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Werner Friedrich

Wie das Leben spielt

Roman

© 2018 Werner Friedrich

Knopfgasse 30

87600 Kaufbeuren

E-Mail:wernerfriedrich1951@gmail.com

Umschlaggestaltung: Werner Friedrich

Titelbild: Aquarell v. Werner Friedrich

Verlag:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

ISBN 978-3-7439-7978-9 (Paperback)

ISBN 978-3-7439-7979-6 (Hardcover)

ISBN 978-3-7439-7980-2 (E-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Teil 1

Zuvor…

Die Kürze des Lebens verbietet uns,
lange Hoffnungen zu haben.

Horaz

Kapitel 1

Mike mochte seinen Beruf. Jetzt aber ärgerte er sich. „Hätte er doch diesen verdammten Vortrag nicht gehalten.“ Das Referat war ihm aufgedrängt worden. Er war für seinen krank gewordenen Kollegen eingesprungen, dessen schriftliches Konzept er von einer Minute auf die Andere übernommen hatte. Es war ein Fehler gewesen. Aus der Zuhörerschaft musste er Pfiffe ernten. Das Manuskript seines Kollegen war in einigen Punkten vage formuliert und fundierte Forschungsergebnisse, die Beweis führend für die Richtigkeit der vorgestellten Thesen hätten sein können, fehlten. Mike war Opfer seines eigenen Entgegenkommens geworden. Ein Anruf der süddeutschen Firmenleitung hatte ihn auf dem Werftgelände erreicht. Einer seiner Vorgesetzten hatte ihn gebeten, das Referat zu übernehmen. Es sei für das Unternehmen von immensem Interesse, auf dem Kongress auf diese Weise vertreten zu sein. Die geplante Getriebereihe für große Seeschiffe sei in der Entwicklungsarbeit weit fortgeschritten. Die Vermarktung stünde unmittelbar bevor. Der Hamburger Kongress böte die Möglichkeit, das Produkt ersten Kaufinteressenten näher zu bringen.

Mike hatte sich breitschlagen lassen. Das Manuskript war wenige Minuten später per Fax in der Werft angekommen. Der Vortrag musste schon am darauffolgenden Tag gehalten werden. So hatte er das viele Seiten umfassende Fremdmanuskript überflogen, in seinem Gefühl bereits nicht sonderlich überzeugt von den darin vertretenen Standpunkten. Hinter mancher Argumentation witterte er Fehler. Nur, ihm fehlte der praktische Bezug zum beschriebenen Objekt. Die Entwicklung des neuen Getriebes war ohne sein Zutun geschehen. Zusammengestellte Fakten, die im Manuskript genannt waren, konnte er nicht überprüfen. Die Formulierungen, in den vor ihm liegenden Seiten, entsprachen nicht seinem Stil. Er musste sich im Auditorium dazu zwingen, am Konzept und der ihm fremden Wortwahl festzuhalten. Das Referat befasste sich mit der Servicefreundlichkeit des neu entwickelten Großgetriebes, das für den Einbau in Containerschiffe mit hoher Dienstgeschwindigkeit vorgesehen war. Ihm selbst erschienen Argumentationspunkte von der Sprache her unklar ausgedrückt und die Beweisführung mancher Aussage in diversen Sequenzen sehr vage. Die negativen Reaktionen aus der hochkompetenten Zuhörerschaft, fühlte Mike bereits während seines Vortrages am Rednerpult. Geraune, ja einige provokative Zwischenrufe ließen ihn ahnen, welch peinlichen Fragen er anschließend ausgesetzt sein würde. Er konnte diese, wegen seiner Unkenntnis in die technischen Einzelheiten der neuen Getriebeeinheit, nicht fachgerecht beantworten. Für ihn, Mike, war der Vortrag zur persönlichen Blamage geworden. Da einige Entwicklungsingenieure aus der süddeutschen Zentrale im Publikum saßen und ihm bei Fragestellungen mit Teilauskünften zu Hilfe kamen, ließ sich der Ruf des Unternehmens, unter Hinnahme einiger Peinlichkeiten, verteidigen. Blamabel jedoch war die Situation für beide Teile, für Mike und für die Firmenleitung. Er, als Referent, wäre am liebsten im Boden versunken. Später am Tag war es zu einem Krisengespräch mit den Entwicklern des Getriebes gekommen. Alle waren sie hoch qualifizierte Ingenieure, die aber, jeder für sich, nur für einen Teilbereich der Neuentwicklung zuständig zeichneten und daher wenig Wissen über die Gesamtkomplexität des Produktes besaßen. Allerdings erhielt Mike durch diese Kollegen Rückendeckung, was seine peinlich gewordene Situation in dieser Angelegenheit betraf. Sie sprachen ihn frei von Schuld und schoben der Firmenleitung das Desaster in die Schuhe. Mike jedoch war das kein Trost gewesen. Er fühlte die Angelegenheit als ein persönliches Versagen. Nie hätte er in diesem Fall sein Entgegenkommen signalisieren dürfen. Es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, der Vortrag wäre zurückgezogen worden. Alle Peinlichkeiten wären dem Unternehmen auf dem Kongress und in den Pressemitteilungen erspart geblieben. Mike setzte diesen Tag auf die Seite der Niederlagen in seinem Leben. Davon gab es nicht viele, aber die Wenigen waren umso schmerzlicher gewesen. Es ärgerte ihn, seiner eigenen Prinzipien untreu geworden zu sein. Die nötige Portion Vorsicht und sein, von Natur aus gesundes Misstrauen, hatte er außer Acht gelassen, als er die telefonische Zusage gab, für einen Freundschaftsdienst, den er nun bereute.

Das misslungene Referat war gestern gewesen. Bis in die Nacht hinein hatte er in seinem Hotel an der Bar gesessen und seinen Ärger im Alkohol ertränkt. Einige Biere, einige Schnäpse hatte er in sich hineingeschüttet. Zu viele waren es wohl gewesen; ganz gegen seine Gewohnheit hatte er dem Fusel zugesprochen und war am Morgen mit schwerem Kopf erwacht. Seit undenklichen Zeiten führte sein Arbeitsweg zuerst in eine Apotheke, um sich mit Aspirin zu versorgen. Er schluckte es an diesem Morgen in den Räumen der Werfttoilette.

Dann sah er in den Spiegel, schüttelte seinen Kopf, als könne er sich damit von der dumpfen Benommenheit seines nächtlichen Rauschzustandes befreien und kommentierte seinen Zustand mit den Worten: „Na, herrlich, Mike Goldstein, du Idiot bist ja selbst an allem schuld.“ Danach war er an seinen Arbeitsplatz gegangen, über den trocken liegenden Boden des Schwimmdocks, in den Bauch eines Hochseeschleppers. Es war ihm schwer gefallen sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die schweißtreibende Tätigkeit, die er gemeinsam mit den Ingenieuren und Werftarbeitern in den vergangenen Tagen erledigen musste, war harmonisch verlaufen. Der Austausch einer defekten Rutschkupplung und der Wechsel zweier tonnenschwerer Zahnkränze eines Ausgleichsgetriebes hatte Kräfte gekostet und Konzentration verlangt. Nur mit klug eingesetzten Hebewerkzeugen war es, in einigen komplizierten Arbeitsgängen, gelungen, die maroden Teile zu ersetzen. Bei den Probeläufen war es nach einigen Feinabstimmungen in der Steuerungstechnik zu keinen Fehlern mehr gekommen. Die neuen Teile funktionierten reibungslos und harmonierten mit den verbliebenen Baugruppen. Die Reparatur und die Servicearbeiten am Getriebebock waren unter Mikes Leitung zum Abschluss gekommen. Im Laufe des zurückliegenden Vormittags hatten sich dann auch seine Kopfschmerzen verflüchtigt. Sein körperliches Befinden normalisierte sich. Seine Gedanken galten dann dem Übergabeprotokoll und den technischen Bescheinigungen, die er für die Unterzeichnung vorbereitete. Nach einem noch ausstehenden Belastungstest unter Realbedingungen, bei einer Testfahrt, würden die Dokumente vom Chefingenieur der Werft, von ihm, Mike Goldstein, der als leitender Fachingenieur des Getriebeherstellers die Arbeiten überwachte und dem Kapitän des Schleppers der einer holländischen Reederei gehörte, unterschrieben werden. Es entsprach alles dem üblichen Ablauf. In der Offiziersmesse des Schiffes trafen sich alle Beteiligten zu einem abschließenden Gespräch. Dabei wurde geflachst und Seemannsgarn gesponnen. Die Stimmung an Bord war während der gesamten Werftliegezeit außerordentlich gut gewesen. Jetzt kam für die Ingenieure und Werftarbeiter der Zeitpunkt des Abschieds. Der holländische Kapitän bedankte sich für die gute Zusammenarbeit und klärte anschließend mit dem Dockmeister den Termin für die Ausdockung seines Schiffes.

Mike besprach mit dem Holländer noch einige Formalitäten und Vorgehensweisen für die anstehenden Probefahrten in der Nordsee. Sie vereinbarten einen vorläufigen Auslauftermin. Mike würde dann noch einige Tage auf dem Schlepper verbringen müssen. Erst wenn die Testfahrten erfolgreich absolviert waren und das Getriebe beanstandungsfrei seinen Dienst tat, würde sein Job zu Ende sein.

Gegen Mittag konnte er in seiner schmutzigen Arbeitsmontur die Werft verlassen. Das Wetter war sonnig. Blauer Himmel lag über der Silhouette der Elbstadt. Eine Werftbarkasse brachte ihn über den Strom hinüber zu den Vorsätzen. Backsteinfarben, alt und erhaben lagen steuerbordseitig die Gebäude der Speicherstadt und voraus, hoch über den Bug, ging sein Blick auf die stählerne Trasse der Hochbahn mit dem gläsernen Bahnhof der Station Baumwall. An Backbord, entlang des mächtigen Elbstroms lagen in seinem Blickfeld der blaue Steg der Überseebrücke und dahinter die lange Reihe der aufeinander folgenden St.-Pauli-Landungsbrücken.

Mike wollte sein Hotel an der Außenalster, in der Nähe des Hauptbahnhofes aufsuchen, seine Arbeitskleidung ablegen und sich aufs Ohr hauen. Die kommenden Tage würden für ihn noch einmal anstrengend werden; Tage auf See immerhin, aber für ihn auch Tage im lärmenden, heißen Maschinenraum des Schleppers. Messinstrumente ablesen, Tabelleneintragungen vornehmen, eventuelles nachjustieren von Lagern arrangieren müssen und andere fachspezifische Arbeiten mehr würde er erledigen und zu beaufsichtigen haben, ehe er seiner Firma den Vollzug des Service- und Reparaturauftrages melden könnte.

Den azurblauen Himmel vor seinen Augen und die dahin ziehenden, weißen Wolkengebilde über sich wahrnehmend, beschloss Mike spontan seinen Tagesablauf zu ändern, während er den hölzernen Landesteg zum Kai hinaufging. In flottem Gang lenkte er seine Schritte in Richtung Landungsbücken, bestieg eine Hafenfähre und verließ kurz darauf am Anleger in Neumühlen das Schiff. An einem Kiosk überkam ihn der Appetit. Er verlangte nach einem Herings- und einem Lachsbrötchen, ließ sich eine Flasche Mineralwasser bringen, suchte sich auf der Terrasse einen Platz mit Aussicht auf den träge dahin fließenden Strom, legte die Brötchen vor sich auf den Tisch, stellte die Wasserflasche dazu und genoss an der Sonne seine Mittagspause.

Drüben am Südufer der Elbe, sah Mike auf die Kaianlagen des wenige Jahre alten Burchard Kais. Wie hatte sich dieser Teil des Hafens in den letzten beiden Jahrzehnten verändert. Hafenbecken waren neu entstanden, ältere, Elbe aufwärts gelegene Wasserflächen waren zugeschüttet worden. Containerschiffe, zuerst kleine Einheiten, noch fremd und utopisch anmutend im Schiffsverkehr, wurden sie größer und größer werdend in Fahrt gebracht und prägten so, von Jahr zu Jahr mehr, das Bild an den Liegeplätzen. Wie hatte die Stadt ihr Bild gewandelt. Wie war die Zeit vergangen?

Den Ärger des gestrigen Tages noch in seinem Kopf, versuchte Mike jetzt seine Gedanken zu ordnen. Vorträge und kluge Reden halten, das war nicht sein Ding. Er musste es in früheren Jahren oft tun, aber bereits damals waren die Referate nicht seine große Leidenschaft gewesen. Nur, wenn er in der Vergangenheit dazu aufgerufen war, lieferte er seinen Vortrag im Bewusstsein guter, akribischer Vorbereitung ab. Trotz hoher Anerkennung, die ihm stets widerfahren war, konnte er den Zeiten seiner Vortragstätigkeit nie wirkliche Begeisterung abgewinnen.

Seine Passion galt der praktischen Arbeit. Er bevorzugte den Zeichentisch, liebte die Fachdiskussion mit seinen Kollegen über raffiniert erdachte Getriebeeinheiten, die, nach ihren Plänen, in den Werkshallen gefertigt wurden. Er brauchte die Problembesprechungen vor Ort, benötigte das Empfinden des Werdens, vom ersten Ideenkick seines Gehirns, über den Entwurf auf dem Reißbrett, bis zur Realisierung der Konstruktion in den Vorserienmodellen und der Serienproduktion in den Montagehallen. Krönung dieses Prozesses war ihm immer der erfolgreiche Einbau eines fertigen Getriebes in den Schiffskörper.

Innerhalb des Unternehmens war er ein gefragter Mitarbeiter. Nach seiner Lehrzeit und wenigen Jahren der Firmenzugehörigkeit wurde seine berufliche Laufbahn mit dem Einsatz in der Konstruktionsabteilung belohnt. Seine geistigen Fähigkeiten und die gleichzeitig vorhandene Veranlagung für praktische Arbeiten, die ihm eigen waren, galten bald als wertvolles Potential in der Konstruktionsetage des Unternehmens.

Selbständiges Denken, Verantwortungsbewusstsein, technische Begabung, ein hohes Umsetzungsvermögen, eine schnelle Auffassungsgabe und ein ausgeprägtes Gefühl für Teamgeist, so wie eine außergewöhnlich empfindsame Menschenkenntnis, ließen es geschehen, dass er in der Firmenhierarchie Stufe um Stufe erklimmen konnte, um bald in der ersten Reihe der Entwicklungsingenieure seinen Platz zu finden. Er besaß einen gesunden Ehrgeiz, der den Entwicklungen neuer Objekte zuträglich war, ohne dabei jedoch dominant oder rechthaberisch zu wirken.

Irgendwann war es dann geschehen, dass er gebeten wurde zur Behebung eines Getriebeschadens nach Singapur zu fliegen. Ein Personalnotstand, innerhalb der Servicecrew des Unternehmens, war der Anlass dazu. Es galt einen Frachter wieder flott zu bekommen, der dort, in einem anderen Teil dieser Welt, hilflos in einem Dock lag. Die gelieferten Getriebeteile waren bereits vor Ort, doch die dortige Werftmannschaft stand beim Einbau vor Problemen, die sie nicht bewältigen konnte. Damals war dieser unerwartete Einsatz für Mike eine persönliche Herausforderung ersten Ranges gewesen und zugleich ein neues Betätigungsfeld, das ihn interessierte. Zusammen mit zwei Kollegen war er nach Fernost geflogen. Sie erledigten die Reparatur in wenigen Tagen, obwohl die Bedingungen schwierig waren, da die dortige Werftausrüstung dem damaligen technischen Standard nicht entsprach und die personelle Ausstattung entsprechende Facharbeiter vermissen ließ. Mike hatte Gefallen an diesem Einsatz gefunden. Seine Kollegen, bereits seit langer Zeit in diesem Geschäft tätig, bescheinigten ihm große Anerkennung. Sie informierten die Firmenleitung und es bedurfte nur noch weniger Gespräche, bis Mike der Serviceabteilung für Auslandseinsätze zugeteilt wurde. Es geschah in seinem eigenen Interesse. Er war mit Engagement und Freude an seinen neuen Job herangegangen. Er bekam damit auch die Chance, viele Hafenstädte auf dieser Welt zu entdecken. Die Arbeitseinsätze waren vom Zufall bestimmt. Von einer Minute zur Nächsten musste er darauf gefasst sein, an irgendeinen Ort auf dem Globus sein zu müssen um seine Dienste zur Verfügung zu stellen. Bald war er als Teamingenieur für den Schiffsgetriebeservice weltweit tätig. Seine Koffer blieben stets gepackt. Sein Zuhause waren Hotels, Business Clubs, die Konferenzräume großer Werften und seinen Aufgaben entsprechend, die Maschinenräume großer Seeschiffe. Es waren, je länger er im Reparaturservice arbeitete, immer die eher komplizierten Fälle, die Mike mit seinem Team zugewiesen wurden. Dort, wo die Werftingenieure oder die schiffseigenen Maschinisten vor unlösbaren Problemen standen, dort waren Mike und seine Crew gefragt. Meist handelte es sich dabei um kostenintensive Einsätze, die an den Geldbeuteln der Reedereien nagten. Gleichzeitig aber bedeutete die Reparatur- und Servicesparte ein lukratives Geschäft für den Getriebehersteller, eine wichtige Dienstleistung, die für das Ansehen des Unternehmens werbewirksam vermarktet werden konnte. Millionenschwer waren die Beträge um die es ging. Mikes Team wurde zum Vorzeigeobjekt, da es mit Fachkenntnis, Zuverlässigkeit und Schnelligkeit punkten konnte. Kurze Werftaufenthaltszeiten lagen im Interesse eines jeden Reeders. Für Mikes Team blieb es eine bleibende Herausforderung diesen Interessen zu entsprechen und so den Ruf des Unternehmens zu festigen und hoch zu halten.

In Fachkreisen nannten ihn alle den „Indianer“. Der Grund dafür lag in seinem Erscheinungsbild. Er war als Mischlingskind nach dem Zweiten Weltkrieg in Süddeutschland zur Welt gekommen. Seine Haut war dunkel. Die braunen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Eine ausgeprägte Hakennase, vorstehende Wangenknochen, zusammen mit einem schmalen Lippenpaar und einem kantig ausgeprägtem Kinn, eng anliegenden Ohren und seinem schwarzen, ins bläuliche schimmernden Haar, das er meist zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, ließen den Vergleich zur indianischen Rasse nahe liegen. Sein Körper war drahtig, hoch aufgeschossen, sehnig und muskulös. Die Art seiner Fortbewegung und sein Auftreten kamen elegant und mit verhalten anmutendem Stolz zur Geltung. Seine Stimme war ein sonorer Bariton, sein verbaler Umgang angenehm und unterhaltend. Sein Wesen vermittelte ein gefälliges Naturell. In Mitteleuropa kam ein Erscheinungsbild seines Typus eher ungewöhnlich daher, vor allem sein zum Pferdeschwanz gebundenes, leicht krauses Haar gab in seinen ersten Berufsjahren oft Anlass zu Irritationen und rief ein verstohlenes belächelt-werden hervor. Ein Mann seiner Stellung durfte sich in jener Zeit dieses Outfit in der Öffentlichkeit nicht erlauben. Doch er, Mike Goldstein, war das Wagnis bereits bei der Lehrstellensuche eingegangen und hatte seine Haarpracht, auf die er selbst sehr stolz war, aus seiner Schulzeit in den 60-er-Jahren hinein ins Berufsleben gerettet. Er war seiner Frisur treu geblieben. Schon seine Mitschüler riefen ihn: „Indianer“. Mike war ihnen nicht gram gewesen, sondern fühlte sich eher geschmeichelt. Er wurde den Spitznamen nicht mehr los. Wenn jetzt in Fachkreisen das Wort Indianer fiel, dann entsprach das keiner abfallenden Bemerkung und keiner zweifelhaften oder zweideutigen Äußerung und damit einer versteckten Abwertung seiner Person. Ganz im Gegenteil: wenn das Wort fiel, wurde es verstanden und gleichgesetzt mit den Begriffen Fachkompetenz, Zuverlässigkeit, Führungsstärke, Entscheidungsfreudigkeit und Durchsetzungsvermögen. Die Gesichtszüge und körperlichen Merkmale Mikes unterstützten, ja verstärkten und vervollständigten den Eindruck und die Vergleichbarkeit mit dem Idealbild eines Indianers.

Nachdem Mike seine Brötchen verzehrt hatte, stand er auf. Den Nachmittag durfte er für sich gestalten. Die Arbeiten auf dem Schlepper waren abgeschlossen. Bis ihn der Kapitän des Schiffes über den Auslauftermin informieren würde, konnte es noch viele Stunden dauern, vielleicht sogar ein bis zwei Tage, je nachdem wie lange die Werft für die verbliebenen Restarbeiten benötigen würde. Diese Zeitspanne bedeutete für ihn Freizeit. Er sah zum wiederholten Male auf den Strom hinaus, dessen Wellen in der Sonne blitzten. Einige Ausflugsboote waren Elbe abwärts unterwegs. Von Finkenwerder kommend, pflügte ein Hafenfährboot das Wasser und überquerte den Strom. Ein kleiner Frachter verließ die Kaianlagen des gegenüberliegenden Hafenbeckens. Es roch nach Elbwasser und salziger Luft. Mit der auflaufenden Flut würden in Kürze die großen Seeschiffe in den Hafen einlaufen, andere den Tidenhöchststand nutzen um den langen Weg auf dem Strom in Richtung Nordsee anzutreten. Der Strom war die Schlagader der Stadt, der Gezeitenwechsel ihr Pulsschlag.

Mike kannte viele Hafenstädte auf dem Erdball. Jede von ihnen besaß einen eigenen Charakter. Manche war ihm ewig fremd geblieben, anderen war es gelungen seine persönliche Sympathie zu finden, zu wieder anderen hatte er Zuneigung oder gar Liebe entwickelt. Den Begriff Heimat gönnte er keiner der Hafenstädte. Auch Hamburg nannte er nicht seine Heimat. Besaß er überhaupt eine Heimat? Seit vielen Jahren konnte er nicht einmal eine Wohnung, sondern nur ein kleines Appartement sein Eigen nennen. Als Heimat konnte er sich allenfalls die elterliche Wohnung ins Gedächtnis rufen. Dort in Süddeutschland, im hügeligen Alpenvorland wohnte jetzt seine Mutter, die er, so oft es seine Arbeit zuließ, besuchte, der er Ansichtskarten schrieb, bei der er sich wöchentlich ein bis zweimal telefonisch meldete. Ja, dort bei ihr war vielleicht Heimat. Gute Kindheitserinnerungen und die Liebe zur Mutter ließen diese Assoziation zu. Mike lächelte in sich hinein, wenn er an die Erlebnisse seiner Kindheit dachte und war es zufrieden, wanderten seine Gedanken hin zur Mutter, in ihre kleine, sauber gepflegte Mietwohnung, in der malerisch gelegenen Stadt im Voralpenland.

Ansonsten - und wieder überfiel ihn bei seinem Sinnieren ein leichtes Lächeln, - war er ein heimatloser Weltbürger. Ständig wechselte er die Hotels, benutzte Taxis, verköstigte sich wechselweise an einfachsten Straßenkiosks oder speiste in Luxusrestaurants, zusammen mit Geschäftspartnern und Teamkollegen. Im Laufe der Zeit lernte er es, bei Transatlantikflügen im Flugzeugsessel zu schlafen. Firmenseitig wurde ihm die Nutzung der Business-Class zugesagt. -So war er zu einem Weltbürger ohne Heimat geworden - oder war seine Heimat überall? Während seiner Flugreisen verbesserte er mehr und mehr seine Sprachkenntnisse. Hierin hatte er von jeher einige Schwierigkeiten gehabt. Aber immerhin gelang es ihm, außer seiner einigermaßen vorzeigbaren Englischkenntnisse auch ein ihm nützliches Vokabular an spanischen und französischen Begriffen zu erwerben. Diese Kenntnisse ermöglichten ihm, eine persönliche Bewegungsfreiheit und Unabhängigkeit in den meisten Hafenstädten auf dieser Erde zu genießen, wenigstens was die Kommunikation in Hotels, auf Airports, im täglichen Reiseverkehr allgemein und der Verständigung in Restaurants betraf. Bei seinen Arbeitseinsätzen auf Schiffen und Werften standen ihm, wenn es nötig wurde, Dolmetscher der jeweiligen Landessprache zur Verfügung. Im Vorfeld seiner Einsätze regelte diesen Bedarf das Sekretariat seines Arbeitgebers, das auch dafür sorgte, dass Visen, Aufenthaltspapiere, Reisetickets aller Art, Hotelbuchungen, Zollformalitäten, Devisenausstattungen und andere Notwendigkeiten mehr, beim Einsatz seines Teams zur rechten Zeit erledigt waren. Ihm selbst oblag es, sich um die rein fachlichen Angelegenheiten zu bemühen. Konstruktionszeichnungen, Ersatzteilverzeichnisse, Werkzeugausstattungen, Listen über die Personalverfügbarkeit und andere Dokumente mehr füllten seinen Aktenkoffer. Dessen Inhalt richtete sich nach dem jeweils anstehenden Auftrag.

Schwerer tat er sich mit seinem persönlichen Reisegepäck. Er besaß ein gutes Dutzend Reisekoffer in verschiedenen Größen. Alle waren von robuster Qualität, bestimmt für den ständigen Gebrauch. Ihnen den rechten Inhalt zuzuordnen war für Mike ein Problem das ihn ständig beschäftigte. Die geographische Lage seiner Arbeitsstätten war zu unterschiedlich, die zeitliche Dauer seiner Aufenthalte meist zu ungewiss als dass die Auswahl seiner Kleidung einen annähernd gleichen Standard hätte aufweisen können. In seinen Gedanken versuchte er für jede anstehende Reise den Kleidungsbedarf zu klären. Begriffe schossen ihm durch den Kopf wie: warm, kalt, heiß, tropisch, subtropisch, arktisch, europäisch, asiatisch, afrikanisch oder amerikanisch, nördlich, südlich, östlich oder westlich. Und mit diesen Gedanken, die sich ihm auch jetzt am Elbstrand in Hamburg stellten, war er wieder bei den Worten Weltbürger und Heimat angelangt. Ein internationaler Kleiderschrank in handhabbarer Reisegepäckgröße war noch nicht erfunden worden. Es blieb ihm immer nur die Qual der Wahl. Ständige Begleiter in seinem Kleidungssortiment waren die dunkelgrauen Arbeitsoveralls, mit dem gelben Firmenemblem, von denen er stets mehrere in die Koffer stopfte, auch den eigenen Schutzhelm, dessen unhandliches Format ihm beim Packen jedes Koffers in Schwierigkeiten brachte. Ein Schutzhelm war Pflicht auf allen Werftbetrieben dieser Erde. In jeder Werft stand eine Vielzahl zur Verfügung, nur mit der Passform, der richtigen Größe und der geeigneten Innenpolsterung hatte es so seine Bewandtnis. Mike begegneten zu Beginn seiner Außendiensteinsätze bittere Erlebnisse mit dieser Art von Kopfbedeckung. Die Folge waren unangenehme Kopfschmerzen oder wunde Druckstellen über den Ohren und im Nackenbereich, die tagelang schmerzten. Er legte sich daraufhin einen eigenen Helm zu. Um ihn für sich und alle Mitarbeiter kenntlich zu machen, beklebte er den Helm mit einem Smiley auf der Stirnseite. Der Helm war ein Teil seines Ich’s geworden. Dieses ständigen Begleiters wegen, wurde er immer wieder und wieder von seinen Kollegen belächelt.

Eines Tages war es geschehen, dass er seinen Helm mit zusätzlich angebrachten Verzierungen fand. Das Profil eines roten Indianerkopfes mit schwarzem Federschmuck, umrandet von einem Zahnradkranz, schmückte die schläfenseitigen Partien seiner Kopfbedeckung. Seine Teamkollegen erwarteten gespannt Mikes Reaktionen. Mike sah in die Runde der vor ihm stehenden Männer, grinste hämisch, nahm seine sich kräuselnden Haarsträhnen in die Hände, bündelte sie in gewohnter Weise zum Pferdeschwanz und setzte sich den neu geschmückten Helm auf den Kopf. Er lächelte dann seine Kollegen an, stellte sich in Positur, grinste in die Runde und kommentierte die seltsame Aktion mit den Worten: „So Leute, sitzt jetzt der richtige Helm auf dem richtigen Kopf?“ - Ein zustimmendes Lachen, verbunden mit etwas Schadenfreude und dem Kommentar: „OK Chef, du alter Indianer!“ trafen ihn. Von diesem Moment an war der Helm nicht nur sein ständiger Begleiter auf allen Reisen, sondern er war zu seinem Markenzeichen geworden. Der Helm wurde schnell zur Legende. Er wurde bekannt wie Mike selbst es wurde. - Beide waren unverwechselbar und wurden respektiert, - die Person, wie auch das Utensil.

Mike verließ die Terrasse vor dem kleinen Kiosk, setzte seine Füße in den Sand des Elbstrandes, dachte daran, sich an einem geeigneten Platz in die Sonne zu legen um einfach nur einmal zu dösen und seine Seele baumeln zu lassen, bevor ihn die Realität des Berufslebens wieder einholen würde. Im grauen Werksoverall und den schweren Sicherheitsschuhen an den Füßen, den Schutzhelm in der einen, seinen ledernen Aktenkoffer in der anderen Hand, war seine Erscheinung jetzt auffallend an diesem Ort, da er sich unter Menschen in Bade- und Freizeitkleidung bewegte, die ihn neugierig beäugten und seiner Person erhöhte Aufmerksamkeit zukommen ließen.

Ein bunter Ball landete vor Mikes Füßen. Schreiende Kinder, Buben wie Mädchen liefen auf Mike und den Ball zu um sich das runde Spielzeug zu schnappen. In einem Reflex, trat Mike den Ball, der daraufhin in hohem, weitem Bogen davonflog. Die Wucht seines Schusses war heftig, bedingt durch die Stahlkappen der Sicherheitsschuhe. Die Kinder staunten über die weite Flugbahn des Balles, sahen den ihnen gegenüberstehenden Mann bewundernd und ungläubig an. Mike konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. So wie ein auffliegender Vogelschwarm plötzlich und unerwartet seine Flugrichtung ändert, drehte sich die Kindermeute von ihm ab und lief, dem Ball folgend, davon. Mike suchte nach einem geeigneten Ruheplatz. Er fand ihn von einigen Büschen geschützt am Rande des Flussufers, im hellen Sand des Strandes, umgeben von hohen Gräsern und klobigen Steinen, die, zu einem niedrigen Damm aufgehäuft, den Uferstreifen befestigten. Mike legte den Aktenkoffer und seinen Helm auf einen der Steine, befreite seine Füße von den schweren Arbeitsschuhen, zog seine Socken aus und setzte sich aufrecht in den Sand, seinen Oberkörper mit Armen und Händen nach hinten abstützend. Er hielt sein Gesicht in die Wärme der Spätsommersonne, spürte den leichten Wind, der ihm angenehm kühl um die Nase wehte und richtete seinen Blick auf den Strom, der seine Wellen im Spiel des Sonnenlichtes ans Ufer schickte.

Noch einmal überdachte er seinen missglückten Vortrag vom gestrigen Tage. Er schwor, sich nie mehr einer solchen Peinlichkeit auszusetzen. Nie mehr sollte ihm ein Missgeschick dieser Art unterlaufen. Er würde künftig Vorsicht walten lassen, sollte er in eine ähnliche Situation gedrängt werden. Dann aber galten seine Gedanken den heute erledigten Aufgaben auf der Werft. Sein Team hatte auf dem Schlepper gute Arbeit geleistet. Das Getriebe lief ruhig und rund. Die noch ausstehende Testfahrt würde wahrscheinlich nur eine abschließende Routinetätigkeit für ihn werden. Mit seiner Werksleitung würde er noch heute Abend ein klärendes Telefonat über die gestrigen Ereignisse führen. Dann sollte für ihn der Fall, mit seinen unglücklich entstandenen Peinlichkeiten der Vergangenheit angehören. Schließlich war der Inhalt des Referates nicht auf seinem Mist gewachsen. Öffentliche Auftritte dieser Art mussten künftig vermieden werden. Sie waren schädlich für ihn und für den Ruf des Konzerns.

Jetzt aber sah Mike gegen den Himmel und auf die langsam dahin ziehenden Wolkengebilde. Er versuchte darin Figuren zu erkennen. Das tat er gern und oft. Es erforderte ein gewisses Maß an Vorstellungskraft und Fantasie. Nach einiger Zeit überkam ihn Müdigkeit. Seine Augenlider wurden schwer und schwerer und in seinen Gliedern machte sich Taubheit breit. So ließ er seinen Oberkörper nach hinten in den warmen Sand fallen, verschränkte die Arme auf seiner Brust und schloss die Augen. Er hörte unbewusst auf die schreienden Kinder, die sich unweit von ihm mit dem Ball beschäftigten, vernahm auch die lauten Rufe der Mütter, mit denen diese ihre Buben und Mädchen zu zügeln suchten wenn sie über die Strenge schlugen. Mike vernahm den Lärm einer familiär geprägten Welt, Lärm der ihn an seine eigene Kindheit erinnerte, die er einst fröhlich erleben durfte, abgesehen vom frühen Tod seines Vaters, den er damals nur schwer verschmerzen konnte. Aus dieser friedlichen, familiären Welt seiner Kinder- und Jugendjahre, war er hinein gewachsen in eine reine Männergesellschaft, in der er bis heute sein eigenes Leben lebte. Während der Lehrjahre, in der Zeit seines Studiums und in all den Jahren seines beruflichen Werdeganges, bewegte er sich stets in einer männlich bestimmten Umgebung. Wenn er an die wenigen Berührungspunkte dachte, bei denen Frauen eine gewisse Rolle in seinem Leben gespielt hatten, musste er weit in die Vergangenheit schweifen. Ein, vielleicht zwei frühe Liebschaften während seiner Berufsschulzeit fielen ihm dazu ein, darunter ein richtiges Liebesverhältnis über nur wenige Wochen hinweg. Berufliche Umstände führten damals eine rasche Trennung herbei, die seiner Seele wehgetan hatte. Wehmut überkam ihn, beschäftigten sich seine Gedanken mit dieser seiner ersten großen Liebe. Nach dem Abbruch dieses Verhältnisses aber vereinnahmte ihn seine Berufskarriere, die ihm keine Zeit für Liebesabenteuer ließ. In den großen Werkshallen des Getriebeherstellers und auf den Werftbetrieben in aller Welt, traf er auf ausschließlich männliche Belegschaften. Seine Chefs waren männlicher Natur, seine Teams bestanden aus Facharbeitern und Ingenieuren, die allesamt Männer waren. Seine Berufsgruppe war eben nun einmal männlich bestimmt, sowohl von der Art der erzeugten Produktpalette aus gesehen, als auch aus Sicht seiner derzeitigen Arbeit, die sich in oft harter, körperlicher Betätigung in den Maschinenräumen großer und kleiner Seeschiffe abspielte. Mike liebte diese Welt, die von Männern beherrscht wurde, einer Welt, deren Pulsschlag von komplizierter Technik beherrscht wurde und in deren Umgebung er sich bestens auskannte. Frauen waren in diesem Berufsfeld nicht zu finden, nicht in den Siebziger- und nicht in den Achtzigerjahren, weder in den großen Werkshallen noch auf den Docks der Werften und nie in den heißen, von Ölgeruch geschwängerten Maschinenräumen der Schiffe. Es gab keine weiblichen Werftarbeiter, keine weiblichen Schiffsführungskräfte, keine Dockarbeiterinnen und selbst in den Sekretariaten dieser Branche saßen nur sehr selten weibliche Arbeitskräfte, da sie für die fachspezifischen Korrespondenzen nicht ausgebildet waren.

Er, Mike, war Frauen durchaus nicht abgeneigt. Im Gegenteil: es kam immer wieder vor, dass er sich zu einer Frau hingezogen fühlte. Oft sehnte er sich nach weiblicher Zärtlichkeit, nach einer Liebe die keine materiellen Dinge zum Gegenstand hatte, sondern aus der Zuneigung zum anderen Geschlecht heraus geboren war, einer Liebe die nach Berührung von Geist zu Geist, von Leidenschaft zu Leidenschaft, von Haut zu Haut verlangte. Oft träumte er von einer gegenseitigen geistigen und körperlichen Harmonie zwischen ihm und einer Frau. Wichtig in einer Beziehung zwischen Mann und Frau war ihm ein verstehen und verstanden werden. Einige Gelegenheiten, die sich ihm dafür in früheren Jahren geboten hatten, hätte er beim Schopf packen können. Mit manchem Mädchen war es zu Zärtlichkeiten gekommen. Ja, Mike hatte seine Erfahrungen hinsichtlich sexueller Berührungen gehabt. Kleinere Tändeleien gab es mehrere in seiner Jugendzeit, aber zu einer ernsthaften, tiefer gehenden Liebesbeziehung war es nie mehr gekommen. Ausbildungs- und Studienzeiten die nach seiner vollen Konzentration verlangten, beruflich bedingte Ortswechsel, unregelmäßige Arbeitszeiten, Außendiensteinsätze und Schichtarbeit, ließen ein gesundes Gedeihen einer ernsteren, dauerhafteren Partnerschaft mit einer Frau nicht zu. So blieb es bei sporadischen Begegnungen, bis dahingehend, dass er, wenn sein körperliches Verlangen die Oberhand gewann auch den ein- oder anderen Bordellbesuch nicht ausgelassen hatte. Er erfuhr dabei eine kurze körperliche Befriedigung, die aber immer wieder in seelischer Leere endete. Er ärgerte sich nach solchen Besuchen seiner selbst, da der rein sexuelle Akt keine Liebe barg. Mehr und mehr hatte er aus diesem Grund die Besuche in einschlägigen Etablissements auf ein Minimum reduziert.

Ansonsten beschränkten sich seine Kontakte zu Frauen auf die alltäglichen Gespräche mit Stewardessen in Flugzeugen, Bedienungen in Bars und Restaurants, Kassiererinnen in Supermärkten und Warenhäusern. Er führte nicht mehr als die üblichen Wortwechsel mit Frauen die ihrer Arbeit nachgingen; Wortwechsel deren Inhalt von der gegebenen Situation abhingen und sich nicht eigneten um persönliche Beziehungen zu knüpfen.

Manchmal war Zuneigung und Sympathie im Spiel gewesen, wenn er bei längeren Aufenthalten im gleichen Hotel die gleiche Serviererin am Frühstückstisch zu sehen bekam oder morgendlich von derselben Empfangschefin an der Rezeption begrüßt worden war. Er hatte diese Begegnungen als sehr angenehm empfunden aber zu ernsthaften Beziehungen war es nie gekommen. Das, was er selbst unter dem Begriff Liebe verstand, schien ihm auszuweichen, umging ihn in einem weiten Bogen. Er war nie einer Frau nachgelaufen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen. So erfolgreich wie sich sein beruflicher Werdegang gestaltete, so unspektakulär ging das persönliche Liebesleben ereignislos daneben einher.

Wenn Mike von seiner steilen Berufskarriere zu erzählen begann, beneideten ihn seine Kollegen und Partner um seiner Erfolge wegen, auch um seines Lebensstiles wegen, der ihn in finanzieller Hinsicht wenig einschränkte. Sein Lebenswandel war nicht verschwenderisch aber doch so großzügig, dass er sich nicht bescheiden musste. Er war außerhalb seiner Diensteinsätze beneidenswert unabhängig und seine Persönlichkeit war illuminiert von den ungezählten Aufenthalten in aller Welt. Fernweh und Sehnsüchte erweckten die Städtenamen die er aufzuzählen vermochte, die ihn wie eine exotische Aura umgaben. Shanghai, Rio, Bangkok, Sydney, Kapstadt, New York, Tokio und viele andere Orte mehr, die in seinen Erzählungen aufhören ließen, riefen bei seiner Zuhörerschaft Bewunderung und Neid zugleich hervor. Es waren meist männliche Zuhörerkreise denen er berichtete, die seine Erlebnisse zu hören verlangten wenn sie abends in Bars und Restaurants zusammen saßen oder sich an den Frühstückstischen in den Hotels trafen. Frauen kamen in seinen Kreisen selten vor. Was hätte es ihm genützt wenn sie dabei gewesen wären? Seine Zeit war verplant. Sein Leben bestand aus ungezählten Hotelaufenthalten in aller Welt, aus Konferenzen, Besprechungen, Telefonaten, Überseeflügen, aus schweißtreibenden Arbeitseinsätzen in Schiffsbäuchen, die er meist nach Öl stinkend und mit fettverschmiertem Gesicht verließ, um sich anschließend in Werksduschen oder Hotelzimmern wieder in ansehenswürdigen Zustand zu versetzen. Es war eben eine Männerwelt, eine technisierte Welt in die ihn das Leben geworfen hatte, eine Welt die sich nicht eignete für die Begegnungen mit dem anderen Geschlecht, eine Welt die keine Möglichkeiten bot um ein Verhältnis zu einem weiblichen Wesen zu knüpfen um eine Frau dauerhaft an sich zu binden um mit ihr eine Familie gründen zu können.

Mike fühlte wieder die warme Sonne die auf seinen Körper brannte, spürte den weichen Sand auf dem er lag, lang hingestreckt in seinem ölverschmierten Overall und ließ sich den wehenden Wind über das Gesicht streichen. Weit entfernt vernahm er die Hafengeräusche, das Schreien der Kinder und die mahnenden Rufe ihrer Mütter. Leiser und leiser hörte er die unterschiedlich klingenden Stimmen, bis sie sich seiner Wahrnehmung unendlich weit entfernten, dann ganz erstarben und er mit geschlossenen Augenliedern, schlafend der Welt entrückt war.

Kapitel 2

Sally war eine jener Frauen, mit der es Gottes Schöpfergeist besonders gut gemeint hatte, betrachtete man die rein körperlichen Merkmale ihres Erscheinungsbildes. Sie war schön, nein, es wäre gelogen oder untertrieben, beließe man es bei diesem simplen schön. Sally Winters war eine sehr schöne Person aber sie war es auf eine besondere Weise. Nicht, wie es Frauen auf den Titelseiten einschlägiger Männermagazine waren oder wie sie sich auf den Hauptseiten der Boulevardzeitungen präsentierten. Nein, Sally gehörte jenen bescheiden und edel anmutenden Wesen zu, die selbst nichts oder wenig dazu unternehmen, um ihre Schönheit provokatorisch sichtbar zu machen. Das betraf sowohl ihr Aussehen, ihr Make-up, das sie in äußerst feinen Nuancierungen auftrug, betraf ihr Auftreten, ihre Sprache, die gewählt im Ausdruck und gebildet von ihren Kenntnissen war.

Sally zu beschreiben war schwierig, da Herz und Geist, Gefühle und Gedanken bei einer Begegnung mit ihr scheinbar ausgeschaltet wurden, nicht nur aus einer sexuellen Empfindung heraus, sondern überwiegend aus der Geburt einer sympathisch beeinflussten Zuneigung, einer geheimnisvoll erscheinenden Anziehungskraft heraus, entstand bei einem Gegenüber mit ihr eine bindende Freude von Gemeinschaft, gemischt mit einer überzeugenden Art des Zutrauens aber auch des Vertrauens. Dies alles paarte sich mit ihrem Aussehen.

Das eher ins rötliche sich neigende, kastanienfarbene Haar, das ihr in natürlich gewachsenen, klein gekräuselten Locken in immenser Fülle wuchs, bändigte sie während ihrer Arbeitszeiten mit zwei schlichten Naturholzkämmen, sodass ihre Haarpracht zur Gänze hinter den Ohren zu fallen kam und sich mit krausem Wellengelock über Nacken und Schultern ergoss, vergleichbar einem wild springendem Gletscherbach, der über loses Felsgestein zu Tal stürzt. Sally konnte ihr Haar aber auch ungezähmt im Wind spielen lassen oder es zu einem fülligen Pferdeschwanz mit einer einfachen Seidenschleife, einem Haargummi oder einer Spange zügeln. Je nach Laune schmückte sie ihr Haar mit einer weißen oder roten Blüte. Sie tat dies selten, wählte den Blütenschmuck aber gezielt und setzte ihn sicher, an wirkungsvoller Stelle in ihre jeweilige Frisur ein. Es war ihr fast weißer Teint, oder die Transparenz ihrer hellen Haut, die ihre Gesichtszüge markant werden ließen, stark kontrastierend zu ihrem kastanienfarbenem, dunklem Haar.

In ihrem schmalen Gesicht, lagen dunkelbraune Augen, überzeichnet von hohen Lidbögen. Dazwischen wuchs ein schmaler, ebenmäßiger Nasenrücken hervor. Die Wangenknochen lagen hoch angesetzt und etwas aus dem Gesichtsoval hervortretend, an das sich eng anliegende Ohren schmiegten. Die hoch aufragende, faltenlose Stirn, betont vom markanten, dunklen Haaransatz, ließ auf Verstand und Intelligenz schließen. Ein schmales Lippenpaar lag, wenig dominant, aber Sallys Aussehen schmeichelnd, über einem leicht kantigen Kinn. Die Oberlippe, schmal auslaufend zu den Mundwinkeln hin, zeichnete unterhalb feiner Nasenflügel einen ausgeprägten Amorbogen. Sallys Lächeln kam herzhaft, in ungezwungener Natürlichkeit, besonders dann, wenn sie ihren Kopf zur Seite neigte, oder nach hinten warf und dabei die makellosen Reihen ihrer Zähne zwischen dem schmalen Lippenpaar sichtbar wurden. Nichts Verkrampftes, nichts Gekünsteltes lag in ihren Zügen.

Den weiblichen Drang zu kosmetischer Betonung ihres Erscheinungsbildes, nutzte Sally nur in den Zeiten ihrer beruflichen Tätigkeit oder an besonderen Festtagen. Dann sah sie in den Spiegel und überzeichnete dezent und stimmig ihre Augenbrauen und Liedschatten, legte ein wenig Rouge auf die Wangen und verstärkte ein wenig die natürliche Färbung ihres Lippenpaares. Sie tat dies mit sicheren Handgriffen, ohne Zaudern, mit möglichst geringem Zeitaufwand. Jegliche Art von Schminkkoffer war ihr fremd, ja war ihr überflüssiger Ballast. Die wenigen Kosmetika die sie nutzte, benötigten kaum Platz in ihrer Handtasche. Meist waren es nur ein Lippenstift und ein Rouge Etui, das sie mich sich führte.

Sallys Gestalt war von mittlerer Größe, feingliedrig und zart, eng in Taille und Becken. Ihr Gang war grazil, besonders wenn sie in Schuhen mit hohen Absätzen unterwegs war. Entsprechend ihres schlanken Körperbaus mündeten lange, schlanke Arme in feingliedrige Hände und zarte Finger. Die Ovale ihrer Fingernägel pflegte sie mit klarem Nagellack, selten nur verwendete sie jenes zarte Pink, das nuancierend den Farbton ihres Lippenstiftes wiedergab.

Sally war süßlichen Parfüms eher abgeneigt. Aufreizende Düfte schienen ihr für den Eigenbedarf ungeeignet. Sie besorgte sich stets eine leicht herbe Duftkomposition, die eigentlich für das männliche Geschlecht kreiert worden war. Es war Sally längst nicht mehr peinlich, wenn sie von einer Bedienung auf den etwaigen Fehlgriff ihres Einkaufes aufmerksam gemacht wurde und sie ein Alternativprodukt weiblicher Duftnote offeriert bekam, begleitet mit dem wohlwollendem Hinweis, dass sie, Sally, sich wohl in der Marke vergriffen habe. Mit einem freundlichen, selbstsichern Lächeln rechtfertigte sie dann ihre bewusst getroffene Wahl. Ein meist ungläubiges Gesicht begegnete ihr daraufhin oft in ihrem Gegenüber, den Hinweis versuchend, dass das gewählte Produkt doch für Männer gedacht sei. Ihre Wahl verteidigend, verleugnete Sally nicht, dass sie gerade dieses Produkt für sich selbst ausgesucht habe und damit sehr zufrieden sei. Ein ironisches Lächeln schlich sich dabei in ihr Gesicht und lebhaft blitzen dazu ihre Augen und sie dachte daran, wie oft es bei zurückliegenden Begegnungen mit Freunden oder Fluggästen geschehen war, dass sie ausgerechnet auf ihr apartes Parfum hin angesprochen worden war. Meist jedoch bediente Sally sich eines duftlosen Deodorants, wie es Krankenschwestern und Ärzte bei ihrer Arbeit in Arztpraxen oder Kliniken vorgeschrieben wurde. Sally konnte Duftverfälschungen nicht leiden, weder an sich selbst noch bei Personen die ihr begegneten. Ihr Anspruch war es, die Welt riechen zu können, so wie es von der Natur her bestimmt war.

Sie war eine Frau ohne erkennbaren Makel, eine Frau von natürlicher Schönheit, mit einem Hang zu ausgeprägter Selbständigkeit, ausgestattet mit gesundem Menschenverstand, vernünftigem Karrierebewusstsein und der Lust nach Leben. Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und eine innige Kinderliebe zählten zu ihren Charaktereigenschaften. Sally engagierte sich in einer Hilfsorganisation, die im Süden Indiens ein Kinderkrankenhaus betrieb. Teile ihrer knapp bemessenen Freizeit opferte sie der Betreuung elternloser und schwer erziehbarer Kinder, die in Hamburg, in einem ihr nahe gelegenem Waisenhaus untergebracht waren und dort ihr ärmliches Dasein fristeten. Nicht nur persönliche Zeit für Betreuungsstunden stellte Sally zur Verfügung, - dies geschah in enger Absprache mit der Heimleitung, sondern Sally engagierte sich auch für Sammelaktionen, die ein wenig Geld in die meist leeren Kassen dieser Institution spülte. Sie rundete zudem die Spenden aus ihrem eigenen Einkommen nach freiem Ermessen auf. So war sie eine beliebte und angesehene Person im Waisenhaus, wusste man doch um ihre Fähigkeit, die ihr anvertrauten Kinder fachgerecht zu betreuen. Zuverlässige Helferinnen ihrer Art waren dieser sozialen Institution eine große Hilfe; personell stets unterbesetzt, genossen Personen wie Sally hohes Ansehen.

Sally wohnte etwas außerhalb der großen Hafenstadt, nicht weit vom Flughafen entfernt. Es hatte sich so ergeben. Eine ältere Dame suchte damals, - als Sally sich um ein eigenes zuhause umsah -, für ihre kleine Wohnung im Dachgeschoß einen Mieter. Die Räume fanden Sallys Gefallen, nicht nur wegen der geeigneten Größe und verkehrsgünstigen Lage, sondern auch wegen der sympathischen Eigentümerin. Die rüstige Frau bot ihr die Mitbenutzung ihres kleinen Gartens an und kümmerte sich bei Sallys Abwesenheit um die Blumenpflege und leerte ihr den Briefkasten. Da ihre Vermieterin hoch in den Siebzigern stand und keine Erben hatte, bot die alte Dame nach wenigen Jahren eine eventuelle Besitznachfolge ihres Anwesens an. Sally ließ ihr Interesse erkennen. Ihr Beruf schickte sie auf Reisen rund um die Welt aber einen festen Wohnsitz musste und wollte sie haben. Die kleine Dachwohnung war ihr lieb geworden. In späteren Jahren wäre sie vielleicht froh wenn sie eines Tages das kleine, gediegene Haus mit dem schmucken Gärtchen komplett nutzen könnte. Dieses Ansinnen war vage und weit in die Zukunft gedacht. Noch war sie jung und mit vollem Eifer ihrem Beruf verhaftet. Sie versah ihren Dienst als Stewardess auf Überseeflügen. Die offizielle Dienstgradbezeichnung der Fluggesellschaft für Sallys Job lautete: Chief-Flying-Hostess. Diese Titulierung signalisierte der jeweiligen Bord-Crew die übergeordnete Stellung, die sie innerhalb der Hierarchie des fliegenden Servicepersonals bekleidete.

Der Flug von Toronto nach Hamburg war unruhig gewesen. Ausläufer eines Neufundlandtiefes und eine Gewitterfront über dem Nordatlantik erzwangen eine längere Ausweichroute über Labrador, Grönland und Island hinweg. Erst über der Ostküste Englands beruhigte sich das Wetter. Bei der Ankunft in Hamburg konnten die Passagiere den Jet bei herrlichem Sonnenschein verlassen. Sally ließ sich nach Ende ihres Diensteinsatzes von einem Taxi nachhause bringen. Sie fühlte sich müde. Während ihres anstrengenden Dienstes an Bord war ihr die Müdigkeit in die Knochen gefahren und nach der Dienstübergabe an die Kolleginnen fühlte sie leichte Kopfschmerzen. Sie freute sich jetzt auf ein freies Wochenende. Die Wetterprognosen standen gut. Sie wollte die bevorstehenden Tage für anstehende Hausarbeiten nutzen, aber in ihrer Freizeit auch eine Radtour, einen Spaziergang oder einen Stadtbummel einplanen. Nach kurzer Fahrt in der morgendlichen Rushhour, setzte sie der Taxifahrer vor ihrer Wohnung ab.