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Inhaltsverzeichnis

4. Mai 2016

5. Mai 2016

9. Mai 2016

11. Mai 2016

12. Mai 2016

13. Mai 2016

14. Mai 2016

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17. Mai 2016

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28. Mai 2016

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31. Mai 2016

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11. Juni 2016

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20. Juni 2016

27. Juni 2016

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Der Autor




Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2018 Osvin Nöller · info@osvin-noeller.de

Satz & Layout/E-Book: PCS BOOKS · www.pcs-books.de

Covergestaltung: smartline werbeagentur · www. smartline.info

Fotos: Fotostudio Hawlitzki · www.fotostudio-hawlitzki.de; #50109247 | Urheber: Scisetti Alfio, #139194371 | Urheber: elovich; 193095544 | Urheber: NikhomTreeVector;

#126132196 | Urheber: wilqku; #126149055 | Urheber: wilqku, alle Fotolia.com

Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg · www.tredition.de

1. Auflage

978-3-7469-3964-3 (Paperback)

978-3-7469-3965-0 (Hardcover)

978-3-7469-3966-7 (e-Book)

4. Mai 2016

Diana schloss die Haustür auf und prallte gegen eine unsichtbare Wand aus abgestandener Luft.

Ihr Kopf dröhnte, während sich Schweiß den Weg, von ihrem Nacken ausgehend, den Rücken entlang nach unten suchte. Jeder Herzschlag schickte einen Stich in ihren Schädel.

Sie kickte die Pumps von den Füßen und schleppte die Einkaufstüten in die Küche, wo sie die Lebensmittel im Kühlschrank verstaute.

Erschöpft leerte sie eine angebrochene Wasserflasche in einem Zug, krempelte die Ärmel ihrer Baumwollbluse hoch und lief zur Spüle. Sie drehte den Wasserhahn auf, ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt war und hielt die Unterarme in den Wasserstrahl.

Wie lange würde diese Hitze sie noch quälen? Es wurde langsam unerträglich!

Seit mehr als einer Woche waren es über 30 Grad im Schatten, was sie in Celle bisher selten erlebt hatte.

Nicht allein das Wetter belastete sie! Am Morgen war etwas geschehen, das sie seitdem beschäftigte. Es traf sich zwar gut, dass das Wartezimmer in ihrer Praxis den ganzen Tag voll mit kleinen Patienten gewesen war, die meist unter einem in den Schulen und Kindergärten grassierenden Darmvirus litten. Das hatte sie, ebenso wie der anschließende Einkaufsstress vor dem morgigen Feiertag im Supermarkt, abgelenkt. Hier daheim war jedoch leider alles wieder sofort präsent!

Sie ging in das Wohnzimmer und setzte sich an den Esszimmertisch, auf dem nach wie vor der Brief mit den beiden Fotos lag, den sie am Morgen aus dem Briefkasten gefischt hatte.

Warum sollten die Zeilen verschwunden sein? Hatte sie ernsthaft geglaubt, es sei ein böser Traum gewesen? Sie nahm das Blatt hoch und las erneut, was sie nicht glauben konnte:



Brief1-800


Diana ließ den Brief auf den Tisch fallen, stützte die Ellbogen auf und vergrub das Gesicht in den Händen.

Ihre Eltern waren tot! Gestorben, als sie klein war! Was sollte das? Sie stöhnte und nahm sich den Umschlag vor: Ihr Name stand darauf: Dr. Diana Fiedler.

Besonders verwirrte sie die Fotos: Das Mädchen auf dem einen Bild, das ihren Jugendfotos unglaublich glich. Sie wusste genau, dass sie es nicht sein konnte, denn sie hatte in diesem Alter nie solche offenbar teure Kleidung besessen. Außerdem war ihr das herrschaftliche Portal der Villa, vor dem die Aufnahme entstanden war, unbekannt. Wer war die Frau auf dem zweiten Foto, die ihr ebenfalls ähnelte?

Hatte sich da jemand einen schlechten Scherz erlaubt? Sie hatte niemandem von dem Brief erzählt, nicht einmal ihrem Mann Kai, der am Morgen bereits auf dem Weg in seine Apotheke gewesen war, als sie das Schreiben gefunden hatte. Zuerst wollte sie wissen, was das alles zu bedeuten hatte.

Während sie grübelte, verdunkelte sich der Raum schlagartig. Sie stand auf und ging zum Fenster. Bedrohlich hatte sich der Himmel im Westen schwarzblau verfärbt, so als ob man schmutziges Wasser in das bisher leuchtende Blau geschüttet hätte.

Der Rasen musste gemäht werden, bevor es losging! Sie hastete die Treppe hinauf in das Schlafzimmer. Dort zog sie die Jeans, die Baumwollbluse sowie die Söckchen aus und rannte, nur mit Slip und BH bekleidet hinunter in den Keller. Hier sprang sie in ihre bequeme, abgewetzte Gartenhose und streifte ein löchriges T-Shirt über. Schnell band sie ihre Haare mit einem Haargummi zusammen und schlüpfte in ihre Gummischuhe.

Sie eilte die Außentreppe hoch in den Garten. In dem Moment, als sie den Rasenmäher aus der Garage holen wollte, sah sie eine ältere, etwas pummelige Person am Eingangstor stehen, die ihr zuwinkte.

„Guten Tag, Frau Dr. Fiedler. Haben Sie ein paar Minuten für mich? Ich möchte gern mit Ihnen reden“, rief diese ihr durch den Vorgarten zu.

Diana runzelte die Stirn. Ihr wurde es schlagartig eiskalt. Renate Hubert! Das musste sie sein!

Sie ging zögernd an das Tor und stand der Besucherin gegenüber, die zu ihr hochblickte. Das schwarze, ärmellose Kleid, dunkelgraue Sneakers und ihre dunklen, kurz geschnittenen Haare passten zu ihr. Über ihrer Schulter hing eine zu groß geratene Handtasche.

Diana beschloss, höflich zu bleiben. „Hallo, kennen wir uns?“

„Nein, oder besser gesagt, ich weiß, wer Sie sind. Ich heiße Renate Hubert und habe Ihnen geschrieben.“

Der Name traf sie trotz ihrer Vorahnung wie ein Blitz und in ihrem Kopf begann es noch stärker zu hämmern. Demonstrativ verschränkte sie die Arme.

„Sie sind das? Was bezwecken Sie mit diesem Pamphlet? Ist es ein Spaß für Sie, andere Leute zu verunsichern?“ Die letzten Worte schrie sie der Besucherin entgegen, die zwar zusammenzuckte, ansonsten hingegen ruhig blieb.

„Ich entschuldige mich, falls ich Sie verärgert habe. Ich möchte nur helfen! Es geht mir einzig um Ihre Mutter und Sie, glauben Sie mir das bitte!“

„Mama ist seit dreißig Jahren tot!“, antwortete Diana ein bisschen gelassener, jedoch nicht weniger bestimmt. „Wie können Sie behaupten, dass sie lebt?“

„Ich rede nicht von ihrer Adoptivmutter, sondern von Ihrer leiblichen! Hören Sie mir wenigstens einen Moment zu!“

„Ich wurde nicht adoptiert, gute Frau!“ Der Druck in ihrem Bauch riet ihr, dass es der richtige Augenblick sei, das Gespräch zu beenden. Schmerzhaft drückten sich die Fingernägel in ihre Handflächen. „Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber ich habe weder Zeit noch Lust, mir einen solchen Blödsinn weiter anzuhören.“ Sie schleuderte der älteren Dame ihre Worte entgegen.

Diese wurde kreidebleich. Gerade, als Diana sich umdrehen und zurück zur Garage gehen wollte, öffnete Renate hastig ihre Handtasche. „Oh Gott, Sie wissen nichts von Ihrer Adoption? Warten Sie bitte, jetzt wird mir klar, wie Ihnen das vorkommen muss. Ich besitze die Kopie eines Dokuments, das beweist, dass ich nicht lüge.“ Sie reichte ein Papier über den Zaun.

In Diana entbrannte ein Kampf. Sie sollte das Blatt nicht nehmen. Wenn sie es allerdings nicht tat, würde sie nie Gewissheit erlangen, ob die Besucherin nicht doch die Wahrheit sagte. Plötzlich sah sie das Bild mit der älteren Frau aus dem Umschlag vor ihrem geistigen Auge.

Als sie die Seite in den Händen hielt und las, begann sie am ganzen Körper zu zittern.

Es handelte sich um ein Schriftstück aus dem Jahr 1976, das besagte, dass eine Barbara Kessler ihre Tochter Diana zur Adoption freigegeben hatte. Als Geburtsdatum für das Mädchen war der 12. Februar und als Geburtsort Frankfurt am Main eingetragen.

Ihr wurde schwindlig und sie griff nach dem Torpfosten. Die Daten stimmten exakt mit ihren eigenen überein! Das durfte nicht sein!

„Frau Dr. Fiedler“, flehte Renate Hubert mit sanfter Stimme, „lassen Sie mich bitte eintreten. Ich besitze weitere Informationen, die wir nicht auf der Straße besprechen sollten.“

Wie in Trance schloss Diana das Tor auf und führte ihre Besucherin auf die Terrasse hinter dem Haus, wo sie sich an einen Gartentisch setzten. Sie hörte die Ausführungen wie durch Watte gedämpft.

„Ich bin eine Jugendfreundin Ihrer leiblichen Eltern. Ihre Mutter Barbara wurde schwanger, als die beiden neunzehn Jahre alt und noch nicht verheiratet waren. Ihr Vater Karl-Heinz war mit seiner zukünftigen Rolle völlig überfordert und bedrängte Barbara, etwas gegen die Schwangerschaft zu unternehmen. Sie wehrte sich zunächst, gab Sie dann doch zur Adoption frei. Das hat sie ihr ganzes Leben lang bereut. Sie lebt in Bad Homburg, in der Nähe von Frankfurt, und leidet unheilbar an Leukämie. Sie wird bald sterben. Ich fände es großartig, wenn Sie sich einmal treffen könnten!“

Diana erhob sich mit zitternden Knien, schob die Terrassentür auf und schlich im Wohnzimmer zu einem Sideboard. Von einem Tablett nahm sie eine Flasche, öffnete diese und goss sich Kais Lieblingswhisky in ein Becherglas ein. Die Gedanken jagten durch ihren Kopf, gleichzeitig rann ihr die rauchige Flüssigkeit durch die Kehle.

Sie stellte das Glas ab, ging langsam zurück auf die Terrasse und blieb hinter ihrem Stuhl stehen. „Was ist mit meinem …, was ist mit Karl-Heinz?“

„Er ist tot, aber das ist eine lange Geschichte.“ Renate zeigte auf einen Ordner, den sie auf den Tisch gelegt hatte. „Hier drin sind weitere Unterlagen, die Ihnen mehr über Ihre Familie verraten. Studieren Sie das in Ruhe. Ich verabschiede mich jetzt.“ Sie erhob sich.

Am Eingangstor gab Diana Renate stumm die Hand. Sie wusste einfach nicht, was sie hätte sagen sollen, und war froh darüber, dass die Besucherin sie verließ.

Renate lächelte. „Lassen Sie alles sacken und treffen Sie bitte die richtige Entscheidung.“

„Wer ist das auf den Bildern aus dem Umschlag?“, flüsterte Diana.

„Die Frau ist Ihre Mutter und das Mädchen Ihre Zwillingsschwester Julia.“ Renate musterte sie von oben bis unten und schüttelte plötzlich den Kopf.

„Ihre Ähnlichkeit mit Julia! Unglaublich! Sie haben sogar dieselben brünetten Haare!“

Bevor sie antworten konnte, drehte sich die alte Dame um und eilte die Straße hinunter. In diesem Moment zuckte ein Blitz vom Himmel, der nahezu zeitgleich in ein Donnergrollen überging. Erste Regentropfen klatschten auf den Asphalt.

***

Diana surfte mit ihrem Laptop im Internet. Unterdessen verwandelten die Klänge von Vivaldis Vier Jahreszeiten das Wohnzimmer in einen Konzertsaal. Sie summte die Musik mit, was sie entspannen ließ. Auf dem Esszimmertisch lag der Inhalt aus Renates Mappe ausgebreitet.

Im Zimmer war es schummrig. Der Regen trommelte gegen die Fenster, wo er in Sturzbächen an den Scheiben entlanglief. Blitze, die sich überlappten, zeugten davon, dass das Gewitter zurückgekommen war. Lang anhaltende Donner bildeten einen grotesken Kontrast zu den leichten Tönen von Vivaldis Der Frühling.

Die Welt schien zu versinken, während sie das Konzert mit der Fernbedienung lauter stellte.

Plötzlich fiel ein Schatten auf den Tisch. Jemand bewegte sich hinter ihr! Sofort pochte ihr Herz bis zum Hals und sie erstarrte, unfähig zu schreien.

„Mensch Diana“, schrie Kai gegen die Musik an, „sorry, ich wollte dich nicht erschrecken!“ Er nahm die Fernsteuerung und schaltete die Stereoanlage aus. „Was für ein Sauwetter! Ich bin klatschnass! Was machst du hier im Dunkeln?“

Sie grinste. Ihm lief das Wasser über das Gesicht und in den Kragen. Das hellblaue Hemd hatte sich an verschiedenen Stellen dunkel verfärbt.

Kai glich einem riesigen, begossenen Pudel! „Wieso steht dein Golf mitten in der Einfahrt? Ich musste den ganzen Weg hochrennen und seh aus, wie durch den Gully gezogen.“ Er stutzte. „Warum sitzt du in Gartenklamotten im Wohnzimmer und erfreust die Nachbarschaft mit einem Konzert?“

Sie sprang auf und rannte an ihm vorbei zur Zimmertür, wobei sie ihm „du hast geraucht!“ zuraunte.

Als sie aus der Küche zurückkam, betrachtete er ein Foto. „Was sind das für Bilder? Die kenn ich gar nicht! Das bist doch du!“ Er griff nach einer weiteren Fotografie.

Sie nahm ihm die Aufnahmen aus der Hand, gab ihm ein Handtuch und hockte sich wieder auf ihren Stuhl.

„Das bin nicht ich. Du wirst nicht glauben, was ich erlebt habe!“ Ihre Worte überschlugen sich, als sie ihm von ihrem Besuch berichtete. Anfangs trocknete er sich ab, hielt dann mit einem Mal inne und setzte sich neben sie.

„Das ist vermutlich meine Zwillingsschwester.“ Sie hob einen Zeitungsartikel vom Tisch. Zwei Frauen lächelten in die Kamera. Unter dem Bild stand: Die Ärztin und Unternehmerin Julia Lautrup (links) wird heute 40 Jahre alt. Rechts ihre Mutter, die Mäzenin Barbara Lautrup. Bad Homburg, 12.02.2016.

Kai kniff die Augen zusammen. „Das ist dein Geburtstag und die da“, er deutete auf die Jüngere, „sieht genau so aus wie du!“ Er nahm ihr den Zeitungsausschnitt aus der Hand.

„Stimmt. Sieh hier, sie ist ebenfalls Medizinerin, allerdings Gynäkologin.“ Sie zeigte auf ihren Computer. „Das ist die Website ihrer Praxis. Die Ältere ist wohl meine leibliche Mutter!“

Kai zog die Augenbrauen hoch. „Ich weiß nach wie vor nicht, was das hier wird! Du müsstest doch wissen, wenn du adoptiert worden wärst!“ Er legte den Artikel zurück auf den Tisch. „Das wird eine Fälschung sein!“

Diana grinste schief. „Das dachte ich anfangs auch. Je länger ich mir das ansehe, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass diese Hubert vorhin die Wahrheit gesagt hat! Denkst du, man stellt Webseiten ins Netz, um mir das einzureden? Es wimmelt im Internet von Einträgen zu der Familie! Das kann man nicht fälschen, Kai!“

Ihr Mann erhob sich. „Ich bin trotz allem der Ansicht, dass es für den Spuk eine logische Erklärung geben muss und die Frau eine Betrügerin ist. Ich gestehe ja, dass das echt aussieht, glaube es trotzdem nicht. Pass auf, die taucht wieder auf und verlangt Geld. Für deine angebliche Mutter!“

„Wir wollen es nicht wahrhaben! Bald wissen wir, ob es stimmt. Ich habe Gunter angerufen und ihm die Unterlagen per Mail geschickt. Er versucht, das zu überprüfen, und will sich Anfang kommender Woche melden.“

Kai fasste sich an die Nase. „Gute Idee! Ein Anwalt hat bessere Möglichkeiten. Dann lass uns abwarten. Ich hab Hunger. Was gibt es denn?“

Sie zögerte kurz. „Ich hab übrigens für den nächsten Donnerstag einen Termin für eine Vorsorgeuntersuchung bei meiner Zwillingsschwester in Bad Homburg gemacht!“

Er schüttelte den Kopf und seine Stimme wurde hart. „Was hast du? Das verstehe ich jetzt nicht! Wart erst mal ab, was Gunter rausfindet! Schnellschüsse bringen nichts!“

Ihr Magen zog sich zusammen, doch sie wollte den sich anbahnenden Streit vermeiden. „Das ist nicht alles! Sieh hier.“ Sie hielt ihm einen anderen Zeitungsartikel entgegen. „Mein leiblicher Vater ist vor einigen Jahren mit dem Flugzeug abgestürzt. Schau dir die Seite genau an!“

5. Mai 2016

Die Leukämie zeigte immer deutlichere Spuren. Julia gab sich keinerlei Illusionen hin. Das konnte jetzt schnell gehen!

Barbara saß in der Bibliothek in einem schwarzen Sessel mit breiten Lederlehnen. Wie blass sie war! Das graue, dünne Haar rundete den Gesamteindruck ab. Ihr dunkelblaues Kleid war längst zu weit geworden.

„Hallo, mein Kind. Prima, dass du vorbeikommst.“ Sie legte die Brille und ein Taschenbuch auf das Tischchen neben sich. „Möchtest du einen Kaffee?“ Sie griff nach einer Fernbedienung, mit deren Hilfe sie in der Lage war, ihre Freundin Renate zu rufen.

„Nein, danke. Ich hab gerade gefrühstückt.“ Julia beugte sich ihr entgegen und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich wollte etwas mit dir besprechen. Sag aber erst, wie es dir heute geht.“ Sie ging zum Fenster und öffnete es.

Die Todkranke atmete die hereinströmende Luft gierig ein, bis sie zu husten begann. „Es muss. Ich schlage mich durch.“ Der Versuch, zu lachen, endete in einem erneuten Hustenanfall.

„Willst du nicht vielleicht doch über die Chemotherapie nachdenken?“

„Stopp, das Thema ist durch!“, erwiderte Barbara mit überraschend fester Stimme. „Meine Entscheidung ist endgültig!“

Die Tochter hob die Hände. „Hast du eigentlich Björn und Christian deinen Entschluss mitgeteilt?“ Sie vermutete, dass ihre beiden Brüder nach wie vor nichts von der Ablehnung zur Weiterbehandlung wussten und lag damit goldrichtig.

„Nein, das tue ich, sobald es passt.“

Es machte wenig Sinn, mit ihrer Mutter zu diskutieren. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Zurück. Julia seufzte. Diese Sturheit war in den letzten Jahren meist hilfreich, oftmals jedoch ebenso hinderlich gewesen. Sie drehte sich um und blickte in den Garten.

Das gesamte Anwesen bestand aus einem Park, durch den eine breite Auffahrt zu zwei Wohngebäuden führte. Sie standen weit genug voneinander entfernt, dass eine imposante Eiche, welche die Häuser deutlich überragte, zwischen ihnen Platz fand. Beide sahen identisch aus: weiß geklinkert, zweistöckig mit Terrassen im Erdgeschoss und Balkonen in der ersten Etage. An den äußeren Ecken unterstrichen runde Türmchen die Symmetrie.

Barbara lebte im Parterre des rechten Gebäudes, Renate seit dem Tod ihres Mannes im Stockwerk darüber. Julia und ihr jüngerer Bruder Christian wohnten nebenan, sie ebenerdig, er über ihr.

Sie schloss das Fenster und drehte sich um. „Hat dir Björn Informationen zur anstehenden Gesellschafterversammlung gegeben?“

Die Mutter runzelte die Stirn. „Nein, welche?“

Das war ja klar gewesen, dass sich der Feigling drücken würde! Sie überlegte einen Moment, wie sie beginnen sollte.

„Er plant, mit dem Unternehmen in Amerika zu expandieren, weil er glaubt, dass dort die Biowelle gerade beginnt. Amerikaner verschwenden wenig Zeit aufs Kochen. Er hofft darauf, mit unseren Bio-Gefrierwaren eine Marktlücke zu schließen.“

„Klingt nicht verkehrt.“ Barbara schien nachzudenken. „Wie will er das finanzieren? Das kostet einiges!“ Sie sah ihre Tochter mit wachem Blick an.

„Das ist der Punkt! Er hat einen Investor gefunden, der sich beteiligen möchte.“

Blitzartig straffte sich Barbaras Körper und ihre Augen funkelten. „Das kommt nicht in Frage! Der spinnt!“, zischte sie. „In der Satzung steht, dass ausschließlich Familienmitglieder an der Firma beteiligt sein können. Mir fällt niemand ein, der diese Bedingung erfüllt, ohne bereits Teilhaber zu sein“, schloss sie ironisch. Sie entspannte sich. „Was machen deine Flüchtlinge?“

Der abrupte Themenwechsel bedeutete, dass sie sich eine unumstößliche Meinung gebildet hatte und Björn seine Idee nur mit vorhandenem Kapital umsetzen konnte.

„Damit habe ich derzeit mehr Arbeit als erwartet. Jetzt müssen sich die ersten Syrer Wohnungen suchen und aus dem Flüchtlingsheim ausziehen. Ist verdammt schwer! Zum Glück gibt es den syrischen Arzt. Du weißt schon, der seit über dreißig Jahren in Deutschland lebt. Er kümmert sich darum. Ich gebe dafür im Moment häufiger Deutschunterricht als geplant.“

„Prima.“ Plötzlich holte die Kranke tief Luft und lehnte sich langsam zurück. „Sei mir nicht böse, ich möchte ein wenig ruhen.“

Jedes der Worte stach in Julias Herz. Diese starke Frau hatte in den letzten Tagen völlig abgebaut. Ihr schien der Lebenswille abhandengekommen zu sein.

„Natürlich.“ Julia versuchte zu lächeln und ging zum Sessel, vor den sie sich hinkniete. Behutsam ergriff sie die Hände der Mutter.

Barbara zögerte. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis es vorbei ist. Bitte, komm bald wieder. Ich muss dir noch einiges erzählen!“

„Klar, mach ich“, presste Julia heraus, stand auf und verließ die Bibliothek mit eiligem Schritt.

Sie passierte in der Halle die Marmorbüsten im italienischen Stil und blickte die breite Treppe mit dem dunkel gebeizten Holzgeländer hinauf.

Renate kam in diesem Augenblick langsam herunter.

Julia hielt inne und lächelte sie an. „Hallo, wie war dein Besuch in Norddeutschland?“

„Prima, ich glaube, meine Freundin hat sich gefreut. Zum Glück bin ich noch vor den heftigen Unwettern weggekommen.“

Julia nickte. „Ich habe vorhin im Radio gehört, was da los war.“

„Uns würde ein Gewitter ebenfalls guttun, allerdings ohne Sturm und Hagel.“ Renate schmunzelte. „Die Bluse und der Rock stehen dir übrigens ausgezeichnet!“

„Danke für das Kompliment. Ich muss weiter. Genieße den Himmelfahrtstag!“

Draußen schlenderte sie zu ihrer Wohnung.

Sie dachte an den Anblick der Mutter. Sofort schossen ihr Tränen in die Augen. Sie hielt inne, vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte los. Ihr schwirrten Barbaras letzte Worte durch ihren Kopf. Was hatte sie damit gemeint, dass sie ihr noch einiges zu erzählen habe?

***

„Du hast andere Eltern und eine Zwillingsschwester? Du willst mich verarschen!“

Diana seufzte ins Telefon. „Nein Biggi, ich wollte, es wäre so! Mensch, ich bin völlig durch den Wind!“

Brigitte Junker war seit den gemeinsamen Universitätstagen ihre beste Freundin. Außerdem vertrat sie Diana ab und zu in der Praxis.

„Liegt dein Tablet in Reichweite?“ Sie nannte Biggi die Webadresse von Julias Arztpraxis. „Öffne sie und geh auf die Rubrik Unser Team.“ Sie lag auf dem Ledersofa im Wohnzimmer und wartete ungeduldig.

„Wow! Die sieht genauso aus wie du! Ich dachte, du hast keine Schwester!“

„Bis gestern hätte ich behauptet: nein.“ Sie band ihre Haare zusammen, die sie zwei Minuten vorher gelöst hatte.

„Warum hat dir niemand erzählt, dass du adoptiert wurdest?“

„Genau darüber habe ich nachgedacht! Ich war erst zehn, als Papa und Mama starben. Vielleicht hielten sie mich für zu klein, um es mir zu sagen. Oma und Opa haben es möglicherweise nicht gewusst!“

„Sorry, das erscheint mir merkwürdig! Das mit den Eltern leuchtet mir ein. Aber, deine Großeltern ziehen dich auf und wissen nichts von einer Adoption? Wie soll das zusammenpassen?“

Diana musste ihr recht geben. Der Kloß in ihrem Hals wuchs rasant. „Ich weiß nicht! Kann sie auch nicht mehr fragen!“

„Ja, schade. Hast du irgendwelche Informationen über diese Lautrups?“

„Die Familie besitzt in Bad Homburg eine Firma mit dem Namen BioGenüsse GmbH. Die stellen Biotiefkühlkost her. Ein ziemlich großes Unternehmen mit rund 1 500 Mitarbeitern. Die Mutter ist die Hauptgesellschafterin und der älteste Sohn Geschäftsführer. Das habe ich im Internet recherchiert.“

„Aha, hört sich nicht übel an. Was sagt Kai zu dem Ganzen?“, fragte die Freundin.

„Hhm, du weißt, wie er ist. Die Unterlagen hält er für eine Fälschung. Meine Idee, hinzufahren, empfindet er als schwachsinnig. Das hat er zwar nicht direkt gesagt, aber bestimmt gedacht. Gestern Abend hatten wir einen üblen Krach. Er hat mich auf die Palme gebracht. Zum Schluss meinte er gönnerhaft, ich solle fahren, wenn es mir danach besser ginge.“

„Wo ist er jetzt?“, bohrte Biggi weiter.

„Rate mal. In seinem geliebten Tennisverein. Seit er Präsident ist, verbringt er gefühlt jede freie Minute dort, um den Klub auf Vordermann zu bringen, wie er es ausdrückt. Falls er nicht in der Apotheke oder bei einer Fortbildung ist.“ Ihre Worte klangen bitter.

„Süße, wie oft hab ich dir gesagt, dass das mit euch so nicht weitergeht? Diese Ehe macht dich kaputt! Du bist eine eigenständige Frau. Zieh endlich einen Schlussstrich!“

Biggi hatte es auf den Punkt gebracht. Eigentlich lebten sie nebeneinander her.

Die Freundin ließ nicht locker. „Kai springt wer weiß wo rum und du flüchtest in deine Kinderprojekte. Komm zu dir!“

„Hör auf, ich will jetzt nicht über das Thema sprechen.“

„Okay Kleines. Verstehe ich.“

„Danke. Sag, du kennst doch Kais Freund Gunter. Ich hab ihn gestern angerufen und gebeten, anhand der Urkunde nachzuforschen.“ Sie atmete tief durch. „Das fand sogar Kai vernünftig. Wahrscheinlich hofft er, dass Gunter herausfindet, dass das alles nicht stimmt.“ Sie machte eine kurze Pause. „Da ist übrigens noch was. Bei den Unterlagen lag ein Artikel zum Flugzeugabsturz meines leiblichen Vaters. Jemand hat darüber geschrieben: Diana, er wurde ermordet!“

9. Mai 2016

Barbara und Renate tranken Tee auf der Couch im Wohnzimmer, das durch seine ungewöhnliche Einrichtung auffiel. Die Wände und die Decke waren mit dunklem Holz getäfelt. In drei Nischen hingen moderne, farbenfrohe Bilder. Ein runder Kronleuchter aus Kristallglas ergänzte die teuren Möbel. Links und rechts vom Couchtisch standen zwei Sofas mit einem leuchtend violetten Stoffbezug, der dennoch zu dem Stil des Raumes passte.

Barbara stellte ihre Tasse mit zittriger Hand ab. „Ich lebe nur noch kurze Zeit.“ Als ihre Freundin antworten wollte, schüttelte sie den Kopf. „Lass mich ausreden. Ich habe vor vier Wochen eine weitere Chemotherapie abgelehnt. Das musst du für dich behalten, denn bisher weiß es nur Julia. Ich werde es den Jungen demnächst mitteilen.“ Ein Hustenanfall, der von einem Reißen in der Brust begleitet wurde, strafte sie für die anstrengenden Worte.

„Um Himmels Willen, warum?“ Renate rutschte ein wenig näher an sie heran.

Barbara wischte sich mit einem Taschentuch den Mund ab und röchelte. „Weil ich eine dritte Tortur nicht mehr verkrafte. Sie würde ohnehin erfolglos sein.“ Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. „Nur die Ärzte hätten was davon“, schob sie zynisch nach. „Ich bin, wie es so schön heißt, austherapiert, und erwarte meine letzte Stunde.“ Der Schmerz wanderte zum Rücken. Langsam lehnte sie sich zurück und verspürte trotz allem die Erleichterung, der Freundin ihre Entscheidung mitgeteilt zu haben.

„Du bist eine Kämpferin! Denk daran, was du in den vergangenen Jahren erreicht hast! Die Firma, deine Kinder, und all die Wohltaten, die du für die Allgemeinheit leistest. Du darfst nicht aufgeben!“ Renate schnäuzte sich die Nase und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

„Das hört sich toll an! Dennoch muss ich akzeptieren, dass es zu Ende geht!“ Barbara gab sich Mühe, tapfer und entspannt zu wirken, wobei sie mit zunehmenden Luftproblemen kämpfte.

„Es ist vorbei, wenn man die Augen zumacht! Nicht eine Sekunde früher! Du wirst gebraucht! Auch von mir! Du besiegst die Krankheit!“

„Es ist rührend, wie du mich aufbauen willst.“ Sie nahm die Hand ihrer Freundin. „Danke! Es besteht keinerlei Grund, gram zu sein. Ich hatte ein teilweise hartes, trotzdem erfülltes Leben. Vielleicht wird es ein bisschen kurz. Insgesamt kann ich zufrieden sein.“ Sie schwieg und suchte eine schmerzfreiere Haltung. „Einzig die Entscheidung, Diana wegzugeben, war ein schlimmer Fehler! Ich hätte damals stärker sein müssen, war aber ein blödes Küken in einer Welt der Großkopferten! Es hat einfach zu lange gedauert, bis ich zurechtgekommen und selbstständig wurde!“ Sie wischte sich die Lippen ab. „Wie gern würde ich meine Tochter noch einmal sehen!“

Renate wirkte plötzlich angespannt. „Möchtest du einen weiteren Versuch anstellen, sie zu finden?“

„Macht keinen Sinn! Hugo war vor vielen Jahren erfolglos, wieso sollte man sie heute aufspüren? Die Behörden waren seinerzeit stur und reagieren jetzt mit Sicherheit nicht anders! Es ist zu spät!“

Renate blickte zum Kamin. „Wenn du aufgibst, ist es bald vorbei. Du darfst die Hoffnung nicht verlieren! Manchmal gibt es Zufälle!“

„Schluss damit! Ich habe übrigens in einem Begleitbrief zum Testament verfügt, wie ich mir meine Beerdigung vorstelle.“

„Hör auf! Das möchte ich nicht hören!“ Die Vertraute schluchzte unvermittelt los.

Barbara versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, und nahm sie in den Arm. Ihre Stimme wurde sanft. „Ich danke dir dafür, Liebes, dass du eine tolle Freundin bist!“ Sie streichelte ihr über den Rücken. „Hör mir bitte einen Moment zu. Ich mach mir Sorgen um Björn.“

Renate löste sich von ihr und schaute sie direkt an.

„Er ist der Geschäftsführungsaufgabe nicht gewachsen und glaubt, ich merke nicht, dass er trinkt und wer weiß was nimmt. Das Vermögen der Familie hängt an seinen Entscheidungen.“

„Hugo unterstützt ihn.“

„Schön wär's! Ich bin seit Längerem nicht mehr sicher, welche Interessen unser Familienanwalt vertritt!“, sagte Barbara hart und ein bisschen lauter. „Man muss ihm auf die Finger schauen!“

Die Freundin nickte. „Er hat sich verändert!“, sie hielt einen Moment inne, „und nicht zum Besten. Warum entbindest du Björn nicht von den Aufgaben?“

„Weil ich dafür weder die Kraft noch die Zeit besitze. Wer soll die Firma dann führen? Christian weigert sich, erwachsen zu werden und Julia würde ohne ihren Beruf verkümmern! Damit hinterließe ich einen üblen Scherbenhaufen!“

Mit diesen Worten setzte sie sich kerzengerade hin. Ein Schmerz ging durch ihren Rücken, als ob jemand mit einem Messer in ihr bohrte. Es fröstelte sie, obwohl sie bei den sommerlichen Temperaturen eine dicke Strickjacke trug. Mit äußerster Beherrschung unterdrückte sie einen Schmerzenslaut.

„Du solltest übrigens wissen, dass vieles von dem, was wir angestellt haben, nach meinem Tod bekannt wird! Ich habe manches aufgeschrieben und möchte es nicht vernichten! Die Kinder haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.“

Renate verlor den letzten Hauch an Gesichtsfarbe. „Wir müssen es ihm sagen!“, murmelte sie vor sich hin.

11. Mai 2016

Christian blinzelte auf den Wecker neben dem Wasserbett. 11:23 Uhr. Er hatte knapp sechs Stunden geschlafen.

Sah man von regelmäßigen Frauenbesuchen ab, lebte er allein. Ihm war bewusst, dass er den Ruf eines unverbesserlichen Playboys besaß, was ihn nicht störte. Er fand vielmehr, dass er das Leben genießen durfte. Vor ein paar Monaten hatte er den Masterabschluss in Wirtschaftswissenschaften erlangt, was vor allem seine Mutter erfreute.

Sein Job in der BioGenüsse GmbH, den er seitdem ausübte, war weder für ihn noch das Unternehmen von Bedeutung. Er kam und ging, wann er wollte, was ihm immer wieder Ärger mit Björn einbrachte. Es war ihm völlig gleichgültig!

Neben ihm regte sich etwas. Unter der Bettdecke kroch eine langbeinige Schönheit hervor.

„Guten Morgen“, hauchte sie mit spitzen Lippen.

Er überlegte, wie die zarte Person hieß, und glaubte sich an den Namen Laura zu erinnern. Vorsichtshalber vermied er die Anrede.

„Hi, gut geschlafen?“ Sie hatten sich in der Nacht in einem Klub in Frankfurt, in dem er oft verkehrte, kennengelernt.

„Zu kurz. Boah, ich spüre den Champagner!“ Das Mädchen verzog das Gesicht.

„Ich hatte dir gesagt, dass du ihn allein trinken musst“, entgegnete er.

„Keinen Alkohol und Nichtraucher!“ Sie schüttelte den Kopf. „Besitzt du noch mehr Fehler?“

Er lachte. „Ich jogge regelmäßig und gehe ins Fitnessstudio!“

„Das sehe ich. Du könntest der Siegfried aus dieser Sage sein!“, gurrte sie. Sie griff ihm ins Haar und wickelte sich eine Strähne um den Finger.

Er rollte mit den Augen und löste sich von ihr. „Süße, komm in die Puschen, wir frühstücken und dann muss ich los.“

„Das ist ja ein romantisches Ende unserer Nacht,“ quengelte sie und langte unter die Decke. „Ich glaube, da will jemand was anderes“, grinste sie.

Er sprang aus dem Bett und eilte ins Badezimmer.

Eine Stunde später verabschiedete er seine Verehrerin und versprach ihr, sie anzurufen, nur, um den Zettel mit ihrer Telefonnummer in den Papierkorb zu werfen, noch während sie in ein Taxi stieg.

***

Langsam ging Christian Lautrup hinüber, um nach der Mutter zu schauen, was für ihn zur täglichen Gewohnheit geworden war.

Renate öffnete die Tür. „Hallo, mein Junge, bist du nicht im Büro?“ Sie lächelte und musterte ihn. „Wie aus dem Ei gepellt!“

„Guten Morgen, teuerste Freundin. Du kennst mich doch. Ich hoffe, es geht dir genauso blendend, wie du aussiehst!“ Er grinste. „Ich hab mir heute ausnahmsweise freigenommen.“ Er umarmte sie und gab ihr einen Schmatz auf die Stirn.

„Du Charmeur! Das Theater kannst du dir für deine Weiber aufheben!“, empörte sie sich augenzwinkernd.

Er schmunzelte und lief zur Bibliothek. Vorsichtig trat er ein. Barbara saß in ihrem Lieblingssessel und döste. Ihre wächserne Haut verriet ihm, dass sich der Gesundheitszustand weiter verschlechtert haben musste. Er räusperte sich leise, worauf sie die Augen aufschlug und ihn anlächelte.

„Guten Morgen, mein Junge, warum bist du nicht im Büro?“ Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten. „Du könntest dich mal wieder rasieren. Wie oft habe ich dir gesagt, dass dir das Gestrüpp nicht steht! Kleidung aus den teuersten Boutiquen und ein Gesicht wie ein Strauchdieb!“ Sie seufzte.

Diese Begrüßung war mittlerweile zum Ritual geworden. Er strich über seinen Dreitagebart und setzte sich in den Sessel neben sie. „Hallo Mama, was gibt es Neues?“

„Gut, dass du kommst“, klang es versöhnlicher. Sie holte tief Luft, zögerte kurz und teilte ihm ihren Entschluss, die Therapie abzubrechen, mit.

Das durfte nicht sein! Er liebte sie von ganzem Herzen, obwohl ihm bewusst war, wie häufig er ihre Geduld strapazierte. Andererseits konnte sie sich auf ihn verlassen, wenn es darauf ankam. Ihre Worte hörte er einige Sekunden lang wie aus der Ferne, um sich dann wieder auf sie zu konzentrieren. Er wollte widersprechen, sie redete indes einfach weiter, bevor er einen Ton herausbekam.

„Ich will nichts hören“, ließ sie keinen Kommentar zu. „Ich bin Herr meiner Sinne, basta!“

Plötzlich wurde sie sanft. „Junge, wann beginnst du endlich, im Unternehmen Verantwortung zu tragen?“ Sie zögerte. „Du kannst von mir aus weiterhin Flausen im Kopf haben, solange es die Firma nicht stört!“ Sie zwinkerte ihm zu.

Er atmete tief durch, denn er kannte die Ansprache bereits auswendig. „Es gibt da leider Björn, der …“

Sie schnitt ihm das Wort ab. „Christian, ich spreche mit ihm! Ihr beide solltet kapieren, dass ich nicht mehr lange lebe und ihr zusammenarbeiten müsst! Ich möchte dies auf den Weg gebracht wissen, bevor ich gehe! Verstehst du das nicht?“

„Du lebst noch ewig!“, erwiderte er kraftlos.

„Quatsch! Es ist auch deine Verantwortung, auf Björn aufzupassen, damit er keinen Unfug anstellt.“ Sie erzählte ihm von der Expansionsidee und hielt mit ihrer Meinung dazu nicht hinter dem Berg.

Was beabsichtigte sein Bruder? Vermutlich war das wieder einer seiner impulsiven Einfälle!

Er seufzte. „Okay, ich versuche, mit ihm zu reden. Bin gespannt, wie er reagieren wird.“ Die kurze Nacht machte sich ein wenig bemerkbar, er stand auf. „Mama, ich fahre ins Büro.“ Er küsste sie zum Abschied.

„Tu das! Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Es ist mir wichtig!“ Er nickte, verließ das Zimmer und lief in die Wohnung, um ein Jackett und den Autoschlüssel zu holen.

Mit dem roten Porsche benötigte er eine Viertelstunde nach Oberursel und stellte den Wagen auf den für ihn reservierten Parkplatz. Er wollte mit Björn sprechen, denn ihn interessierte die Expansionsidee.

Der Gedanke daran ließ ihn die Müdigkeit und die Sorgen um die Mutter für eine Weile vergessen. Er freute sich darauf, dem Bruder auf den Zahn zu fühlen und ihn zu ärgern. Fast beschwingt betrat er das Hauptgebäude und grüßte den Mitarbeiter am Empfang.

Im Vorbeigehen holte er sich in der Kantine im Erdgeschoss ein belegtes Brötchen, das er auf dem Weg in die Geschäftsleitungsräume, die sich in der dritten Etage befanden, aß. Im Gang begegnete ihm Heide Kranich. Die Angestellte war im Unternehmen als Assistentin der Geschäftsführung tätig. Er fand die Enddreißigerin sympathisch. Ihre langen, blonden Haare passten zu ihrer schlanken Figur und dem länglichen Gesicht. Sein Blick wurde magisch von zwei strahlend blauen Augen angezogen.

„Hallo Heide, ist Björn im Büro?“ Die informelle Anrede gehörte über alle Hierarchiestufen hinweg zur Unternehmenskultur.

„Nein, ist er nicht. Er besucht einen Kunden.“

„Schade.“ Er blieb einen Moment unschlüssig stehen und schaute auf die Uhr.

„Es ist prima, dass ich dich treffe. Wollte ohnehin bei Gelegenheit zu dir.“

Er hob die Augenbrauen. „Aha, was verschafft mir die Ehre?“

„Ähm, ich arbeite jetzt seit drei Monaten hier und habe neben den offiziellen Sitzungen kaum mehr als zehn Sätze mit dir gewechselt. Ich halte es für hilfreich, die wichtigen Menschen im Unternehmen richtig kennenzulernen.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Hast du nach Dienstschluss Zeit und Lust, mit mir etwas trinken zu gehen?“, fiel sie mit der Tür ins Haus.

Er lachte schallend. „Oha. Ich bin bedeutend! Du bist heute bereits die Zweite, die das behauptet.“ Er überlegte. Normalerweise vermied er es, sich mit Mitarbeiterinnen privat zu verabreden, denn damit war meist Ärger vorprogrammiert. Vielleicht jedoch könnte er bei der Gelegenheit Details über Björns Pläne erfahren!

„Klar, können wir machen. 18 Uhr? Wo treffen wir uns?“

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Diana erreichte um 17 Uhr Bad Homburg. Sie hatte ihre Praxis gegen Mittag geschlossen, war mit dem Zug nach Frankfurt und weiter mit der S-Bahn in die Kurstadt gefahren. Im Zug hörte sie klassische Musik und überarbeitete ein Werbekonzept für ein Kinderprojekt, das ihr am Herzen lag.

Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Gunter hatte sie am Montag angerufen und ihr bestätigt, dass alle Angaben, die Renate Hubert gemacht hatte, richtig seien. Barbara und Karl-Heinz Lautrup waren tatsächlich ihre leiblichen Eltern!

Sie checkte im Parkhotel ein, das unweit des Kurhauses und direkt am Kurpark lag. Nachdem sie ausgepackt hatte, spazierte sie auf der Kaiser-Friedrich-Promenade an einer Kapelle vorbei, die am Rande des Parks lag. Sie hatte gelesen, dass dieses russisch-orthodoxe Gotteshaus vom Großvater des bekannten Schauspielers Peter Ustinov entworfen worden war.

Die schwüle Luft schien zu stehen. Weshalb hatte sie die Jeans nicht gegen einen leichten Rock getauscht?

Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete die Spaziergänger. Plötzlich erschienen die trüben Gedanken wieder. Am Vorabend hatte sie erneut mit Kai gestritten. Er musste zwar zugeben, dass die Besucherin in der vergangenen Woche die Wahrheit gesagt hatte, verstand trotzdem nicht, warum sie nach Bad Homburg fuhr. Ihre Enttäuschung darüber, dass er nicht einsah, dass sie ihre Zwillingsschwester und ihre leibliche Mutter kennenlernen wollte, schlug im Laufe des Gesprächs in Wut um. Vielmehr hätte sie sich gewünscht, dass er auf die Idee gekommen wäre, sie zu begleiten. Schließlich warf sie ihm vor, keine Ahnung zu haben, wie sie sich fühlte. Der Konflikt eskalierte endgültig, als sie ihn fragte, weshalb er überhaupt mit ihr zusammenlebte. Er schaute sie daraufhin entgeistert an, drehte sich wortlos um und verließ das Haus. Sie hatte ihn nicht heimkommen gehört und am Morgen war er bereits unterwegs gewesen, als sie aufgestanden war.

Sie konzentrierte sich auf ein Nilganspärchen, das mit sechs Jungen über die gegenüber liegende Wiese stolzierte. Jetzt nur nicht heulen!

Sollte sie ihn anrufen und ihm sagen, dass sie angekommen war? Weswegen? Das interessierte ihn ohnehin nicht. Biggi hatte recht. Es ging so nicht weiter!

Ihre Gedanken schweiften zu Opa und Oma ab. Konnte es wirklich sein, dass sie von der Adoption nichts gewusst hatten? Unvorstellbar! Sie vermisste die beiden unglaublich, nicht nur in diesem Moment.

Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem Frühstück nur ein Croissant gegessen hatte. Sie spazierte durch den Park zurück ins Hotel, nicht ohne einen kleinen Umweg zu einem Golfplatz zu machen, der mitten im Kurpark lag. Sie las auf einem Schild, dass die Golfanlage über hundert Jahre alt war und als älteste ihrer Art in Deutschland galt.

Der Himmel verdunkelte sich plötzlich von einer Minute zur anderen. Der auffrischende Wind kühlte zwar ein bisschen, war aber der sichere Vorbote eines aufkommenden Gewitters. Warum zogen immer dunkle Wolken auf, wenn sie sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigte?

Mit den ersten Regentropfen betrat sie ihre Unterkunft und fand im Restaurant des Hotels einen Tisch am Fenster. Das Essen schmeckte vorzüglich, obwohl es deutlich mehr kostete, als sie es von Celle gewohnt war.

Sie war im Begriff aufzubrechen, als ein Mann bei ihr stehen blieb und sie anstrahlte. „Hallo Julia, war es recht?“ Plötzlich stutzte er. „Oh, Verzeihung. Ich habe Sie verwechselt. Sie ähneln einer Dame, die ich kenne.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Mein Name ist Antonelli. Ich bin hier der Geschäftsführer. War alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Vielen Dank, es war köstlich“, entgegnete sie schmunzelnd.

Er lächelte und entfernte sich kopfschüttelnd.