Reese wedelte mit einem Blatt Papier herum, als ich wieder in die Redaktion kam.
»Wollte schon jemanden nach dir schicken. Wir haben einen hübschen Mord. Unten in SoHo.«
Ich las die Polizeimeldung: Ein Mann war von einem Einbrecher erschossen worden, den er in seinem Apartment überrascht hatte. Es war zu einem Kampf gekommen, in dessen Verlauf der Einbrecher durch ein Küchenmesser schwer verletzt worden war. Er war jetzt im St. Vincent’s Hospital und lag offenbar im Sterben. Die Frau des Ermordeten hatte den ganzen Kampf mitbekommen.
»Tribeca«, sagte ich.
»Was?«
»North Moore und Hudson sind nicht in SoHo. Das ist Tribeca. Das Dreieck unterhalb der Canal Street.«
Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte Reese mein Haarspaltereien beiseite. »Jedenfalls downtown. Fahr runter und sieh dir die Sache mal an.«
»Wie willst du ohne mich dein Kreuzworträtsel lösen?«
»Ach, und Kate hat angerufen.«
Kate rief häufig zwischen elf und zwölf an, obwohl sie wusste, dass ich zu der Zeit meist beim Essen war. Sie erwartete nicht, dass ich zurückrief, da sie jetzt längst wieder schlief. Es war ihre Art, auf die Irrationalität unserer Beziehung anzuspielen.
Die Adresse war ein vornehmer Bau, ursprünglich wohl mal gewerblich genutzt, heute aber in Apartments aufgeteilt. Er lag gleich um die Ecke vom Revier des NYPD 1st Precinct.
»Weit habt Ihr’s ja nicht gehabt«, sagte ich und zeigte meinen Presseausweis einem Cop, der neben einem mitten auf der North Moore Street geparkten Streifenwagen stand, der gleichzeitig als Straßensperre diente. Andere Streifenwagen, die Zivilfahrzeuge der Detectives und die Wagen von Fotografen und Kamerateams der Fernsehsender parkten kreuz und quer und verliehen dem Ganzen den Anschein eines von einem gelangweilten Jungen im Stich gelassenen Kinderzimmers.
»Wer hat hier das Kommando?«, fragte ich.
»Milner«, antwortete der Cop, die beiden Silben deutlich voneinander trennend. »Bei so was kommen die Chefs immer hinter ihrem Schreibtisch hervorgekrochen. Nigger bringen jeden Tag andere Nigger um, aber es braucht schon einen Nigger, der einen Fernsehstar umbringt, bis die Chefs ihren Arsch in Bewegung setzen.«
Ich versuchte die Buchstaben auf dem Namensschildchen des Cops in ein aussprechbares Wort zu verwandeln, aber es waren einfach zu viele Konsonanten. »Was ist passiert?«
»Kennen Sie den Werbespot, wo dieser Typ mit ner Bootsladung Bier über so einen Teich rudert?«
»Ich seh kaum fern.«
Misstrauisch musterte er mich von oben bis unten. »Naja, der Typ kommt jedenfalls in ziemlich vielen Werbespots vor.«
»Und der Bursche, der ihn umgebracht hat, war also ein Schwarzer?«
»Vermutlich ein Junkie.«
Ich hätte die Story gern aus seiner Perspektive geschrieben. Für ihn war es ein Verbrechen gegen sein ganz persönliches Bier. Doch dann gesellte ich mich zu den anderen Reportern am Eingang des Gebäudes, um die eher unpersönliche Fassung des Detective zu hören.
Die Journalistenkollegen sahen kleidungsmäßig aus, als wären sie frisch aus ihrem freien Wochenende gerissen worden, Milner und seine Männer hingegen sahen aus wie Banker. Milner strich sein Haar zurück, versuchte der Bewegung den Anschein von Zufälligkeit zu verleihen, und drückte mit einem Finger gegen den Ellbogen eines Untergebenen, um ihn so aus dem Blickfeld der Fernsehkamera zu schieben.
Sorgfältig jede Kurzform vermeidend, führte Milner aus, dass Donald Yost, fünfunddreißig, und seine Frau Pamela, einunddreißig, nach der Rückkehr vom Kino Kenneth Briggs, dreiunddreißig, dabei überrascht hätten, wie er ihr Apartment »plünderte«. Briggs hatte sofort eine Pistole gezogen und Yost befohlen, ihm ein bisschen zur Hand zu gehen. Yost hatte daraufhin einen tragbaren Fernseher nach Briggs geworfen und war mit einem Messer auf ihn losgegangen, das er sich vom Tisch gegriffen hatte – denn bevor die Yosts an diesem Abend ausgegangen waren, hatten sie Wein und etwas Käse zu sich genommen und den Tisch anschließend nicht sofort abgeräumt. Yost erwischte Briggs an Hals und Brust, woraufhin Briggs ihm drei Kugeln in den Bauch jagte.
Milner erklärte weiter, dass kein Nachbar etwas gesehen oder gehört habe. Er deutete auf einen Transporter, den Briggs vermutlich gestohlen hatte, um seine Beute abzutransportieren, und lud uns zur Besichtigung des Apartments ein.
Es war so geräumig, dass jeder einen Vergleich anstellen musste – größer als eine Garage, eine Vier-Zimmer-Wohnung, ein Büro. In allen Fenstern feinblättrige Pflanzen, die an abgetrennte Mädchenköpfe erinnerten. Am Fußboden neben der Tür waren mit Kreide die Umrisse von Yosts Körper nachgezeichnet. Ein weiteres Gekritzel mitten im Raum markierte die Stelle, wo Briggs‘ Leiche gelegen hatte.
Einer der Detectives führte den Ablauf vor, den Milner bereits unten skizziert hatte, und die Fernsehleute filmten ihn dabei. Dann filmten sie sich gegenseitig und schließlich die Pflanzen und die Kreidestriche und die emsig in ihre Notizbücher kritzelnden Reporter.
Ich warf einen Blick auf die Bücher der Yosts. Zahlreiche Titel über Schauspielerei und Bühnentechnik, verschiedene aktuelle Bestseller, viele Taschenbücher und ein paar Folianten, die aussahen, als wären sie das Vermächtnis einer früheren Generation. Ich nahm ein Exemplar in die Hand: Kabluna von Gontran de Poncins. Auf dem inneren Deckblatt stand: »Für Don, alles Gute zum Geburtstag, Dad, 18. 5. 53.«
»Das hier sind alles Beweisstücke«, sagte ein Cop, dessen Namensschildchen ihn als Taliaferro auswies.
»Yost hat das Buch zum Geburtstag bekommen«, sagte ich. »Genau wie ich.«
Taliaferro sprach lautlos den Titel nach.
»Es geht um Eskimos.«
»Stellen Sie’s wieder zurück, okay?«
»Spricht sich Ihr Name Toliver aus?«
Er strahlte. »Kriegen nicht viele Leute richtig hin.«
»Eskimos haben drei Namen. Steht in dem Buch. Den Namen, den ihre Eltern ihnen geben, den Namen, den sie von ihren Freunden bekommen, und den Namen, den sie den Weißen gegenüber angeben.«
»Erzählen Sie keinen Scheiß.« Er ging auf einen TV-Trupp los, der das Mobiliar umarrangierte, um irgendwas besser ins Bild zu bekommen. Ich nahm ein Yale-Jahrbuch von 1962. Donald Yost hatte einen Bürstenschnitt, große Ohren und ein aggressives Lächeln. Unter dem Foto stand, er sei Mitglied der Leichtathletikmannschaft und des Theater-Clubs. Er wollte mal Bühnenautor werden.
»Was hab ich vorhin gesagt, Kumpel?«, erkundigte sich Taliaferro.
»Haben Sie Hintergrundmaterial über diese Leute?«
»Wir arbeiten dran.«
»Yost war in Yale.«
»Danke, Kojak.«
Milner las aus Briggs’ Akte vor. »Er war so oft im Knast, ich kann mir gar nicht vorstellen, wann er überhaupt mal Zeit hatte, sich verhaften zu lassen.« Das brachte ihm ein paar Lacher ein, und er konterte: »Zitiert mich bloß nicht, Jungs.«
Ich betrachtete verschiedene Fotos an den Wänden. Yost hatte sich die Haare lang genug wachsen lassen, um seine Ohren zu verdecken, aber das Lächeln hatte sein ursprüngliches Strahlen bewahrt. Da war ein Standbild aus dem Werbespot, an den sich der Cop unten erinnert hatte, dazu noch einige andere Aufnahmen aus Werbefilmen: Yost, der irgendein Päckchen hielt, wobei sein Lächeln die Freude widerspiegelte, die der jeweilige Inhalt bereiten würde.
Es gab auch andere Fotos – weniger kommerziell, weniger intensiv –, die Yost lesend am Strand zeigten, bei einem Spaziergang im Wald, auf einem Pferd, in einem Shakespeare-Kostüm im Gras liegend. Auf einem Bild lehnte er in einem Trikot mit Sweatshirt und Stulpen an der Spiegelwand eines Tanzstudios. Die Fotografin, eine Frau in Jeans und indischer Flatterbluse, war im Spiegel zu sehen, eine Nikon vor dem Gesicht, die Ellbogen seitlich abgewinkelt. Sie trug einen schwarzen Hut mit breiter Krempe.
Dann war da noch eins von der Fotografin. Diesmal trug sie einen helleren Hut mit einer Feder im Band. Sie hatte hohe Wangenknochen und volle, leicht skeptisch zusammengepresste Lippen. Ihre Augen schienen zu bezweifeln, ob ihr Fotograf wirklich wusste, was er tat. Ihre rechte Gesichtshälfte lag im Dunkeln – der Schatten des Hutes, dachte ich zuerst. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass diese Hälfte fast komplett von einem Muttermal bedeckt war.
Ich ging zu Milner, der mit zwei seiner Gehilfen konferierte.
»Inspektor?«
»Wer sind Sie und was wollen Sie?«
Ich zeigte ihm meinen Presseausweis.
»Wie geht’s dem alten Reese?«, fragte Milner. »Ich kannte den Knirps schon, als er noch in Brooklyn Schuppen aufbrach. Damals bin ich in Crown Heights Streife gegangen. Vor so ungefähr vierhundert Jahren.«
»Haben Sie Grund zu der Annahme, dass die Sache vielleicht anders abgelaufen sein könnte, als es den Anschein hat?«
Milner verdrehte die Augen. »Wenn ich bloß einen Dollar für jeden Reporter bekäme, der sich für einen Bullen hält …«
»Ich hab mich nur gefragt, ob Einbrecher normalerweise Pistolen dabei haben.«
»Unser Mann hier hatte jedenfalls eine.«
»Wie ist Briggs ins Haus gekommen? Die Tür unten sieht ziemlich stabil aus.«
Er verzog das Gesicht. »Vielleicht hat er sie ja genau deswegen nicht benutzt. Wir vermuten, dass er über eines der Lagerhäuser aufs Dach gelangt ist. Die haben vierundzwanzig Stunden geöffnet. Von dort oben ist er dann über die Feuerleiter runter. Das Fenster stand offen.«
»Ich schätze, Briggs hat noch keinen Piep von sich gegeben, oder?«, fragte ich.
»So wie’s aussieht, wird er das auch nicht mehr.«
»Also beruht alles, was Sie uns erzählt haben, auf Mrs. Yosts Version der Ereignisse?«
Milners Lider flatterten. »Das ist richtig.«
»In welcher Verfassung befindet sie sich?«
»Sie hat mitangesehen, wie ihr Alter niedergeschossen wurde – in was für einer Verfassung wird sie da wohl sein?«
Ich blätterte in meinen Notizen. »In welchem Film –«
»Ja, war wirklich nett, mit Ihnen zu plaudern, Ives«, unterbrach Milner, drückte einen Handrücken gegen meinen Arm und schob sich an mir vorbei.
»– waren die zwei?«
»Und grüßen Sie Knirps Reese von mir.«
Ich richtete meine Neugier auf ein Streichholzbriefchen, das auf einem Tisch neben der Couch lag. Auf dem Deckel das Logo eines Restaurants in der Spring Street. Ich sah, dass Taliaferro mir den Rücken zukehrte und ließ das Briefchen in meiner Tasche verschwinden.