Die Frau mit dem Feuermal

Die Frau mit dem Feuermal

NYC Krimis #1 : Port Wine Stain

Jerome Oster

Übersetzt von Werner Waldhoff

spraybooks Verlag

Dies ist ein Roman. Namen, Personen, Orte und Ereignisse sind das Produkt schriftstellerischer Phantasie und frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Ereignissen ist rein zufällig.

Inhalt

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Teil II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Werbung

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil IV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Über den Autor

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Teil 1

Kapitel 1

Der Film war kurz und der Regen zu heftig, um noch lange herumzuschlendern. Deshalb tauchte ich eine halbe Stunde zu früh in der Redaktion auf. Ich setzte mich in die Cafeteria, trank eine Tasse von dem Gebräu, das aus dem Kaffeeautomaten kam, und las den New Yorker, bis meine Schicht anfing.

In der Lokalredaktion machte sich Hoffnung breit, dass für den Rest der Nacht nichts mehr passieren würde. Zwei feste Redakteure lieferten sich vor mehreren Zuschauern ein Schachduell, andere verfolgten im Fernseher ein Baseballspiel, das aus einer trockeneren Stadt übertragen wurde, wieder andere lasen irgendwas, ein paar Reporter hingen an den Telefonen, aber ihr breites Grinsen und ihre Gesten machten deutlich, dass sie eher flirteten als arbeiteten.

Ich setzte mich an einen Schreibtisch und blätterte die erste Ausgabe durch; wie gewöhnlich las ich im Wesentlichen nur die Bildunterschriften.

»Lahme Nacht«, sagte ich.

Reese sah nicht von seinem Kreuzworträtsel auf. »Bei Regen trauen sich die schrägen Vögel nicht raus. Ich liebe den Regen.«

»Ist aber ganz nett draußen. Ich bin zu Fuß hergelaufen.«

»Echt? Vom Village?« Er zerdehnte das letzte Wort; wie die meisten besseren Zeitungsleute wohnte er außerhalb und bekam von Manhattan nur die Strecke zu sehen, die er jeden Tag zwischen U-Bahn-Station und Büro pendelte. Er hatte sich erfolgreich eingeredet, das Village sei ein perverser Sumpf.

»Von der Fifty-Seventh Street. Ich war im Kino.«

Nach dem Film erkundigte Reese sich nicht; er hielt an seiner falschen Annahme fest: Er glaubte, ich würde die meisten meiner Nachmittage im Museum of Modern Art verbringen und mir bulgarische Filme ohne Untertitel ansehen.

Im Fernseher fing ein Spieler den Ball; wirklich tolle Sache. Sie wiederholten die Szene dreimal, bis es nur noch wie Routine aussah. »Super, dass Baseball wieder im Kommen ist. Da fühle ich mich doch gleich wieder wie ein Junge.«

Reese schnaubte verächtlich. »Barfüßiger Junge mit grauen Strähnen.« Nach einer Weile sagte er: »Wer hat Ode an die Nachtigall geschrieben?« Er versuchte es so klingen zu lassen, als wüsste er es und wollte mir nur eine Chance geben, mein Wissen unter Beweis zu stellen.

»Shelly.«

»Fünf Buchstaben. Kluges Kerlchen.«

»Keats.«

Er malte die Buchstaben in die Luft. »Nee, passt nicht, Broadway-Waise … das muss Annie sein.«

»K-e-a-t-s.«

Er strahlte. »Ich hatte recht. Die Waise Annie.« Mit dem Kinn deutete er in eine andere Ecke des Raumes. »Wo wir grad dabei sind … hast du schon unseren Neuzugang gesehen? Sie heißt Ann Roth. Quinlan hat sie von Newsweek abgeworben.«

Ich entdeckte eine Frau mit kurzem, dichtem Blondschopf, die sich konzentriert über eine Schreibmaschine beugte. Zwischen einzelnen Attacken auf die Tasten fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare.

»Was schreibt sie denn mit solcher Begeisterung? Hast du ihr nicht gesagt, dass wir Nachtmenschen ausgesprochen wählerisch sind?«

»Es geht um eine Todesanzeige in der Times

»Unsere Leser lesen die Times nicht.«

»Nein, aber unser Boss.«

»Zum Teufel mit ihm.«

»Du hast gut reden, Charlie. Du kriegst ja seine Memos nicht.«

Ich ließ ihn in Ruhe. Sein mangelndes Vertrauen in sein eigenes Urteil, was in die Zeitung sollte, war unter Nachtredakteuren wie eine ansteckende Krankheit. In diesem Augenblick sorgte sich wahrscheinlich irgendwer bei der News, dass er eine Story auf Seite sechsundzwanzig hatte, die wir auf Seite eins brachten, und jemand bei der Times versuchte eine Lücke auf der Titelseite zu finden, wo er eine Story einschieben konnte, die im zweiten Teil der ersten Ausgabe gestanden hatte, die aber der Herald auf Seite drei gebracht hatte. Beim Herald dachte jemand, dass die Times schon recht gehabt hatte, und überlegte, ob er die Story nicht auf eine unbedeutendere Position weiter hinten abschieben sollte. In manchen Nächten sprang eine Story so durch alle Ausgaben der Zeitungen, weil die jeweiligen Chefredakteure einer nach dem anderen auf das reagierten, was seine Kollegen getan hatten. Eigentlich sollte dieser Jongleurakt dem Leser zugutekommen, aber da nur diejenigen vier Zeitungen lesen, die wissen wollen, ob auch ja ihre Namen drinstehen, bestand die eigentliche Leserschaft aus Quinlan und den anderen leitenden Redakteuren, die auf ihren langen Fahrten aus den Vororten genug Zeit hatten, die Konkurrenzblätter durchzusehen, und am meisten genossen sie die Fahrt, wenn alle Zeitungen genau gleich ausschauten.

Ich zog an einen anderen Schreibtisch um, legte die Füße hoch und suchte im New Yorker die Stelle, wo ich aufgehört hatte zu lesen. Ich las nicht gleich weiter, sondern beobachtete noch ein bisschen Ann Roth, die jetzt ihre Story zu Reese brachte.

Sie trug die diesjährige Uniform der jungen Journalistin: kurze Tweedjacke über Seidenbluse, einen Rock, der knapp bis ans Knie reichte, und dazu hohe Lederstiefel. Die Uniform hatte sich während meiner zwanzig Jahre bei der Zeitung häufig gewandelt – die derzeit aktuelle hatte Designer-Jeans und T-Shirts mit irgendwelchen kryptischen Aufdrucken abgelöst –, aber nicht geändert hatte sich, dass eine Frau einen Raum nicht durchqueren konnte, ohne vom größten Teil der männlichen Belegschaft visuell abgetastet zu werden. Obwohl sie die gewandelte Einstellung der Welt den Frauen gegenüber zu dokumentieren hatten, blieben die Tageszeitungen doch Männerclubs. Es gab weibliche Hilfstruppen für Mode und Ernährung, und einige Frauen ließ man auch in die wichtigen Ressorts vordringen – irgendwer musste ja schließlich über die niedlichen kleinen Babys im Zoo schreiben –, doch die wenigen Frauen, die annähernd gleichberechtigt behandelt wurden, mussten willens und in der Lage sein, obszön daherzureden und andere unter den Tisch zu saufen.

»Niedlich«, meinte Bergman und versperrte mir die Sicht. Er war auf dem Weg, seine Theaterkritik abzugeben. »Soweit ich weiß, hat die halbe Tagschicht sie schon zum Lunch ausgeführt. Du wirst dich beeilen müssen.«

»Ich fang nie was mit Kolleginnen an.«

»Oh, Mr. Redlich.«

Nein. Ich hatte bloß noch nie einen Journalisten kennengelernt – Mann oder Frau –, der nicht entweder sehr dämlich, sehr idealistisch oder sehr naiv war. Mindestens eine dieser Eigenschaften ist absolut notwendig, um über sich ständig wiederholende Ereignisse so schreiben zu können, als würden sie zum allerersten Mal passieren, und dabei auch noch zu glauben, man könne irgendwas bewirken. »Wie war das Stück?«

»Eine Totgeburt.« Bergman reichte mir eine Kopie seiner Besprechung.

»Fünf Spalten für eine Totgeburt?«

»Manche Sachen sind so schlimm, dass sie einer ausführlichen Erörterung bedürfen.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Wenigstens war’s kurz.«

»Ich bin nicht bis zum Schluss geblieben.«

»Ist das nicht unethisch? Und was, wenn’s besser wurde?«

»Wird jemals irgendwas besser?«, philosophierte Bergman. »Wurde der Krieg besser, nachdem du nicht mehr dabei warst?«

»In gewisser Weise schon. Er ging irgendwann zu Ende.«

»Ich bin sicher, das Stück ging auch zu Ende.«

Ich hatte drei Jahre lang in Saigon gearbeitet, kam dann auf, wie ich glaubte, Heimaturlaub und fand mich in der Opferrolle wieder. Quinlan führte mich in sein Privatbüro, setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, als wollte er vorführen, dass der sich drehen ließ, und verkündete, dass sich die Leser nicht mehr für die andere Seite der Welt interessierten. Ihr Interesse gelte vielmehr der Stadt und ihren Menschen. Als ich meinte, der Krieg würde ohnehin bald vorbei sein, erwiderte er: »Genau.« Als dann das Ende kam, und ich rüber wollte, um über die Folgen zu berichten, sagte er nur: »Es ist vorbei.«

Ein Jahr lang arbeitete ich in meinem Privatbüro, schrieb über die Stadt und ihre Menschen, und die öde Langeweile wuchs und wuchs. In Saigon – New York einen halben Tag voraus – fühlte ich mich, als würde ich ganz vorn im Bug der Welt sitzen und als erster jeden Kurs- und Tempowechsel zu spüren bekommen. Zurück in New York hatte ich das Gefühl, ich hätte schon morgens beim Aufstehen alles verpasst. Ich bat Quinlan, mich zum Nachtdienst einzuteilen. Das verschaffte mir eine private Zeitzone, ich hatte die Tage frei, konnte auf Kosten der Firma lesen und gelegentlich in der letzten Ausgabe irgendein Ereignis unterbringen, das zumindest ein bisschen aus dem Rahmen fiel.

Ich gab Bergman seine Rezension zurück. »Du hast niemanden zitiert – nicht mal Shaw oder Aristoteles.«

Er errötete. Er reagierte sehr empfindlich auf meine Kritik, was seine seltenen literarischen Zitate anbelangte. »Ich spreche oft genug mit eigenen Worten.«

»Ist auch besser so«, sagte ich. »Wenn du bei einem Off-Broadway Stück T. S. Eliot erwähnst – so wie du’s letzte Nacht getan hast –, ist das genauso, als würde ich in einer Story über einen Großbrand in der Bronx den guten Dante zitieren.«

Er runzelte die Stirn, also buchstabierte ich es. »I-n-f-e-r-n-o.«

Er wechselte das Thema. »Susan hat in letzter Zeit öfters nach dir gefragt. Warum kommst du nicht Donnerstagabend zu uns zum Essen, und anschließend sehen wir uns zusammen ein Stück an? Da hast du doch frei, oder?«

»Ein ganzes Stück?«

»Das liegt allein bei dir. Ich weiß, wann ich genug gesehen hab.«

»Du hast Rokoko falsch geschrieben«, sagte ich. »Hinten -k-o-k-o.«

Kapitel 2

Um elf fuhr ich mit dem Lift nach unten, nahm den Hinterausgang und lief durch den Regen zu Eddie’s hinüber. Die Straße dampfte von den süßlichen Auspuffgasen der Lastwagen, die darauf warteten, mit der zweiten Ausgabe loszufahren. Die Fahrer lungerten in den Ladebuchten herum und quatschten über Geld und Frauen, die nicht ihre Ehefrauen waren.

Ich bestellte mir ein Schinkensandwich und ein Bier, setzte mich an einen Tisch direkt am Fenster und beobachtete den Verkehr und – als Spiegelung im Fenster, leicht verzerrt und fast unverständlich – das Baseballspiel im Fernsehen. Eine Traube Presseleute mit Hüten aus gefalteten Zeitungen drängte sich an der Seitentür, hofften auf eine spielentscheidende Wende, bevor sie wieder zurück zur Arbeit mussten. Ein hochbezahlter Spieler verfehlte den Ball, das Spiel war zu Ende, und sie marschierten davon – erfüllt mit Verbitterung, weil er mit ein paar Schlägen mehr verdient hatte, als sie in einer ganzen Woche.

Zwei Redakteure kamen herein, gingen zur Theke und nickten mir kurz zu, bevor sie sich auf den Hockern niederließen. Ich nickte zurück, aber das war ihnen wohl nicht genug, denn ich hörte einen nölen: »Eingebildeter Snob«. In der Redaktion glaubten eine Menge Leute, ich würde mich den meisten überlegen fühlen, weil ich Kriegskorrespondent gewesen war. Dabei hatte ich im Grunde nie etwas anderes als komplette Aussichtslosigkeit empfunden bei dem Versuch, dieser Erfahrung einen Sinn zu geben.

Ann Roth verschüttete Kaffee auf ihre Untertasse, als sie mir gegenüber Platz nahm. Achselzuckend spielte sie über ihre Ungeschicklichkeit hinweg, als wäre das eine altbekannte Geschichte. »Stör ich Sie?«

Sie hatte grüne Augen. »Nein, ganz und gar nicht.«

»Ich heiße Ann Roth. Ich bin neu in der Stadt.« Ihr Cowboy-Akzent verriet, dass sie sich unwohl fühlte.

»Charles Ives.«

»Ich weiß. Hab Phil schon gefragt, ob Sie irgendwie was mit dem Komponisten zu tun haben. Er wusste es nicht.«

»Phil?«

Sie zwinkerte ungläubig. »Phil Quinlan? Unser Chefredakteur?«

»Ah. Ist lange her, seit ich das letzte Mal seinen Vornamen gehört habe. Die Nachtmannschaft hat andere Namen für ihn.«

Sie starrte in ihre Kaffeetasse. »Oh. Wusste ich nicht.« Als sie sich mit den Ellbogen auf den Tisch stützte, wurde offensichtlich, dass ihr BH die gleiche perlgraue Farbe hatte wie ihre Bluse. »Na gut. Und? Wie war’s so in Vietnam?«

Darauf fiel mir absolut keine Antwort ein, also machte ich eine Geste, die alles und nichts bedeuten konnte.

»Ich möchte Auslandskorrespondentin werden«, sagte sie. »In China. Ich lerne Chinesisch an der New School.«

»Immerhin schon mal ein Anfang«, sagte ich. »Fehlt nur noch ein Visum und ein Job bei einer Zeitung, die sich für Nachrichten aus China interessiert.«

Sie fuhr sich durchs Haar und schien leicht gekränkt.

Ich erinnerte mich an meine eigene Naivität, als ich noch glaubte, mich mittels einiger Standardredewendungen und der Lektüre von Kolumnen des berühmten Kriegsberichterstatters Bernard Fall ausreichend auf Vietnam vorbereiten zu können. »Ich wollte damit nur sagen, dass diese Zeitung sich nicht sonderlich fürs Ausland interessiert.«

»Muss ganz schön hart für Sie sein«, sagte sie, »wo Sie doch so ein großer Star waren.«

Ich fragte mich, ob wir uns in einer anderen Inkarnation schon mal begegnet waren. Wir schienen das allgemeine Geschwafel bereits hinter uns zu haben und bei den Dingen angelangt zu sein, die richtig weh taten. »Wir sind alle immer nur so gut wie unsere letzte Story.«

Sie schaute sich um und merkte, dass die Säufer am Tresen sich umgedreht hatten, um sie zu bewundern. Sie sah mich mit einem Schuss Verzweiflung in den Augen an, als hätte ich sie hierhergelockt.

Leider war ich nicht der Richtige, um sie zu beruhigen. Schöne Frauen sind mir irgendwie unangenehm. Ihre Schönheit verdeckt ihre wahre Natur, und selbst wenn diese wahre Natur verdorben ist, bleibt immer noch das Gesicht.

Sie spreizte ihre Hand auf dem Tisch und schob sie auf mich zu, als wollte sie mir zögernd ein Geschenk anbieten. »Tut mir leid, dass ich das gesagt hab. Ich bin nervös, das ist alles. Ich wollte sie kennenlernen und wusste nicht, wie. Für gewöhnlich marschier ich nicht einfach so auf Männer los.«

Ich versuchte mir den Anschein zu geben, als wäre ich’s gewohnt, dass Frauen auf mich losmarschieren.

»Vielleicht gehen wir mal zusammen essen?«, schlug sie vor.

»Wie wär’s mit Chinesisch, da könnten Sie dann gleich ein bisschen üben.«

Sie fuhr sich durchs Haar. »Das ist nicht komisch.«

»Sollte es auch nicht sein.«

»Sie würden es komisch finden, wenn Sie wüssten, wie mein Chinesisch ist.«

Ich bemühte mich um einen mitfühlenden Blick. Wenn es in dem Tempo weiterging, würden wir verheiratet und geschieden und vielleicht ein zweites Mal verheiratet sein, bevor die Nacht vorbei war. Ich versuchte, irgendein neutrales Gesprächsthema zu finden und flüchtete mich zum Wetter. Sie konterte mit Spekulationen, was man ihr in den Kaffee getan haben könnte, damit er so scheußlich schmeckte. Die Atmosphäre entkrampfte sich ein wenig.

»Ich muss zurück«, sagte ich. »Dinner irgendwann nächste Woche?«

»Gern.«

»Wir reden noch mal, okay?«

»Gut.«

»War nett, Sie kennenzulernen.«

»War nett, Sie kennenzulernen.«

Ich ging zum Haupteingang des Verlagsgebäudes und nahm den Zentrallift. Das Rauchen verboten-Schild weckte in mir den Wunsch nach einer Zigarette.

Ich fragte mich, ob womöglich meine Bemerkung zu Bergman, nie etwas mit Kolleginnen anzufangen, der Grund dafür war, dass mir Ann Roth so ausgesprochen begehrenswert erschien. Lieber hätte ich sie weiter aus der Ferne bewundert, aber wo ich ihr jetzt schon mal ein Stückchen nähergekommen war, drängte es mich geradezu, ihr noch näher zu kommen.

Kapitel 3

Reese wedelte mit einem Blatt Papier herum, als ich wieder in die Redaktion kam.

»Wollte schon jemanden nach dir schicken. Wir haben einen hübschen Mord. Unten in SoHo.«

Ich las die Polizeimeldung: Ein Mann war von einem Einbrecher erschossen worden, den er in seinem Apartment überrascht hatte. Es war zu einem Kampf gekommen, in dessen Verlauf der Einbrecher durch ein Küchenmesser schwer verletzt worden war. Er war jetzt im St. Vincent’s Hospital und lag offenbar im Sterben. Die Frau des Ermordeten hatte den ganzen Kampf mitbekommen.

»Tribeca«, sagte ich.

»Was?«

»North Moore und Hudson sind nicht in SoHo. Das ist Tribeca. Das Dreieck unterhalb der Canal Street.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte Reese mein Haarspaltereien beiseite. »Jedenfalls downtown. Fahr runter und sieh dir die Sache mal an.«

»Wie willst du ohne mich dein Kreuzworträtsel lösen?«

»Ach, und Kate hat angerufen.«

Kate rief häufig zwischen elf und zwölf an, obwohl sie wusste, dass ich zu der Zeit meist beim Essen war. Sie erwartete nicht, dass ich zurückrief, da sie jetzt längst wieder schlief. Es war ihre Art, auf die Irrationalität unserer Beziehung anzuspielen.

Die Adresse war ein vornehmer Bau, ursprünglich wohl mal gewerblich genutzt, heute aber in Apartments aufgeteilt. Er lag gleich um die Ecke vom Revier des NYPD 1st Precinct.

»Weit habt Ihr’s ja nicht gehabt«, sagte ich und zeigte meinen Presseausweis einem Cop, der neben einem mitten auf der North Moore Street geparkten Streifenwagen stand, der gleichzeitig als Straßensperre diente. Andere Streifenwagen, die Zivilfahrzeuge der Detectives und die Wagen von Fotografen und Kamerateams der Fernsehsender parkten kreuz und quer und verliehen dem Ganzen den Anschein eines von einem gelangweilten Jungen im Stich gelassenen Kinderzimmers.

»Wer hat hier das Kommando?«, fragte ich.

»Milner«, antwortete der Cop, die beiden Silben deutlich voneinander trennend. »Bei so was kommen die Chefs immer hinter ihrem Schreibtisch hervorgekrochen. Nigger bringen jeden Tag andere Nigger um, aber es braucht schon einen Nigger, der einen Fernsehstar umbringt, bis die Chefs ihren Arsch in Bewegung setzen.«

Ich versuchte die Buchstaben auf dem Namensschildchen des Cops in ein aussprechbares Wort zu verwandeln, aber es waren einfach zu viele Konsonanten. »Was ist passiert?«

»Kennen Sie den Werbespot, wo dieser Typ mit ner Bootsladung Bier über so einen Teich rudert?«

»Ich seh kaum fern.«

Misstrauisch musterte er mich von oben bis unten. »Naja, der Typ kommt jedenfalls in ziemlich vielen Werbespots vor.«

»Und der Bursche, der ihn umgebracht hat, war also ein Schwarzer?«

»Vermutlich ein Junkie.«

Ich hätte die Story gern aus seiner Perspektive geschrieben. Für ihn war es ein Verbrechen gegen sein ganz persönliches Bier. Doch dann gesellte ich mich zu den anderen Reportern am Eingang des Gebäudes, um die eher unpersönliche Fassung des Detective zu hören.

Die Journalistenkollegen sahen kleidungsmäßig aus, als wären sie frisch aus ihrem freien Wochenende gerissen worden, Milner und seine Männer hingegen sahen aus wie Banker. Milner strich sein Haar zurück, versuchte der Bewegung den Anschein von Zufälligkeit zu verleihen, und drückte mit einem Finger gegen den Ellbogen eines Untergebenen, um ihn so aus dem Blickfeld der Fernsehkamera zu schieben.

Sorgfältig jede Kurzform vermeidend, führte Milner aus, dass Donald Yost, fünfunddreißig, und seine Frau Pamela, einunddreißig, nach der Rückkehr vom Kino Kenneth Briggs, dreiunddreißig, dabei überrascht hätten, wie er ihr Apartment »plünderte«. Briggs hatte sofort eine Pistole gezogen und Yost befohlen, ihm ein bisschen zur Hand zu gehen. Yost hatte daraufhin einen tragbaren Fernseher nach Briggs geworfen und war mit einem Messer auf ihn losgegangen, das er sich vom Tisch gegriffen hatte – denn bevor die Yosts an diesem Abend ausgegangen waren, hatten sie Wein und etwas Käse zu sich genommen und den Tisch anschließend nicht sofort abgeräumt. Yost erwischte Briggs an Hals und Brust, woraufhin Briggs ihm drei Kugeln in den Bauch jagte.

Milner erklärte weiter, dass kein Nachbar etwas gesehen oder gehört habe. Er deutete auf einen Transporter, den Briggs vermutlich gestohlen hatte, um seine Beute abzutransportieren, und lud uns zur Besichtigung des Apartments ein.

Es war so geräumig, dass jeder einen Vergleich anstellen musste – größer als eine Garage, eine Vier-Zimmer-Wohnung, ein Büro. In allen Fenstern feinblättrige Pflanzen, die an abgetrennte Mädchenköpfe erinnerten. Am Fußboden neben der Tür waren mit Kreide die Umrisse von Yosts Körper nachgezeichnet. Ein weiteres Gekritzel mitten im Raum markierte die Stelle, wo Briggs‘ Leiche gelegen hatte.

Einer der Detectives führte den Ablauf vor, den Milner bereits unten skizziert hatte, und die Fernsehleute filmten ihn dabei. Dann filmten sie sich gegenseitig und schließlich die Pflanzen und die Kreidestriche und die emsig in ihre Notizbücher kritzelnden Reporter.

Ich warf einen Blick auf die Bücher der Yosts. Zahlreiche Titel über Schauspielerei und Bühnentechnik, verschiedene aktuelle Bestseller, viele Taschenbücher und ein paar Folianten, die aussahen, als wären sie das Vermächtnis einer früheren Generation. Ich nahm ein Exemplar in die Hand: Kabluna von Gontran de Poncins. Auf dem inneren Deckblatt stand: »Für Don, alles Gute zum Geburtstag, Dad, 18. 5. 53.«

»Das hier sind alles Beweisstücke«, sagte ein Cop, dessen Namensschildchen ihn als Taliaferro auswies.

»Yost hat das Buch zum Geburtstag bekommen«, sagte ich. »Genau wie ich.«

Taliaferro sprach lautlos den Titel nach.

»Es geht um Eskimos.«

»Stellen Sie’s wieder zurück, okay?«

»Spricht sich Ihr Name Toliver aus?«

Er strahlte. »Kriegen nicht viele Leute richtig hin.«

»Eskimos haben drei Namen. Steht in dem Buch. Den Namen, den ihre Eltern ihnen geben, den Namen, den sie von ihren Freunden bekommen, und den Namen, den sie den Weißen gegenüber angeben.«

»Erzählen Sie keinen Scheiß.« Er ging auf einen TV-Trupp los, der das Mobiliar umarrangierte, um irgendwas besser ins Bild zu bekommen. Ich nahm ein Yale-Jahrbuch von 1962. Donald Yost hatte einen Bürstenschnitt, große Ohren und ein aggressives Lächeln. Unter dem Foto stand, er sei Mitglied der Leichtathletikmannschaft und des Theater-Clubs. Er wollte mal Bühnenautor werden.

»Was hab ich vorhin gesagt, Kumpel?«, erkundigte sich Taliaferro.

»Haben Sie Hintergrundmaterial über diese Leute?«

»Wir arbeiten dran.«

»Yost war in Yale.«

»Danke, Kojak.«

Milner las aus Briggs’ Akte vor. »Er war so oft im Knast, ich kann mir gar nicht vorstellen, wann er überhaupt mal Zeit hatte, sich verhaften zu lassen.« Das brachte ihm ein paar Lacher ein, und er konterte: »Zitiert mich bloß nicht, Jungs.«

Ich betrachtete verschiedene Fotos an den Wänden. Yost hatte sich die Haare lang genug wachsen lassen, um seine Ohren zu verdecken, aber das Lächeln hatte sein ursprüngliches Strahlen bewahrt. Da war ein Standbild aus dem Werbespot, an den sich der Cop unten erinnert hatte, dazu noch einige andere Aufnahmen aus Werbefilmen: Yost, der irgendein Päckchen hielt, wobei sein Lächeln die Freude widerspiegelte, die der jeweilige Inhalt bereiten würde.

Es gab auch andere Fotos – weniger kommerziell, weniger intensiv –, die Yost lesend am Strand zeigten, bei einem Spaziergang im Wald, auf einem Pferd, in einem Shakespeare-Kostüm im Gras liegend. Auf einem Bild lehnte er in einem Trikot mit Sweatshirt und Stulpen an der Spiegelwand eines Tanzstudios. Die Fotografin, eine Frau in Jeans und indischer Flatterbluse, war im Spiegel zu sehen, eine Nikon vor dem Gesicht, die Ellbogen seitlich abgewinkelt. Sie trug einen schwarzen Hut mit breiter Krempe.

Dann war da noch eins von der Fotografin. Diesmal trug sie einen helleren Hut mit einer Feder im Band. Sie hatte hohe Wangenknochen und volle, leicht skeptisch zusammengepresste Lippen. Ihre Augen schienen zu bezweifeln, ob ihr Fotograf wirklich wusste, was er tat. Ihre rechte Gesichtshälfte lag im Dunkeln – der Schatten des Hutes, dachte ich zuerst. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass diese Hälfte fast komplett von einem Muttermal bedeckt war.

Ich ging zu Milner, der mit zwei seiner Gehilfen konferierte.

»Inspektor?«

»Wer sind Sie und was wollen Sie?«

Ich zeigte ihm meinen Presseausweis.

»Wie geht’s dem alten Reese?«, fragte Milner. »Ich kannte den Knirps schon, als er noch in Brooklyn Schuppen aufbrach. Damals bin ich in Crown Heights Streife gegangen. Vor so ungefähr vierhundert Jahren.«

»Haben Sie Grund zu der Annahme, dass die Sache vielleicht anders abgelaufen sein könnte, als es den Anschein hat?«

Milner verdrehte die Augen. »Wenn ich bloß einen Dollar für jeden Reporter bekäme, der sich für einen Bullen hält …«

»Ich hab mich nur gefragt, ob Einbrecher normalerweise Pistolen dabei haben.«

»Unser Mann hier hatte jedenfalls eine.«

»Wie ist Briggs ins Haus gekommen? Die Tür unten sieht ziemlich stabil aus.«

Er verzog das Gesicht. »Vielleicht hat er sie ja genau deswegen nicht benutzt. Wir vermuten, dass er über eines der Lagerhäuser aufs Dach gelangt ist. Die haben vierundzwanzig Stunden geöffnet. Von dort oben ist er dann über die Feuerleiter runter. Das Fenster stand offen.«

»Ich schätze, Briggs hat noch keinen Piep von sich gegeben, oder?«, fragte ich.

»So wie’s aussieht, wird er das auch nicht mehr.«

»Also beruht alles, was Sie uns erzählt haben, auf Mrs. Yosts Version der Ereignisse?«

Milners Lider flatterten. »Das ist richtig.«

»In welcher Verfassung befindet sie sich?«

»Sie hat mitangesehen, wie ihr Alter niedergeschossen wurde – in was für einer Verfassung wird sie da wohl sein?«

Ich blätterte in meinen Notizen. »In welchem Film –«

»Ja, war wirklich nett, mit Ihnen zu plaudern, Ives«, unterbrach Milner, drückte einen Handrücken gegen meinen Arm und schob sich an mir vorbei.

»– waren die zwei?«

»Und grüßen Sie Knirps Reese von mir.«

Ich richtete meine Neugier auf ein Streichholzbriefchen, das auf einem Tisch neben der Couch lag. Auf dem Deckel das Logo eines Restaurants in der Spring Street. Ich sah, dass Taliaferro mir den Rücken zukehrte und ließ das Briefchen in meiner Tasche verschwinden.

Kapitel 4

Es pilgerten so viele von uns ins Krankenhaus und standen dort im Weg herum, dass die Verwaltung eine weitere Pressekonferenz ansetzte. Ein Arzt skizzierte etwas und redete über Eintrittswinkel mit der Begeisterung eines Erfinders, der einen neuen Apparat beschreibt.

Nach einer Weile setzte ich mich ab und hielt nach einem Münztelefon Ausschau. Ich konnte keines finden, aber eine Krankenschwester ließ mich ein Telefon in einem leerstehenden Büro benutzen. Ich diktierte meine Story, Reese wünschte mir eine gute Nacht – ich vergaß ganz, ihn Knirps zu nennen – und dann trat ich hinaus in die Halle und geriet mitten hinein in den Ansturm der Reporter und Kameramänner auf Pamela Yost.

Sie trug einen schwarzen Hut mit heruntergezogener Krempe und einen Trenchcoat mit hochgestelltem Kragen; kurz, sie war genau das, was sich die Fotografen gewünscht hätten. Sie hatte sich untergehakt – bei einem Mann mit braunem Bart und einer Frau mit kurzem schwarzen Haar, so glatt, dass es feucht wirkte. Der Mann sah aus, als wollte er davonstürmen. Ich ergriff seinen Arm und zog ihn zu der Tür des Büros, in dem ich eben telefoniert hatte. Wir vier kamen mit einer Leichtigkeit durch, die sich auch durch langes Training nicht hätte erreichen lassen. Ich schloss die Tür hinter uns ab und baute mich, wie im Film, mit dem Rücken davor auf. Draußen hörte ich lautstark gebrüllte Kritik an meinem Berufsethos.

»Vielen Dank«, sagte der Mann.

Pamela Yost linste lediglich kurz unter ihrer Hutkrempe hervor. Sie sah sofort weg, als sich unsere Blicke trafen, dann kehrte ihr Blick zurück, und sie nickte dankend.

»Was für eine Bande von Leichenfledderern«, schimpfte die andere Frau.

Der Mann ging zum Telefon. »Wen können wir anrufen, um Begleitschutz zu kriegen?«

»Kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte ich.

»Sind Sie nicht vom Krankenhaus? Ich dachte …«