Für Marilyn Kriegel und Frederick Schieffelin Osborn

»Gibt es organisatorische Dinge, um die wir uns vielleicht als Erstes kümmern sollten?«, fragte Sandy.

Charlotte hob die Hand wie eine Studentin in einem Seminar.

Es war lange her, dass bei Sandy jemand die Hand gehoben hatte, um etwas zu sagen.

»Bitte.«

»Ich mache mir Sorgen, wie lange das Geld noch reicht«, sagte Charlotte. »Seitdem ich ausgezogen bin, muss ich Miete zahlen, ich musste Möbel kaufen, und ich muss den Kindergarten bezahlen.«

»Wie viel Geld haben Sie denn?«

»Keine Ahnung«, antwortete Charlotte. »Auf meinem Konto habe ich im Moment dreitausend Dollar. Was den Rest angeht, also unser gemeinsames Geld, darum hat sich Steve immer gekümmert.«

Sandy drehte sich zu Steve um, Charlottes Mann. Er saß in sich zusammengesunken im Sessel, seiner Frau gegenüber.

»Ich bin gerade Teilhaber bei Simpson Weaver geworden. Ich musste dafür Eigenkapital in die Firma investieren. Dafür ist alles draufgegangen, was wir flüssig hatten.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie und Charlotte kein Geld mehr haben?«

»Nein, natürlich haben wir noch was«, antwortete Steve. »Soweit ich weiß, haben wir noch etwa zwanzigtausend in unserem Geldmarkt-Fonds. Und es gibt eh kein echtes Problem. Als Teilhaber kann ich mir so viel Geld von der Firma leihen, wie ich will.«

Du musstest dir die Teilhaberschaft erkaufen, aber kannst dir jetzt so viel Geld leihen, wie du willst?, ergänzte Sandy im Kopf.

»Sagten Sie nicht, Sie hätten gerade ein Haus in Ross verkauft? Wo ist denn das Geld hin?«

»Der Vertragsabschluss kam heute Morgen gerade zustande«, sagte Steve. »Wir haben zweihunderttausend Dollar bekommen.«

Sandys Mutter war eine Maklerlegende und ein Fuchs auf ihrem Gebiet gewesen. Das Gebäude, in dem sich Sandys Praxis befand, war beispielsweise ein Geschenk von ihr. Sandy kannte sich also bei dem Thema etwas aus.

»Ich hatte eine Hypothek auf das Haus aufnehmen müssen«, erklärte Steve. »Ich brauchte wirklich jeden Cent.«

»Damit Sie Teilhaber in der Firma werden konnten?«

»Ja, das klingt verrückt, das weiß ich. Aber so funktioniert das nun mal.« Steve beugte sich ein Stück vor. »Sie halten das für Blödsinn, stimmt’s? Sie denken, ich würde Charlotte über den Tisch ziehen oder so.«

»Ich kenne Sie ja erst seit einer halben Stunde«, gab Sandy ruhig zurück. »Ich habe überhaupt keine Ahnung, was Sie mit Charlotte anstellen. Ich weiß lediglich, dass sie sich Sorgen ums Geld macht.«

»Dann teilen wir uns einfach das Geld vom Hausverkauf.«

»Machen Sie sich gar keine Sorgen um Geld?«

»Eigentlich nicht, nein. In einem halben Jahr bekomme ich meine erste Gewinnbeteiligung ausgezahlt.«

»Und bis dahin können Sie sich etwas leihen, wenn Sie es brauchen.«

»Genau.«

Treffer, versenkt. Steve wäre fast aufgesprungen, das sah man ihm an, er riss sich aber zusammen.

»Hm, interessanter Vorschlag«, sagte er nur. Damit hatte Sandy nicht gerechnet. Sie wartete, ob noch etwas kommen würde.

»Die kompletten zweihunderttausend?«, fragte Steve.

»Ja, alles«, erwiderte Sandy. »Charlotte hat ganz schön viel auf sich genommen, indem sie mit den Kindern ausgezogen ist. Soll sie sich jetzt etwa auch noch Sorgen machen, wie sie finanziell über die Runden kommt?«

Ganz genau, Steve, dachte Sandy. Sie hat dich verlassen, und ich will trotzdem, dass du ihr die ganzen zweihunderttausend gibst. Verstehst du, warum?

»Aber die Hälfte davon gehört doch ihm«, wandte Charlotte ein. Sie sah so ehrlich aus, so blond, so blauäugig, so absolut amerikanisch. Sie fragte sich offensichtlich, was sie hier eigentlich zu suchen hatte, als wäre sie im falschen Film.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Sandy.

»Na, wenn wir uns scheiden lassen würden, dann würde er doch die Hälfte davon bekommen.«

»Wollen Sie sich denn scheiden lassen?«

»Ich bin Eheberaterin. Mir ist ehrlich gesagt völlig egal, was im Gesetz steht. Da können sich gern Anwälte drum kümmern. Im Moment sehe ich nur, dass Sie Geldsorgen haben, und diese zweihunderttausend würden sie Ihnen nehmen. Zumindest für eine Weile. Sie sagten doch, dass hauptsächlich Sie sich um die Kinder kümmern. Und dann arbeiten Sie auch noch Vollzeit. Da brauchen Sie ohnehin jede Hilfe, die Sie kriegen können. Und mit dem Geld hätten Sie schon mal eine Sorge weniger.«

Der Gedanke gefiel Charlotte sichtlich. »Sie finden wirklich, ich sollte das ganze Geld bekommen?«

»Ja.«

Sandy drehte sich wieder zu Steve um. Hemd und Hose waren ordentlich gebügelt, und seine Schuhe glänzten. Er versuchte, die Fassade seines Lebens aufrechtzuerhalten. Aber er hatte tiefe Augenringe, und seine Hände zitterten.

»Wie sehen Sie das denn, Steve?«

»Die meisten Männer würden garantiert sagen: Meine Frau lässt sich scheiden, und dann will die Eheberaterin auch noch, dass ich meiner Frau das ganze Geld aus dem Hausverkauf gebe? Obwohl mir vom Gesetz her die Hälfte zusteht? Warum

»Würden sie wahrscheinlich, ja. Und Sie?«

Zu ihrer Überraschung lächelte Steve.

»Als Sie das eben gesagt haben, dachte ich erst mal, äh, Moment, was soll das denn jetzt? Ich habe mich überrumpelt gefühlt. Ich dachte, wenn wir hier diskutieren, ob wir uns scheiden lassen oder nicht, dann wäre es doch am besten, wenn alles beim Status quo bleibt.«

Für Sandy war der Status quo das am wenigsten Erstrebenswerte.

»Wollen Sie sich denn scheiden lassen?«, fragte sie Steve.

Steve blieb stumm. Was geht bloß in ihm vor, überlegte Sandy Und fragte ihn schließlich genau das.

»Was in mir vorgeht?«, fragte Steve zögerlich, als hätte er kein Recht, über seine Gefühle zu sprechen. »Ich bin gerade Teilhaber einer großen Private-Equity-Firma geworden, aber trotzdem geht’s mir so dreckig wie noch nie. Ich habe seit Tagen nicht geschlafen.«

Er verstummte und betrachtete Charlotte, als wolle er kurz Bilanz ziehen. Wer war diese Frau? Er schien sich nicht mehr ganz sicher.

Sie ist eine wunderschöne, schlaue Eisprinzessin,

»Steve?«, erinnerte sie ihn. »Sie wollten mir sagen, was Sie verstanden haben.«

Wieder lächelte er. Sandy wurde klar, dass ihn die Situation tatsächlich auf gewisse Weise amüsierte. Er fragte sich, wie das alles bloß hatte passieren, wie er so dumm hatte sein können, und musste dabei lachen. Er konnte gleichzeitig unglaublich leiden und trotzdem lächeln. Ein gutes Zeichen. Noch nicht wirklich genug, aber schon nah dran.

Sollte sie die beiden als Klienten nehmen? Sie war sich nicht sicher. Wo waren bloß die melancholischen Künstler mit den trüben Gedanken? Solche bekam sie nie. Hatte Steve trübe Gedanken? Dachte er überhaupt genug nach, reflektierte er seine eigenen Handlungen, war er zu Veränderungen bereit? Schrieb er spätnachts Gedichte? Malte er? War ihm bewusst, wie wunderschön die Stadt zu dieser Jahreszeit war? Sie sah zu Charlotte hinüber. Und du, bist du bereit für Veränderungen? Dir fällt das Ganze vielleicht sogar noch schwerer als ihm, Prinzessin, überlegte sie.

Steve hatte ihre Frage immer noch nicht beantwortet. Er sah sich im Zimmer um, betrachtete den Schreibtisch in der Ecke, die IKEA-Sessel und dahinter den großen grünen im viktorianischen Stil.

»Steve?«, erinnerte ihn Sandy.

»Ach so, Entschuldigung. Was ich sagen wollte: Warum sollte ich Charlotte auch meinen Anteil aus dem Verkaufserlös geben?«

»Weil Charlotte sich Sorgen macht.«

»Ich will mich nicht scheiden lassen«, sagte Steve ruhig und beantwortete damit auch endlich Sandys Frage.

»Aber Sie stehen kurz davor«, sagte Sandy. »Was Sie bis jetzt getan haben, um eine Scheidung zu verhindern, hat offensichtlich nicht funktioniert. Warum versuchen Sie nicht was Neues? Etwas, das Ihnen erst mal total gegen den Strich geht? Warum nicht? Sie haben doch nichts zu verlieren, oder?«

»Doch, Geld«, antwortete Steve.

Falsche Antwort, Steve, dachte Sandy und sah ihn einfach nur an. Es steht alles auf dem Spiel, siehst du das denn nicht?

»Ich soll also etwas tun, was mir total gegen den Strich geht?«, fragte Steve nach einer Weile.

Er denkt immer noch darüber nach, wie die meisten Männer an seiner Stelle reagieren würden, merkte Sandy. Vergiss es doch einfach, Steve!, dachte sie, während Steve weiter vor sich hin starrte.

»Ich bin müde«, sagte er.

»Ich weiß«, gab Sandy zurück und ergänzte innerlich: ›Lass einfach los!‹

Und siehe da, er ließ los, sowohl das, was die meisten Männer an seiner Stelle getan hätten, als auch ihre halbgaren Ratschläge. Steve wagte den Sprung ins Unbekannte.

»Okay, ich versuch’s.«

Er griff in die Innentasche seines Jacketts. »Ich habe den Scheck zufällig dabei.« Er unterschrieb ihn mit dem Montblanc-Füller, der in seiner Brusttasche steckte, und reichte ihn Charlotte. Sie nahm ihn. Zweihunderttausend Dollar.

»Danke«, sagte sie.

Das waren wahrscheinlich seit langer Zeit die ersten netten Worte, die sie an ihn gerichtet hatte, ging Sandy durch den Kopf. ›Danke.‹ Siehst du, Steve, du hast dich auf etwas eingelassen, was dir total gegen den Strich ging, und es hat tatsächlich funktioniert.

Ja, sie würde die beiden als Klienten annehmen.

Zu Beginn einer Paartherapie bat Sandy stets beide Partner zu einem Einzelgespräch.

Als Charlotte zwei Tage später zur Einzelsitzung erschien, sah sie unglaublich müde aus. Und sie kam zu spät, wenn auch nur ein paar Minuten. Sie war die Treppe zu Sandys Büro im ersten Stock hinaufgerannt.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte sie und setzte sich in den Sessel, in dem sie auch letztes Mal gesessen hatte. »Ein Glück, dass Sie hier einen eigenen Parkplatz haben.« Sie stellte ihre braune Lederhandtasche neben dem Sessel ab und atmete mehrmals tief durch. »Wirklich ein schönes Haus«, fuhr sie fort. »Ich habe das kleine Bronzeschild im Treppenhaus gesehen, wo Sie sich bei Ihrer Mutter dafür bedanken, dass sie Ihnen das Haus hier geschenkt hat.«

Das Schild hat meine Mutter selbst angebracht, dachte Sandy. »Danke«, antwortete sie. »Wie geht’s Ihnen? Sie sehen ziemlich erschöpft aus.«

»Was wissen Sie nicht?«

»Sobald auch nur eine Kleinigkeit schiefgeht, wenn zum Beispiel eins der Kinder krank wird und abgeholt werden muss, fällt das ganze Kartenhaus schon in sich zusammen.«

»Was ist denn mit Steve?«

»Er holt die Kinder an zwei Nachmittagen die Woche von der Schule ab und hat sie auch jedes zweite Wochenende.«

»Und wenn Sie gerade nicht wegkönnen, weil Sie unterrichten, wieso kann er dann nicht einspringen?«

»Ich möchte ihn um nichts bitten«, sagte Charlotte bestimmt. »Ich finde es schon schlimm genug, dass er die Kinder an zwei Nachmittagen hat.«

»Darüber sollten wir noch mal reden«, meinte

»Ich will nicht, dass die Kinder sich abgeschoben fühlen. Die beiden leiden doch schon genug darunter, dass Steve und ich nicht mehr zusammen sind.«

Sandy schüttelte den Kopf.

»Sie sind Dozentin an der Uni, da gibt es bestimmt zahlreiche Studenten auf der Suche nach einem Nebenjob. Und Ihre Kinder haben sicher nichts dagegen, mal einen Nachmittag mit jemand anderem zu verbringen als mit ihrer völlig übermüdeten Mutter, die bis in die frühen Morgenstunden Hausarbeiten korrigiert hat.«

Es steckte jedoch noch mehr dahinter, das merkte Sandy. »Sie waren nicht nur mit Hausarbeiten beschäftigt, oder?«

»Ich habe auch etwa eine Stunde telefoniert«, erwiderte Charlotte zaghaft.

»Ich nehme an, mit einem Mann?«

»Ja.«

»Erzählen Sie mir davon.«

»Das ist mir ein bisschen unangenehm.«

»Das müssen Sie ablegen.« Sandy lächelte. Nur eine Frage der Zeit, dachte sie.

Charlotte nickte.

»Direkt nach meiner Entfristung war ich auf

»Und wie heißt dieser Mann?«

»William Keener. Also Bill.«

»Wussten Sie damals schon, dass Steve eine Affäre hatte?«

»Ich hatte ihn noch nicht zur Rede gestellt, aber ich wusste, was los ist. Er wich mir aus, wenn es darum ging, wo er war, er bekam Anrufe zu den seltsamsten Tageszeiten. Ich wusste auf jeden Fall Bescheid. Es war irgendwie faszinierend, ihm dabei zuzusehen. Ich konnte nicht fassen, dass er mich wirklich für so dumm hielt. Aber er machte immer weiter. Schon komisch, wenn der Partner einem immer und immer wieder einfach so ins Gesicht lügt.«

»Sie hatten dann also beide gleichzeitig eine Affäre.«

»Das war überhaupt nicht wertend von mir gemeint«, beschwichtigte Sandy. »Ich möchte nur genau verstehen, was passiert ist. Haben Sie mit Steve über Ihren Verdacht gesprochen, dass er Sie betrügt?«

»Ja, gleich als ich von der Konferenz zurück war. Ich habe ihm gesagt, dass ich Bescheid weiß, und er hat es zugegeben. Er meinte, er hätte die Sache ein paar Wochen zuvor beendet.«

»Weiß Steve auch von Bill?«

»Er kann sich wahrscheinlich denken, dass da jemand ist. Ich bin als anderer Mensch von der Konferenz zurückgekommen. Aber gesagt habe ich es ihm nicht.«

»Wo wohnt Bill?«

»Er unterrichtet an der UCLA und wohnt in Santa Monica. Und es gibt noch ein Problem. Er ist verheiratet. Und er hat schon eine Scheidung hinter sich, deshalb konnte ich ja unter anderem so gut mit ihm reden. Er wusste genau, was ich gerade durchmache.«

»Hat er Kinder?«

»Eins aus jeder Ehe, ja.«

»Er ist nachts aufgestanden und hat von seinem Arbeitszimmer aus angerufen.«

»Ich hätte da ein paar Gedanken dazu«, sagte Sandy.

»Ich weiß, ich muss es Steve erzählen.«

»Das auch, obwohl er bestimmt schon alles weiß. Was ich aber meinte: Sie haben hier das Sagen. Das ist Ihnen vielleicht nicht ganz klar, aber es ist wirklich so. Sie haben die Kontrolle. Nicht Bill. Und auch nicht Steve. Deshalb würde ich Folgendes vorschlagen: Tun Sie das, was Ihnen guttut. Verlangen Sie zum Beispiel von Bill, dass er sich zeitlich nach Ihnen richtet.«

»Aber wie soll das denn gehen?« Charlotte klang verwirrt.

»Indem Sie nicht brav warten, bis seine Frau eingeschlafen ist und er sich in sein Arbeitszimmer schleichen kann, wodurch Sie dann die ganze Nacht wach bleiben. Sagen Sie ihm, wann es Ihnen zeitlich passt.«

»Aber er kann doch nicht einfach zu seiner Frau sagen: ›Sorry, ich muss mal eben Charlotte anrufen.‹«

»Vielleicht nicht, nein. Das ist dann aber nicht Ihr Problem, sondern seins.«

»Er wird sich schon was einfallen lassen, machen Sie sich da mal keine Sorgen.«

»Ich will ihn nur nicht unter Druck setzen«, wehrte Charlotte ab.

»Und was ist mit Ihnen? Sie kümmern sich um zwei kleine Kinder, Sie müssen Hausarbeiten korrigieren, Sie müssen Seminare halten und Konferenzen besuchen, und Ihre Ehe hängt nur noch am seidenen Faden. Wer von Ihnen beiden hat da bitte schön gerade etwas mehr Rücksicht verdient?«

»Ich rede aber so gern mit ihm«, sagte Charlotte. Ihr kamen die Tränen. »Ich brauche ihn.«

Sie ist wirklich total fertig, dachte Sandy. Ein völliges Wrack.

»Sie haben ihn ja auch«, entgegnete Sandy. »Sie haben das alles schon richtig schön auseinandergenommen, aber jetzt müssen Sie sich ein bisschen zusammenreißen.«

»Ich bin verliebt. Endlich habe ich jemanden zum Reden. Zum ersten Mal seit Jahren. Er bedeutet mir so viel, dass es weh tut.« Charlotte streckte unglücklich die Hände nach Sandy aus. »Aber er ist verheiratet und schon einmal geschieden. Das wird doch nie was mit uns. Kann seine Frau nicht einfach sterben?« Sie weinte nun richtig.

Sandy reichte ihr die Taschentuchbox, die

»Ich habe einfach keine Kraft mehr«, sagte Charlotte.

»Ich weiß«, antwortete Sandy. »Und das ist auch absolut nachvollziehbar.«

Sandy hörte Steves Muscle Car, einen Mercedes C63 AMG, auf den Parkplatz donnern. Er klang genau so wie der C63 ihrer Mutter früher, und das Geräusch nervte sie. Ihre Mutter hatte bei der Wahl des Autos nicht etwa ihre Klienten im Hinterkopf gehabt, für einen Benz war es nämlich ganz schön eng darin. Es ging ihr vielmehr um das Machtgefühl, um den wummernden 8-Zylinder-Motor, den die Benz-Trolle in Stuttgart zusammengebastelt hatten, und das Drehmoment, das einen beim Anfahren in den Sitz drückte und die Räder qualmen ließ, diese geballte Kraft, die sich auf die Insassen übertrug, alle anschnallen, es geht los. So war ihre Mutter. Geht es dir auch um diesen Effekt, Steve?, dachte Sandy.

Er kam nicht sofort rein. Erst nach fünf Minuten zeigte das kleine Lämpchen unter Sandys Schreibtisch an, dass er das Wartezimmer betreten hatte. Dann klopf‌te es, die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und Steve steckte den Kopf herein.

»Ja. Es kann immer sein, dass ich noch Klienten hier drin habe und wir gerade ein sehr ernstes Gespräch führen«, antwortete Sandy. »Aber jetzt ist keiner da, also kommen Sie ruhig rein.«

Er sah genau so aus wie beim letzten Mal: bedrückt, niedergeschlagen, ein gesprungener Teller, wie die Sammelteller, die ihre Mutter zuletzt immer gekauft hatte, das Porzellan so zart, dass es fast durchsichtig war.

»Kann ich Sie was fragen?«

»Na klar«, antwortete sie.

»Also, auf dem Weg von Presidio Heights hierher fahr ich so die Bush Street lang, und auf einmal bin ich auf der Embarcadero. Ich bin an der Fillmore vorbeigefahren und hab es überhaupt nicht gemerkt. Ich hab wirklich keine Ahnung, wie ich auf der Embarcadero gelandet bin. Also hab ich gewendet, um zur Fillmore zurückzufahren, und dann war ich auf einmal da, aber hab wieder nicht mitgekriegt, wie ich hingekommen bin. Und dann stand ich plötzlich hier bei Ihnen auf dem Parkplatz.«

»Nehmen Sie Medikamente?«, fragte Sandy. »Drogen? Was ist mit Alkohol?«

Er setzte sich ruckartig auf, als hätte ihm die

»Was? Nein, ich nehme weder Medikamente noch Drogen! Sollte ich vielleicht mal, ich hab schon ewig nicht mehr richtig geschlafen, aber nein. Ich trinke auch kaum Alkohol. Mache ich etwa den Eindruck?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich kenne Sie ja auch erst seit vier Tagen und sehe Sie heute gerade zum zweiten Mal. Aber ich weiß, dass Sie im Moment viel Stress auf der Arbeit haben, und –«

»Deshalb nehme ich doch aber keine Drogen!«, unterbrach er sie.

Sandy merkte, dass sie ihn mit ihrer Frage direkt bei der Selbstachtung gepackt hatte.

»Und woran liegt es dann, dass Sie durch die Gegend fahren und nicht wissen, wie Sie irgendwohin gekommen sind?«

»Ich war ja auf dem Weg hierher, da hab ich natürlich viel nachgedacht«, sagte Steve. »Wahrscheinlich hat mein Unterbewusstsein das Steuer übernommen, während ich überlegt habe, worüber ich mit Ihnen reden soll.«

Würde er das auch im Kreuzverhör während des Scheidungsverfahrens sagen? ›Ich habe meine Kinder zur Schule gebracht, und dabei hat mein Unterbewusstsein das Steuer übernommen?‹

»Sie haben auf dem Weg hierher darüber nachgedacht, was Sie mir sagen wollen?«

»Ja, ich wollte Ihnen erzählen, dass Charlotte und ich viel arbeiten. Dass das unser Problem ist. Meine Kollegen sind ein Haufen egoistischer Karrieristen. Ich arbeite Tag und Nacht. Und Charlotte hat alles gegeben, um endlich unbefristet angestellt zu werden. Ist doch logisch, dass die Beziehung darunter gelitten hat.«

»Es gibt viele Paare, wo beide Partner sehr viel arbeiten und die Beziehung trotzdem nicht darunter leidet«, erwiderte Sandy.

»Und was ist deren Geheimnis?«

»Sie unterstützen einander bei der Arbeit.«

»Unsere Jobs sind aber so verschieden«, erwiderte Steve. »Es war schwer, nachzuvollziehen, was der andere gerade durchmacht. Ich wusste nicht, wie ich Charlotte bei ihrer Entfristung helfen soll.«

»Das müssen Sie ja auch gar nicht. Verständnis für ihre Situation ist aber eine andere Geschichte. Wenn man einmal entfristet wurde, verändert das das ganze Leben. Wenn man es nicht schafft, macht einen das natürlich fertig. Sie hat bestimmt eine Heidenangst gehabt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Die hätten sie so oder so entfristet. Sie war ein absoluter Glücksgriff für dieses College.«

»Woher wissen Sie das? Hat sie Ihnen das erzählt?«, fragte Sandy. »Oder glauben Sie nur, dass sie das dachte?«

»Ich hab keine Ahnung, was Charlotte dachte, weil sie ja nie mit mir darüber geredet hat. Sie saß entweder am Küchentisch und hat irgendwas geschrieben und ich durf‌te mich nur auf Zehenspitzen in der Wohnung bewegen, oder sie war auf Konferenzen. Ich hab ja versucht, mit ihr über ihre Arbeit zu sprechen, aber da ist sie immer nur böse geworden.«

»Inwiefern?«

»Sie meinte immer, ich würde das nicht verstehen. Das war so ihr Mantra: ›Das verstehst du eh nicht.‹«

Und was genau hat das damit zu tun, was gerade passiert?, dachte Sandy bei sich.

»Und wie läuft es im Moment so zwischen Ihnen? Wie war die Woche? Wie geht’s den Kindern?«

»Ich hole die Kinder zweimal die Woche von der Schule ab, mache irgendwas mit ihnen bis sechs, und dann bringe ich sie zu Charlotte. Jedes zweite Wochenende habe ich sie auch.«

»Sind Sie zufrieden damit, dass Sie die Kinder immer nur eine bestimmte Zeit haben?«

»Nein«, sagte Steve zögernd. »Charlotte wollte das so nach der Trennung. Mir wird erst nach und nach klar, was ich eigentlich will. Ich hätte gern mehr Zeit mit ihnen. Das soll sich ändern.«

»Können Sie das denn mit Ihren Arbeitszeiten vereinbaren?«, fragte Sandy.

»Ich hab jetzt Eigenkapital in die Firma investiert. Ich krieg das auf jeden Fall irgendwie geregelt.«

»Sie können also nicht entlassen werden?«

»Doch, schon, aber da müsste die Firma richtig bluten. Und Charlotte hat ja jetzt auch ihren unbefristeten Vertrag. Wenn wir bloß noch ein Jahr durchgehalten hätten, wären wir jetzt noch zusammen.«

»In Ihrer Beziehung liegt so einiges im Argen, das nichts mit Ihrer oder Charlottes Arbeit zu tun hat, sondern damit, wie Sie miteinander umgehen. Sie kommunizieren sehr schlecht miteinander.«

»Das stimmt schon, aber daran können wir doch gemeinsam mit Ihnen arbeiten, oder?«

»Wir können es zumindest versuchen.«

»Wie stehen denn die Chancen, dass wir wieder

»Nicht gut.«

»Fünfzig-fünfzig?«

»Eher eins zu tausend.«

Einen Moment lang wechselten sich Angst und Wut auf Steves Miene ab, dann wurde alles von einer Welle tiefer Traurigkeit überspült.

»Woher wollen Sie das denn so genau wissen?«

»Sie haben mich um meine Meinung gebeten, und ich habe Ihnen eine klare Antwort gegeben«, erwiderte Sandy.

»Das kann ich aber nicht einfach so hinnehmen. Wir müssen das wieder hinkriegen. Es muss doch irgendwas geben, was ich machen kann.«

Seine Verzweif‌lung berührte Sandy. Er tat ihr leid. Aber er müsste sehr viel an sich verändern, um wieder mit Charlotte zusammenzukommen. Es wäre eine gewaltige Arbeit. Und dann bräuchte er obendrein auch noch eine große Portion Glück.

»Aber manche Leute, die zu Ihnen kommen, finden doch wieder zusammen, oder?«, fragte er.

»Die meisten meiner Klienten führen eine funktionierende Ehe und wollen sie lediglich verbessern.«

»Natürlich. Und ich hatte auch schon welche, die bereits geschieden waren und wegen der Kinder ein gutes Verhältnis miteinander haben wollten.«

»Aber es muss doch auch getrennte Paare geben, die wieder zusammengekommen sind.«

»Mehrere, ja.«

»Wie viele genau?«

»Zwei.« Das war die Wahrheit. Wenn man einmal so weit gekommen war wie Steve und Charlotte, war es sehr schwer, den Scheidungszug noch aufzuhalten.

»Zwei?« Er sah sie verständnislos an, als hätte man auf ihn geschossen. »Und wie lange arbeiten Sie schon als Eheberaterin?«

»Steve, das bringt doch jetzt nichts.«

»Bringt es sehr wohl. Ich möchte wissen, ob ich hier bin, um unsere Scheidung so einvernehmlich wie möglich über die Bühne zu bringen oder um die Beziehung zu kitten.«

»Das eine schließt das andere ja nicht zwangsläufig aus.«

»Ich dachte, das ist hier eine Eheberatung«, sagte Steve wütend. »Dass es also noch eine Ehe gibt, die es wert ist, gerettet zu werden. Sie möchten unsere Ehe doch retten, oder?«

»Also, ich will meine Ehe auf jeden Fall retten«, erklärte er bestimmt.

»Dann tun Sie das«, erwiderte Sandy ruhig.

Die Herausforderung stand zwischen ihnen im Raum.

»Ich dachte, Sie würden mir dabei helfen«, meinte Steve nach kurzem Schweigen. »Dass wir so was wie einen Plan aufstellen. Dass Charlotte und ich uns zum Beispiel als Erstes mal darauf einigen, dass wir nicht mit jemand anderem ins Bett gehen. Dann finden wir raus, was unsere Probleme sind, und nehmen sie uns eins nach dem anderen vor. Halt so eine Art Schlachtplan.«

»Jetzt hören Sie mir mal genau zu«, sagte Sandy leise und eindringlich.

»Mach ich«, sagte Steve. »Keine Sorge.«

»Na dann. Es gibt keinen Schlachtplan. Es gibt überhaupt keinen Plan. Und es wird auch keine Absprachen geben, dass keiner mit jemand anderem schläft oder so. Ich werde so etwas jedenfalls sicher nicht vorschlagen, weil das meiner Meinung nach die falsche Herangehensweise wäre.«

»Die falsche?« Steve sah sie verwirrt an, als hätte er das Gefühl, er stünde nun endgültig in einer Sackgasse.

»Es hätte doch gar keinen Sinn, sich darauf zu

Steve sah aus, als hätte man gerade das Todesurteil über ihn gesprochen.

»Aber wissen Sie was?«, fuhr Sandy fort. »Mir fällt gerade ein, dass ich drei Paare kenne, die nach einer Trennung wieder zusammengefunden haben. Mein Mann und ich haben fast ein Jahr lang getrennt gelebt und sind am Ende doch wieder zusammengekommen.«

Diese Information schien Steve wieder etwas aufzumuntern.

»Sie meinten eben, ich soll meine Ehe retten«, sagte er.

»Ja.«

»Aber Sie haben keine Ahnung, wie ich das anstellen soll? Nicht mal einen einzigen Hinweis? Obwohl Sie und Ihr Mann es auch geschafft haben?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich keine Ahnung hätte. Ich habe durchaus eine Vorstellung, was Ihnen helfen würde. Ich glaube, als Erstes müssten Sie ein besseres Selbstwertgefühl entwickeln. Was Charlotte angeht, können Sie im Moment nicht viel tun. Was Sie selbst angeht, schon. Sie müssen dafür sorgen, dass es Ihnen bessergeht. Und ich habe

»Glauben Sie wirklich, Charlotte sagt die ganze Zeit das Gegenteil von dem, was sie denkt?«

»Natürlich nicht immer, aber manchmal schon. Aber darum geht es auch gar nicht. Ich möchte, dass Sie darüber nachdenken, was hinter Charlottes Worten steckt. Versuchen Sie mal, die tatsächliche Bedeutung zu ergründen. Wenn Sie sich vorstellen, dass sie das Gegenteil meint, werden Sie vielleicht offener dafür, dass eine Aussage mehrere Bedeutungen haben kann.«

»Das heißt, wenn Charlotte zu mir sagt, dass sie mich hasst, meint sie eigentlich, dass sie mich liebt?«

Sandy musste lächeln.

»Vielleicht. Oder vielleicht hasst und liebt sie Sie auch gleichzeitig. Denken Sie mal darüber nach.«

S