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Kati Naumann

Mit Illustrationen von Silvia Baroncelli

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KOSMOS

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„Neeeeiiiin!“

Der Schrei klang so verzweifelt, dass sich das Fell von Kater Käsebein sträubte. Am liebsten wäre er davongeflitzt, aber das ging nicht. Er saß nämlich seit einer Stunde oben in einem Kastanienbaum fest und hatte keinen Schimmer, wie er da wieder runterkommen sollte. Der Baum stand genau vor dem Fachwerkhaus mit den krummen Balken und der Nummer 12 in der Marktstraße. Verwundert guckte der rot getigerte Kater in das weit geöffnete Fenster, aus dem der Schrei gekommen war. Da hatte wohl jemand noch größere Probleme als er?

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Kater Käsebein wusste genau, wer da oben wohnte. Manchmal durfte er dort sogar herumschnuppern, obwohl er eigentlich eine Etage tiefer beim alten Herrn Brömmel wohnte.

Dieses Zimmer teilten sich die elfjährige Tilli und ihr kleiner Bruder Jacob. Und weil sie das nicht freiwillig taten, passierten dort immer wieder Katastrophen. Vielleicht hatte Jacob in Tillis Zimmerhälfte eine Backpulverbombe explodieren lassen? Oder hatte Tilli auf Jacobs Seite wieder alles mit Klopapier umwickelt? Aber das Zimmer sah aus wie immer: Ein bisschen unaufgeräumt und sehr gemütlich mit den vielen Kuscheltieren, die überall herumlümmelten. Komisch war eigentlich nur, dass sich in dem Aquarium auf dem Fensterbrett gar kein Wasser mehr befand, sondern schwarze Erde. Sonst schwebten in dem Glaskasten doch immer blubbernde Guppys herum, die schön bunt glitzerten und so gut nach Fisch rochen!

Tilli lag auch nicht in ihrem Bett wie sonst am frühen Morgen. Sie hatte sich nach oben auf die Kommode geflüchtet und quetschte sich in die hinterste Ecke. Wütend zerrte sie ihr Nachthemd über die Knie.

Jacob war an allem schuld! Wie immer! Er besetzte das Bad, wenn Tilli ihre Zahnspange putzen wollte, weil sich Salat darin verfangen hatte, und auch dann, wenn es besonders eilig war, weil sie unreife Pflaumen gefuttert hatte. Außerdem schmierte er seine Popel an die Kinderzimmertür. Wenn es Jacob nicht gäbe – das stand ja wohl fest –, wäre die Welt prima, denn dann würde Tilli das Kinderzimmer mit allem Drum und Dran ganz allein gehören. Es war der größte Raum in der Wohnung und ein breites Regal trennte ihn in zwei Bereiche. Das war mindestens genauso gut wie zwei einzelne Zimmer, behauptete ihre Mama immer. Aber das stimmte überhaupt nicht! Tilli hatte aus Protest ihre Zimmerhälfte mit einem gelb-schwarz gestreiften Klebeband markiert. Das war die Grenze. Und die durfte Jacob auf keinen Fall übertreten! Der Warnstreifen lief über den Boden, das Regal, die Wände, an der Decke entlang, über die Mitte des Fensters und teilte sogar das Kuschelsofa darunter in zwei Hälften. Aber weder das Sperrband noch der wackelige Raumteiler konnten verhindern, dass Tilli auf ihrer Seite ganz genau roch, wenn ihr Bruder nachts heimlich Chips futterte oder unter der Bettdecke pupste. Und Geheimnisse konnte sie mit ihren Freundinnen hier auch nie besprechen. Jacob mit seinen großen Ohren hörte auf der anderen Seite alles mit. Aber das, was er jetzt angestellt hatte, war wirklich die Höhe! Der ganze geniale Plan war geplatzt!

Sie blies ihre Backen auf und schrie noch einmal, so laut und schrill sie konnte: „Neiiiin!“

Jacob, der seiner großen Schwester immer alles nachmachte und mindestens genauso sauer war wie sie, schrie zur Sicherheit nochmal mit.

Die Tür flog auf und Vera Hupf, die Mama der beiden, wollte ins Zimmer stürzen. Sie war gerade dabei gewesen, sich für die Arbeit anzuziehen, und hielt ein heißes Bügeleisen in der Hand, mit dem sie ihren guten Rock glätten wollte. Den Stecker hatte sie vor lauter Eile aus der Dose gerissen und es nicht einmal gemerkt. Bestimmt war etwas Schreckliches passiert! Tilli und Jakob waren sich sonst nie einig.

„Halt! Nicht reinkommen!“, brüllte Jacob.

Dieser erneute Aufschrei ließ Mama Hupf im Sprung erstarren, sodass sie nun nicht wusste, wie sie sich ordentlich festhalten sollte, ohne das heiße Bügeleisen fallen zu lassen.

Jacob zog eine leidende Grimasse und jammerte: „Sie sind alle weg!“

„Gar nicht wahr!“, kreischte Tillis Stimme von oben.

Im Nachbarhaus wummerte jemand wütend an die Wand. Das war Frau Wurstmayr. Sie klopfte immer, wenn es bei den Hupfs laut wurde.

„Sie sind alle hier!“, rief Tilli deshalb ein kleines bisschen leiser.

Ihre Mama musste erst eine Weile im Zimmer herumgucken, bis sie Tilli oben auf der Kommode entdeckte.

„Was ist hier wieder los?“, fragte sie streng und prüfte mit angefeuchtetem Finger, ob das Eisen noch heiß war. Es zischte. „Ich mach euch gleich Dampf“, drohte sie und schwenkte zur Bekräftigung das Bügeleisen.

„Nicht reinkommen! Du trittst auf sie drauf!“, heulte Jacob entsetzt.

Mama Hupf zog ihren Fuß wieder zurück und blieb auf einem Bein stehen.

„Worauf soll ich denn nicht treten?“, fragte sie misstrauisch. Auf den Holzdielen war außer den Kuscheltieren, ein paar Buntstiften und ein bisschen Wäsche nichts zu sehen.

„Die sind über die Grenze gekommen! Das ist verboten!“, beklagte sich Tilli.

„Was kann ich denn dafür? Die hat den Deckel aufgemacht!“, behauptete Jacob jetzt.

Die Kommode ächzte bedenklich, als sich Tilli empört nach vorn lehnte: „Quatsch. Der hat den Deckel selbst offen gelassen!“

„Die hat wieder überall Zuckerkram verkleckert, das hat sie rausgelockt!“

„Ich hab mit Moma was ausprobiert. Das können wir jetzt alles wegschmeißen. Schönen Dank auch!“, schimpfte Tilli aus der Höhe.

„Aha, Moma also.“ Vera Hupf verdrehte die Augen.

Egal was für ein Drama in der Marktstraße 12 passierte, Mona Tingel, von allen Moma genannt, hatte meistens etwas damit zu tun.

Tilli ärgerte sich. Warum hatte sie bloß Moma erwähnt? Jetzt würde Moma den ganzen Ärger abkriegen, den eigentlich Jacob verdient hatte. Dabei war Moma die Allerbeste! Sie und Tilli hielten immer zusammen! Sie erfanden gemeinsam Sachen, Rezepte und Ausreden. Der Name Moma war übrigens eine Mischung aus Mona und Oma. Denn Moma war nicht nur Tillis liebste Freundin. Sie war, selbst wenn sie nicht so genannt werden wollte, auch ihre Oma. Und das bedeutete, Tilli musste sich nicht nur das Zimmer, sondern zu allem Unglück auch noch die Oma mit ihrem Bruder teilen. Und die konnte man nicht mit einem schwarz-gelben Sperrband halbieren.

Soeben merkte Tillis Mama verwundert, dass eine Ameise an ihrem Bein hochmarschierte. Es ist schwierig, etwas von dem Bein abzuschütteln, auf dem man gerade steht. Und es ist auch schwierig, einbeinig die Balance zu halten, wenn man in der Hand ein heißes Bügeleisen hält und in Eile ist, weil man sich eigentlich anziehen und auf Dienstreise fahren müsste.

„Ich hab gleich gesagt, eine Ameisenfarm ist eine dämliche Idee!“, entrüstete sich Tilli nun von oben.

Ameisen! Das ganze Zimmer war voller Ameisen! Sie rannten überall herum! An Mama Hupfs Beinen, auf dem Boden, über die Betten, an den Wänden, sogar auf dem schwarz-gelben Warnstreifen, und besonders viele hatten sich auf die kleinen pastellfarbenen Zuckergussblümchen gestürzt, die auf Tillis Schreibtisch lagen. Nur dort, wo die Ameisen eigentlich sein sollten, nämlich im Aquarium auf der Fensterbank, waren sie nicht mehr.

„Das gibt’s doch nicht!“, schimpfte Vera Hupf und schüttelte sich. „Die sammelt ihr wieder ein! Und zwar jede einzelne! Und dass ihr mir keine vergesst!“

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„Aber wir wissen doch gar nicht, wie viele es waren!“, maulte Jacob.

„Dann hättest du sie eben vorher zählen müssen!“, tönte Tillis Stimme schnippisch von oben.

„Aber das sind bestimmt eine Million“, jammerte Jacob.

„Na, dann beeilt euch mal!“, gab Mama Hupf mit Blick auf die bunte Wanduhr zurück. (Die war nicht geteilt, denn sie hing auf Jacobs Seite.) „Und zwar alle beide! Hopphopp!“

Sie wartete keine Antwort ab und eilte zurück ins Schlafzimmer, um sich fertig anzuziehen.

In diesem Moment legte der alte Herr Brömmel draußen eine Leiter an und stieg auf die Kastanie, um Kater Käsebein zu erlösen.

Als er auf gleicher Höhe mit Tilli war, die immer noch im Nachthemd auf der Kommode hockte, grüßte er freundlich zum Fenster hinein. Bei dieser Familie wunderte ihn überhaupt nichts mehr.

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Ein Schlüssel klapperte. Eine dreistöckige Etagere voller duftender Muffins schob sich herein und dahinter spähte eine neugierige Nasenspitze ins Kinderzimmer.

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„Was ist denn hier los?“, rief Moma fröhlich. „Euch hört man ja bis oben!“

Moma wohnte nämlich im Dachgeschoss des Hauses und das war besonders praktisch. So hatte sie den wackeligen Kuchenturm nur über eine Treppe nach unten balancieren müssen.

„Hier werden Ameisen eingesammelt“, erklärte Tilli beleidigt.

„Ameisen?“, fragte Moma nicht besonders überrascht und wackelte verlegen mit ihrem windschiefen Haarturm.

Tilli brüllte: „Ja, Ameisen! Das war natürlich mal wieder Dumbo!“

Wenn sie auf ihren Bruder wütend war, nannte sie ihn Dumbo, weil er so große Ohren hatte.

„Nenn deinen Bruder nicht immer Dumbo“, rief es aus dem Schlafzimmer.

Frau Wurstmayr im Haus nebenan wummerte wieder gegen die Wand.

„Und hört auf eure Großmutter!“, setzte Mama Hupf etwas sanfter hinzu.

„Nenn mich nicht immer Großmutter“, entrüstete sich Moma. „Sonst fühle ich mich alt.“

Schließlich war Mona Tingel eine flotte Frau mit rot gefärbten Haaren, klimpernden Armreifen und wallenden, bunten Gewändern, die niemandem ihr Alter verriet. Tilli wusste es natürlich trotzdem. Moma war 66 und als junges Mädchen beim Hippie-Festival in Woodstock dabei gewesen.

„Alles, was danach kam“, erzählte sie gern, „war bloß kalter Kaffee.“

Deshalb versuchte Moma immer, ein wenig Schwung in langweilige Angelegenheiten zu bringen, und deshalb hatte sie auch die Ameisenfarm erlaubt und den genialen Plan erfunden. Aber wie es aussah, passten eine Ameisenfarm und ein genialer Plan einfach nicht zusammen.

Tilli beobachtete ihren Bruder von der Kommode aus. Warum konnte sie nicht so eine zuckersüße Schwester wie Annika haben? Die kleine Selina himmelte ihre große Schwester an und machte brav alles, was die ihr sagte. Warum hatte ausgerechnet Tilli einen frechen, schmutzigen, kleinen Bruder abgekriegt, der ständig mit dem Finger in irgendwelchen Löchern rumbohrte?

Moma überblickte kurz die Lage. Dann balancierte sie die Muffins in die Küche und ließ Wasser ins Waschbecken. Sie setzte eine umgestülpte Schüssel hinein und stellte die Etagere darauf ab. Auf einer Insel waren sie sicher. Ameisen konnten ja nicht schwimmen.

Als sich Tillis Mama einen Moment später in der Küche die Hände waschen wollte, fand sie den seltsamen Turm im Waschbecken und seufzte tief. Ging das jetzt schon los, obwohl sie noch gar nicht weg war? Aber die Muffins sahen köstlich aus. Sie nahm sich einen, vorsichtig, damit die Küchlein nicht ins Wasser stürzten, und ging ins Kinderzimmer, um ein paar letzte Ermahnungen loszuwerden.

„Vergesst nicht, den Gummibaum zu gießen“, bat sie.

Tilli, Jacob und Moma nickten.

„Aber nicht zu viel! Er ist keine Schwimmpflanze!“

Wieder nickten die drei einträchtig.

„Und dass mir diese Ameisen verschwunden sind, wenn ich zurückkomme!“, befahl Mama Hupf. „Und bei der Gelegenheit könnt ihr gleich das Kinderzimmer aufräumen.“

Wieder nickten alle drei auffallend brav und Momas große Ohrringe klimperten zur Bestätigung. Das machte Mama Hupf misstrauisch. Sie zögerte.

„Eigentlich kann man euch drei nicht allein lassen!“, stellte sie fest und hielt den Muffin in die Höhe. „Was ist das zum Beispiel für ein komischer Turm im Waschbecken?“, fragte sie.