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Das Buch

April 2005. Tommy Bergmann hält verbissen an einem alten Fall fest, den seine Kollegen längst abgehakt haben. Die 13-jährige Amanda ist verschwunden und für tot erklärt. Auch ihr vermeintlicher Mörder Jon-Olav Farberg soll tot sein. Tommy Bergmann ist der Einzige im Osloer Präsidium, der noch immer fest daran glaubt, dass Amanda lebt. Auch wenn der verbrannte Leichnam, der in Oslo gefunden wurde, noch nicht als der von Farberg identifiziert werden konnte, gilt Farberg offiziell als tot und beerdigt. Bergmann läuft Gefahr, vom Dienst suspendiert zu werden, weil er den Fall nicht aufgeben will. Da stößt Bergmann auf zwei Postkarten aus der litauischen Hauptstadt Vilnius. Auf den Rückseiten steht »Seele in Flammen« beziehungsweise »Tanzendes Blut«. Die Spuren führen Bergmann zu einer Sekte aus der Zarenzeit. Die Mitglieder glauben, dass ein Mörder erlöst werden kann, wenn er ein junges Mädchen, geboren im Sternzeichen des Widder, verstümmelt.

Der Autor

GARD SVEEN, geboren 1969, ist Staatswissenschaftler und arbeitet als Seniorberater im norwegischen Verteidigungsministerium. Sein Debüt Der letzte Pilger wurde mit dem Rivertonpreis 2013 und dem Glass Key Award 2014 als bester Krimi Skandinaviens ausgezeichnet. Er stand damit wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Gard Sveen lebt in Ytre Enebakk, einem kleinen Ort in der Nähe von Oslo.

Gard Sveen

DER EINSAME BOTE

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen
von Günther Frauenlob

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List

Die norwegische Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel Blod i dans
bei Vigmostad & Bjørke, Oslo

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ISBN: 978-3-8437-1732-8

© 2016 by Gard Sveen
First published by Vigmostad & Bjørke, Norway
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Covergestaltung: Cornelia Niere, München
Coverabbildungen: © Marliar Irastorza/stocksy

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Seele in Flammen, tanzendes Blut.
Wo bin ich, Tommy?

Dagbladet, 20. Januar 2005

Kommentar

von Frank Krokhol

Die umfangreichste Mordermittlung der letzten Jahre scheint jetzt ihrem Ende entgegenzugehen. Aber – tut sie das wirklich?

Die Zeitung Dagbladet hatte als Erste öffentlich in Frage gestellt, dass Anders Rask tatsächlich der Täter ist, der im Frühjahr des Jahres 1992 sechs junge Mädchen ermordete, auch wenn er diese Morde gestanden hat. Leider zeigte sich, dass wir mit unserer Unschuldsvermutung recht hatten. Kurz vor Weihnachten wurde bekannt, dass Elisabeth Thorstensen und Jon-Olav Farberg hinter den bestialischen Taten standen.

Thorstensen war in die Wohnung einer Kommissarin eingebrochen, die an den Ermittlungen beteiligt war. Dort behauptete sie, dass Jon-Olav Farberg ihren blutigen Bund nicht habe weiterführen wollen und sie ihn deshalb ermordet und seine Leiche in einem alten Fabrikofen zu beseitigen versucht habe. Dies konnte bis jetzt jedoch nicht bestätigt werden. Die Überreste der verkohlten Leiche sind zur Identifizierung an ein auf DNA-Analysen spezialisiertes Institut in Tuzla geschickt worden, aber es kann lange dauern, bis der Polizei die Analyseergebnisse vorliegen.

Die Osloer Polizei scheint mit dem derzeitigen Ermittlungsstand ganz zufrieden zu sein, die Frage ist nur, ob Polizei und Staatsanwaltschaft nicht im Begriff sind, sich neuerlich in einen Skandal zu verstricken.

Am gleichen Tag, an dem Farberg angeblich von Elisabeth Thorstensen getötet wurde, verschwand nämlich die dreizehnjährige Amanda Viskveen aus Kolbotn. Es kann sich um einen Zufall handeln, aber unseren Quellen zufolge sind einzelne Mitarbeiter der Polizei überzeugt davon, dass Farberg noch am Leben ist. Sollte das stimmen, könnte Farberg durchaus etwas mit Amandas Verschwinden zu tun haben. Die Osloer Polizei scheint komplett gelähmt zu sein: Die Ermittlungen im Fall Amanda stehen still, und die kritischen Stimmen im Präsidium werden – nach allem, was wir erfahren haben – zum Schweigen gezwungen. Dass die Macht sich selbst schützt, ist nichts Neues. Dass dies aber auf Kosten einer Dreizehnjährigen und ihrer Familie geschieht, kann weder von der Polizeipräsidentin noch von der Staatsanwaltschaft geduldet werden.

Teil 1

1

Montag, 11. April 2005

Der Cross traf ihn direkt am Kinn. Tommy Bergmann erinnerte sich nur noch daran, dass er seitlich auf die Matte stürzte, nachdem er das Gefühl für seine Beine verloren hatte. Hinter ihm verstummte das Klatschen der Boxhandschuhe auf die Boxsäcke.

»Verdammt. Alles okay, Kumpel?«

Er hörte Bents Stimme über sich. Blinzelte in Richtung der Lüftungsrohre. Die niedrige Decke schien sich wie eine Müllpresse auf ihn zu senken.

»Was für einen Tag haben wir heute?«, fragte Bent.

Einer der Trainer schwang sich in den Ring.

»Das kann dir doch scheißegal sein«, brummte Tommy.

Bents Lachen klang verächtlich. Wenn du Hege noch einmal anfasst, bringe ich dich um. Das ist dir doch wohl klar, Tommy?, hatte er einmal gesagt. Hätte Tommy jemals an diesen Worten gezweifelt, wären seine Zweifel spätestens jetzt ausgeräumt gewesen. Er versuchte sich aufzurappeln, aber ohne Erfolg.

»Du musst aufpassen, mein Junge«, sagte der Trainer, ein Mann jenseits der siebzig, der von allen nur der Alte genannt wurde. »Du boxt ja wie Rocky, komplett ohne Deckung. Wie oft muss ich dir das denn noch sagen?«

Der Alte und Bent stützten ihn, als sie aus dem Ring kletterten. Verdammt, Bent ist einen ganzen Kopf kleiner als ich, dachte er. Aber schnell wie ein Teufel und mit den Instinkten eines Terriers ausgestattet. Er war es gewesen, der Tommy vorgeschlagen hatte, doch wieder mit dem Boxen anzufangen. Schon als Tommy in der Jugendmannschaft von Oppsal Handball gespielt hatte, waren sie einmal in der Woche zum Boxen gegangen. Er mochte diesen Sport, so dass er sowohl beim Militär als auch auf der Polizeischule damit weitergemacht hatte. Und auch noch in den ersten Jahren, als er schon als Polizist gearbeitet hatte. Aber wenn man boxen wollte, musste man topfit sein und nicht auf seinem Arsch sitzen und dreißig Zigaretten am Tag rauchen.

»Ich kann dich zum Arzt fahren«, sagte Bent. Sie hatten Tommy auf einen Stuhl außerhalb des Rings gesetzt. Sein Blick ruhte auf ein paar Jugendlichen, die am Rand der Boxhalle auf Boxsäcke eindroschen. Die Spiegel am Ende des Raumes ließen ihn doppelt schwindelig werden. Wie im Spiegelkabinett eines Jahrmarkts zweifelte er daran, jemals wieder den Ausgang zu finden.

Bent hockte sich vor ihm hin.

»He, bleib bei uns«, sagte er.

Tommy hatte Schwierigkeiten, sich an den Wochentag zu erinnern, und keine Ahnung, wie spät es sein konnte. Verdammt, war er wirklich derart weit weg? Er blieb eine Weile mit geschlossenen Augen sitzen und ließ sich von Bent die Handschuhe ausziehen. Sein Kopf dröhnte, und er hatte das Gefühl, als wollte sein Kinn abfallen, doch irgendwann erinnerte er sich wenigstens daran, dass Montag war.

Er atmete tief aus und lehnte den Kopf nach hinten. Klopfte mit dem Schädel sanft gegen die Wand, nur um sicher zu sein, dass er auch wirklich festsaß.

»Sicher, dass er nicht zum Arzt muss?«, fragte Bent.

Der Alte schnaubte. »Wenn er nicht plötzlich einschläft oder zu kotzen anfängt, ist alles in Ordnung.« Er klopfte Tommy auf die Schulter.

»Geh duschen«, sagte Bent. »Ich warte in der Garderobe auf dich. Du musst aufpassen, Mann. Boxen ist nichts für Träumer.«

Tommy stand auf und schob ihn zur Seite.

»Lass mich in Ruhe«, sagte er und stützte sich auf dem Weg zur Garderobe an der Wand ab.

Ich darf doch wohl vor die Hunde gehen, wenn ich das will, dachte er und stolperte durch die Tür. Hinter ihm verstummte das Geräusch von gut zehn Paar Boxhandschuhen.

Tommy versuchte, seine Schritte unter Kontrolle zu bekommen, als er zu den Waschbecken ging, und bemerkte kaum, dass die beiden jungen Pakistani, mit denen er schon so oft gesprochen hatte, aus der Dusche kamen, weiße Handtücher um die Lenden gewickelt. Er stützte sich am Waschbecken ab, während sich um ihn herum alles im Kreis drehte; wie damals, als er sechzehn gewesen war und zu schnell zu viel getrunken hatte. Sein Kopf kippte nach vorn. Irgendwann gelang es ihm wieder, sich aufzurichten und die paar Meter zu den Toiletten zu taumeln. Ohne die Tür zu schließen, kniete er vor der Schüssel nieder.

Mehrere Minuten lag er mit dem Kopf auf der Klobrille und wartete darauf, dass er sich erbrach, aber es kam nichts. Vielleicht hatte er doch keine Gehirnerschütterung.

Oder er hatte überhaupt kein Gehirn.

Eigentlich die plausibelste aller Erklärungen.

»Lasst mich in Ruhe« war alles, was er rausbrachte, als einer der beiden Pakistani sich erkundigte, ob er Hilfe brauche.

»Kannst du dich an meinen Namen erinnern?«, fragte der junge Mann.

Es gelang Tommy nur mit Mühe, den Kopf zu drehen.

»Ali«, sagte Tommy. »Ich komme klar, du brauchst nicht Doktor zu spielen.«

»Ich glaube, dein Handy klingelt«, sagte Ali.

Tommy hörte den vertrauten Ton aus der Garderobe.

»Es hat schon ein paarmal geklingelt.«

Tommy streckte ihm den Arm entgegen. »Hilf mir hoch.«

Von Ali gestützt, schaffte er es in die Garderobe, wo er das Handy aus seiner Jackentasche fischte, ehe er sich auf die Bank fallen ließ.

»Tommy Bergmann?«, fragte eine Stimme am anderen Ende.

»Ja«, sagte Tommy, wusste aber nicht, ob er auch so laut sprach, dass er zu hören war.

»Hier Gundersen. Der Anwalt von Anders Rask. Anders hat sich nun doch umentschieden. Er möchte Sie gerne treffen.«

»Wann?«

»Heute Abend.«

Verdammt typisch, dachte Tommy, sagte aber nichts. Seit Wochen versuchte er, ein Treffen mit Anders Rask zu vereinbaren, aber dessen Anwalt hatte ihn immer auf Distanz gehalten. Wenn er die Chance, die sich ihm jetzt bot, ausließ, würde der Anwalt ihm sicher nie wieder eine zweite geben. Aber weder Fredrik Reuter noch sonst jemand im Präsidium durfte jemals von diesem Treffen erfahren, sonst war er fertig und konnte seine Karriere gleich im Klo hinunterspülen.

Tommy schloss die Augen und ließ den Kopf langsam nach hinten kippen, bis er die Wand traf. Es fühlte sich wie ein neuerlicher Schlag an.

»Die Besuchszeit ist von sieben bis acht«, sagte der Anwalt. »Morgen kann er es sich schon wieder anders überlegt haben.«

2

Irgendwann war ihm mal erzählt worden, die Halbinsel Nesodden habe genau die Größe von Manhattan. Trotzdem erinnerte Tommy wenig an New York, als er die höchste Stelle des Nesoddenbakken erreichte.

Das Rehazentrum Sunnaas lag auf der Westseite der Halbinsel, von wo aus man in der Regel eine grandiose Aussicht über den Fjord und die westlichen Vorstädte von Oslo hatte. An diesem Abend aber war die Klinik eingehüllt von tiefhängenden, dicken Regenwolken, so dass der Blick nicht einmal hundert Meter weit reichte.

Tommy wusste genau, dass dies nicht der richtige Abend war, um Anders Rask gegenüberzutreten. Das hatte er nur zu deutlich gespürt, als er durch die engen Kurven in Richtung Sunnaas gefahren war, aber er hatte ganz einfach keine andere Wahl. Seit Weihnachten war er der Einzige, der daran glaubte, dass Jon-Olav Farberg noch am Leben war und die dreizehnjährige Amanda Viskveen versteckt hielt – wenn er sie nicht bereits getötet und irgendwo verscharrt hatte.

Mit zitternden Fingern zündete er sich eine Zigarette an und ließ das Feuerzeug wieder in seine Tasche gleiten. Dann versuchte er seinen Blick auf die Dokumente zu richten, die auf dem Beifahrersitz lagen: ein Auszug aus der Polizeiakte über Amanda Viskveen, an den oben mit einer Büroklammer ein Passfoto des Mädchens geheftet war. Eine Kreditkartenabrechnung von Jon-Olav Farbergs Bank. Eine Bilanz von einer seiner Firmen und eine erste schriftliche Abmahnung der Personalabteilung des Osloer Polizeidistrikts an Tommy, sich nicht weiter mit dem Fall Amanda Viskveen oder Jon-Olav Farberg zu beschäftigen.

Anders Rasks Anwalt erwartete Tommy an der Rezeption des Rehazentrums. Tommy hatte ihn im letzten Jahr schon einmal in der Psychiatrie in Ringvoll getroffen. Der Anwalt aus Gjøvik hatte überraschend schnell die Wiederaufnahme von Rasks Verfahren erreicht, und inzwischen war klar, dass Rask die Mädchen nicht getötet hatte. Ob es Anwalt Gundersen gelänge, auch einen Freispruch für die Morde an dem Wachpersonal in Ringvoll zu erwirken, war hingegen noch fraglich.

»Ich bin dankbar für diese Gelegenheit«, sagte Tommy und gab dem Anwalt die Hand. Ihre Blicke begegneten sich, und Tommy wurde klar, dass er dem Anwalt einen großen Gefallen schuldete.

Vor seinen Augen flimmerte es, als er Gundersen in die geschlossene Abteilung folgte, die extra wegen Rask eingerichtet worden war. Er schwitzte, und der schmale Flur zog sich mit einem Mal vor ihm zusammen. Alles begann sich zu drehen, so dass er sich an die weiß gestrichene Wand lehnen musste. Die Unterlagen rutschten ihm aus der Hand. Gundersen drehte sich um und sah ihn überrascht an.

»Alles in Ordnung?«, fragte er, als er mit der Zugangskarte in der Hand vor der stählernen Sicherheitstür stand.

»Ich glaube, ich werde krank«, sagte Tommy und versuchte sich an einem Lächeln.

Er wollte wirklich nicht, dass Rask ihn so sah. Schon die Tatsache, dass Tommy selbst um dieses Treffen gebeten hatte, war ein Zeichen der Schwäche.

3

Anders Rask saß in einem Aufenthaltsraum. Sie sahen ihn im Profil vor einer riesigen Fensterfront, die zum Freigelände hinausging. Er trug einen lila Cardigan und hatte sich eine Wolldecke über die Beine gelegt, als wollte er die Tatsache vertuschen, dass er nicht mehr laufen konnte.

»Jetzt ist er da, Anders«, sagte Gundersen und ging zu dem Sofa, das rechts neben Rask stand.

Tommy musterte den Mann, der sechs Morde an Mädchen und jungen Frauen gestanden und später dann widerrufen hatte. Der einzige Mann in Norwegen, der Jon-Olav Farberg gut genug kannte, um dessen Handlungen zu verstehen.

Tommy hatte zweimal mit Farbergs Exfrau Anne-Britt gesprochen. Sie war sich vollkommen sicher gewesen, dass ihr Mann so etwas niemals hätte tun können. Aber das sagten alle Ehepartner oder Lebensgefährten, wenn sie erfuhren, dass ihr Partner ein Mörder war. In Farbergs Fall ein regelrechter Schlachter.

»Tommy will bestimmt mit mir allein sein«, sagte Rask und drehte den Rollstuhl zur Fensterfront, weg von Tommy und dem Anwalt. »Hab ich recht, Tommy?«

Tommy sah zu Gundersen hinüber, der eine Grimasse schnitt, ein paar Sekunden nachdachte und dann den Raum verließ.

Rask blieb mit dem Rücken zu Tommy sitzen und sah aus dem Fenster. Nebel, Regen und zunehmende Dämmerung.

»Jetzt habe ich wenigstens die Aussicht, die Arne Furuberget mir in Ringvoll nie zugestanden hat«, sagte Rask leise. »Nur schade, dass ich die heute Abend nicht mit Ihnen teilen kann.«

Tommy nahm auf dem Sofa Platz, auf dem Gundersen gesessen hatte, und legte die Unterlagen neben sich ab. Das leise Rascheln ließ Rask den Rollstuhl umdrehen.

Er nahm die Hornbrille ab und klappte sie zusammen.

Tommy dachte, dass er sich gut gehalten hatte: Er sah jünger aus als Tommy, und das, obwohl er elf Jahre in Ringvoll eingesessen hatte und auf der Flucht dann auch noch von einem Beamten in Trondheim in den Rücken geschossen worden war.

»Kristiane wäre heute zweiunddreißig«, sagte Rask und starrte seitlich von Tommy in die Luft.

Tommy sagte nichts. Für Kristiane Thorstensen kam die Rettung mehr als sechzehn Jahre zu spät. Aber vielleicht konnte er ja einem anderen Mädchen helfen, so dass es die Chance bekam, zweiunddreißig zu werden.

Er holte die Akten des Amanda-Falls hervor.

»Ich will Ihnen keine Lügen auftischen«, sagte Tommy. »Der Grund, weshalb ich heute hier bei Ihnen bin, ist dieses Mädchen hier.«

Er stand auf, reichte Anders Rask die Papiere und setzte sich wieder auf das Sofa.

»Ich glaube, Jon-Olav Farberg hat sie«, sagte Tommy.

Rask hielt die Brille noch immer in der Hand und machte keine Anstalten, einen Blick in die Unterlagen zu werfen.

Eine Zeitung lag aufgeschlagen neben ihm auf dem Tisch. Aftenposten. Internationales. Tommy versuchte zu lesen, aber es war zu dunkel, außerdem stand die Schrift von ihm aus gesehen auf dem Kopf. Er bemerkte aber, dass die Ausgabe schon ein paar Tage alt war.

»Jon-Olav ist tot«, sagte Rask. »Ich gehe davon aus, dass Sie bei seiner Beerdigung waren. Polizisten lieben doch solche Beerdigungen.«

Tommy gab nur ein verächtliches Schnauben von sich. Seit Farbergs vermeintlichem Tod waren vier Monate vergangen, doch die DNA-Analyse der verkohlten Leiche aus dem Ofen in Nydalen war angeblich noch immer nicht abgeschlossen. Er hatte den Verdacht, dass Oberstaatsanwalt Svein Finneland die Ergebnisse des Institutes in Tuzla unter Verschluss hielt. Die Analyse konnte unmöglich so lange dauern. Und wenn der Tote wirklich Jon-Olav Farberg war, gäbe es keinen Grund, diese Information nicht bekanntzumachen.

»Ich werde Ihnen etwas sagen, was niemand sonst weiß«, sagte Tommy. Ihm war bewusst, dass er an seinem persönlichen Tiefpunkt angelangt war, wenn er einen Mann wie Anders Rask ins Vertrauen ziehen und ihm glauben musste.

»Jon-Olav Farberg war vor Weihnachten in Lillehammer. Als ihn alle für tot hielten, war er mit einem Lieferwagen auf dem Hof Suttestad. Was, glauben Sie, war in diesem Lieferwagen, Anders?«

Tommys Worte schienen Rask vollkommen kaltzulassen. Er setzte sich die Brille auf die Nase und warf einen Blick auf die Papiere.

»Hübsches Mädchen«, sagte er. »Wirklich hübsch, finden Sie nicht auch? Was meinen Sie, Tommy, wie sieht sie wohl ohne Kleider aus? So kleine, feste Brüste haben sie nur in diesem Alter. Und wie empfindsam die sind.« Ein Lächeln zuckte über Rasks Lippen.

Tommy dachte, dass er Rask am liebsten selbst eine Kugel ins Rückgrat gejagt hätte, aber wenn er sich provozieren ließ, war der Besuch vertane Zeit.

»Vielleicht hat Jon-Olav sie deshalb auserwählt«, sagte Rask. »So verlockend sind nur Dreizehnjährige. Sie glauben nicht, welche Faszination von denen ausgeht. Haben Sie schon mal die Vulva einer Dreizehnjährigen gesehen, Tommy?« Anders Rask konnte sich ein jungenhaftes Grinsen nicht verkneifen. »Warum antworten Sie nicht auf meine Frage?«, fuhr er fort. »Ich versichere Ihnen, der Anblick ist göttlich. Und glauben Sie mir, es ist nie mehr dasselbe, wenn Sie anschließend wieder mit einer erwachsenen Frau schlafen.«

»Sie erwarten doch wohl nicht von mir, dass ich mich provozieren lasse?«, sagte Tommy. »Außerdem wusste ich gar nicht, dass Sie auch mal mit einer erwachsenen Frau geschlafen haben. Sie haben ein großes Mundwerk, Rask, aber eigentlich sind Sie nur ein kleiner Junge, nicht wahr? Hat Ihre Mutter Sie nicht liebgehabt? Ist das Ihr Problem?«

Rask schlug den Blick nieder. Seine Augen hatten für einen Moment einen feuchten Glanz bekommen.

»Lassen Sie uns über Jon-Olav Farberg reden«, sagte Tommy.

Der ehemalige Lehrer nahm die Büroklammer von den Dokumenten und hielt sich das Passfoto vor die Augen.

»Ich glaube, es gibt einen ganz konkreten Grund dafür, dass er Amanda Viskveen ausgesucht hat, Anders.«

Rask erwiderte nichts, stieß nur Luft durch die Nase aus.

»Und ich glaube, Sie wissen, was für ein Grund das ist.«

»Warum sollte ich Ihnen helfen, Tommy?« Rask sprach seinen Namen mit sarkastischem Unterton aus und warf das Bild der Dreizehnjährigen auf die Unterlagen. »Können Sie mir irgendwas bieten?«

»Farberg war mit Amanda in Lillehammer. Und ich glaube, dass sie da noch am Leben war. Vielleicht ist sie das ja noch immer.«

Anders Rask schloss die Augen und blieb lange so sitzen. Es sah aus, als wäre er kurz davor einzuschlafen.

»Ich denke, Sie haben die Fahndung an Interpol gegeben?«, sagte er plötzlich und öffnete die Augen. »Sie werden inzwischen doch wohl ein bisschen klüger geworden sein und ihm keine Geschenke mehr machen, sondern ihn mit allem jagen, was Ihnen zur Verfügung steht?«

Tommy antwortete nicht. Es war, als hätte Rask seine Gedanken gelesen. Tommy hatte um die Interpol-Fahndung gekämpft, aber ohne Erfolg.

»Was glauben Sie, wohin kann er gegangen sein?«

»Was glauben Sie, wenn er denn wirklich noch am Leben ist?«, fragte Rask. »Aber fragen Sie sich doch bitte auch mal, warum in aller Welt ich Ihnen helfen sollte?«

Rask nahm die Zeitung vom Tisch, als wollte er wieder lesen, schien sich dann aber anders zu entscheiden und faltete sie zusammen.

Tommy stand auf, dieses Mal aber etwas zu schnell, so dass der Kopfschmerz mit neuer Intensität hinter seiner Stirn aufflammte. Die Paracetamol, die er im Auto liegen gehabt hatte, wirkten nicht mehr.

»Ich glaube, Sie wollen mir helfen, weil Sie Jon-Olav Farberg eigentlich gar nicht mögen. Er hat sie betrogen, dabei haben Sie ihn für einen Freund gehalten, nicht wahr? Wie viele Freunde haben Sie eigentlich? Nur Jon-Olav? Freund und Kollege, jemand, der Sie glauben hat lassen, dass Sie die Mädchen getötet haben, die eigentlich er auf dem Gewissen hatte. Und er hat noch mehr umgebracht, Anders, weit mehr. Glauben Sie das nicht auch?«

Rask rieb sich die Augen. Es schien, als fände er die ganze Situation im höchsten Maße unangenehm.

»Ich habe das hier gefunden«, sagte Tommy. Er beugte sich vor, um die Mappe zu öffnen, musste sich aber auf der Tischplatte abstützen. Unter den Unterlagen war auch eine Kopie einer Restaurantquittung, die Tommy bei Farbergs Buchhalter gefunden hatte, sowie diverse Kreditkartenabrechnungen.

Rask schob sich die Brille etwas höher auf die Nase und griff nach den Unterlagen.

»Setzen Sie sich«, sagte er. »Ich seh mir das an.«

Rask sah zu Tommy hinüber, ehe er die Mappe öffnete.

»Essen mit R«, las Rask leise für sich.

Die Quittung war auf einen A4-Zettel kopiert worden: zweimal Entrecote, einmal Lammkotelett, dreimal Crème brûlée, zwei Flaschen Wasser und zwei Flaschen Rotwein. Das Restaurant hieß Totorino und lag in der Totoriugatve in Vilnius. Auf der Rückseite war notiert: Essen mit R am 10. Juni 2004.

»Farberg und dieser geheimnisvolle R müssen verdammt hungrig gewesen sein«, sagte Tommy, »wenn da keine dritte Person zugegen war.«

Anders Rask strich sich über das unrasierte Kinn, sagte aber nichts.

»Der Buchhalter meinte, die Quittung würde vom Finanzamt sicher nicht anerkannt werden«, sagte Tommy, »da Farberg keine Geschäftsverbindungen im Ausland habe, die mit R anfangen. Außerdem fehlten sowohl die Quittung für die Flugreise nach Litauen als auch die Hotelquittung für den Aufenthalt.«

»Kann diese geheimnisvolle R nicht einfach irgendeine Hure gewesen sein, Tommy?«, fragte Rask. »Litauen ist doch bekannt für seine großartigen kleinen Huren, wie hieß noch mal diese Kleine in Frogner? Dina?«

»Nein, Daina«, sagte Tommy, bereute seine Worte aber sofort. Er wusste, dass Rask sich sehr wohl an den Namen des letzten Opfers von Jon-Olav Farberg und Elisabeth Thorstensen erinnerte.

»Es ist vielleicht kein Zufall, dass diese Daina aus Litauen war, oder was meinen Sie?«

Tommy nickte. In diesem Moment fasste er einen Entschluss: Morgen würde er den ersten Flieger gen Osten nehmen.

»Nehmen wir mal an, Farberg lebt. Was glauben Sie, wo er sich jetzt befindet? Und was er macht? Sie kannten ihn damals doch recht gut?«

Rask nickte vor sich hin. Schließlich sagte er vollkommen ernst: »Was soll er schon machen? Er bringt kleine Mädchen um.«

»Dann glauben Sie, dass er es wieder tun wird?«

»Wenn Sie recht haben und er wirklich noch am Leben ist, wird das wohl das Einzige sein, was ihn am Leben hält, denken Sie nicht?«

»Und was ist mit dem Mädchen? Mit Amanda?«

Rask zuckte mit den Schultern. »Ich kann doch nicht alles wissen, Tommy. Die ist schon lange weg. Vielleicht hat er sie längst irgendwo abgeladen, wo sie nie gefunden werden wird.«

Tommy schloss die Augen und legte den Kopf in die Hände. Sein Schädel war unglaublich schwer. Was machte er hier eigentlich? Hatte er Rask wirklich aufsuchen müssen, um sich von ihm demütigen zu lassen?

»Sagen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß«, forderte Tommy. »Etwas über Farberg. Wie sind Sie Freunde geworden?«

Er öffnete die Augen und sah Rask an. Der ehemalige Lehrer von Kristiane Thorstensen, der Mann, der als das größte Monster der modernen Zeit beschrieben worden war, bot einfach nur einen traurigen Anblick, wie er dort in seinem Rollstuhl saß. Von dem aufgeblasenen Narzissten, den Tommy im letzten Herbst in Ringvoll getroffen hatte, war nicht mehr viel übrig. Schon erstaunlich, was eine Kugel im Rücken aus einem Menschen machen konnte, dachte Tommy.

»Jon-Olav und ich teilten unser Interesse für schöne Kinder und gute Bücher, sowohl historische Sachen als auch etwas … saftigere Themen.«

»Was hat er am liebsten gelesen?«, Tommy war öfter in Farbergs Haus auf Malmøya gewesen, als ihm lieb war, und er hatte dort alle Schubladen, Schränke und Regale durchsucht, ohne etwas von Interesse zu finden.

»Besonders gern hat er über die tschechoslowakische Legion gelesen«, sagte Rask und lächelte traurig.

Tommy zog die Stirn in Falten und schüttelte langsam den Kopf.

»Die tschechoslowakische Legion?«

»Jon-Olav hat viele Bücher bei sich zu Hause.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Tommy.

Es klopfte an der Tür. Anders Rask reagierte nicht. Er sah aus wie eine Statue, fahl, starr und unnahbar. Draußen war es inzwischen vollkommen dunkel, nur der Lichtschein der Tischlampe fiel auf sein Gesicht.

»Tut mir leid«, sagte Anwalt Gundersen, als er den Raum betrat. »Die Zeit ist leider gleich um, Bergmann.«

Tommy beachtete ihn nicht.

»Anders? Hat Farberg Sie dazu gebracht, die Schuld für seine Morde auf sich zu nehmen?«

Rask wandte den Kopf ab. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig wie bei einem Kind.

»Anders?«

»Ich habe selbst daran geglaubt. In all diesen Jahren habe ich mir wirklich gewünscht, ich hätte die alle getötet.«

Tommy antwortete nicht. Irgendwie gelang es ihm nicht, sich von dem Gedanken zu befreien, dass Rask schuld an den Morden war, die er gestanden hatte. Das Bild, das die Medien von ihm gezeichnet hatten, steckte noch in seinem Kopf, obwohl er besser als jeder andere wusste, dass Jon-Olav Farberg der Mann war, auf den sie Jagd hätten machen müssen.

»Ich bin müde«, sagte Rask. »Ich bin das Leben so … leid.«

»Sehe ich aus wie Mutter Teresa?«, fragte Tommy.

Eine Schwester betrat den Raum. Sie lächelte den Anwalt und Tommy freundlich, aber entschieden an.

Als er zum Auto ging, regnete es in Strömen.

Tommy starrte auf seinen Notizblock.

Die tschechoslowakische Legion.

4

Als Tommy nach Hause kam, war er unruhig. Ihm war klar, dass eine Gehirnerschütterung nicht gerade eine beruhigende Wirkung hatte, trotzdem war er sich sicher, dass das, was ihn quälte, irgendetwas mit dem zu tun haben musste, was Anders Rask gesagt hatte.

Er nahm die Mappe zum Fall Amanda und breitete die einzelnen Dokumente auf dem Couchtisch aus, während im Hintergrund der Fernseher lief.

»Die tschechoslowakische Legion«, murmelte er vor sich hin. Was für einen Bären glaubte Rask ihm damit aufbinden zu können?

Der Fernseher zeigte Reklame für eine Realityshow. Man suchte Teilnehmer für einen Aufenthalt auf einer Tropeninsel. Tommy musste grinsen, er hatte wirklich Lust, sich dort anzumelden.

Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete das Passfoto von Amanda.

Er hätte die Gastwirtin oben in Suttestad dafür verfluchen können, dass sie ihre Aussage zurückgenommen hatte, aber konnte er ihr wirklich einen Vorwurf machen? Auf jeden Fall hatte sie ihn wie einen Idioten aussehen lassen, wie einen Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Als Tommy bei ihr vor der Haustür stand und ihr das Foto von Farberg zeigte, hatte sie nur gesagt: »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Diesen Mann habe ich wirklich noch nie gesehen.« Sie hatte ihn dabei lange angesehen und dann wiederholt: »Wirklich nicht.«

Sie hatte ihre Rolle gut gespielt und irgendwie beinahe erleichtert gewirkt, als Tommy ihr Farbergs Foto gezeigt hatte.

»Lass die Sache ruhen«, hatte Reuter anschließend gesagt. »Weck keine schlafenden Hunde, verstanden?« Dabei hatte er ihn auf eine Art angesehen, die Tommy an seinen Psychiater erinnert hatte, an Viggo Osvold.

Tommy nahm den Brief von der Personalabteilung vom Tisch. Erste Abmahnung. Im Klartext bedeutete das: Ermittelte er weiter im Fall Amanda, würden sie ihn rausschmeißen. Die Sache war ganz einfach. Es sollte um jeden Preis daran festgehalten werden, dass Elisabeth Thorstensen Jon-Olav Farberg getötet hatte, und sollte Farberg in ein paar Jahren dann doch plötzlich irgendwo im Ausland auftauchen, würden Reuter, Oberstaatsanwalt Svein Finneland und Polizeipräsidentin Hanne Rodahl einfach die Verantwortung von sich weisen und behaupten, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben.

Tommy konnte kaum auf den Fernsehbildschirm schauen. Sein Kopf fühlte sich etwas besser an, aber die Müdigkeit überwältigte ihn, so dass er sich auf dem Sofa ausstreckte und sich die Decke bis zum Kinn zog.

Unmittelbar bevor er einschlief, holten seine Sorgen ihn ein. Hatte man eine Gehirnerschütterung, musste man alle zwei oder drei Stunden geweckt werden, auch in der Nacht. Aber so wie er sein Leben gelebt hatte, war es beinahe eine Selbstverständlichkeit, dass er niemanden hatte, der über ihn wachte. Wer passte schon auf einen Mann auf, der die Frau, die er liebte, umbringen wollte?

Während der Schlaf ihn umfing, glaubte er Hege im Bad zu hören. Und in seinem Traum stand sie vor ihm. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, obwohl er sie gebeten hatte, sich umzudrehen. Sie war nackt, und ihr Körper sah irgendwie anders aus. Älter.

Im nächsten Augenblick war er umringt von dichtem, finsterem Wald. Er starrte auf seine im feuchten Erdreich versunkenen Füße. Irgendwo vor sich sah er das Licht einer Taschenlampe hin und her zucken.

Er begann zu laufen.

Der Mann dort vor ihm war Kåre Gjervan, sein alter Kollege aus dem Jahre 1988, da war er sich ganz sicher.

Seine Schritte erstarrten, als er hinter sich ein Geräusch hörte.

Ein Knacken.

Er schlug die Augen auf.

Das Wohnzimmer lag im Dunkeln. Nur aus dem Bad fiel ein schwacher Lichtschein auf das Parkett im Flur.

Sein Kopf dröhnte noch immer. Irgendwo weit entfernt hörte er noch die Geräusche aus der Boxhalle in Sandaker.

Oder war das die Tür im Treppenhaus?

Er stand langsam auf, fürchtete, die Besinnung zu verlieren, und ging zur Wohnungstür, wo er lange stehen blieb und durch den Spion schaute. Der Gedanke, dass Elisabeth Thorstensen oder Jon-Olav Farberg im letzten Herbst in seiner Wohnung gewesen waren, bohrte sich quälend in sein Bewusstsein.

Langsam drehte er sich um und sah zum Bücherregal, wo das Porträtfoto seiner Mutter gestanden hatte. Das Bild war in der Schwesternschule des Roten Kreuzes in Tromsø aufgenommen worden – ein Jahr vor seiner Geburt, 1965. Elisabeth kannte seine Mutter bestimmt aus ihrer Jugend in Nordnorwegen. Vielleicht hatte sie das Bild an sich genommen. Aber warum?

Er verstand das alles noch immer nicht.

Im Treppenhaus war erneut ein Geräusch zu hören. Wieder presste Tommy sein Auge an den Spion. Er hatte Übersicht über die Treppe bis nach unten zur Haustür und auf der anderen Seite bis zur Wohnung seines Nachbarn.

Er wartete darauf, dass das Gesicht von Jon-Olav Farberg auftauchte.

Dann hörte er einen dumpfen Laut aus der Etage über ihm, gefolgt von schnellen Schritten nach unten.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

Es war sechs Uhr morgens.

Der Zeitungsbote, dachte er.

Tommy lehnte die Stirn an die Tür, während er durch den Spion schaute. Vielleicht sollte er wirklich tun, worum Reuter ihn so inständig gebeten hatte: den ganzen Fall aufgeben. Jon-Olav Farberg aufgeben.

Der Zeitungsbote, ein Tamile etwa in Tommys Alter, huschte am Spion vorbei und war mit zwei großen Sätzen bei der Haustür.

Tommy drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer, als ihm der Gedanke kam. Die Unruhe, die ihn am Abend zuvor so gequält hatte, war keine Folge der Gehirnerschütterung, sondern hatte mit der Zeitung zu tun, die neben Anders Rask auf dem Tischchen gelegen hatte.

Er riss die Jacke von der Garderobe im Flur und zog das Notizbuch aus der Innentasche, als hätte er keine Zeit zu verlieren.

»Aftenposten«, las er. Die Zeitung, die der Bote gerade ausgetragen hatte.

Internationales und Seite 6/7 hatte Tommy notiert, und er wusste noch, dass die Ausgabe mehrere Tage alt gewesen war.