihrem blöden Gekreisch haben Sie die Katze verjagt.«

Lore schnappte fassungslos nach Luft. Von einem Schüler beschimpft zu werden, das war ihr noch nicht passiert. »Du ungehobelter Flegel!« begann sie zurückzuschimpfen, doch Heidi stieß sie warnend an und flüsterte: »Seien Sie leise. Sie dürfen Schnurrli nicht nochmals verjagen. Sonst muß Henrik ganz hinauf, bis zu den dünnen Zweigen. Die knicken leicht ab. Dann plumpst Henrik herunter und bricht sich das Genick.«

»Da sei Gott vor«, keuchte Lore entsetzt. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Ebenfalls auf den Baum klettern und dem Jungen beim Abstieg helfen? Allein der Gedanke ließ sie frösteln. Sie war in der Großstadt aufgewachsen, auf einen Baum zu klettern schien ihr als irrwitziges Unterfangen. Sollte sie Hilfe herbeiholen? Den Direktor alarmieren? Die Feuerwehr verständigen? Oder lieber dabeibleiben und beten, daß alles gutging?

Während Lore hin und her überlegte, hatte Henrik flink wie ein Eichhörnchen Schnurrli wieder eingefangen und sich erneut – mit dem Gesicht zum Baumstamm gewendet – an den Abstieg gemacht. Vom untersten Ast aus sprang er leichtfüßig zu Boden.

»Gib mir Schnurrli«, bat Heidi. »Ich bringe sie in die Wohnung vom Schulwart.«

Henrik wollte Heidis Bitte entsprechen, doch das verängstigte Tier fauchte, streckte die Krallen aus und fügte seinem Retter empfindliche Kratzer zu. »Du undankbares Biest«, stieß Henrik empört hervor, indem er zurückzuckte und seinen Griff unwillkürlich lockerte. In langen Sätzen jagte Schnurrli über den Hof und verschwand durch ein offenstehendes Fenster in einem Raum, welcher zur Wohnung des Schulwarts gehörte.

»Sie ist in Sicherheit«, meinte Andi zufrieden.

Jetzt erst fand die Lehrerin ihre Sprache wieder. »Euer Benehmen ist skandalös. Ich werde die Sache dem Herrn Direktor melden.«

»Meinetwegen. Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, gab Henrik patzig zurück.

»Schämst du dich denn gar nicht? Herr Brodmann wird deine Eltern zu sich beordern. Ich hoffe, daß sie dir hinterher gründlich die Leviten lesen und dir ein für allemal verbieten auf Bäume zu klettern.«

»Das verbieten Tante Isi und Onkel Alexander dem Henrik ganz bestimmt nicht«, piepste Heidi. »In Sophienlust darf er auf alle Bäume klettern, die im Park wachsen. Wieso sind Sie so böse auf Henrik? Sie müssen ihn loben. Er hat ein gutes Werk vollbracht. Ohne ihn wäre die arme Schnurrli verhungert.«

»Unsinn. Das dumme Vieh wäre irgendwann von alleine heruntergekommen.«

»Schnurrli ist kein dummes Vieh!« rief Andi. Sein Vater war Revierförster, seine Mutter hatte einige Semester Tiermedizin studiert. Tierliebe wurde in seinem Elternhaus großgeschrieben. »Sie sind ein schlechter Mensch, weil Sie Tiere nicht mögen«, beschuldigte er die Lehrerin.

»Jetzt reicht es aber!« Erzürnt stemmte Lore die Hände in die Hüften. Sie war eine hübsche junge Frau, mittelgroß, mit einer wohlproportionierten Figur. Ihr schulterlanges glattes, honigfarbenes Haar war in seiner Fülle kaum zu bändigen, ihr ovales Gesicht mit dem schöngeschnittenen Mund und der zierlichen Nase drückte normalerweise liebenswürdige Aufmerksamkeit aus. Im Moment aber waren ihre regelmäßigen Gesichtszüge verzerrt, ihre großen Augen blitzten zornig.

»Sie sind ganz rot im Gesicht. Wenn Sie sich weiter aufregen, werden Sie einen Herzinfarkt kriegen«, warnte Filzchen die Lehrerin.

»Du freches Mädchen! – Halt, Junge, wo willst du hin?« rief Lore Henrik nach. Zu spät, der Junge flitzte gerade ins Innere des Schulgebäudes. Er hatte den Disput der Lehrerin mit den Kleinen dazu genutzt, sich aus dem Staub zu machen. Später entschuldigte er sich bei dem Kleeblatt für seine Fahnenflucht. Ihm war plötzlich eingefallen, daß die Mathestunde längst begonnen hatte und sein Lehrer den Stoff für die in wenigen Tagen bevorstehende Klassenarbeit nochmals durchnehmen wollte. Da durfte er nicht fehlen, eine gute Note auf diese Klassenarbeit war wichtig.

Heidi, Andi und Filzchen nahmen Henrik seinen überstürzten Rückzug nicht übel. Die Lehrerin runzelte die Stirn und knurrte: »So leicht kommt mir der Bengel nicht davon. Was euch drei betrifft, auf euch werde ich in Zukunft ein besonderes Augenmerk haben. Los, hinein mit euch!« Sie deutete mit dem Kinn auf das Schultor. Heidi, Andi und Filzchen folgten der Aufforderung, ohne noch irgendwelche Bemerkungen vom Stapel zu lassen, die Lore als Frechheiten hätte auffassen können. Mit hocherhobenem Kopf und steifem Rücken stolzierte sie hinter ihnen her, bemüht, sich nichts von ihren Gefühlen anmerken zu lassen. Wie schon öfters in letzter Zeit fürchtete sie, ihren beruflichen Anforderungen nicht gewachsen zu sein.

Glücklicherweise hatten sich die in der Klasse unbeaufsichtigt zurückgelassenen Kinder keinen Unfug geleistet. Sie saßen allesamt auf ihren Plätzen und schwatzten fröhlich miteinander. Lore hätte also ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen und den Vorfall vergessen können. Doch der Zwischenfall ließ ihr keine Ruhe, sie fragte sich, wie sie sich bei einer zufälligen Wiederholung verhalten sollte. War es den Kindern tatsächlich erlaubt, auf den Bäumen im Schulhof herumzuklettern? Wer trug die Verantwortung, wenn ein Unfall geschah?

Nach Beendigung ihrer Unterrichtsstunden suchte Lore den Leiter der Schule in seinem Zimmer auf und konfrontierte ihn mit diesen Fragen. Konrad Brodmann reagierte im ersten Moment verwirrt, er wußte nicht, worauf die junge Kollegin hinauswollte. »Wie kommen Sie darauf, daß die Schüler im Hof auf die Bäume klettern dürfen?« fragte er irritiert.

»Eines der Kinder erwähnte etwas dergleichen. Nein, entschuldigen Sie, ich habe da etwas verwechselt. Das Mädchen sprach nicht vom Schulhof, sondern von einem Park, und daß die Eltern des betreffenden Jungen ihrem Sohn erlauben, dort auf alle Bäume zu klettern. Schließlich läuft das auf das Gleiche hinaus.«