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Martine Lestrat

Bonjour Deutschland!


Für meine P’tite Mère (1923–2015), meine P’tite Soeur und Mon Grand


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Titel

 

Martine Lestrat

 

Bonjour Deutschland!

 

 

 

ELVEA

 

Widmung

 

Für meine P’tite Mère (1923–2015),

meine P’tite Sœur

und Mon Grand

 

Inhaltsübersicht

 

Willkommen in Deutschland!

 

 

Deutsche Sprache, schwere Sprache?

 

 

Vorurteile? Vorurteile!

 

 

Zusammen leben

 

 

Dies und Das

 

 

Schlusswort: Deutsche oder Französin?

 

Danksagung

 

Vorwort

 

Bonjour, liebe Leserinnen und Leser!

 

Wie Joachim Ringelnatz im «Avant-Propos» (Vorwort) seines Buchs «Hafenkneipe» – jedoch nicht so drastisch – möchte ich Sie auf einige Besonderheiten in diesem Buch vorbereiten.

 

Trotz der neuen Rechtschreibung möchte ich «Du», «Ihr» sowie die entsprechenden Personalpronomen weiterhin großschreiben. Wenn ich «Deine» oder «Euch» schreibe, ist es für mich höflicher. Genauso wie «Sie» oder «Ihre». Ich verbinde damit Respekt und Würdigung meiner Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. Dadurch zeige ich, wie wichtig sie mir sind.

 

Ich bin die französischen Guillemets (« … »), die vom Zitat wegzeigen, gewohnt. Bei den deutschen (»…«), die andersrum gesetzt werden, muss ich mich beim Lesen sehr konzentrieren, um zu wissen, was inner- oder außerhalb des Zitats steht.

Die deutschen Gänsefüßchen („...“) verwirren mich noch mehr. Wenn dagegen sowohl die an- als auch abführenden Striche oben stehen ("…") ist es für mich viel deutlicher. Sehr gern hätte ich mich für diese Zeichen entschieden, denn ich benutze sie privat. Leider handelt es sich dabei aber nicht um Anführungszeichen, wie mir meine Lektorin erklärte, sondern um Zollzeichen, die im Buchdruck niemals als Anführungszeichen eingesetzt werden. Schade. Was sollte ich also tun? Nun habe ich einen wunderbaren deutsch-französischen Kompromiss gefunden, den ich schon in anderen deutschen Büchern entdeckt habe: französische Guillemets («…»), allerdings ohne Leerschritt zwischen den Guillemets und dem anzuführenden Text. Also so, wie es in Deutschland üblich ist.

 

Die in diesem Buch gesammelten Anekdoten sind nicht chronologisch, sondern nach Themen geordnet und daher ab dem zweiten Kapitel in beliebiger Reihenfolge zu lesen. Springen Sie doch einfach nach Lust und Laune durch die Erzählungen.

 

Ich wünsche Ihnen viel Freude dabei!

Martine Lestrat

 

Willkommen in Deutschland

 

Willkommen in Deutschland - Ich will nach Deutschland

 

Als ich 1984 an meinem damaligen Arbeitsplatz in Nordfrankreich mit Freude ankündigte, dass ich nach Deutschland zu meinem Freund umziehen werde, erwiderte mein Vorgesetzter: «Man sollte Dir eigentlich den Kopf rasieren, weil Du mit einem Deutschen schläfst. Man sieht sowieso, dass Du mit Deutschen zu tun hast. Du trägst schon Stiefeletten.»

Mir blieb die Spucke weg. Mit so einer Reaktion hatte ich wirklich nicht gerechnet.

Ein Patient – damals arbeitete ich in einem psychiatrischen Krankenhaus – sagte enttäuscht: «Ich hätte nicht von Dir gedacht, dass Du mit einem boche ins Bett gehst.»

Boche, «bosch» ausgesprochen, war eine Bezeichnung für die deutschen Soldaten während der Kriege (angeblich wegen ihres Helms, französisch caboche). Ich antwortete: «Serge, er ist kein boche, sondern ein Deutscher, und der Krieg ist längst vorbei.»

Zum Glück hatte ich selten mit solchen Äußerungen zu tun. Das Thema Krieg zwischen diesen beiden Ländern ist leider immer noch präsent. Erfreulicherweise nur bei wenigen Menschen. Familienangehörige, Freunde und Bekannte fragten eher besorgt: «Kannst Du Deutsch?»

«Ähmm … nein.»

«Hast Du schon einen neuen Arbeitsplatz?»

«Nein.»

«Und wie willst Du das machen? Wie stellst Du Dir das vor?»

«Ach, es wird schon gehen.»

Ich bin schon immer eine Optimistin gewesen. Noch dazu war ich verliebt. Ich hatte meinen Freund zwei Jahre zuvor kennengelernt und wollte sowieso seit einiger Zeit weg von zu Hause. Also, warum nicht nach Deutschland? Nach monatelangem Hin- und Herfahren zwischen Frankreich und Deutschland wurde es langsam Zeit, zu überlegen, wie es weitergeht.

Viele hatten Bedenken. Ich nicht. Ich hatte ein gutes Gefühl. Und ich hatte recht: Es ging! Es ging sogar sehr gut! Es war die richtige Entscheidung. Ich bin so froh, dass ich diesen Schritt ins Unbekannte gewagt habe. Dass ich «Bonjour Deutschland!» sagen wollte.

 

Bitte treten Sie ein!

Sobald feststand, dass ich nach Deutschland umziehen werde, bat ich einen Bekannten, der Deutschlehrer war, mir das Wichtigste beizubringen. Der Arme! Er war völlig überfordert. Wie sollte er mir in einer Stunde das beibringen, wofür er bei seinen Schülern mehrere Jahre brauchte?

Das Einzige, was aus diesem Turbounterricht bei mir haften blieb, war «Bitte nehmen Sie Platz», «Bitte treten Sie ein» und «Großvater ist hungrig». Mitbekommen habe ich auch, dass es starke und schwache Verben gibt und, dass Substantive großgeschrieben werden. Das müsste doch reichen, um nach Deutschland zu kommen, oder?

Außerdem hatte ich im Gymnasium von einer Mitschülerin den Satz gelernt: «Ich habe meinen Weihnachtswunschzettel gemacht.» Und mein Freund, der später mein Ehemann wurde, hatte mir «Ich hätte gerne ein Doppelzimmer für eine Nacht» beigebracht. Ich war also gut gerüstet für meine Ankunft in dem neuen Land.

Um das Studium der Sozialpädagogik beginnen zu können, musste ich ein Vorpraktikum in einer sozialen Einrichtung absolvieren. Ich hatte zwar schon vorher vier Jahre in der Psychiatrie gearbeitet, leider erkannte die Fachhochschule Tätigkeiten in Frankreich nicht an. Ich musste mich also auf die Suche begeben. Eine Freundin meines Lebenspartners hatte einen Onkel, der Leiter einer solchen Einrichtung war. Wunderbar!

Als wir zum Vorstellungsgespräch an der Tür klingelten, machte dieser sehr freundliche Mann auf und begrüßte uns mit einem «Bitte treten Sie ein!». Er führte uns ins Wohnzimmer und meinte dann: «Bitte nehmen Sie Platz!»

Unglaublich! Er benutzte tatsächlich diese beiden mir bekannten Formulierungen. Ich musste mir fast auf die Zunge beißen, um nicht loszuprusten. Da hörte ich plötzlich das schallende Lachen meines Freundes. Unser Gastgeber schaute etwas irritiert. Mein Freund erklärte ihm: «Bisher konnte Martine folgen. Ab jetzt wird sie aber gar nichts mehr verstehen.»

Leider wurde nichts aus dieser Bewerbung, denn es handelte sich um eine Einrichtung für schwerhörige Kinder. Voraussetzung für eine Mitarbeit war eine sehr deutliche Aussprache.

Und da, gebe ich zu, musste ich leider passen. 

 

Deutsche Umarmung

Ein paar Wochen nach Studiumsbeginn traf ich mich nachmittags im Zentrum von Hannover mit einer Kommilitonin. Als wir uns einige Stunden später voneinander verabschiedeten, wollte mich Susanne freundlich umarmen.

Ich weiß bis heute nicht, wie es passierte, aber innerhalb von zwei bis drei Sekunden befand ich mich circa zehn Meter von ihr entfernt. Voller Panik. Was war denn los? Erst später wurde es mir klar. Es war mir einfach zu viel gewesen. Zu viel Nähe. Ich war nicht daran gewöhnt.

 

Zunächst musste ich also eine Lösung finden, um mit dieser neuen Situation umzugehen, denn wenn ich in den folgenden Wochen auf Feten war oder an Seminaren teilnahm, hatte ich immer Angst vor dem Abschied. Kurz vor Schluss begann ich mich schon unwohl zu fühlen.

Ich entwickelte deshalb unterschiedliche Strategien, um mich nicht persönlich verabschieden zu müssen:

Früher gehen, gaaanz diskret …

Von Weitem der ganzen Gruppe zuwinken …

Etwas tragen, am besten etwas Großes. Klar.

Demonstrativ die Hand ausstrecken …

Und so weiter und so fort. Ich wurde immer einfallsreicher.

Als ich es endlich wagte, mit Bekannten darüber zu reden, reagierten sie etwas irritiert. Vor allem überrascht. Sie konnten nicht verstehen, wieso es mir unangenehm war. Die Franzosen sind doch so herzlich, so nah. Sie küssen sich sogar. Ja, stimmt. Sie küssen sich. Aber WIE küssen sie sich? Wenn wir Liebespaare und andere Ausnahmen mal außen vor lassen und die Mehrheit meiner Landsleute beim Begrüßen oder Verabschieden beobachten, stellen wir Folgendes fest:

Es sieht so aus, als würden sie sich küssen. Es hört sich manchmal sogar so an, als würden sie sich küssen. Aber … nein, nein. Sie küssen sich nicht. Die Köpfe sind so raffiniert nach außen gedreht, dass höchstens die Wangen Kontakt haben. Und die Leute küssen … die Luft. Ja, wirklich! Schauen Sie nächstes Mal genau hin.

 

Nach einigen Monaten in Deutschland hatte ich mich nicht nur an das Umarmen gewöhnt, sondern es richtig lieb gewonnen. Inzwischen mag ich es auch, meine Freunde und Freundinnen richtig schön in die Arme zu nehmen und zu drücken. Was für ein wundervolles Gefühl!

Aber ich mache es nur, wenn ich es wirklich möchte. Das Gefühl muss für mich echt sein. Ich kann und möchte nicht alle Welt einfach so drücken. Es muss schon stimmig sein.

 

Als ich mit meinem neu erworbenen Begrüßungs- und Abschiedsritual zu Besuch nach Frankreich kam, musste ich aufmerksam sein. Denn meine Schwester, meine Mutter und meine Freundin hatten dieselben Schwierigkeiten wie ich damals bei meiner Kommilitonin. Als ich sie sofort umarmte, sprangen sie zwar nicht zur Seite, das nicht, sie wurden allerdings merklich steifer.

Wenn ich meine Mutter zur Begrüßung küsste, machte ich es also zuerst auf die französische Art: Küsschen links, Küsschen rechts. Nach ein paar Minuten war ich allerdings etwas frustriert. Ich hatte den Eindruck, meine Mutter nicht wirklich liebevoll begrüßt zu haben. Es fehlte mir was …

Ja! Mir fehlte die deutsche Herzlichkeit, an die ich mich inzwischen gewöhnt hatte.

Wir haben mittlerweile einen Weg gefunden. Ich begrüße die Damen erst mal, wie sie es erwarten und falls es mir doch nicht reicht, frage ich einfach: «Darf ich Dich drücken?»

Dann sind sie vorbereitet, wissen, was auf sie zukommt, und es ist wun-der-schön!!!

Seit einiger Zeit kann ich meine Schwester und meine Mutter manchmal sogar ohne Vorwarnung in meine Arme schließen. Denn inzwischen haben sie sie nämlich auch kennen- und schätzen gelernt, die deutsche Umarmung.

Französische Gewohnheiten ade?

 

Ich war froh, endlich in Deutschland zu sein. Bald merkte ich allerdings, dass ich meine französischen Gewohnheiten nicht so schnell aufgeben konnte. Sehr gut kann ich mich an meinen ersten Winter in Hannover erinnern. Ich hatte so kalte Füße! Nur weil ich unbedingt meine französischen Schuhe weiter tragen wollte. Damals besaß ich noch kein Auto und war mit dem Fahrrad oder mit Bus und Straßenbahn unterwegs. Ich weiß noch, wie ich an der Haltestelle wartete: Mir war so kalt! Vor allem meine armen Füße! Ich klopfte sie gegeneinander, trat immer wieder auf der Stelle, um sie aufzuwärmen. Nichtsdestotrotz blieben sie kalt. Meine Schuhe der Marke «Arche» sahen zwar chic aus, aber ihre dünnen Sohlen waren wirklich nicht für das norddeutsche Wetter geeignet. Nach Anweisungen einiger Bekannten versuchte ich es mit Einlegesohlen aus Zeitungspapierschichten oder Schafwolle, mit und ohne Alu. Nichts half. Meine Füße blieben kalt. Erst im dritten Winter entschied ich mich doch, deutsche Schuhe zu kaufen. Schön warm waren sie, richtig kuschelig. Aber – was für ein Schock! – mit solchen dicken Sohlen! Ich fand sie so unästhetisch. Aber ich musste mich dran gewöhnen, denn frieren wollte ich definitiv nicht mehr!

Ähnlich lang brauchte ich für die Anpassung meines Terminkalenders. Semesterlang bevorzugte ich eine französische Ausführung. Ich fand es praktisch, die Namenstage zu wissen, um meinen Familienmitgliedern und Freundinnen pünktlich gratulieren zu können. Außerdem war es auch nützlich, eine französische Landkarte bei mir zu haben. Die Leute konnten mir zeigen, wo sie schon im Urlaub waren oder wo sie noch hinwollten. Und ich, woher ich komme. Leider standen in diesen Kalendern die französischen Feiertage, nicht die deutschen. Und dies war gar nicht praktisch! Nachdem ich einige Male die evangelische Fachhochschule an katholischen Feiertagen geschwänzt und am Buß- und Bettag vor verschlossenen Türen gestanden hatte, sah ich ein, dass ein deutscher Terminplaner wahrscheinlich sinnvoller wäre.

Auch im Restaurant war es am Anfang nicht ganz einfach für mich: Wenn wir essen gingen, brauchte ich, weil ich es von zu Hause gewöhnt war, Wasser und etwas Brot zu den Gerichten. Es hat seine Zeit gedauert, bis ich mir gemerkt hatte, dass ich ausdrücklich ein Mineralwasser ohne Kohlensäure bestellen musste. Das Wort «Kohlensäure» war nicht gerade leicht. Ich konnte es mir nicht merken. Wie die meisten Ausländer nutze ich deshalb die Formulierung «ohne Gas». Aber wie gesagt, es passierte nicht automatisch. Ich musste etliche sprudelnde Gläser stehen lassen, bis ich es endlich draufhatte.

Noch heute bevorzuge ich Leitungswasser. Nichts ist erfrischender und löscht den Durst besser als stilles Wasser, finde ich. Und als Französin wurde mir von klein auf erklärt, dass Leitungswasser täglich kontrolliert wird und deshalb sicherer als Mineralwasser in Flaschen ist. Wieso wussten das die Deutschen nicht?

Noch verwirrender war es, wenn ich die Bedienung fragte, ob ich etwas Brot bekommen könne. Oft bekam ich als Antwort: «Wieso? Sie haben doch Kartoffeln!» Oder Nudeln, oder Reis. Je nachdem welches Gericht ich gerade bestellt hatte. Na und? Was hat es bitte schön damit zu tun? Mir fehlte wirklich was, wenn ich zum Essen kein Brot bekam. Egal ob Vorspeise, Hauptgericht, Salat, oder Käse, in Frankreich wird immer Baguette dazu gegessen. Nur zum Nachtisch nicht, klar!

Jetzt habe ich nur noch selten das Bedürfnis, Brot zu einer Hauptspeise zu verzehren. Außer wenn ich in Frankreich bin, dann ist es schon nach ein paar Tagen wieder da.

Nein, es war nicht einfach für mich, meine französischen Angewohnheiten aufzugeben. Inzwischen geht es, denn ich habe neue angenommen, nämlich deutsche. Aber das ist eine andere Geschichte.

Deutsche Sprache, schwere Sprache? - Ostberlin

 

In den Achtzigerjahren, ich weiß nicht mehr, ob ich damals schon in Deutschland lebte oder nur zu Besuch kam, machten wir einen Tagesausflug nach Ostberlin. Damals war ich der deutschen Sprache noch nicht mächtig. An der innerdeutschen Grenze wurde ich von meinem Freund getrennt und musste allein mit einer DDR-Grenzkontrolleurin in eine Kabine. Die Frau fragte mich irgendetwas. Ich antwortete höflich, ein bisschen stolz sogar, mit meinem eingeübten Satz: «Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht.» Die Mitarbeiterin wurde etwas lauter. Ich wiederholte – immer noch mit einem Lächeln: «Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht.» Es erbrachte nicht die erhoffte Reaktion. Im Gegenteil. Die Dame fühlte sich wahrscheinlich von mir auf den Arm genommen. Wie gesagt, ich konnte diesen Satz ziemlich flüssig rüberbringen, denn ich hatte ja fleißig geübt. Sie wurde wütend und sagte: «…»

Na ja, was sie mir genau sagte, weiß ich bis heute immer noch nicht, da ich kein einziges Wort verstanden habe.

Seit diesem Tag kann ich Leuten, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, nur empfehlen: Sagen Sie in solchen Fällen lieber: «Ich nix verstehen.» Ich denke, das ist glaubwürdiger.