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Die ausgebildete Mezzosopranistin Almuth Herbst absolvierte ihr Konzertexamen mit Auszeichnung. Sie erhielt internationale und nationale Stipendien, nahm an Meisterkursen teil und wurde in der ganzen Republik für zahlreiche solistische Konzerte verpflichtet. Opernengagements führten sie auch ins Ausland nach Luxemburg und in die USA. Aktuell ist sie Mitglied des Soloensembles am Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen. Dort gewann sie auch den Gelsenkirchener Theaterpreis für herausragende Leistungen am Musiktheater im Revier (MiR). „Wintersaat“ ist ihr erster Roman.

ALMUTH HERBST

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Historischer

Roman aus dem

Münsterland

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1. Dirk Hennig:
Der Schatz im Aasee. Die ganze Wahrheit
Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2004
ISBN 978-3-932927-23-2

2. Almuth Herbst:
Wintersaat. Historischer Roman aus dem Münsterland
Münster: Solibro Verlag 3. Aufl. 2018
ISBN 978-3-96079-027-3 / eBook: 978-3-96079-028-0

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ISBN 978-3-96079-028-0

3. Auflage 2018 / Originalausgabe

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung & art work: Cornelia Niere, München
Frau im Amulett: © 2017 Photo Scala Florence - courtesy of the Ministero Beni e
Att. Culturali e del Turismo

Autorenfoto S. 2: © Pedro Malinowski

www.solibro.de

Für Fanny, Uta und Lenz

Prolog

Aufzug I

Erwachen grundehrlicher Gefühle auf dem Lande

Aufzug II

Der Zimmerlehrling

Aufzug III

Das Mädchen mit den erdbeerblonden Haaren

Appendix

Prolog

Es gibt Augenblicke, die vergisst man nicht.

Die brennen sich ein wie glühendes Eisen.

Und prägen ein Mal für den Rest des Lebens.

Wie das Wetter ist, wie das Licht einfällt, wie es riecht.

Welche Kleidung man trägt.

Nichts davon vergisst man.

Augenblicke, von denen man sich nie mehr erholen wird.

Dies ist einer dieser Augenblicke.

Wie der Wind in meine Haare greift und an meinem Schultertuch zerrt.

Seine Augen.

Seine Haltung, sein Blick.

Nie ist mir bewusster gewesen, wie sehr ich ihn liebe, wie sehr ich ihn vermisse.

Und nie zuvor war ich mir so sehr des Hasses bewusst, der mich antreibt.

Seit Jahren schon antreibt.

Greifbarer als die Liebe, die ich für ihn empfinde.

Jetzt gerade weiß ich es nicht.

Ist das der Augenblick, in dem ich verrückt werde?

Oder bin ich es schon viel längere Zeit?

Wo ist der Übergang?

Verliert man seinen Verstand wie ein Ding, das man einfach fallen lässt?

Sie ist so dicht bei ihm.

Wie ist das nur möglich?

Ich ertrage das nicht. Mein Verstand erträgt es nicht.

Bin ich das, die da schreit?

„Du kannst ihn mir nicht wegnehmen! Du bist seit Jahren tot!“

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Aufzug I

Erwachen grundehrlicher Gefühle auf dem Lande

Anderske Dijkersma wusste ganz genau, dass sie nicht für die Provinz geschaffen war. Schon gar nicht für die westfälische. Um ihr das begreiflich zu machen, brauchte ihr Vater gar nicht erst mit der Schilderung all dieser verregneten Trübsal und des kümmerlichen Lebens der Menschen anzufangen, die nach seinem Dafürhalten dort auf sie warteten. Natürlich war sie dafür nicht geschaffen! Wie sollte sie auch?

Ihr ganzes Leben hatte sie in geheizten Häusern zugebracht, auf weichen Daunenkissen geschlafen und noch kein einziges Tröpfchen Schweiß bei irgendeiner Arbeit gelassen. Abgesehen von der brennenden Frage, was sie morgens anziehen sollte oder wie ihr Haar zu frisieren war, wurden ihr Entscheidungen abgenommen. Hatte sie Wünsche, wurden die meistens von jemandem erfüllt. Wer die Hausarbeit erledigte oder das Essen zubereitete, war noch nie ihr Problem gewesen. Das Essen tat für gewöhnlich das, was es zu tun hatte: es stand fertig auf dem Tisch, wenn ihr danach war.

Ebenso wenig kümmerte Anderske die Frage, wie sich ihr bequemes Leben finanzieren ließ. Wollte sie sich etwas kaufen, kamen Laufer ins Haus, breiteten vor ihr die Waren aus, sie wählte, und damit gingen die Sachen in ihren Besitz über. Oder der Vater brachte Schönes aus Amsterdam mit.

Es vergingen manchmal ganze Monate, in denen sie nicht den blassesten Schimmer hatte, wer morgens dazu verdonnert wurde, all diese Spitzen und Rüschen aufzubügeln, mit deren Verknitterung sie den lieben langen Tag bei Würzwein, Plätzchen und herablassenden Bemerkungen über Münsters Kulturprogramm zubrachte.

Das war so, seit sie denken konnte, und es war noch nie ein Problem gewesen. Neuerdings aber – und sie war sich sicher, dass sie diesen Umstand ihrer Verlobung mit Diederick Tulp, Sohn des berühmten niederländischen Chirurgen und Bürgermeisters von Amsterdam Nicolaes Tulp, zu verdanken hatte – ließ der Vater keine Gelegenheit aus, all ihre schlechten Seiten zu katalogisieren und analysieren. Mit ähnlicher Pedanterie, mit der er seine Inventuren anging.

Man konnte beinahe den Eindruck gewinnen, ihr Vater bekäme kalte Füße!

Er hatte ihr sogar einen Brief direkt von seiner Hauptgeschäftsstelle aus Amsterdam nach Münster, in die Filiale, die ihre Mutter leitete, geschickt. An dessen gewölbtem Umschlag ließ sich unschwer erkennen, dass ihm wohl einige Worte zu dem Betragen seiner Tochter eingefallen waren.

Oh, sie konnte ihren Vater förmlich vor sich sehen. Wie er mit seinen weißen, gepflegten Händen vor dem peinlich organisierten Schreibtisch saß: im glänzend-schwarzen Umhang, einem schneeweißen Schal um den Hals, ohne Perücke, die Korkenzieherlöckchen im Nacken. Vornehm, sauber, calvinistisch, korrekt. Nichts von den Schleifchen, Bändern, Falten und Blütenmustern in den Gewändern seiner Tochter. Und dann hatte er dieses ganz dünne, flaumige Bärtchen über den verräterisch vollen Lippen.

Verräterisch? Anderske hüstelte. Denen sah man einfach an, dass sie den Genuss schätzten und (!) pflegten: gutes Essen, spanischer Rotwein, Süßigkeiten in jeglicher Darreichungsform. Das weiche, etwas teigige Kinn darunter sprach Bände. Ebenso wie seine Liliengriffel. Und dann schwang in selbstgefälligen Bögen und Schnörkeln der Federkiel über das sündhaft teure Büttenpapier mit dem eigenen Wasserzeichen, und es erblühte in der wunderschönsten Kalligraphie Mahnung um Mahnung um Mahnung.

Der Brief lag ungeöffnet auf ihrem Schoß.

Er hatte ja recht mit seiner Wehklage über sie und ihren dekadenten Zustand. Sie war durchaus bereit einzuräumen, dass sie verwöhnt war.

„Ja, gut“, nuschelte sie. „Meinethalben auch eigensinnig.“

Aber was sie ungeheuerlich fand, war die Tatsache, dass er es ihr vorwarf!

Seit sie denken konnte, hatte er ihr keinen einzigen Wunsch abgeschlagen (wenn man mal von der Sache mit der Sekundenuhr, die Herr Huygens in Amsterdam vorgestellt hatte, absieht – aber wir wollten ja nicht mehr nachtragend sein), nur um es ihr jetzt – wo sie längst erwachsen und ihr Charakter für Verbesserungen ja wohl deutlich zu ausgeprägt war – vorzuwerfen. Er tat ja gerade so, als habe sie ihren Reichtum selbst verschuldet!

Einfach lächerlich.

Anderske zupfte die taubenblauen Samtschleifchen an ihrem Hut zurecht, plusterte die gefärbte Straußenfeder auf, strich ihre Ziegenlederhandschuhe aus und naschte noch ein wenig von der Rehfleischpastete, bevor es losging.

Ach, das Münsterland, seufzte sie. Es sollte wohl – mitten im tristen Westfalen – der schlimmste Ort auf Erden sein. Besonders in den neun Monaten Winter, die hier herrschten. Eine Landschaft, die zu zeichnen man im Winter nur zwei Farben benötigte: Schwarz und Braun. Ein Farbspektrum, zu dem ein Haufen Kuhmist gereicht hätte … Amsterdam war damit ja gar nicht zu vergleichen. Aber so was von gar nicht: eine Hafenmetropole mit Geschmack und Tradition. Reich verzierte Patrizierhäuser an in der Sonne glitzernden Grachten, manchmal fünf Stockwerke hoch. Die wohlhabendste Stadt Europas, mit Lagerhäusern voller Gewürze, Seide und allen möglichen Kostbarkeiten aus Indien und vom Pazifischen Ozean. Allein das enorme Kapital, das in der Ostindien-Kompanie steckte, war dort zu einem bedeutenden Anteil ansässig.

Anderske schüttelte es förmlich in einer prächtigen Gänsehaut, als sie an ihre glänzende Zukunft in Amsterdam neben dem Bürgermeistersohn dachte: Gesellschaften, Konzerte, interessante Geschäftsleute, Festbankette mit edlen Weinen und köstlichen Gerichten aus Übersee, eingenommen im Gespräch mit Weltenbummlern und Lebenskünstlern. (Und ein Spökenkieker, wie im Münsterland die Menschen genannt werden, die in die Zukunft sehen können, der hätte sich wohl an dieser Stelle vor Lachen ausgeschüttet.)

Sie kannte Diederick Tulp zwar nicht persönlich, nur aus Briefen und den Lobhudeleien ihres Vaters, aber sie war davon überzeugt, die glücklichste, zufriedenste und demütigste Ehefrau auf diesem Planeten zu werden, solange er ihr nur den Zugang zur Amsterdamer Hautevolee öffnete.

Wenn sie nur schon diese schweren Wochen der Prüfung überstanden hätte. Aber das alles lag noch vor ihr und da, wo es jetzt hinging, war es noch viel, viel, viel, viel schrecklicher als im tristen Münster.

Tapfer sah sie aus dem Fenster der Kutsche auf das pitschnasse Kopfsteinpflaster des Prinzipalmarktes.

Es müffelte. „Alles so ungewaschen“, rümpfte sie die Nase. Und das obwohl der Himmel einen Waschzuber nach dem nächsten auskippte.

Der Prachtgiebel des Rathauses verlor sich in den tiefhängenden Wolken und die wenigen bedauernswerten Bediensteten, die man in dieses Wetter hinausgejagt hatte, hasteten durch die Straßen, mit eingezogenen Köpfen, bedröppelten Gesichtern und würzigen Flüchen auf den Lippen. Unter ihren Füßen spritze das Regenwasser in alle Himmelsrichtungen, und auf den Pfützen bildeten sich dicke walnussgroße Blasen, die eine nach der anderen zerplatzen. Sie sah gerade einem Knaben dabei zu, wie er sich im Regenschutz der Bögen kurz die Zeit nahm, um sich gründlich in der Nase zu bohren.

„Ich werde in den kommenden Monaten alles fantastisch finden“, entschied sie. „Aus Prinzip! Papa wird sich noch wundern!“

„Sie reisen allein?“, brummte der Kutscher und spuckte einen unappetitlichen Klumpen auf die Straße. Direkt neben einen dampfenden Haufen Pferdeäpfel.

„Ich reise mit Ihnen“, verbesserte Anderske.

„…?“

„Ich bringe Waren zu meiner Tante nach Olfen. Da werde ich die nächste Zeit wohnen. Meine Tante heißt Uta Pennekampes. Kennen Sie sie?“

Das Geräusch eines verstopften Abflusses war die Antwort.

„Seit meine Tante Witwe ist, betreibt sie die Apotheke ganz allein.“

Der Mann wuchtete sich auf den Kutschbock, das gesamte Gefährt schwankte wie auf hoher See. Noch so ein Geräusch. Aber diesmal war sie ziemlich sicher, etwas wie „acht Stunden“ herausgehört zu haben, und dass noch weitere Reisende am Ludgeritor zusteigen würden. Dann wieder unverständliches Gemuffel.

„Falls die zwischen Eurem Gepäck überhaupt noch Platz finden.“

Anderske fand die Tatsache, dass sie eine so selbstständige Tante hatte, einfach sensationell. Ihre Mutter war auch die meiste Zeit des Jahres in Münster allein mit den Geschäften. Aber es wurde doch immer alles so gemacht, wie der Vater es aus Amsterdam anordnete.

Der Kutscher grunzte, die Kutsche setzte sich in Bewegung.

Seit 1655 gab es in Olfen eine Poststation, die der Münsteraner Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen eingerichtet hatte. „Bomben-Bernd“ wurde er genannt. Weil er bei Zeiten seine Amtsrobe an den Nagel hängte und gegen ein Kriegsgewand tauschte und mit Mörsergeschossen alles bombardierte, was nicht bei drei auf den Bäumen war.

Vorzugsweise Holländer.

Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Anderske wurde schnell klar: auf den Holzbänken des Reisewagens wurde man aufs Schmerzhafteste hin und her geschleudert und jedes Schlagloch bedeutete einen Rammstoß, dass es bei einem Schuss aus einem dieser Mörsergeschosse in den Allerwertesten nicht hätte schlimmer sein können. Sie rutschte zur Seite und versuchte einen Blick nach vorn auf die Straße zu werfen, in der Hoffnung die drohenden Schlaglöcher sehen zu können, um gegenzuhalten.

Keine Chance.

Krawumm!

Einmal schlug sie mit dem Kopf gegen die Kabinenwand.

„Acht Stunden?“

Sie rieb sich die getroffene Stelle neben ihrer Schläfe.

Christoph von Galen. Was war schon vom Sohn eines jähzornigen Messerstechers zu erwarten? „Anderske“, würde Mutter sich jetzt entrüsten, „wie kannst du nur so über den Vater unseres Fürstbischofs reden? Der Erbmarschall hat ein Duell gegen Gerhard von Morrien zu Nordkirchen geführt. Dass er seinen Erzfeind dabei mit dem Degen niedergestreckt hat, ist doch ganz eindeutig ein Gottesurteil! Wie kannst du sagen, er sei ein jähzorniger Messerstecher?“ – „Schon gut“, würde Anderske antworten, „Ich denke es ja nur, ich sag es ja nicht laut.“

Sie biss trotzig die Zähne zusammen und hielt fest an dem Vorsatz, ihr Exil einfach wunderbar zu finden. Zumindest vorerst.

Askese. Läuterung. Wie die Tugendprüfungen einer Novizin.

Aber bevor ihr feierlich zu Sinn wurde, wäre sie am liebsten bereits in Senden mit den anderen Reisenden wieder ausgestiegen. Und in Lüdinghausen fragte sie sich ernsthaft, ob es überhaupt jemanden gab, der nach Olfen wollte. Sie war mit dem Kutscher und ihren Kisten und Koffern allein. Wobei mit oder ohne Kutscher auch nicht wirklich von Bedeutung war, denn der Mann hatte offenbar kurz nach Abfahrt seine ohnehin ziemlich träge Zunge vollständig verschluckt. (Vermutlich, weil er – im Gegensatz zu seinem einsamen Fahrgast – im strömenden Regen saß.) Nur die Pferde schnauzte er manchmal mit Urlauten an.

Noch ein Schlagloch.

Diesmal konnte sie nur knapp verhindern, dass ihr Kopf ein weiteres Mal gegen die Kabinenwand gedonnert wurde. Sicherheitshalber nahm sie den Hut mit der großen Nadel ab und legte ihn neben sich. Ihr Mieder kniff, die blumenbestickte Schleppe war vollends zerknittert und ihr spitzenbesetztes Unterkleid glich vorn am Saum einem miserabel gegerbten Stück Wildschweinsleder.

„Gott im Himmel!“, jammerte sie. „Das wird nie wieder weiß!“

Schlagloch.

Die Hutnadel kullerte mit der steten Erschütterung des Gefährts neben Anderskes schmerzenden Oberschenkel und wurde von ihr mit Wucht in den Filz des Hutes gestoßen.

„Ach Papa“, entfuhr es ihr in diesem Moment der Schwäche. „Wenn ich doch bloß wieder nach Hause dürfte.“

Was tun? Ihr Hintern verkam gerade zu einer wunden, plattgewalzten Fläche Hefeteig und diese Langeweile spottete einfach jeder Beschreibung. Wenn sie doch zumindest etwas in ihr geliebtes Tagebuch schreiben könnte. Ein paar saftige Anmerkungen über die Münsterländer Straßenverhältnisse zum Beispiel. Aber bei dem Geholper brachte man ja keinen einzigen sauberen Strich zustande. Außerdem würden die Wörter heute ein bisschen weniger gewählt sein, als die, die sonst diese Seiten mit Goldschnitt schmückten.

Anderske räkelte sich und gähnte. Entspannung war hier keine zu finden. Sie rieb sich unter holländischen Flüchen (des Holländischen bediente sie sich, wenn die Angelegenheit von einer gewissen Dringlichkeit war) ihre malträtierten vier Buchstaben und warf einen trüben Blick aus dem Fenster. Ein weiterer Rammstoß ins Kreuz von einem der Schlaglöcher.

Verspannte Schultern. Verkrampfte Oberschenkel. Aua.

Nichts konnte es noch schlimmer machen …

Obwohl? – Doch.

Sie könnte den Brief lesen.

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Zur gleichen Zeit versuchte, ein Stück weiter östlich im Münsterland, mitten im verwunschenen Waldgebiet Davert, gleich neben dem Stamm einer alten Linde, der steckbrieflich gesuchte Balthasar Northues seinem Fünfzehnjährigen den Gebrauch einer modernen Schusswaffe zu erklären.

„Weißt du, Jakob, das Schießen ist schon ein Abenteuer für sich“, begann er in einem Tonfall, der einem Alchimisten beim Anrühren hochexplosiver Flüssigkeiten besser gestanden hätte.

„Paps, du bist doch sonst nicht so zimperlich.“

„Gewehre sind die Waffen der Zukunft.“

Balthasar schaute zu den tief hängenden Wolken, kräuselte seine Nase, die wegen einer Entzündung wie ein riesiges Furunkel aussah und murrte gen Himmel. Es regnete bereits den vierten Tag und so langsam hatte er sie gestrichen voll, diese entzündete Räubernase.

„Bei Regen kannst du’s gleich vergessen.“

Der Junge machte große Augen. „Na toll. Hier regnet’s doch immer.“

Balthasar ging unter mühsamem Gestöhne in die Knie.

„Ich will nicht bis Sankt Nimmerlein warten. Ist mehr zur Abschreckung. Wenn die Leute so was sehen, kriegen die immer gleich Schiss.“

„Wenn einer so breit und riesig ist wie du und dann auch noch so einen Bart im Gesicht hat, haben die Leute auch ohne Muskete Schiss.“

Hinter dem Bart grinste es.

„Ich bin die Davertsche Eiche. An mir kommt keiner vorbei.“

„Außer Mama.“

Balthasar hielt das Gewehr vor sich, legte an und verfolgte den Lauf mit dem rechten Auge. Das Linke hatte er zugekniffen. Er wusste nicht, ob es eine gute Idee war, dem Knirps das gefährliche Geschoss vorzuführen, geschweige denn ihm zu erlauben, davon Gebrauch zu machen. Nike würde ihm wie üblich die Ohren langziehen. Andererseits, dachte er, zogen Jakobs Altersgenossen anderorts in den Krieg und taten den lieben langen Tag nichts anderes als wild in der Gegend rumzuballern. Und mal ernsthaft: Was sollte er seinem Sohn sonst beibringen? Also, außer Diebeshandwerk? Er konnte doch nix anderes.

„Das hier ist der Schaft. Das der Lauf und hier das Steinschloss.“

Vor lauter Aufregung krauste der Junge mal wieder seine Nase. Dabei sah er aus wie eine Haselmaus, oder – mit viel Wohlwollen – vielleicht auch wie ein Wiesel. Eventuell gerade noch wie ein Iltis. Aber mit Sicherheit nicht wie der Nachfolger und Stammhalter des gefürchtetsten Räubers im gesamten Oberstift. Balthasar schüttelte kaum merklich den Kopf. Bei den Mädchen, ja, da mochte das wohl auf Dauer ankommen.

„In den Lauf hier presst du Pulver, Papier, Bleikugel, dann wieder Papier.“ Er machte einen Wink zu seinem Lederrucksack. „Jakob, reich mir mal das Pulver. Ist in einem der kleinen Säckchen eingenäht. Und die Kugeln, die wir gestern gegossen haben.“ Als er alles in die behandschuhte Hand bekam, machte er sich daran, den Lauf zu stopfen. „Siehst du das Loch hier auf dem Lauf mit der Pfanne? Da drunter liegt das Pulver. So. In die Pfanne kommt das Schwarzpulver.“

„Mensch, Paps“, freute sich Jakob. „Wo hast du das denn alles her?“

„Erinnerst du dich an den entlaufenen Soldaten von vorgestern?“

„Mann, hatte der Bammel vor dir.“

„Der hat es mir geschenkt, nachdem ich dich nach Hause geschickt habe.“

„Was hast du ihm denn dafür geboten?“

Verlegenes Hüsteln. „Wir werden nicht immer so großzügige Menschen treffen“, wich der Alte aus. „Deshalb musst du darauf gut aufpassen.“

Dann wendete sich Balthasar wieder dem Mechanismus zu.

„Sieh mal. Wenn ich den Hahn ziehe, knallt der mit dem Feuerstein in die Pfanne und dann schlägt der Funke in das Schwarzpulver. Das Feuer setzt sich durch die Öffnung im Lauf fort und die ganze Sache explodiert.“

Zu jedem Satz nickte Jakob.

„Soweit die Theorie“, räumte Balthasar ein. „Wenn der Schuss nach hinten losgeht, brennt die Pulverladung einfach hier ab, im Lauf. Dann sprüht es Funken wie die Hölle. Besser wirfst du dann das Gewehr gleich weg. Sonst verbrennst du dir die ganze Hand.“

„So wie du?“

Balthasar sah auf seine Handschuhe. Wie jedes Mal, wenn er an die alte Narbe unter dem Stoff dachte, schmerzte sie plötzlich. Immer noch. Als würde das Brandeisen noch einmal kommen.

„Anders.“

„Darf ich es mal versuchen?“

Balthasar reichte dem Jungen die geladene Muskete.

„Versuch mal da vorn die Tannenzapfen zu treffen.“

Während er noch überlegte, den Jungen auf die erbärmliche Zielgenauigkeit vorzubereiten, legte der bereits an. Seine Körperhaltung, seine Ruhe … Balthasar sah ihn schräg von der Seite an und schwoll an vor Stolz.

„Erwarte nicht zu viel.“ Balthasar legte die Hand auf Jakobs Schulter. „Aber lockerlassen. Ganz locker. Und hier, der Kolben muss tief in der Schulter aufgesetzt werden.“ Er drückte das Gewehr so sehr in Jakobs Schulter, dass der einmal vor und zurück schwankte.

„Sicherer Stand, ruhige Hand.“

Jakob ließ brav die Schultern sinken und brachte seine Füße weiter auseinander, während Balthasar weitersprach: „Aber der Fürstbischof, der hat eine Leibgarde aus Ungarn von den Türkenkriegen mitgebracht. Heyducken. Die schießen mit Karabinern. Das sind Kleinkalibergeschosse mit kurzem Lauf. Ich hab gehört, dass sie einen Thaler auf 200 Ruten treffen.“

Der Junge zog den Hahn. Ein Schlag auf die Ohren, als knutsche einem jemand direkt ins Ohr. Danach anhaltendes Fiepen.

Balthasar schrak zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Sohn so forsch drauflosging. Zwei Fasane flogen meckernd auf, der Ast wogte wie ein Palmwedel, die Zapfen plumpsten zu Boden. Jakob ließ das Gewehr ganz langsam sinken.

„Ich glaub, ich weiß, wie es geht“, murmelte der Junge.

Balthasar stand der Mund offen.

„Darf ich noch mal?“

Der alte Räuber sammelte sich und versuchte vergebens, seine Bewunderung zu vertuschen. Und den leisen Neid. Ein wenig beleidigt sagte er: „Ich hab es dir erklärt, das soll für den Anfang genügen. Ist so aufwendig das Zeug zu besorgen und das Gewehr zu laden. Außerdem ist das Wetter schlecht.“

„Darf ich Mama davon erzählen?“

„Bist du bescheuert? Nein! Was meinst du, was dann zu Hause los ist.“

Balthasar schob das Gewehr zurück in den ausgedienten Pfeilköcher auf seinem Rücken. Es war wirklich kaum zu glauben, wie geschickt der Junge sich auf all diese Dinge verstand. Entweder war er das achte Weltwunder oder eine konzentrierte Lösung von Balthasars kostbarem Erbgut. Letzterem gab er den Vorzug und lächelte versöhnlich. Balthasar stand mit demselben lauten Gestöhne wieder auf, mit dem er sich in die Knie begeben hatte.

„Diese Drecknässe bringt mich noch mal um.“

„Wieso darf ich Mama nichts davon erzählen?“

„Du weißt, wie sie immer mit mir schimpft. Nachher bekommen wir kein Abendbrot.“

„Wenn ich mal ein Weib hab, das wird kuschen“, verlautbarte Jakob.

Balthasar schlug sich den Dreck von den Knien.

„Du bist wirklich begabt, mein Sohn. Aber alles wird selbst dir im Leben nicht gelingen.“

„Sind doch nur Mädchen.“

„Ich erinnere dich bei Gelegenheit.“

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Anderskes erste Tage in Olfen plätscherten so dahin. Wie das Wetter. Die Tante nutzte den Dauerregen und erklärte der Nichte die Arzneien, bis die eine ihren Kiefer kaum noch bewegen und die andere im Kopf nichts mehr fassen konnte und anfing, alles durcheinander zu werfen. Zwischendurch tranken sie dieses neue, „schwatte Zeugs“, das Anderske aus Münster mitgebracht hatte. Was die Türken angeblich immer tranken. Schmeckte bitter und war nur mit Tonnen von Zucker zu genießen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Vater das hier loswird. Das schmeckt echt grauenhaft“, orakelte Uta. „Ich vergesse den Namen immer. Wie heißt das noch?“

„Kaffee.“ Anderske zuckte die Schultern. „Macht aber wach.“

„Und nervös. Noch mehr davon und ich tanz’ auf dem Tisch. Bin ich schon grün im Gesicht? Hoffentlich kann ich heute Nacht schlafen. Es hält mich besser wach als mein schlechtes Gewissen.“

Dennoch mussten sie ständig etwas von der Plörre nachkochen, weil die Kanne wie von Zauberhand immer wieder leer wurde. Später setzten sie sich vor die Esse in der guten Stube und Anderske musste aus den Büchern der Tante vorlesen. In der ebenso kleinen wie exquisiten Bibliothek, die Anderskes Onkel zu Lebzeiten zusammengetragen hatte, gab es sogar Bücher von Paracelsus: darunter das Buch „Paragranum“ und „Die große Wundarzney“.

„Hier gibt es für dich noch viel zu lernen und zu staunen, wenn du glaubst, der heutigen Medizin ständen keine besseren Therapien als der Aderlass zur Verfügung.“ Die Tante lachte verächtlich. „Aber heute ist das gute alte Hebammenbuch an der Reihe.“

Später unterbrach die Tante Anderskes Arbeiten aber doch und kramte alte Münsteraner Geschichten hervor, über ihre Kindheit in der Aegidiistraße mit der geliebten Schwester, Anderskes Mutter. Geschichten aus der Zeit, bevor der ehrgeizige junge Handelsvertreter aus Amsterdam in die Stube geweht worden war und – wie die Tante es ausdrückte – mittags (das war am dritten September) in die Suppe gefallen war.

„Papa war ein rollender Stein. Wo der seinen Hut hinlegte, war sein Zuhause“, behauptete sie. „Und rollende Steine setzen kein Moos an.“

Sie erzählte Details, von denen Anderskes Mutter niemals erzählt hätte! Im Leben nicht! Ganz besonders nicht von diesem einen Abend, an dem Anderskes Mutter kurz davor war, ihr Herz an einen schnuckeligen Handwerksgesellen zu verschleudern, der aus der Nähe von Osnabrück kam und auf der Walz durch Münster im Allgemeinen und der Spinnstube in der Vosstege im Speziellen unterwegs war.

„Im Ernst? Von oben? Sie hat wirklich …?“

„Wehe, du verrätst zu Hause, dass ich dir davon erzählt habe.“

Mit dem Daumen machte sich Anderske ein Kreuz über die Lippen.

Dann war es über Olfen schon mächtig dunkel geworden und sie kochten keinen Kaffee mehr, sondern aßen Brot mit Käse und tranken Wein dazu. Viel zu viel Wein.

Anderske genoss die Zeit bei ihrer Tante. Es war anstrengend und auch manchmal unbequem. Nachts musste sie bei der Tante im Alkoven schlafen. Da war genug Platz für ein Ehepaar, also auch für zwei Frauen, argumentierte die Tante ungerührt. Außerdem sei es wärmer, wenn man zusammenrücke. An die Enge war Anderske nicht gewöhnt und die körperliche Nähe war ihr zunächst fremd, aber je lieber sie die Tante gewann, umso mehr liebte sie ihre Fürsorge und Omnipräsenz. Außerdem nörgelte die Tante nicht ständig an ihr herum, wie es die Mutter wie unter Zwang tat. Statt permanenter Verbesserungsvorschläge gab es nur Herzlichkeit und Wärme, unter dem Deckmäntelchen einer erfrischenden Strenge.

„Ich bin völlig hinüber“, lächelte Anderske.

Eine gute Woche war sie nun schon hier bei Tante Uta in Olfen, ohne auch nur einen einzigen Schritt vor die Tür gemacht zu haben. Und dennoch fühlte sie sich so lahm in den Knochen, als hätte sie soeben die Post von Marathon nach Athen gebracht.

Ihren eleganten Aufputz aus der Stadt hatte die Tante gleich nach Ankunft mit nachsichtigem Kopfschütteln in eine Kiste beseitigt und gegen einfache Arbeitskleidung ausgetauscht: ein schlichtes weißes Unterkleid aus Leinen, ein blau gefärbtes Oberkleid, ein Dreieckstuch als Schürze und eine einfache Schleierhaube, unter der die rötlich blonden Locken so gut wie unfrisiert hervorquollen. An den Füßen trug Anderske statt der Lederstiefeletten Holzpantinen, die einen enormen Krach beim Gehen machten, weil im Absatz Eisennägel steckten, die vorm Ausgleiten schützen sollten. Anderske äußerte vage den Verdacht, dass die Tante lediglich kontrollieren wolle, wo sich die Trägerin dieser Perkussionsinstrumente befand, woraufhin die Tante ihr unverhohlen recht gab.

Die weiche, weiße Haut von Anderskes Händen hatte bereits einige Risse und in ihren Armen steckte eine unbekannte Qual.

„Ein ungewohnter Überfluss an gelber Galle. Kommt von der unbekannten Anstrengung. Das geht von allein wieder weg. Verlang ich zu viel?“

„Um Himmelswillen, nein. Ich war noch nie so glücklich.“

Zwinkernd verschwand die Tante in der Upkamer, dem Zimmer im Halbgeschoss.

Anderske hatte gerade einen Mörser unter dem Arm und versuchte aus Kürbiskernsamen ein feines Pulver zu stoßen, da rasselten die Glöckchen an der Tür los, als führe ein russischer Pferdeschlitten hinein: Ein junger Mann stand vor ihr in der Apotheke, in etwa so alt wie sie selbst. Der erste Olfener, der ihr begegnete. Gerade noch hatte er es offenbar sehr eilig gehabt, jetzt verharrte er in einer angespannten Haltung, als hielten vier unsichtbare Männer seine Arme und Beine fest.

„Was machst du hier?“, wollte er wissen.

Dabei hatte er sich ihr nicht einmal vorgestellt.

„Entschuldige mal. Ich wohne hier, ja?“

„Wo ist die Apothekerin?“

„In der Upkamer.“

„Dann steh hier nicht rum, hol sie.“

Anderske musterte den Burschen mit erhobener Nase. Sie ließ sich nicht gern herumkommandieren. Schon gar nicht von unrasierten Bauernflegeln. Und der Kamm dieses Schnösels hatte wohl auch gerade Urlaub. Ihr Vater sagte immer, dass Bauern nicht viel mehr als das Vieh ihrer Lehnsherren waren. Viele leibeigen, alle dumm wie Stroh. Und dieser Kerl hier hatte ja nicht einmal ordentliche Schuhe! Doch bevor sie mit einer spitzen Schimpftirade loslegen konnte, tauchte ihre Tante vorn im Laden auf. Wegen der wilden Glöckchen.

„Kort ter Ouen“, jubilierte die Tante. „Alles in Ordnung?“

Der Kerl war stinksauer. „Hauke ist die Mauke immer noch nicht los.“

Hauke hat … was? Anderske durchfuhr ein Glucksen wie ein gleißend heller Funke. Vergeblich schnappte sie nach Luft, ihr Zwerchfell federte einmal durch den ganzen Bauchraum. Keine Chance die Beherrschung zu wahren. Sie schlug sich im selben Moment die Hand vor den Mund. Aber es half nichts. Sie musste plötzlich loslachen, als habe sie einen hysterischen Anfall. Nun, nicht als ob, sie hatte einen hysterischen Anfall.

Uta verpasste Anderske einen ungläubigen Blick.

Der Bursche verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was zum Teufel ist daran so komisch? Das Tier hat Schmerzen!“

„Das reimt sich! Hauke hat Mauke!“, platzte Anderske in haltlosem Gewieher heraus und entschied, als sie sich mutterseelenallein zu einem rettungslosen Lachkrampf hinaufschwang, nach hinten in die Upkamer zu rennen, um die Tante nicht völlig zu blamieren. Sie schlug die Upkamertür hinter sich zu und warf sich japsend mit dem Rücken dagegen. Dort kicherte sie so lange vor sich hin, bis von dem herzhaften Gelächter nur noch ein verzweifeltes, nasales Etwas übrig blieb.

Erst gefühlte Äonen später machte es überhaupt Sinn durchzuatmen. Sie musste sich noch ein paarmal – wie bei einem Nachbeben – schütteln.

Als sie es endlich überwunden hatte, schämte sie sich ganz grässlich.

Sie öffnete vorsichtig die Tür und spähte durch den Spalt in die Apotheke.

Er war noch da, dieser Kort ter Ouen, der ein Pferd hatte, das er Hauke nannte, ließ sich gerade eine neue Medizin erklären und schien nicht mehr böse zu sein.

Herr im Himmel. Der sah so süß aus. Ein Maul wie ein Frosch. Einfach zum Küssen. Und sie hatte soeben alles getan, dass er sie so richtig blöd finden musste. Während er zuhörte, sah er ihrer Tante so konzentriert und ehrlich ins Gesicht, dass sie gar nicht aufhören konnte ihn anzusehen.

„Erst müssen die Krusten runter. Sonst wirkt die Salbe nicht. Aber nicht abknibbeln, sonst reißt du die Wunde wieder ein.“

„Dafür hatte ich ja dieses Öl von Ihnen bekommen.“

„Hast du es schon mit Zink versucht?“

Anderske schob sich zurück in die Apotheke und setzte ein zerknirschtes Gesicht auf. Sobald sie sich wieder im Raum befand, sah er auf.

„Bitte entschuldige“, flüsterte Anderske. „Ich bin nur furchtbar übermüdet.“

„Komm her, meine Liebe.“ Die Tante zog sie an sich, um sie wie einen wertvollen Pokal zu präsentieren. „Das ist meine Nichte Anderske Dijkersma. Sie kommt aus Münster zu uns. Und das ist Kort ter Ouen vom Kolonat Streil in Sülsen. Der größte zur Rauschenburg gehörige Hof.“

„Freut mich“, nuschelte er unwillig. Ganz klar, dass er es nicht so meinte.

Anderske machte einen Knicks, wie sie es gelernt hatte, und versuchte ein charmantes Lächeln. Kort zog nur die Stirn in ernste Falten, als habe er so etwas Albernes wie sie noch nie vor die Nase gekriegt. Dann drehte er sich gleich wieder der Tante zu und ignorierte die dumme Gans bis auf Weiteres.

„Ich werde dir eine Salbe mit Zink anrühren und sie dir noch heute vorbeibringen. Die Sauerkrautumschläge haben ja nicht geholfen.“

Offensichtlich war der junge Olfener darauf zufrieden. Er warf sich seinen abgewetzten Lederbeutel über die Schulter und lächelte die Apothekerin an. Dabei ließ er tiefe Grübchen sehen. Anderske musste schlucken.

„Ist nicht nötig“, sagte der Bursche und senkte die Stimme. „Hab im Wigbold noch einige Besorgungen zu machen. Ich komm später wieder.“

Uta Pennekampes erriet anscheinend gleich, was er meinte.

„Gehst du heute zum Wirt?“

Kort ter Ouen wuchs um ein paar Zoll. „Genau.“

„Dann komm danach. Natürlich drück ich dir alle Daumen, die ich habe.“

Als er sich verabschiedete, legte er den Kopf schief und kniff der Apothekerin eins seiner klaren Augen zu. Anderske seufzte. Wieder erklang das aufgeregte Gebimmel. Kort ter Ouen war weg.

„Sag mal, was sollte das denn gerade?“, schnappte Uta nach Luft, sobald die Tür zu gefallen war.

„Der ist aber süß.“

Offenbar fuhr gerade ein Donnerschlag durch die Tante. Sie machte so große Augen wie ein Schafskopf in der Auslage beim Metzger.

„Oh nein, mein Fräulein“, schraubte sich ihr sonst so satter Alt in die Sphären eines Koloratursoprans. „Der ist nicht süß, der ist für dich gar nicht erst vorhanden.“

„Meinst du, er findet mich sehr albern? Was macht er denn beim Wirt?“

„Seine Braut freien.“

„Er hat eine Braut?“

„Anderske! Geh sofort nach hinten und da bleibst du!“

Sie gehorchte zwar zunächst, aber nach einer guten halben Stunde wurde sie nervös. Sie musste es wieder nach vorn in den Laden schaffen, bis er wieder zurückkam, dieser froschmaulige Kort ter Ouen.

„Weißt du was, ich putz vorn ein bisschen Staub“, schlug die Holländerin scheinheilig vor. Uta war so konzentriert mit dem Abmessen der Zutaten, dass sie gar nichts mehr mitbekam. Also schlich Anderske sich nach vorn, um die Tür mit den Messingglöckchen anzustarren. So verharrte sie eine geraume Weile, bis ihr der Lieblingsspruch ihrer Mutter einfiel, dessen Bedeutung sie endlich begriff: Ein bewachter Milchtopf kocht nie.

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Das Gasthaus war gestopft voll mit den Leuten, die gerade aus der Kirche kamen. Sie saßen dicht gedrängt, spielten Karten, schlugen mit lautem Gedonner Würfelbecher auf die Tischplatten, die auf leere Fässer genagelt waren und tranken sich gegenseitig zu, als ob es kein Morgen gäbe.

In Kort ter Ouens Augen grenzte es immer an ein kleines Wunder, in was für einer Windeseile das Wirtshaus, das für eine so winzige Ortschaft wie Olfen exorbitant groß war, sich füllte, verqualmte und überhitzte. Selbst der Pastor Henrich Netbrock war bereits hier, schwang lachend den Zeigefinger und verlor haushoch gegen seinen Kaplan Johann Thier.

„Da kommt der Streilbauer“, hörte Kort den Wirt sagen.

Sein Vater Goswin ter Ouen, ebendieser Bauer vom Kolonat Streil, war jenseits der fünfzig und seit einem Zusammenstoß mit dem Mastbullen so gut wie taub. (Was kaum jemanden störte, da er sehr gut von den Lippen las, nur meist übertrieben laut antwortete.) Er sah nicht einmal auf, als der Name seines Hofes fiel, sondern mäanderte grüßend und winkend durch die Leute, bis er einen freien Platz entdeckte und diesen in Besitz nahm.

Die Tochter des Wirts kam gelaufen und wischte mit wuchtigen Kreisen über den sauberen Tisch. Kort hätte schwören können, sie tat es lediglich, um ihn verlegen zu machen, denn sie schob ihm ihr Dekolleté entgegen, dass er kaum verhindern konnte hineinzupurzeln.

Wenn es stimmte, was seine Mutter sagte, so rechnete bereits das ganze Wigbold damit, dass er sie früher oder später heiraten werde, denn sie war die Tochter des reichsten Bauern – des Wirts eben – und er der Älteste des größten Hofes des gesamten Kirchspiels. Dass der Wirt ihn beim ersten Versuch, um ihre Hand zu bitten, hatte abblitzen lassen, hielt sie keineswegs für ein schlechtes, eher für ein gutes Zeichen. Angeblich seinetwegen.

In diese Mysterien war seine Mutter besser eingeweiht, und er versuchte erst gar nicht, es zu begreifen, was sie damit meinen könne, dass es seinetwegen besser war.

Bis Ostern hatte sein Möchtegernschwiegervater ihn vertröstet. Dabei war Kort sich so sicher gewesen gleich zu landen. Schon allein, weil Mechthild (so ihr Name) ihm immer diese Einblicke gewährte.

Kort sah beschämt auf seine Hände, die gefaltet auf dem Tisch lagen, und versuchte vergebens das Blut aus seinem Kopf zurückzukämpfen. Er wusste nicht einmal, welchen Muskel er für diesen Vorgang hätte anspannen müssen. Sie sah einfach zum Anbeißen aus. Wie eine Mischung aus Marzipan und Sülze!

Sein Vater stopfte die Tonpfeife und Kort hoffte inständig, er habe nichts bemerkt. Aber der Vater gab ihm einen Knuff und kommentierte für jedermann gut verständlich: „Das ist ein Prachtweib!“

Kort changierte ins Bläuliche. Mechthild hatte es eindeutig gehört, denn sie warf den Kopf in den Nacken und machte diesen ganz winzig kleinen Schwung mit der Hüfte.

Das ist der Haken bei schwerhörigen Menschen: Sie geben Heimlichkeiten in einer Lautstärke von sich, die die Posaunen von Jericho in eine Identitätskrise gestürzt hätten.

„Für dich auch, mein Sohn?“, brüllte Goswin in seiner sonntäglichen Fröhlichkeit. „Und für jeden Trottel, der sich lächerlich machen will.“

Kurz darauf kam Mechthild mit einem Krug und zwei Bechern vorbei. Sie ließ ihn und seinen Vater nie lange warten. Ob es bereits auffiel, dass er dem Mädchen nur noch auf den Hintern und zwischen die Brüste glotzen konnte? Bis zur Hochzeitsnacht war es noch so lange hin …

„Bitte sehr“, flötete Mechthild.

Sie wusste es. Sie wusste alles.

Beim Eingießen kippte sie nach vorn, presste diesmal zu allem Überfluss noch mit den Oberarmen ihre pralle Schönheit zusammen und lächelte wissend dazu. Sie beugte sich dabei so weit über den Tisch, dass sie sich fast aus ihrem Kleid hinausreckte.

„Danke, mein Kind“, lärmte sein Vater. Kort nahm sich schnell das Bier und trank den halben Humpen fast auf einmal leer. Sonst, so befürchtete er, hätte Mechthild gesehen, dass er kurz davor war zu sabbern.

„Wem präsentiert die sich eigentlich immer so? Mir oder dir?“, grölte sein Vater. „Du glaubst, weil ich schlecht höre, bekomm ich gar nichts von der Welt mit, was? Sehen kann ich aber noch ganz gut.“

Kort musste lachen. „Du hörst nicht schlecht, du bist stocktaub.“

Erst jetzt merkte Kort, dass auch die Apothekerin mit ihrer Nichte in der Gaststätte war. Sie standen hinter Pastor Netbrock und während die Apothekerin mit skeptischem Adlerblick die Karten des Geistlichen fixierte, lächelte die Nichte ungeniert zu ihm rüber.

Als er sie vor drei Wochen zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie auf ihn einen reichlich überspannten Eindruck gemacht. Jetzt hatte er die Zeit noch einmal genauer hinzusehen und stellte schnell fest, dass sämtliche seiner Freunde im Wigbold, die einen Mordsaufstand um die Holländerin veranstalteten, recht hatten: Sie war wirklich bildschön. Bei der ersten Begegnung war ihm das gar nicht aufgefallen. Eigenartig. Dabei war es so offensichtlich! Ihre rotblonden Locken schmeichelten wie flüssiger Honig ihre Schultern herab.

Vor knapp einem Monat war sie mit der Kutsche aus Münster gekommen. Ganz allein! Ohne jede männliche Begleitung! Dabei sagte sein Vater immer, dass einsame, unbewachte Frauen – wie verlorene Geldstücke – dem erst besten in die Hände fallen, der sie aufgabelt. Er hatte es immer für undenkbar gehalten, dass ein Weibsbild jemals allein reisen könne, noch dazu ein so junges und schönes …

Vielleicht lag ihre an Frivolität grenzende Selbstständigkeit aber auch daran, dass sie einen niederländischen Kaufmann zum Vater hatte. Bei den Holländern konnte man ja nie wissen, was denen in den Kopf kam. Und wenn sie dann auch noch so stinkreiche Kaufleute waren, schon gar nicht.

Die verkehrten mühelos mit den unterschiedlichen Ständen. Verhandelten mit Königen und dann wieder mit Arbeitern, als schlüpften sie von der einen Etage eines Hauses in die nächste. Und dann behaupteten sie, ihrer Zeit voraus zu sein.

Seiner Zeit voraus zu sein ist keine Tugend, dachte Kort und trank noch einen kräftigen Zug aus dem Humpen. Es hat eher etwas Komisches. Oder besser: etwas Tragisches.

„Vater, ich möchte dir jemanden vorstellen.“

Sein Vater sah verwundert auf. „Ich bin älter als du, ich kenn hier alle.“

„Sie ist die Nichte von Uta Pennekampes.“

Kort winkte Anderske mit Handzeichen, zu ihnen an den Tisch zu kommen. Die Apothekerin hob missbilligend die Augenbrauen, als sie sein Gewedel bemerkte. Gleich darauf blieb ihr allerdings nichts anderes übrig, als ihrer Nichte hinterherzuhechten, weil die sich bereits mit dem bravsten Lächeln zu Kort aufmachte, selbstverständlich ohne vorher die alte Apothekerin um Erlaubnis zu bitten.

Sonst war Uta immer so lieb zu Kort. Jetzt verpasste sie ihm einen Blick, als sei er ein Gewaltverbrecher.

„Vater, das ist Anderske Dijkersma“, sagte Kort, sobald die beiden Frauen vor dem Tisch ankamen. Sein Vater stand auf, bedeutete ihnen Platz zu nehmen und winkte Mechthild, Wein für die Damen zu bringen.

„Nun Uta, wie gehen die Geschäfte?“

„Ein Glück, dass mein Mann keinen Vormund für mich bestimmt hat. Sonst würde ich wohl bereits in der Gosse liegen, bei all den gut gemeinten Ratschlägen besorgter Männer, wie eine Frau ein Geschäft zu führen hat: nämlich besser gar nicht.“ Damit plumpste sie auf eines der Fässer.

„Anderskes Vater ist ein reicher Kaufmann aus Amsterdam. Er hat in Münster eine Filiale“, erklärte Kort seinem Vater und fühlte, wie ihm das Blut zurück in den Kopf stieg, als sei es da oben zu Hause. Plötzlich schämte er sich für seine schlichte Sprache und seine einfache Kleidung.

Anderske war so vornehm! Obwohl sie eine einfache Münsterländer Tracht trug und von Weitem gar nicht so sehr unter den Olfenern auffiel, so war doch alles an ihr nobel. Ihr Lächeln milde, ihre Bewegungen geschmeidig und ihr Teint zart wie weißer Alabaster. Nur ganz winzig kleine Sommersprösschen zierten ihre aristokratische Nase.

„Was verschlägt uns denn in unser bescheidenes Kirchspiel?“, brüllte der Vater. Kort schämte sich noch ein bisschen mehr.

„Mein Vater ist der Ansicht, ich sei entsetzlich verwöhnt und mir täten ein paar Wochen bei Tante Uta auf dem Land gut, um zu begreifen, wie viel besser es mir in Münster geht.“ Sie schrie so laut, dass nicht nur der alte ter Ouen, sondern gleich die ganze Kneipe vortrefflich jedes Wort verstand. Woher wusste sie, dass Korts Vater schwerhörig war?

„Entschuldige Goswin“, stotterte Uta. „Sie muss immer gleich losplappern, wenn man sie anspricht.“

Kort war hingerissen. Sie hatte den drolligsten Akzent, den er jemals gehört hatte und was sie da sagte, war einfach sensationell frech.

Sogar sein Vater schmunzelte. „Und? Geht der Plan ihres Vaters auf?“

Anderske zog ihren hübschen Mund in ein derart gewinnendes Lächeln, dass selbst die konsternierte Witwe wieder zärtlich dreinschaute.

„Der Schuss geht nach hinten los“, kicherte sie. „Ich würde am liebsten hierbleiben.“

„Meine Nichte ist ein ehrgeiziges Ding, Goswin. Seit sie in meiner Apotheke aushilft, will sie alles über meine Arzneien wissen. Sie ist schlau, lernt schnell und ist fleißig. Wenn es nach mir ginge, könnte sie hierbleiben und mich bei der nächsten Wahl als Hebamme ablösen. Ich glaube, sie hat das Zeug dazu.“

„Gar nicht so unübel“, bemerkte Goswin.

Anderske lachte. „Was für ein riesiges Kompliment für einen Westfalen!“

Uta Pennekampes wuchtete mit aller verfügbaren Kraft ihren Ellenbogen in die Seite ihrer Nichte.

„Machen Sie sich nicht unglücklich, Fräulein. Heiraten Sie einen reichen Kaufmann, den ihr Vater für Sie aussucht und der Ihnen das Leben bieten kann, das Sie gewohnt sind“, riet Goswin ter Ouen.

Kort überlegte einen Moment, ob er seinem Vater auf die Füße treten sollte, weil der solche Empfehlungen aussprach, und wunderte sich im selben Moment, weshalb er die Vorstellung so schrecklich fand, dass sie zurück nach Holland gehen könnte um zu heiraten. Um einen Mann zu heiraten. Einen fremden Mann.

„Mein Vater möchte, dass ich den Sohn des Bürgermeisters meiner Heimatstadt Amsterdam eheliche. Nächstes Jahr.“

Kort sah aus, als habe ihm jemand in den Magen geboxt.

„Dann liegt ein reiches, erfülltes Leben vor Ihnen“, nickte Goswin.

„Ich mach mir nicht wirklich was aus Stehrumchen. Ich verstehe, dass mein Vater, der ja nun mal Kaufmann ist, und mich mein Leben lang sehr verwöhnt hat, das nicht begreift. Obwohl er selbst von sich sagt, dass er Kalvinist sei. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben aber kann man nicht kaufen. Die bekommt man umsonst oder eben gar nicht.“

Kort merkte, dass ihm vor lauter Respekt der Mund offenstand und allmählich austrocknete. Er griff blind nach dem Bier und trank gierig.

„Liebe zum Beispiel.“ Dabei warf die Holländerin dem jungen Olfener einen Blick zu, der zwar verstohlen aussehen sollte, aber davon nicht hätte weiter entfernt sein können.

„Ja, genau“, grätschte Tante Uta dazwischen und sah aus, als müsse sie auch ganz dringend etwas trinken. Am besten etwas mit viel Alkohol. „Wo die hinfällt, da wächst kein Gras mehr.“

Kort konnte nicht aufhören, das Gesicht des holländischen Mädchens anzusehen. Wie selbstverständlich sie mit den Erwachsenen plauderte. Ihre Offenheit und die Selbstsicherheit mit der sie alles tat, hauten ihn schlicht um. Außerdem bewegte sich ihre Nasenspitze, wenn sie sprach.

„Wenn man alles hat, was man zum Leben braucht, ist das wohl so wie Sie sagen, junge Dame“, lachte Korts Vater.

„Möchtest du denn reich sein?“, säuselte Anderske Kort zu. Kort wusste nicht gleich, was er sagen sollte, und lief noch ein bisschen mehr an.

„Ein Schäfer“, polterte sein Vater indes voller Frohsinn. „Ein Schäfer tauscht nicht mit dem König sein Bett.“

Und dann stiegen sie alle in das Lachen seines Vaters ein, und Kort schämte sich nicht mehr. Denn seinen Vater, den mochten wirklich alle gern, und darüber empfand er eine ungewohnte Portion Stolz.

Als die Erwachsenen es später nicht mehr mitbekamen, – sie stritten gerade wie die Kesselflicker, ob man auf Rechede die toten Kälber mit Weihwasser vor der Tenne hätte vergraben sollen – nutzte Anderske die Gelegenheit, Kort einen kleinen Zettel zuzustecken.

„Was soll ich damit?“, flüsterte er, als er sicher sein konnte, dass weder Vater noch Tante es hörten.

„Lies es.“ Anderske kniff ihm ein Auge zu.

Zweifellos war sie verflixt mutig, diese Holländerin.

„Kann nicht lesen.“

„Ob ich dich beim Schäfern mal besuchen darf?“

Kort hustete los, als habe er sich ganz übel verschluckt. Keiner merkte was. Nur Anderske hörte deutlich, dass er gleich einer melismatischen Arie das Wörtchen „gern“ intonierte.

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Die Gerste sah abends wie ein verwunschener See aus. Sie schimmerte in einer unergründlichen Farbe, zwischen grün, blau und grau, dass man beinahe Lust bekam, die Angel auszuwerfen und sich eine fesche Nymphe an Land zu ziehen. Ganz anders der leuchtend gelbe Raps daneben. Wenn der warme Wind über die Felder blies, konnte man meinen, er wolle eine Suppe kühlen. Eine Suppe aus heißem Gold und klarem Wasser. Zwischen den beiden Feldern murmelte der Bach, gesäumt von Schilf und Kalmus.

Kort hatte es sich vor der Feuerstelle gemütlich gemacht und seine große Wolldecke ausgebreitet. Eine Weile knibbelte er Stroh aus der Decke, bis er keine Lust mehr dazu hatte. Dann gähnte er ausgiebig, sah einmal kurz, ob er die Hündin am Rand der Herde entdeckte, pfiff ihr zu, dass er zufrieden mit ihrer Arbeit sei und räkelte sich. Zuletzt knüllte er sein Bündel unter den Nacken. Aber nur, um sich gleich darauf noch einmal aufzurichten, um sein Abendbrot herauszukramen.

Er gähnte noch ein weiteres Mal, verschränkte den Arm hinterm Kopf und biss in das dunkle Brot. So zufrieden konnte nur er sein! Auf den grünen, grünen Wiesen seiner Heimat. Bis zur Hälfte verdeckte seine Mütze sein Gesicht und er blinzelte in die untergehende Sonne, die hinter bleich aufsteigendem Dunst einen leicht verschämten Eindruck machte. Als gehöre es sich nicht zu dieser Tageszeit so ganz und gar nackt zu sein.

Jetzt kaute er versonnen auf seinem Kanten Brot, sah einem Storchenpaar beim Frösche fangen zu und pries im Stillen Gott für dessen übergroße Güte, ihn in diesen prächtigen Garten Eden gesetzt zu haben.

Und wer wusste das so genau? Konnte das Zweistromland des Paradieses nicht zwischen Stever und Lippe liegen?

Vor ihm in der Mulde grasten seine Heidschnucken. Wie Wattebäuschchen verteilten sie sich malerisch über die Wiese. Einige hatten sich schon auf ein Nickerchen eingerollt.

Er ließ den Blick schweifen und suchte die Hündin auf ihrer Kontrollrunde. Aber stattdessen entdeckte er eine Gestalt auf sich zukommen, die einen Korb trug. Genauer gesagt handelte es sich um eine Frau: Langer Rock, Taille und eine Spitzenhaube, unter der sich lockige, rote Haare einen Weg in die Freiheit suchten, um ein wenig mit dem Wind herumzualbern.

„Anderske?“ Kort vergaß zu kauen. „Das gibt’s nicht. Was zum Henker machst du hier?“

„Ich habe meiner Tante eine Flasche Wein aus dem Keller gemopst. Was meinst du? Wollen wir zusammen was trinken?“

„Vater sagte bereits, dass man mit einer Frau wie dir alles erleben kann.“

„Oh, danke.“

„Ich glaube nicht, dass das ein Kompliment sein sollte.“

Anderske drückte ihm ungerührt die Flasche in die Hand.

„Weiß deine Tante, dass du bei mir bist?“

„Nö. Sollte sie?“

„Du wirst den Ärger deines Lebens bekommen!“