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Kurt Pachl

Burschis späte Rache

Roman

© 2017 Kurt Pachl

Umschlag, Illustration: Kurt Pachl

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback978-3-7439-6544-7
Hardcover978-3-7439-6545-4
e-Book978-3-7439-6546-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Vielen Dank an dieser Stelle an meinem Freund Hansjürgen Wölfinger, der mich beratend und tatkräftig bei diesem Buch und weiteren Büchern unterstützt hat.

Man muss die Kraft haben zu vergeben.

Vergessen?

Nein. Vergessen kann man viele Dinge nicht!

In seinen Träumen hatte Simon die fünf niederträchtigsten und bösartigsten Wesen des Dorfes viele Male in die Hölle geschickt.

Diese Szenen, Geräusche und Gefühle nahmen von Woche zu Woche eine immer realistischere Gestalt an.

Doch wenn er schweißgebadet aufwachte, empfand er seltsamerweise kein Gefühl der Genugtuung oder gar Befreiung. Denn letztlich waren es nicht nur diese fünf Kreaturen, die seiner Seele tiefe Wunden zugefügt hatten.

Die meisten Bewohner des unterfränkischen Dorfes waren böse und seelenlos. Damals, im August 1946, begegneten sie allen Heimatvertriebenen mit einer tiefen Abneigung. Für sie waren es Polacken, Zigeuner und Tagediebe.

Die Einwohner dieses Dorfes waren nicht fähig, sich vor Augen zu halten, dass es sich um Landsleute handelte, die lediglich das Pech gehabt hatten, nicht mehr dort wohnen zu dürfen, wo ihre Wurzeln waren. Gemeinsam hatten sie das Glück gehabt, diesen fürchterlichen Krieg zu überleben. Viele Millionen Soldaten waren gefallen oder in Gefangenschaft. Ihr gesunder Menschenverstand hätte ihnen sagen müssen, dass man dieses zerbombte Deutschland nur gemeinsam wiederaufbauen konnte – gemeinsam.

Das Schicksal meinte es mit Simon Klinger besonders hart. In seiner Kindheit und Jugend musste er mit dem Stigma eines Krüppels aufwachsen. In diesem fränkischen Dorf war er als Krüppel nicht mehr und nicht weniger wert als eine räudige Katze. Allerdings: Eine räudige Katze erschlug man einfach, um sie danach auf den Misthaufen zu werfen. Misthaufen gab es viele in Aalfurth.

Im Juli 1973 verwarf er seine Pläne, sich auf eine blutige Weise rächen zu wollen. Je länger er nachdachte, umso wütender wurde er auf sich selbst. Der zeitliche und vor allem der finanzielle Aufwand war beträchtlich gewesen, sich eine alte Armeepistole und eine moderne Schrotflinte besorgt zu haben.

Als er an einem Sonntagnachmittag lange genug in den Lauf dieser Schrotflinte gestarrt hatte, sagte eine Stimme in ihm, dass er auf diese Option immer noch zurückgreifen könne. Irgendwann. Später. Von nun an wollte er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Noch am gleichen Abend stand für ihn fest: Er würde nicht nur Franken, sondern auch Deutschland verlassen. Was sollte noch schlimmer sein, als sich mit einer 12er Schrotladung den Kopf wegzupusten.

Noch nie zuvor hatte er einen Gedanken daran verschwendet, in welchem Land er sich alternativ hätte heimisch fühlen können.

Zu diesem Zeitpunkt war Simon 25 Jahre alt.

Seit drei Jahren reiste er für Procter & Gamble durch die Lande. Er galt als zäh, ehrgeizig, kreativ und vor allem fleißig. Aus seinen Bewertungsunterlagen war allerdings zu entnehmen, dass es ihm an Härte und Selbstbewusstsein mangele. Procter & Gamble war diesbezüglich offen und schonungslos.

Simons Schicksal fand Gefallen daran, dass er beabsichtigte, künftig sein Leben selbst in die Hand nehmen zu wollen. Offensichtlich wollte er ein winziges bisschen nachhelfen. Denn genau eine Woche nach seiner Entscheidung fand ein großes Procter-Meeting in Frankfurt stattfand.

Seine Englischkenntnisse waren recht passabel.

Als Tischnachbar stellte sich ein Mr. Krug auch Cincinnati vor. Was als Smalltalk begann, sollte sein Leben schlagartig verändern.

»Vor zehn Jahren war ich mit einer amerikanischen Familie eng befreundet«, begann Simon das Gespräch.

Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass Mr. Krug für ganz West-Europa zuständig war – und in Cincinnati wohnte.

»Sehr interessant«, antwortete der Amerikaner mit gut einstudierter Mimik.

»Nach zwei Jahren sind sie leider zurück nach Cincinnati. Wir waren alle traurig.«

»Cincinnati? Wie hieß die Familie?«

»Libby. Die Familie von Major Libby.«

Die Augen des Procter-Managers begannen zu leuchten.

»Können Sie sich noch an die Namen der Kinder erinnern?«

»Selbstverständlich. Richy und Coleen. Und Richards Frau hieß Madeline. Vor allem mit Richy habe ich viel unternommen. Madeline hat mir noch viele Jahre eine Weihnachtskarte geschickt.«

Ein breites Grinsen zog sich über das Gesicht des Procter-Mannes.

»Richy und Colleen sind beide auf der High-School.«

»Sie kennen die Familie?«, fragte Simon erregt.

Mr. Krug lehnte sich mit einer stolzen Gestik zurück. »Wir sind nicht nur Nachbarn. Madeline ist meine Schwester. Ich bin Richys godfather.«

Wie sich später herausstellte, bedeutete dies Taufpate.

»Ich werde morgen mit meiner Schwester telefonieren«, fügte der Amerikaner lächelnd hinzu.

»Soll ich etwas ausrichten?«

»Natürlich. Gerne. Sagen Sie Ihr, dass es mich freuen würde, die ganze Familie einmal wieder zu sehen.«

Simon entnahm aus dem Gesichtsausdruck des Amerikaners, dass dieser leicht enttäuscht war. Die Antwort des jungen Deutschen war ihm offensichtlich eine Spur zu oberflächlich. In vielen Seminaren waren die Procter-Soldaten darauf getrimmt worden, blitzschnell aus Mimik und Gestik ihres jeweiligen Gegenübers zu lesen.

»Ich liebe die United States«, fuhr deshalb Simon rasch fort.

»Seit einigen Wochen ist es mein sehnlichster Wunsch dort zu wohnen und zu arbeiten. Vielleicht sogar für immer.«

Mr. Percy Krug verschränkte seine Hände ineinander und blickte seinem deutschen Gesprächspartner überrascht und nachdenklich in die Augen. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

»Die Welt ist voller Überraschungen. Ich werde über Ihre Worte nachdenken«, sagte er leise und fast ein wenig abwesend. Danach bat er um Verständnis, dass er an diesem Abend noch mit einigen anderen Gästen sprechen müsse.

Drei Tage später fand ein Gespräch in der Procter & Gamble-Zentrale in Schwalbach statt. Was nun folgte, war typisch amerikanisch und entsprach den Procter & Gamble-Vorgehensweisen.

Im September 1973 saß Simon im Flugzeug nach Cincinnati.

Alle Vorbereitungen waren höchst professionell und bis in alle Details geplant. Für den Anfang hatte der Konzern ein möbliertes Apartment im District One in Cincinnati gemietet. Hier im Over-the-Rhine wohnten gut fünfzig Prozent deutschstämmige Familien. Es gab Einkaufsstätten und Restaurants, in denen deutsch gesprochen wurde.

Am zweiten Abend fand eine Begrüßungsfeier im Hause der Libbys statt, zu der selbstverständlich auch Mr. Krug und dessen Frau eingeladen waren. Die kleine Colleen war inzwischen achtzehn Jahre alt und ging auf die High-

School. Als Achtjährige war sie in Simon vernarrt. Damals störte es sie nicht, dass ihr Schwarm hinkte. Auch ihr sportlicher Freund war eingeladen. Er war fast einen Kopf größer als Simon.

Richy, ihr Bruder, hatte sich zu einem regional bekannten Football-Star entwickelt und sah an diesem Abend milde auf sein früheres Idol herab. Deshalb konzentrierte sich der Gast auf die Herrin des Hauses. Madeline genoss dies sichtlich.

In die heiligen Hallen der Procter-Zentrale wurde Simon nicht eingeladen.

Am 1. Oktober fand die Einarbeitung in seinem Bezirk statt. Wie nicht anders zu erwarten, musste Simon ganz von unten anfangen; als Reisender. Zugeteilt wurde ihm der Süden von Illinois mit den Städten St. Louis und Springfield. Als Procter-Soldat, das besagten die Statuten, galten in allen Ländern der Erde die gleichen Regularien und Vorgehensweisen.

Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Simon wohl. Er hatte großes Glück gehabt. Doch Glück war für ihn nicht gleichbedeutend mit glücklich sein. Er machte sich nichts vor: Unbeschwertheit, Lebensfreude und glücklich sein war in seinen Genen nicht vorgesehen. In den kommenden Jahren wollte er auf seine Leistungen stolz und zufrieden sein. Mehr hatte er sich für den Anfang nicht vorgenommen.

Bereits nach einem Jahr wurde der deutsche Procter-Mann zum Inspektor befördert. Fortan war er für ganz Indiana zuständig und wohnte in Columbus. Von hier aus hatte er es nicht weit nach Cincinnati. Zwischenzeitlich war er sich dessen bewusst, dass die Sprossen seines Aufstieges bei Procter & Gamble bei der Position eines Bevollmächtigten enden würden. Für das gehobene Management wäre der Stallgeruch einer amerikanischen Elite-Universität eine unbedingte Voraussetzung gewesen.

Amerika war zu seiner neuen Heimat geworden. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wollte er Geld machen; es zu etwas bringen. Ein guter Amerikaner hätte es belächelt, wenn man von ihm verlangen würde, sein Geld zu verdienen. In den Vereinigten Staaten pflegte man Geld zu machen. „I make money“, sagten sie. Oder sie sagten verächtlich: „There is no money in it“.

Zumindest in der letzten Sichtweise unterschied sich Simon von der großen Masse der Amerikaner. Aus seiner Sicht waren die meisten Amerikaner denkfaul. Dabei war dieses Land ein Mekka für Macher. Es brauchte nur Menschen, die Ideen hatten, welche zum Zeitgeist passten. Es mussten mutige und entscheidungsfreudige Macher sein, die notfalls, sie nannten es „Worst Case“, die Bereitschaft mitbrachten, wieder als Tellerwäscher von vorn zu beginnen.

Simon sprühte vor Ideen.

Procter-Mitarbeiter hatten zu funktionieren, nach Richtlinien zu arbeiten und durften ausschließlich im Rahmen ihrer Denk-Bandbreite kreativ sein.

Nein, in diesem Unternehmen konnte er seine Träume nicht verwirklichen.

Er hasste große Menschenansammlungen.

Lediglich einmal war Simon auf der Michaelismesse in Weinersheim gewesen.

Ohne Geld machte es keinen Spaß; war man verloren war man ein Niemand. Natürlich hatte er vom Oktoberfest in München gehört. Doch das war damals genauso weit entfernt gewesen wie der Mond.

Das größte Oktoberfest in den Vereinigten Staaten fand seit Generationen in Cincinnati statt. 500.000 Besucher zog dieses Spektakel an. Dabei wurden über 80.000 Bratwürste und 23.000 Brezeln verdrückt. Es gab den weltweit bekannten Chicken-Dance, Schuhplattler-Auftritte, deutsches Bier und deutsche Weine.

Das Schicksal machte Simon mit dem wohlbeleibten 48-jährigen und deutschstämmigen Restaurant-Betreiber Harald Schwarz bekannt. Er war der unumschränkte Zinzinatti-King.

Das gesamte Jahr bereitete er in aller Seelenruhe dieses große Event vor. Dazwischen genoss er sein Leben: Er aß gut und viel, liebte den Wein und reiste viel.

Der amerikanische Buddha schloss Simon sofort in sein Herz. Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Vorfahren ihre Wurzeln in Würzburg hatten. Diese Stadt lag knapp vierzig Kilometer von Weinersheim entfernt. Alle zwei Jahre zog es Harald für einige Wochen nach Franken und Bayern.

Der Zinzinatti-Manager wohnte seit Jahrzehnten in einer kleinen Villa im District Over-the-Rhine. Von dort aus konnte er zu Fuß durch Little Germany schlendern. Er genoss es, wie ein Star begrüßt zu werden, ein Schwätzchen zu halten – und natürlich viele Schoppen Wein zu trinken.

Er bestand darauf, von Simon geduzt zu werden. Und er erkannte sofort, dass dieser junge Deutsche ungewöhnlich kreativ war. Das war einer der Gründe, warum er ihn in seine Villa einlud. Allerdings gab es da noch einen weiteren Grund.

Der lebenslustige Harald strotzte nicht vor Intelligenz. Dafür besaß er die Bauernschläue und den Instinkt seiner Vorfahren. An oberster Stelle auf seiner Prioritätenliste stand zweifellos, seine Tochter Alice vorzustellen.

Die 26-jährige Schönheit war dem Besucher allerdings bereits während des Oktoberfestes aufgefallen.

Alice zog am zweiten Oktoberfestabend seine Blicke auf sich. Um sie herum schien die Welt stillzusehen, als sie eine asiatische Dirndlträgerin lang und innig küsste.

»Ihre Schönheit ist mir bereits am zweiten Zinzinatti-Abend aufgefallen«, begrüßte Simon die Tochter des Gastgebers, während er ihr einen Handkuss gab.

Alice stutzte kurz. Sichtlich dachte sie über die Worte des Gastes nach. Und plötzlich hauchte sie Simon einen zarten Kuss auf die Wange.

»Es freut mich, dass wir diesen Punkt geklärt haben.«

Danach lächelte sie leicht süffisant ihren Vater an.

»Mein alter Herr versucht es nun schon seit Jahren, mich von dieser Krankheit zu befreien. Ist er nicht süß?«

Der Gastgeber ließ sich ächzend in einen Sessel fallen.

»Ist es so schlimm, dass ich mir immer gewünscht habe, ein kleines Enkelchen auf meinen Knien zu schaukeln?«

Er ließ dabei seine dicken Wangen nach unten hängen und machte den Eindruck eines Mopses, dem man soeben den Napf mit seiner Lieblingsspeise weggezogen hatte.

Seine Tochter beeilte sich, ihrem Vater einen Kuss auf die Wange zu drücken, und säuselte:

»Sei friedlich Paps. Vielleicht fällt dir irgendwann eine andere Lösung ein. Du bist doch der kreativste Mensch, den ich kenne.«

Harald schob seine Tochter mit einem gespielt beleidigten Gesichtsausdruck von sich. Danach blickte er in Richtung seines Gastes.

»So wie ich diesen Burschen dort einschätze, ist er mir um Galaxien voraus, was Kreativität anbelangt. Vielleicht hat er ja eine Idee?«

Simon ließ sich unaufgefordert in einen Sessel nieder, und verschränkte seine Hände.

»Es gibt kein Problem, das nicht auf die eine oder andere Weise gelöst werden könnte«, sagte er leise.

Er wusste genau, dass er damit den enttäuschten Paps neugierig machen würde.

Wie vorauszusehen war, prustete dieser:

»Los. Los. Das interessiert mich jetzt!«

Hierbei goss er Wein in die vorbereiteten drei Gläser.

Simon wartete, bis der Hausherr sein Glas erhob. Er nippte kurz am Glas und sagte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt:

»Im Grunde genommen ist das ganz einfach: Du gibst mir deine Tochter zur Frau. Sie adoptiert ein süßes kleines Mädchen. Ich bekomme die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nach außen hin sind wir ein glückliches Paar. Und alle sind glücklich.«

Nicht nur der Zinzinnati-King war sprachlos. Dessen Tochter sah mit ihrem erstarrten Gesichtsausdruck plötzlich nicht mehr so attraktiv aus. Mit Tränen in den Augen verließ sie rasch das Zimmer.

Der Buddha aus Cincinnati hatte sich erstaunlich rasch erholt. Er beugte sich ächzend nach vorn und tätschelte mit seinen massigen Händen einige Male Simons Wange.

»Bingo. Ich hab‘s gewusst. Dieser Abend wird ganz bestimmt dein und mein Leben verändern.«

Er blickte grinsend zur Tür.

»Jetzt steht sie im Garten und raucht einen Joint. Danach geht sie ins Bad, um neues Rouge aufzulegen. In drei Minuten kommt sie dann strahlend zurück. Wetten?«

Es war wie ein einstudiertes Spiel.

Die beiden Männer saßen mit ihrem Weinglas in ihren Sesseln und starrten schweigend und interessiert zur Tür. Sie ließen sich Zeit. Drei Minuten konnten verdammt lange sein.

Und tatsächlich. Der wohlbeleibte Vater hatte seine Tochter richtig eingeschätzt. Sie tauchte mit einem Lächeln im Türrahmen auf … als sei nichts passiert. Verdutzt blickte sie auf die beiden Männer, die zu lachen begannen.

»Das ist doch nicht zu fassen? Anstatt mich davor zu bewahren, dass ich mich vor den nächsten Zug werfe, sauft ihr den guten Wein weg.«

Sie begann laut zu lachen.

Mit diesem Lachen im Gesicht huschte sie zu Simon hinüber, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken.

»Es ist die verrückteste Idee, die ich seit Jahren gehört habe. Aber sie ist so gut, dass wir sie in die Tat umsetzen sollten«, gluckste sie, um anschließend eine ernste Miene aufzusetzen.

»Aber die Realität ist nicht so problemlos. Getrennte Schlafzimmer inklusive. Hast du dir das wirklich gut überlegt?«

Bis tief in die Nacht hinein hatte Harald Schwarz seine Liste abgearbeitet. Überglücklich schlief er im Sessel ein. Für seine Tochter schien dies keine neue Szene zu sein. In der Ecke des großen Salons lagen einige Decken bereit. Liebevoll wickelte sie ihren Vater, soweit es eben ging, in eine große Decke, um ihm anschließend einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Danach übten die jungen Leute das getrennte Schlafen. Die Villa war weitaus geräumiger, als Simon dieses vermutet hatte.

Obwohl sich draußen der Tag ansagte, konnte Simon noch nicht einschlafen. Er dachte über die zurückliegenden Stunden nach. In diesen Stunden hatten sie weitreichende Entscheidungen getroffen.

Alice stockte am anderen Morgen der Atem, als ihr Vater berichtete, für einen solchen Fall, wie er es nannte, in Florence eine Farm gekauft zu haben. Morgen würde er den Turteltäubchen ihr neues Heim zeigen. Natürlich musste noch einiges modernisiert werden.

Und als Simon die Ansicht vertrat, den Umsatz in den nächsten fünf bis zehn Jahren verzehnfachen zu wollen, brachte der Zinzinatti-King viele Minuten noch nicht einmal ein Krächzen über die Lippen. Im Grunde genommen wollte der Wohlbeleibte in den kommenden Jahren sukzessive kürzertreten, und Simon lediglich als Geschäftsführer gewinnen. Stattdessen zauberte dieser Jungspund einen handgeschriebenen Vertragsentwurf aus der Tasche. Darin war zu lesen, dass er Teilhaber werden wollte. Entgeistert starrte Harald Schwarz auf die DIN-A4-Seite. Der kurze Text besagte, dass der IST-Stand festgeschrieben wurde; als Ausgangsposition für weiteren Wachstum. Dem Buddha konnte also nichts passieren. Auch Alice fand in den wenigen Zeilen in keinster Weise einen Satz oder Nebensatz, der hätte missverständlich sein können. Sie konnten nicht wissen, wie lange Simon um jedes Wort und um jede Silbe gerungen hatte. Die Sprengkraft der Worte würde sich erst in wenigen Jahren ergeben.

Noch am gleichen Abend unterzeichneten die beiden Männer diesen Vertrag. Als künftige Ehefrau von Simon unterzeichnete Alice diesen Vertrag ebenfalls. Sollte es zu einer Scheidung kommen, würde Simon keinen Anspruch auf das Adoptivkind haben, keinen Anspruch auf die Ranch in Florence und keinen Anspruch auf Teile des Unternehmens, wie sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt darstellten. Es gab also keinen Haken an diesem Stück Papier. Dass Simon für seine Dienste ab Anfang des kommenden Jahres ein Fixum für seine Tätigkeit zustand, war selbstverständlich. Gleichzeitig sollte oder konnte Harald sich immer mehr zurückziehen. Es verstand sich von selbst, dass er weiterhin das Aushängeschild des Unternehmens war oder sein musste. Dass Simon siebzig Prozent der Ertragssteigerungen zustanden, war aus Sicht des Zinzinatti-Kings ebenfalls verständlich, aber vernachlässigbar. Da sollte er sich irren.

Mr. Krug bedauerte Simons Entscheidung, das Unternehmen verlassen zu wollen. Der Wechsel seines deutschen Freundes zum Unternehmen von Harald Schwarz, wollte jedoch in keinster Weise in die Gedankenwelt des Procter-Managers passen. Hatte Alice diesem jungen Mann den Kopf verdreht? Das war unmöglich. So dumm konnte Simon doch nicht sein! In Cincinnati hatte es sich doch schon seit Jahren herumgesprochen, an welchem Ufer diese zugegebenermaßen attraktive Frau verankert war. Und als die Hochzeit bekanntgegeben wurde, war die Verwirrung perfekt.

Doch Simon war mit dieser Entwicklung höchst zufrieden. Niemals würde er sich in eine Frau verlieben – oder gar aus Liebe heiraten. Er liebte nur eine Frau. Und diese Frau hieß Marita. Bis zu seinem letzten Atemzug würde er sie lieben.

Das kleine Städtchen Kitchener-Waterloo in Ontario hörte bis 1916 noch auf den Namen Berlin. Weit über fünfzig Prozent der Einwanderer kamen aus Deutschland. Im kanadischen Kitchener-Waterloo fand ebenfalls alljährlich ein deutschgeprägtes Oktoberfest statt. Und das war um weit über fünfzig Prozent größer als das amerikanische Zinzinatti-Festival. Das einwöchige Fest zog mehr als 800.000 Besucher in die riesigen 17 Festhallen. Für das kommende Jahr hatte Simon einen Vertrag für die 18. Halle ausgehandelt. Zusätzlich nahm er an der weltbekannten Steubenparade in New York teil. Bereits im Juli nächsten Jahres würde sich das Unternehmen Schwarz-Klinger am German-Fest in Milwaukee beteiligen. Erst für das darauffolgende Jahr konnte er eine Vereinbarung für das dreitägige Oktoberfest Fredericksburg in Texas erhandeln. Hilfreich hierbei war es gewesen, auf das Know-how von Harald Schwarz zu verweisen.

Simon hatte weitreichende Strategien entwickelt. Alle diese Feste mussten mit unverwechselbaren deutschen und österreichischen Produkten beliefert werden. Zusammen mit tatkräftigen deutschstämmigen und rein deutschen Helfern baute er zunächst einen Importhandel auf. So bald wie möglich sollten Produktionsstätten in den Staaten folgen; natürlich mit Hilfe von Experten aus Deutschland und Österreich. Es war ebenso wichtig, eine gute Logistik innerhalb der Staaten und Kanada aufzubauen.

Überall in den Staaten gab es chinesische, indische, italienische, griechische, mexikanische oder anderweitige Speiselokale und Supermärkte. Und hier gab es über 50 Millionen Menschen, die als Hauptabstammungsland Deutschland angaben. Hinzu kamen mindestens zwanzig Millionen Deutschstämmige in Kanada. Dass dieses riesige Potenzial gierig nach deutschen Fleisch-, Wurst-, oder Mehlspeisen war, bewiesen die deutsch-amerikanischen oder deutsch-kanadischen Events.

Alle Produktentwicklungen, alle Produktionen, der Verkauf und die gesamte Logistik mussten über seine eigenen Unternehmen laufen. Damit würde er keine Vertragsverletzung begehen. Um allen Eventualitäten aus dem Weg zu gehen, war es allerdings sinnvoll, Strohfirmen zwischenzuschalten.

Simon musste keine Rücksicht auf Frau und Familie nehmen. Weit über achtzig Prozent seiner Zeit war er in den Staaten, in Kanada oder auch in Deutschland und Österreich unterwegs.

Alice hatte letztlich darauf verzichtet, ein Kind zu adoptieren.

Ihr Egoismus siegte.

Harald war tief enttäuscht von seiner Tochter. Er begann seinen Kummer im Alkohol zu ertränken. Die geschäftlichen Erfolge Simons waren kein Ersatz dafür, ein Enkelchen auf seinen Knien zu schaukeln und von großen Kinderaugen angelächelt zu werden.

Umso mehr freute er sich auf die Gespräche mit seinem Schwiegersohn. Er hing an den Lippen seines jungen Geschäftspartners, der ihm blumig von den Entwicklungen berichtete und von weiteren Visionen schwärmte. Harald Schwarz war stolz auf seine Entscheidung. Er begann diesen jungen Mann zu lieben, als sei er sein eigen Fleisch und Blut.

Nachdem der Zinzinatti-King im Oktober 1983 mit zittriger Stimme das Oktoberfest eröffnet hatte, ließ er sich von Simon in die Villa fahren. Während seine lebenslustige Tochter mit einer neuen Schönheit durch die Hallen schlenderte und am Chicken-Dance teilnahm, starb Harald Schwarz, sichtlich zufrieden, in den Armen seines Schwiegersohnes. Er wurde nur neunundfünfzig Jahre alt.

Als drei Wochen später der Nachlassverwalter mit stockender Stimme Haralds letzten Willen verlas, musste Alice nach einem Schreikrampf in eine Klinik eingeliefert werden. Der wohlbeleibte Mann hatte sein gesamtes Vermögen je zur Hälfte seiner Tochter und seinem geliebten Schwiegersohn vermacht.

Als Alice nach vier Wochen die Klinik verlassen durfte, war sie schlagartig um Jahre gealtert. Sie zog in die Stadtvilla. Ein Vier-Augen-Gespräch mit Simon lehnte sie kategorisch ab. Doch dieser ließ über seinen Anwalt wissen, dass er sämtliche Ämter niederlegen würde, sollte es innerhalb der nächsten drei Wochen zu keiner Einigung kommen. Alices Anwalt machte seiner Mandantin klar, dass damit der Wert des Event-Geschäftes ins Bodenlose fallen würde. Der verbleibende Rest müsste dann trotzdem durch zwei geteilt werden. Danach ging alles sehr schnell. Alice entschied sich für die Stadtvilla, während die Ranch in Florence sowie das Event-Geschäft der Ehemann bekommen sollte. Das Barvermögen war in den letzten Jahren auf dreißig Millionen Dollar angewachsen. Simon entschied, dass er davon lediglich zehn Millionen Dollar haben wollte. Drei Wochen später wurde die Ehescheidung offiziell bestätigt. Fortan war die Ranch in der Nähe von Florence das Domizil des erfolgreichen Managers.

Das Event-Geschäft zu verzehnfachen war für Simon kein Problem gewesen. Das war es, was Harald so beeindruckt hatte. Doch ohne diesen lebensbejahenden Buddha machte dieses Geschäft plötzlich keine Freude mehr. Betriebswirtschaftlich gesehen grenzte es an Schizophrenie, sich vom Event-Geschäft zu trennen. Schließlich waren die Expansionsbestrebungen bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Viele erfolgversprechende Verhandlungen standen kurz vor dem Abschluss. Und genau diese Tatsache bewog Kenneth Blackwood, der größte Wettbewerber des Zinzinnati-Kings, Simon ein Angebot zu unterbreiten, das dieser nicht ablehnen konnte – und auch nicht wollte. Die Ablösesumme von fünfunddreißig Millionen Dollar waren für weitere Expansions-Pläne des Neu-Amerikaners hochwillkommen. Seine Importfirmen für deutsche Produkte, aber auch seine Produktionsfirmen im Land, waren ohnehin indirekt an den künftigen Erfolgen des neuen Zinzinatti-Kings beteiligt. Doch das konnte Blackwood nicht wissen.

Bislang deutete nichts darauf hin, dass diese Produktionsstätten und Importfirmen, welche auf viele Städte und Bundesstaaten verteilt waren, einen Inhaber hatten. In den USA gab es kein einheitliches Register. Auch die Finanzämter waren nicht miteinander vernetzt.

Als Simon aufgrund der explosionsartigen Entwicklungen alles über den Kopf zu wachsen drohte, sah er sich vor einem halben Jahr allerdings gezwungen, sein Reich sauber zu strukturieren. Für die Bereiche Produktionsunternehmen, Import, Produktentwicklungen, Belieferungen von Hotels und Restaurants, Belieferungen von deutschen Spezialgeschäften und letztlich der Logistik bildete er Units. Und für diese waren Geschäftsführer zuständig.

Jetzt hatte der umtriebige Manager den Kopf wieder frei für neue Projekte. Chancen gab es für ihn fast an jeder Straßenecke. Der deutsch-amerikanische Selfmademan war zu diesem Zeitpunkt erst fünfunddreißig Jahre alt. Und sein Kampfeswille war ungebrochen. Herausforderungen und Erfolge waren wie Medizin für ihn. Zurückblicken war Gift. Nur Marita konnte und durfte er nicht vergessen. Niemals.

Eine Ausnahme machte Simon. Vor vier Jahren war er im Rahmen seiner Suche nach neuen Produzenten für deutsche Produkte selbst nach Deutschland geflogen – und hatte dabei einen Abstecher nach Weinersheim gemacht. Als er in Weinersheim Station machte, musste er automatisch an die Phase in seinem Leben denken, als er dort die Höhere Handelsschule besuchte. Er und Paul Korber waren die absoluten Außenseiter in seiner Klasse gewesen. Die anderen sechsundzwanzig jungen Burschen und Damen kamen aus der wachsenden Mittelschicht. Sie ließen es den beiden mageren und introvertierten Bürschchen in ihren abgetragenen Kleidungen mit Inbrunst spüren, Gottes zweite Garnitur zu sein, wie Willi Heinrich Personen in einem seiner Romane genannt hatte.

In einem Café am mittelalterlichen Marktplatz machte Paul den Eindruck, mit seinem Leben nicht unzufrieden zu sein. Er war Abteilungsleiter in einem Lagerhaus geworden und hatte eine stark gehbehinderte junge Frau aus seinem Dorf geheiratet. Simon wollte Janette unbedingt kennenlernen. Also fuhren sie auf die Höhe hinauf, wie man rund um Weinersheim zu sagen pflegte. Janette wirkte aufgeschlossen, natürlich und war intelligent. Sie hatte das Abitur mit der Note 1,2 bestanden. Seit einigen Jahren war sie jedoch arbeitslos.

Gerne folgten sie der Einladung nach Cincinnati, zumal Simon alle Kosten übernahm. Simon duldete keine Diskussionen. Paul und Janette sollten studieren; sich auf die Fächer Jura und Betriebswirtschaft konzentrieren. Und Janette sollte sich operieren lassen. Als Paul wieder nach Deutschland zurückkehrte, konnte er eine Überweisung von 300.000 Dollar auf seinem Konto feststellen. Seitdem telefonierten die Freunde einmal pro Monat. Janette hatte vor einem halben Jahr ihr Studium abgeschlossen. Paul musste das Abitur nachholen. Bei ihrem letzten Kurzbesuch in den Staaten versprach Simon, dass sie die größten und schönsten Büros in der Stadt haben würden. Paul sollte eine Anwaltspraxis einrichten und Janette eine Notariatspraxis. Simon fragte sich selbst, warum er in Paul und Janette so viel Zeit und Geld investierte. Doch darüber wollte er nicht nachdenken.

Als Simon in sich hineinknurrte, welcher Teufel ihn geritten hatte, den Termin bei seinem Anwalt in Boston nicht zu verschieben, war es schon zu spät. Seit Tagen kreisten die Wetternachrichten nur noch um den großen Sturm. Ein Jetstream drückte das Tiefdrucksystem weit nach Süden. Vor der Küste fegte der gegen den Uhrzeigersinn drehende Wirbel unvorstellbare Mengen Feuchtigkeit heran. Zeitgleich wurde aus der Arktis Kaltluft angesaugt. Das seien ideale Voraussetzungen für einen riesigen Blizzard, hieß es.

Simon steckte fest; im Zentrum von Cambridge, gleich gegenüber von Downtown Boston. Ihm schien plötzlich, als sei er allein unterwegs. Auf dieser sonst viel befahrenen Massachusetts Avenue, der Hauptstraße, die Boston mit der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology verband, fuhr kein Auto mehr. Während er den gedämpften Sirenen einer Schneefräse lauschte, versuchte er seinen geländegängigen und starken Jeep so nah wie möglich an den Gehsteig, der natürlich nicht mehr zu sehen war, heranzubringen. Danach wollte er sich im Fond des Fahrzeuges in einen Schlafsack zwängen. Plötzlich schreckte ihn ein dumpfes Geräusch auf. Durch das Schneetreiben hindurch sah er, dass eine große Gestalt vor seiner Kühlerhaube in sich zusammensackte – und verschwand. Wie erstarrt wartete er viele Sekunden. Doch nichts passierte. Er war sich sicher, dass es ein Mann war. Ein großer Mann sogar. Und nun war Stille. Vor seinem Fahrzeug musste ein Mann liegen. Daran bestand für ihn jetzt kein Zweifel mehr.

Hastig schlüpfte er in ein paar gefütterte Schneeboots und zog in der Enge des Fahrzeuges eine Jacke mit Kapuze über. Nur mit Mühe konnte er die Tür nach außen öffnen. Durch das Schneetreiben hindurch konnte er ausmachen, dass von den Büros oder Geschäften keine Hilfe zu erwarten war. Viele hatten die Rollläden heruntergelassen. Einige Fenster waren sogar mit großen Brettern verbarrikadiert.

Und tatsächlich. Vor seinem Jeep lag ein Mann. Nein, das war kein Mann. Trotz der Tatsache, dass der Körper zum Teil bereits eingeschneit war, erkannte er, dass es sich um einen Hünen handeln musste. Gott sei Dank tauchte neben ihm eine vermummte Gestalt auf.

»Hallo. He. Helfen Sie mir bitte«, schrie Simon.

Mit einem »Take care« stapfte der Mann jedoch weiter und war rasch im Schneetreiben verschwunden.

Obwohl Simon wusste, dass es sinnlos war, versuchte er den Mann vom Schnee zu befreien und anzuheben. Wie befürchtet erwies sich dies als hirnrissiges Unterfangen.

Und da. Jetzt tauchte wieder eine Gestalt im Schneegestöber auf. Doch dieses Mal rempelte Simon diese Gestalt an. Mit Leibeskräften schrie er:

»Dort liegt ein Mann. Helfen Sie mir.«

»Ach du Scheiße«, schrie der Mann, nachdem er den leblosen Körper gesehen hatte.

»Sind Sie sicher, dass der noch lebt?«

»Vor zehn oder fünfzehn Minuten hat er auf alle Fälle noch gelebt.«

»Für den brauchen wir einen Kran … Wohin?«

»Am besten in mein Auto.«

Erst als ein dritter Mann hinzustieß, schafften sie es, die riesige Gestalt schweißtreibend auf den Rücksitz des Jeeps zu hieven.

»Okay. Danke. Jetzt versuche ich die Polizei oder einen Krankenwagen zu holen«, schrie Simon.

Die beiden Männer verschwanden daraufhin grußlos. Sekunden später hatte sie der Schnee verschluckt.

»Hallo. Hallo. Wir haben gerade einen leblosen Mann in mein Fahrzeug gehievt«, brüllte Simon in sein Handy.

»Wo befinden Sie sich?«, war die Stimme des Polizisten zu vernehmen.

»Zentrum Cambridge. Gegenüber von Downtown Boston. Keine Ahnung wo genau. In einem silbergrauen Jeep.«

»Lebt der Mann noch?«

»Keine Ahnung. Er ist in mein Auto gelaufen, das ich am Straßenrand geparkt hatte. Keine Ahnung, warum es ihn hingehauen hat. Danach hat er auf alle Fälle keinen Mucks mehr gemacht. Meine Finger sind klamm. Ich kann nicht fühlen, ob er noch Puls hat.«

»Ihr Name?«

»Simon Klinger.«

»German?«

»Nein. Ich habe eine Ranch bei Florence.«

»Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, dass es mehr als ein paar Minuten dauern wird, bis ein Krankenwagen bei Ihnen eintrifft«, sagte der Polizist und legte auf.

Plötzlich spürte Simon, wie etwas nach seiner Hand tastete. Es war eine riesige, eiskalte Hand, die nun seine Hand fest umklammerte.

Der Mann lebte also noch.

Es dauerte schließlich gut eine halbe Stunde, bis ein Raupenfahrzeug der Army neben dem Jeep anhielt. Zwei Sanitäter versuchten den Griff des Hünen zu lösen. Sinnlos. Erst nach der Spritze eines der Sanitäter lockerte sich der schraubstockgleiche Griff.

»Sind Sie mit dem Mann verwandt? Kennen Sie den Mann?«, fragte später eine übermüdet wirkende weiß gekleidete Frau.

»Nein. Er donnerte einfach gegen mein Fahrzeug, als ich schon einige Minuten stand. Danach blieb er reglos liegen. Lebt er noch?«

»Da Sie mit ihm nicht verwandt sind, ist es schwierig für mich … Mister …?«

»Mein Name ist Simon Klinger. Hätte ich ihn einfach liegen lassen sollen. Jetzt wäre er bestimmt schon erfroren.«

Er blickte in die Augen der Schwester. Oder war es eine Ärztin? Auf alle Fälle hatte sie wasserblaue Augen, müde Augen. Und diese Augen versuchten, für den Bruchteil einer Sekunde, zu lächeln.

»Setzen Sie sich wieder«, sagte die Stimme, die zu diesen Augen gehörten. Und eine zarte Hand ergriff seine immer noch kalte Hand.

»Mary-Jane. Dr. Mary-Jane Krug.«

»Sind sie zufällig mit den Krugs in Cincinnati verwandt?«

Jetzt huschte ein Lächeln über das müde Gesicht der Ärztin.

»Weitläufig. Sie kennen jemand aus dieser Familie?«

»Ja. Mr. Krug, der bei Procter & Gamble arbeitet. Und seine Schwester Madeline. Natürlich Richard Libby. Ich bin quasi mit den beiden Kindern aufgewachsen.«

»Oh my goodness«, stammelte die Ärztin.

»Wenn das so ist, kann ich Ihnen selbstverständlich Näheres sagen.«

Mit diesen Worten setzte sie sich neben Simon.

»Also dieser Gabe Graves … dieser Name geht aus seinen Unterlagen hervor, die er mit sich führte … lebt noch. Aber seine nächste Spritze, die er sich mit Sicherheit setzen wird, wird ihn vermutlich umbringen.«

»Darf ich ihn sehen, Dr. Krug?«

»Ja. Kommen Sie. Aber nennen Sie mich bitte Mary-Jane.«

Normalerweise durfte niemand auf die Intensiv-Station. Doch Mary-Jane machte eine Ausnahme. Dort lag dieser bedauernswerte Kerl. Er trug einen Bart und hatte schulterlange, ungepflegte Haare.

»Schätzen Sie mal, wie alt dieser Mann ist«, fragte die Ärztin.

»Zweiunddreißig. Vielleicht fünfunddreißig«, flüsterte Simon.

Das Lächeln von Mary-Jane war bitter. Und ihre Antwort auch.

»Er ist vor einem Monat einundzwanzig Jahre alt geworden.«

»Sind sie wirklich sicher«, schnaufte Simon entgeistert. »Sicher. Todsicher sogar«, war die lakonische Antwort. Plötzlich bewegte sich die rechte Hand des bärtigen Mannes. Sie tastete in der Luft, also suche sie dort etwas.

Zwei Stimmen in Simon meldeten sich gleichzeitig zu Wort. Die eine sagte sanft:

»Siehst du nicht? Er will dir die Hand geben.«

Die andere Stimme schrie:

»Sei nicht so blöd. Er lässt sie nicht mehr los. Das hast du doch schon erlebt.«

Der Deutsch-Amerikaner entschied sich trotzdem für die erste Stimme. Er gab dem Bärtigen seine Hand. Es war die Hand eines Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift. Doch diese Hand griff dieses Mal nicht mehr wie ein Schraubstock zu. Allerdings ließ sie keinen Zweifel daran, die Hand seines Retters nicht mehr loslassen zu wollen. Und der Anflug eines Lächelns huschte über das leicht runzelige Gesicht des Einundzwanzigjährigen.

Simon blickte hilfesuchend zur Ärztin, die auf der anderen Seite des Bettes stand. Er blickte in wasserblaue Augen, in denen sich Tränen bildeten, die langsam über ihre Wangen zu kullern begannen. Abrupt drehte sie sich um, und verließ rasch das Krankenzimmer.

Als der Hüne auch nach zwei Stunden den Griff nicht lockeren wollte, und Simon zur Toilette musste, robbte er sich näher an das Ohr des Bärtigen.

»Hör‘ gut zu mein Freund. Sobald du wieder sprechen kannst, darfst du mich Simon nennen. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder du vertraust mir – und lässt mich zur Toilette gehen. Ich kann ja schlecht auf dein Bett pinkeln. Dann verspreche ich, dass ich wiederkommen und mich um dich kümmern werde. Oder du vertraust mir nicht – und bekommst wieder eine Spritze. Danach haue ich dann still und heimlich ab. Und du siehst mich nie wieder. Haben wir uns verstanden?«

Gabe öffnete kurz die Augen. Schlagartig lockerte sich der Schraubstock.

»Na. Hat er Sie wieder losgelassen?«, fragte die Ärztin, als sie sich auf dem Gang begegneten.

»Ich soll Sie übrigens von Madeline grüßen. In ihr haben Sie eine innige Verehrerin. Wie kamen Sie eigentlich mit Richard klar?«

»Bestens. Ab und zu sind wir zusammen angeln gegangen.«

Die Ärztin zuckte mit den Schultern.

»Wahnsinn. Die Welt ist bunt … aber irgendwie auch schön.«

Sie machte eine kurze Pause, um mit ernster Miene fortzufahren:

»Sie geben mir ihre Visitenkarte. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie täglich anrufe, wie es dem Patienten geht.«

»Ich fürchte, dass wir jetzt ein kleines Problem bekommen«, sagte Simon, während er sich bei Mary-Jane unterhakte.

»Er hat mich nur auf die Toilette gehen lassen, nachdem ich versprochen habe, mich um ihn zu kümmern. Und da beginnt wahrscheinlich unser gemeinsames Problem. Ich pflege grundsätzlich meine Versprechen zu halten.«

Die Ärztin versuchte, sich zu befreien, und war über Simons Reaktionsvermögen erstaunt.

»Irgendwie ist er süß«, dachte sie.

»Ist es möglich, dass er etwas mit Madeline gehabt hat?

Richard war ja oft genug und lange unterwegs gewesen. Aber viel wichtiger ist jetzt: Wie bekomme ich diesen Mann wieder los?«

»Wie um alles in der Welt darf ich das jetzt verstehen?«, sagte sie deshalb in einem barschen Ton.

Der versierte Geschäftsmann, er hatte unzählige Seminare für angewandte Psychologie hinter sich, erkannte sehr wohl, dass ihre Entrüstung nur gespielt war. Ganz bestimmt wusste sie die Sachlage sehr genau einzuschätzen.

»Es gibt viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die man anderen gegenüber nicht mit wenigen Worten erklären kann. Mein Leben wäre ohne die Libbys mit Sicherheit anders verlaufen. Dieser Familie und natürlich auch Mr. Krug bin ich zu großem Dank verpflichtet. Vielleicht will ich meine Dankbarkeit dieser Welt zurückgeben, indem ich versuche, dass dieser Bursche da drinnen wieder auf die Beine kommt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, geben Sie diesem Wrack doch noch nicht einmal zehn Prozent, dass er älter als fünfundzwanzig Jahre wird. Oder?«

»Muss ich darauf antworten?«

»Nein. Aber ich verspreche Ihnen, dass dieser stattliche Mann älter als fünfzig Jahre wird. Sie müssten doch daran interessiert sein, dass wir gemeinsam alle Chancen ausschöpfen, um das Leben dieses Menschen zu retten. Auch ein Junkie ist ein Mensch. Also: Ich habe mir vor ein paar Minuten geschworen, diesem Mann zu helfen.«

»Sie stellen sich das wahrscheinlich einfacher vor, als es in Wirklichkeit sein wird«, sagte die Ärztin mit sanfter und sorgenvoller Stimme.

»Was dieser Gabe braucht ist Zuwendung, Vertrauen, Härte und Perspektiven – vielleicht sogar Freundschaft.«

»Wenn Sie mir versprechen, ihm das alles geben zu wollen, werde ich meinen Beitrag dazu leisten. Gerne sogar.«

Nachdem Simon der Ärztin einen zarten Kuss auf die Wange gedrückt hatte, sagte er mit einer fast geschäftsmäßig klingenden Stimme:

»Gut. Dann kommen wir gleich zum Praktischen. Ab wann kann ich mit dem Burschen da drin vernünftig sprechen? Ab wann kann ich ihn auf meine Ranch fliegen lassen? Und: Können Sie sich vierzehn Tage Urlaub nehmen? Sind Sie über die Weihnachtsfeiertage überhaupt privat abkömmlich? Das wäre eine schöne und auch lohnende Aufgabe für Sie. Das verspreche ich Ihnen.«

Mary-Jane riss zunächst die Augen entsetzt auf. Danach begann sie kopfschüttelnd zu lachen.

»Eines steht fest: An Minderwertigkeitskomplexen leiden Sie weiß Gott nicht.«

Die Ärztin glaubte, es verantworten zu können, Gabe auf ein Zweibett-Zimmer für Privatpatienten zu verlegen. Simon bekam einen Schlafanzug, ein Abendessen sowie Zahnbürste und Zahnpasta auf das gleiche Zimmer gebracht. In den frühen Morgenstunden würde sie dem Patienten eine Spritze geben, sodass dieser im Laufe des Vormittags ansprechbar war. Einen Hubschrauber konnte sie erst für den Tag darauf organisieren. Der Blizzard hatte ganze Arbeit geleistet. Stündlich wurden weitere zum Teil Schwerverletzte eingeliefert. Selbst über die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage war Mary-Jane unabkömmlich. Allerdings gelang es ihr, aus der psychiatrischen Abteilung eine ältere Schwester zu gewinnen. Für gutes Geld war diese bereit, die kommenden vierzehn Tage auf der Ranch zu bleiben. Sie hatte langjährige Erfahrungen mit Drogenabhängigen.

Marvin und Claire, die guten Seelen der Ranch, trafen inzwischen alle Vorbereitungen.

Der bärtige und langmähnige Hüne registrierte offensichtlich, was um ihn herum vor sich ging – und dass Simon im gleichen Zimmer schlafen würde. Sein Gesichtsausdruck war entspannt und zufrieden.

Am darauffolgenden Vormittag, als die Spritze der Ärztin langsam zu wirken begann, beäugte der Bärtige jede Bewegung seines Zimmernachbarn. Dieser hatte sich vorgenommen, den Rauschgiftsüchtigen vorerst keines Blickes zu würdigen. Das war Teil seiner Taktik. Er hatte in aller Ruhe gefrühstückt, sich angezogen und einige Telefonate geführt. Erst gegen 11:00 Uhr setzte er sich auf das Bett des Rauschgiftsüchtigen.

»Hallo Gabe. Ich bin Simon«, begann er mit warmer Stimme.

Sein fester Blick verfolgte die Augenbewegungen des Hünen.

Simon hatte sich einen Rasierspiegel bringen lassen, den er nun dem leicht eingeschüchterten Junkie vor das Gesicht hielt.

»Schau dich an Gabe. Ich Arschloch habe dich gestern vierzehn Jahre älter eingeschätzt. Wie alt schätzt du dich selbst in diesem Spiegel? Los! Schau dich genau an! So sieht ein einundzwanzigjähriger Junkie aus. Ist das nicht Wahnsinn?«

Der Langhaarige blickte zunächst für den Bruchteil einer Sekunde in den Spiegel.

Doch später, als Simon eine bewusst lange Pause einlegte, sah er sich dann doch etwas genauer an – und verzog dabei verächtlich die Mundwinkel.

»Scheiße Gabe. Willst du wirklich schon sterben? Mit einundzwanzig Jahren?«, brummte Simon ärgerlich.

Der Angesprochene fasste sich einige Male nervös an die Nase.

»Ich hatte auch eine beschissene Kindheit und eine grauenhafte Jugend«, fuhr Simon fort.

»Und trotzdem habe ich es zu etwas gebracht.«

Er legte eine Kunstpause ein.

»Du gehörst zu den ganz wenigen Menschen in meinem Leben, denen ich meine Freundschaft anbiete. Willst du mein Freund werden … Gabe?«

Es brauchte einige Zeit, bis der Rauschgiftsüchtige Simons letzte Sätze verarbeitet hatte. Seine graugrünen Augen flackerten und tasteten Zentimeter für Zentimeter das Gesicht des Mannes ab, der auf der Bettkante saß. In diesem Moment schien er nicht zu wissen, wie er auf diese Worte reagieren sollte.

Deshalb durchschnitt Simon die Stille.

»Ganz bestimmt wolltest du es auch zu etwas bringen. Irgendeine Scheiße ist dann wohl dazwischengekommen. Ein Mann ist nur dann ein Mann, wenn er immer wieder aufsteht - und weiterkämpft. Ein Kerl, der an der Nadel hängt … ist kein Mann. Auf Schwächlingen trampelt man herum. Das war immer so. Und das wird immer so sein. Ich weiß, wovon ich spreche.«

Gabe senkte verschämt den Blick.

»Als dein Freund würde ich dafür sorgen, dass du wieder gesund wirst. Das wird mit Sicherheit nicht leicht werden. Die Ärztin hat mir angeraten, diesen Blödsinn zu lassen. Es wird verdammt schwer - für uns beide. Ich verspreche dir, dass du als mein Freund wieder aufrecht gehen kannst, und dass du wieder stolz auf dich sein darfst. Und als mein Freund wirst du erfolgreich werden … vielleicht sogar wohlhabend.«

Und erneut entstand Stille im Raum.

»Lass dir Zeit mit deiner Antwort. Davon hängt vielleicht dein Leben ab. Auf alle Fälle deine Zukunft.«

Danach schwieg Simon eisern. Jetzt war der Bärtige am Zug. Er musste etwas tun … etwas sagen. Diese Stille im Raum war erdrückend. Man konnte sie fast schneiden. Minuten waren mitunter eine ganze Ewigkeit. Simon ließ diesem Burschen Zeit – und sich auch.

»Danke Simon«, sagte eine Stimme.

Sie erinnerte an ein Reibeisen oder an einen heiseren Raben im herbstlichen Nebel. Jetzt räusperte sich der kranke Hüne.

»Ich wäre glücklich gewesen, dich vor einem halben Jahr getroffen zu haben. Aber heute? Heute würde ich mir wünschen, deine Hand zu halten, nachdem ich mir den goldenen Schuss gesetzt habe. Das wäre schön. Das wünsche ich mir in diesem Augenblick.«

Die Stimme des bärtigen Rauschgiftsüchtigen war jetzt dunkel mit einem angenehmen sonoren Touch. Für eine Sekunde war Simon neidisch. Was hätte er darum gegeben, eine solche männliche Stimme zu haben.

»Bei deiner Statur und deiner Stimme müssen die Weiber in deiner Jugend doch fast ausgeflippt sein. War doch so. Oder?«, sagte er deshalb mit einem Lächeln.

»Weiß nicht. Irgendwas hab‘ ich falsch gemacht. Und danach winkte der Teufel … kam das Loch.«

»Na das ist doch schon was. Ich kenne solche Teufel. Hey, ich hab‘ da eine Idee. Du lockst diese dunklen Gestalten wieder an. Dann schneiden wir ihnen gemeinsam die Schwänze ab … und braten sie über einem offenen Feuer. Das wird ein Fest.«

Simon rieb sich mit einem breiten Grinsen die Hände.

Jetzt begann der Hüne zu lachen.

»Du bist ein ganz schön verrückter Hund. Dir traue ich so etwas sogar zu«, sagte die sonore Stimme.

»Daraus lässt sich sogar ein toller Song machen. Der würde abgehen wie die Post.«

»Und du mit deiner tollen Stimme singst den Song. So schnell kann man berühmt werden. Vielleicht wirst du sogar Millionär. Und ich manage dich. Das kann ich gut, verdammt gut sogar.«

Simon machte eine kurze Pause, um anschließend mit gut gespielter Begeisterung fortzufahren:

»Aber es gibt noch viele weitere Möglichkeiten und Chancen. Du musst nur aufstehen – und kämpfen. Und ich helfe dir dabei. Nein … noch besser. Wir machen das zusammen. Wir sind ein schlagkräftiges Team. Notfalls habe ich die Ideen … und du die Fäuste. Was sagst du dazu?«

Gabe streckte plötzlich seine rechte Hand lachend nach vorn.

»Abgemacht. Lass‘ uns Freunde werden.«

Simon hob seine rechte Hand.

»Stopp. Langsam. Zuerst passt du auf, dass du nicht wieder meine Hand zerquetscht.« Er lachte bei diesem Satz, um mit ernster Miene fortzufahren:

»Und du schwörst auf unsere Freundschaft, dass du kämpfen wirst … kämpfen wie ein Löwe. Schwörst du das?«

Gabe hob den Mittel- und Zeigefinger seiner rechten

Hand. »Ich schwöre … auf unsere Freundschaft.«

Danach gaben sich die Männer die Hand. Über Gabes Wangen rannen einige Tränen.

Und er lächelte dabei.

Der große Hubschrauber, Simon hatte eine sehr großzügige Spende versprochen, setzte Simon, Gabe und die korpulente, ältere Krankenschwester mit ihren Utensilien auf der Ranch ab. Marvin hatte mit dem Schneeräumer einen großzügigen Landeplatz geschaffen und einen breiten Weg zum Eingang der Ranch. Die Sonne schien auf die hochverschneite traumhafte Winterlandschaft. Schwester Cäcilia Krosnov und Gabe Graves waren begeistert. Der Pilot, dem Simon vor dem Abflug einen größeren Geldbetrag zugesteckt hatte, brummte ehrfurchtsvoll, dass er hier gerne Urlaub machen würde. Er bedauerte außerordentlich, dass er Simons Einladung, dies bereits heute in die Tat umzusetzen, nicht folgen konnte. Aber er übergab Simon seine Visitenkarte. Jederzeit dürfe dieser künftig seine Dienste in Anspruch nehmen.

Schwester Cäcilia und Clair, die sich als heimliche Chefin der Ranch verstand, machten auf die Bewohner der Ranch den Eindruck, als seien sie Zwillingsschwestern. Dieses Zusammenspiel wurde von Tag zu Tag wichtiger. Denn mit der Vorweihnachtszeit rollte die Hölle heran; für alle auf der Ranch.

Der Körper von Gabe forderte Nachschub. Er gierte nach Heroin. Bei der Einlieferung ins Krankenhaus war er kurz davor gewesen, an einem Atemstillstand zu sterben. Das war nicht ungewöhnlich bei zu hohen Dosen Heroin. Deshalb sah sich Dr. Krug gezwungen, dem Körper zumindest kleine Mengen Heroin zuzuführen.

Nun war die Wunde im Stammhirn wieder aufgerissen – und bereitete Gabe riesige Schmerzen; unerträgliche Gelenkschmerzen, heftiges Zittern sowie Herz- und Kreislaufprobleme. Er schwitzte. Er schrie. Er tobte und er krümmte sich.

Mit den Folgen eines starken Rauschgiftkonsums hatte sich Simon noch nie auseinandergesetzt.

»Frau Dr. Krug lag da wohl nicht falsch mit ihrer Einschätzung«, stöhnte die korpulente Krankenschwester und atmete dabei tief durch.