Cover
Libor Schaffer
TOD IM FELSENMEER
Ein Odenwald-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2005 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Umschlaggestaltung: Oliver Schmitt, Mainz
Satz: Societäts-Verlag, Nicole Proba
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-135-9
Für Sabine, Muzel und Lisa

Inhalt

Schöne Gegend
Sie stehen auf der Liste
Spielzeug
Bauernregel
Lokaltermin
Heimatforschung
Rumpsteak
Polizeidirektion
Urheberrecht
Kündigung
Weiße Rübe
Hoher Besuch
Alleingang
Tanja
Nierenspieß
Abstiegskampf
Die Waffen einer Frau
Beamtendeutsch

Vorbemerkung des Autors

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe überhaupt keine Vorbehalte (und hoffentlich auch keine Vorurteile) gegen Heimatforscher, sondern bringe ihrer – wie ich vermute – oft mühseligen Arbeit hohen Respekt entgegen. Sollten ihnen wie anderen Bewohnern des Odenwaldes bei meinen geographischen, topographischen oder heimatkundlichen Beschreibungen Abweichungen von der Realität beziehungsweise der Geschichte auffallen, so entschuldige ich diese mit der erzählerischen Freiheit und den dramaturgischen Notwendigkeiten.

Kapitel 1
Schöne Gegend

„Hans-Hermann, nun komm doch endlich!“, rief sie mit energischer Stimme. „Gleich haben wir es geschafft!“
Nach der Besichtigung des Ohlyturmes, des Altarsteines, der Gralsburg und der Teufelskanzel hatte Hans-Hermann längst jedes Interesse an weiteren, merkwürdig geformten Felsbrocken verloren, mochten die Römer vor langer Zeit auch noch so interessante Zeichen und Ziffern in die überdimensionalen Steine geritzt haben. Der alte Mann mit dem schütteren hellgrauen Haar lehnte keuchend an einer Buche. Er verfluchte den Tag, an dem er sich zu dieser Wanderung durch das Große Felsenmeer hatte überreden lassen.
„Hans-Hermann, wo bleibst du denn?“ Die Stimme seiner Frau hallte durch den Wald. Glücklicherweise waren an diesem trüben Montagvormittag keine anderen Spaziergänger in der Nähe von Reichenbach unterwegs, die Augen- oder Ohrenzeugen seiner Schmach werden konnten. Er zog ein großes kariertes Stofftaschentuch aus seiner Jackentasche heraus und wischte sich damit übers Gesicht.
„Ich komme!“, sagte er mit schwacher Stimme und kletterte den ausgetretenen Pfad hinunter, der direkt am oberen Teil des Felsenmeeres entlangführte. Links von ihm ergoss sich der so genannte Blockstrom nach unten: ineinander verkeilte, von jahrhundertelanger Verwitterung abgerundete Felsen. Für diese faszinierende Naturschönheit hatte Hans-Hermann keinen Blick übrig, seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den mühseligen Abstieg.
Zwischen dem oberen und dem lang gezogenen unteren Teil des Felsenmeeres wartete seine Frau bereits ungeduldig. In ihrem eleganten dunkelgrünen Trachtenkostüm sah sie wesentlich jünger aus als dreiundsechzig. „Was war denn?“, fragte sie neugierig. „Hattest du wieder einen deiner Schwindelanfälle?“
Der Alte schüttelte seinen hochroten Kopf. „Unsinn!“, knurrte er. „Ich musste mal.“
„Aber du warst doch erst im Gasthaus auf der Toilette!“, wunderte sie sich.
Er verzichtete auf eine Antwort, die ohnehin nur weitere inquisitorische Fragen nach sich gezogen hätte. Stattdessen übernahm er jetzt das Kommando. „Ich gehe voran“, sagte er. „Der Weg sieht ziemlich steil aus.“
Ohne sich seine Schwäche anmerken zu lassen, nahm er den holprigen Abstieg in Angriff. Der Pfad im unteren Teil des Felsenmeeres war wesentlich unbequemer und weniger ausgetreten. Viele der Besucher scheuten wohl diese Mühe und begnügten sich lieber mit einem Blick auf den bizarren Felsenstrom, der sich nach unten zu wälzen schien, obwohl sich keiner dieser massiven Steine auch nur einen Zentimeter von der Stelle bewegte.
„Unglaublich!“, sagte seine Frau und hielt einen Augenblick inne, um den imposanten Anblick zu genießen. „Ein wahres Naturwunder!“
Deshalb sah sie auch nicht, wie ihr Mann einige Meter vor ihr auf einem mit Moos bewachsenen Stein ausrutschte, das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. „Verfluchter Mist!“, stöhnte er. Mit dem rechten Fuß tastete er auf dem abschüssigen Weg nach festem Untergrund, der ihm ein halbwegs gefahrloses Aufstehen ermöglichen konnte.
„Um Himmels willen!“ Seine Frau kletterte zu ihm herunter, um ihm aufzuhelfen. „Hast du dich verletzt? Ist etwas gebrochen?“
Er schob ihren Arm zur Seite und stützte sich mit der Hand vorsichtig ab. Sein Steißbein tat höllisch weh, aber er versuchte, die Schmerzen zu ignorieren so gut es eben ging. Mühsam rappelte er sich wieder auf.
„Mein Gott, wie du aussiehst!“, sagte sie tadelnd. „Du solltest deine Jacke sehen, sie ist hinten total verdreckt. Die muss unbedingt in die Reinigung ...“
„Was ist denn das?“ Er zeigte auf eine Stelle inmitten des gigantischen Felsenstroms. „Ist das eine Decke oder ein Tuch?“, fragte er unsicher.
Seine Frau kletterte an ihm vorbei und beugte sich gefährlich weit nach vorn. „Da liegt jemand“, murmelte sie fassungslos. Dann begriff sie langsam. „Hans-Hermann, dort unten liegt ein Mann!“, schrie sie. Vorsichtig bestieg sie einen der flachen Felsen am Rande des Pfades, um sich ein genaueres Bild machen zu können.
„Der Mann muss tot sein!“, stöhnte sie.
„Langsam, langsam“, versuchte er sie zu beruhigen. „Vielleicht ist er nur ohnmächtig geworden, vielleicht hat er beim Herunterklettern ...“
„In seinem Rücken steckt ein Messer!“, schrie sie. „Ich kann es genau sehen!“

Kapitel 2
Sie stehen auf der Liste

Nachdem es zum dritten Mal an der Haustür geklingelt hatte, faltete Tobias Bloch den Sportteil der Zeitung sorgfältig zusammen und erhob sich langsam. Beim Verlassen der Küche warf er seiner dreifarbigen Katze, die aufmerksam aus einem Spalt ihrer großen braunen Papiertüte lugte, einen kurzen warnenden Blick zu.
„Tabu, absolut tabu“, sagte er zu ihr. „Ich habe den Artikel über das Offenbach-Spiel nämlich noch nicht gelesen, verstanden?“ Muzel, die weiße Katze mit den mittelbraunen und schwarzen Flecken, zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Als es zum vierten Mal klingelte, hatte er die Haustür endlich erreicht. Eine mittelgroße Frau mit pechschwarzem Haar streckte ihm ihren Ausweis entgegen. Neben ihr stand ein jüngerer, nur unwesentlich größerer Mann, Modell vollschlank.
„Herr Tobias Bloch?“, fragte die Kommissarin.
Er nickte.
„Meine Name ist Sara Hagedorn“, sagte sie. „Und dies ist mein Assistent, Herr Melzig. Wir möchten Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Es wird bestimmt ...“
„... ziemlich lange dauern“, ergänzte Bloch die Polizeiphrase.
Im Wohnzimmer, von dessen südlichem Fenster aus man über die im Tal liegenden Wiesen bis zum dahinter aufsteigenden Wald blicken konnte, roch es nach kaltem Rauch. Bloch deutete auf das dunkelbraune Ledersofa, das an einigen Stellen deutlich sichtbare Krallenspuren aufwies.
„Fühlen Sie sich wie zu Hause“, sagte er zu den beiden Kriminalbeamten. „Ich muss nur rasch den Sportteil in Sicherheit bringen.“
Nach kurzer Zeit kehrte er mit Zigaretten, Aschenbecher, Zeitung und Katze aus der Küche zurück. Noch ehe er in dem Ledersessel Platz genommen hatte, war Muzel auf dessen linke Armlehne gesprungen. Sie musterte die beiden fremden Personen aufmerksam.
„Sitz und Platz, Muzel!“, sagte Bloch und klopfte auf die breite Lehne. Die Katze streckte sich in voller Länge aus. „Braves Mädchen.“ Er kraulte sie zärtlich im Nacken. „Braves Mädchen.“
Die Kommissarin, die ihm direkt gegenübersaß, lehnte sich zurück. „Kennen Sie zufällig einen Holger Fritjof aus Erbach? Sechsundvierzig Jahre alt, von Beruf Rechtsanwalt.“
„Weder zufällig noch sonst wie.“ Bloch zündete sich eine Zigarette an. „Ich darf doch, oder?“, fragte er lächelnd.
„Herr Fritjof wurde ermordet. Ein älteres Ehepaar hat ihn gestern im Felsenmeer gefunden. Mit einem Messer im Rücken.“
„Schöne Gegend. Und an dem Kiosk gibt es eine köstliche Rindswurst. Mögen Sie Rindswurst?“
Sara Hagedorn lächelte matt. „Kann mich gerade noch beherrschen.“ Sie deutete auf das Zigarettenpäckchen. „Darf ich mir eine nehmen? Der Automat unten im Ort war ziemlich geizig, er hat das Geld behalten, aber leider nichts dafür herausgerückt.“
„Bedienen Sie sich.“ Er schob ihr die Zigaretten und sein Feuerzeug zu. „Ich bin zwar grundsätzlich, wie Sie vielleicht wissen, an Kriminalfällen fast aller Art interessiert, aber was verschafft mir in diesem Fall die Ehre?“
„Sie stehen auf der Liste“, sagte Melzig.
„Aha. Das erklärt natürlich einiges. Um nicht zu sagen praktisch alles.“
Die Kommissarin blies den Rauch dezent in Richtung Holzdecke. „Wir haben in den Kleidern des Ermordeten einen Zettel gefunden, auf dem verschiedene Namen und in fast allen Fällen auch die dazugehörigen Adressen notiert sind. Unter anderem auch Ihrer.“
„Darf ich noch schnell einen Koffer mit dem Nötigsten packen? Sie können mich gern begleiten, Herr Melzig. Pardon, Sie müssen sogar. Damit ich erst gar nicht auf dumme Gedanken komme.“
„Sind Sie immer so witzig?“, fragte Sara Hagedorn.
„Das hängt ganz von meinen Gesprächspartnern ab. In Ihrem Fall habe ich jedenfalls keine Schwierigkeiten.“ Er zog an seiner Zigarette. „Wie viele Personen stehen denn insgesamt auf der Liste? Ich frage nur, um meine Chancen besser beurteilen zu können ...“
„Mit Ihnen zusammen sieben“, sagte Melzig.
„Darf man den Zettel vielleicht einmal sehen?“, fragte Bloch. „Vielleicht kann ich Ihnen dann weiterhelfen. Vielleicht kenne ich ja den einen oder anderen ...“
Die Kommissarin zog aus ihrer ledernen Aktenmappe ein Blatt Papier heraus. „Ich habe eine Kopie für Sie gemacht.“
„Sehr aufmerksam.“ Bloch nahm das Blatt entgegen und überflog die Namen. „Nur auf Platz vier“, murmelte er. „Ich hätte eigentlich etwas Besseres verdient.“
„Kennen Sie eine der Personen?“, fragte Sara Hagedorn.
„Möglicherweise. Der Silbermedaillengewinner kommt mir bekannt vor.“
„Sie meinen die Nummer zwei, Walter Hansen?“, fragte der Assistent.
„Jawohl. Wenn es sich bei besagtem Herrn um den berühmten Möbelfabrikanten aus Höchst handelt, dann muss ich ein Geständnis ablegen.“
Die Kommissarin nickte erwartungsvoll. „Ja, es ist dieser Hansen.“
„Ich habe vor nicht allzu langer Zeit für seine Gattin gearbeitet“, erklärte Bloch.
„Worum ging es denn?“, fragte Sara Hagedorn.
„Normalerweise gebe ich mich ja nicht mit solchen Ehegeschichten ab. Aber von Zeit zu Zeit kann ich einfach nicht widerstehen. Also war ich der eifersüchtigen Gattin behilflich. Wie hieß sie noch gleich? Marta, Margarethe ...“
„Marianne“, unterbrach ihn Melzig.
Der Privatdetektiv strahlte. „Ganz recht. Die schöne Marianne. Ich habe ihren Gatten also ein paar Tage lang observiert, weil Madame den Verdacht hegte, dass ihr Walter ein außereheliches Verhältnis habe. Was ich übrigens nicht ganz verstehen kann. Denn ich habe diese Marianne – ist natürlich eine Geschmacks- und Altersfrage – als ziemlich gut aussehend in Erinnerung.“
„Sie schweifen ab“, sagte Melzig.
„Nein. Ich erläutere die Zusammenhänge. Wie heißt es doch immer so schön? Denken Sie genau nach. Versuchen Sie sich an alles zu erinnern. Auch wenn es sich nur um eine unbedeutende Kleinigkeit handelt, sie könnte für uns von großer Bedeutung sein ...“
„Jetzt ist er in Fahrt gekommen“, sagte Sara Hagedorn zu ihrem Assistenten.
„Langer Rede kurzer Sinn: An Mariannes Verdacht war nichts dran. Ich habe jedenfalls nichts bemerken können. Und ich bin ein Profi, mir macht man so schnell nichts vor ...“
„Sonst noch jemand?“, fragte Melzig. „Kennen Sie sonst noch jemanden auf der Liste?“
Bloch schüttelte den Kopf.
„Sind Sie sicher? Wie ist es denn mit der Nummer drei? Der Person ohne Nachnamen. Kennen Sie tatsächlich keine einzige Frau namens Tanja?“
„Nein. Im gesamten Odenwald nicht. Und viel weiter reicht mein Horizont – was Frauen angeht – nicht. Ich bin in dieser Hinsicht nämlich ausgesprochen heimatverbunden.“ Bloch erhob sich. „Von diesen hartnäckigen Verhören bekomme ich immer einen furchtbar trockenen Hals. Darf ich die Herrschaften zu einem Bier einladen?“
„Nein danke.“ Sara Hagedorn schüttelte den Kopf. „Aber ein Mineralwasser wäre nicht schlecht.“
Bloch blickte ihren Assistenten fragend an. Melzig nickte. „Für mich bitte auch.“
Als der Privatdetektiv das Zimmer verließ, sprang Muzel von der Lehne des Sessels und folgte ihm mit kleinen, tänzelnden Schritten. In der Küche blieb sie vor ihrem leeren Napf stehen und miaute kläglich.
„Thunfisch, Kaninchen oder Haihappen?“, fragte Bloch. Die Katze schlich aufgeregt um den Napf und miaute erneut. „Also gut, Haihappen. Hab schon verstanden.“ Mit einer Bier- und einer Wasserflasche in den Händen kehrte er ins Wohnzimmer zurück.
„Können Sie sich erklären, wie Sie auf Fritjofs Liste gekommen sind?“, fragte ihn die Kommissarin, während er ihre Gläser füllte.
Bloch lächelte. „Wahrscheinlich handelt es sich um ein hinterhältiges Ablenkungsmanöver. Bei Rechtsanwälten muss man auf allerhand gefasst sein.“
Melzig trank einen Schluck Mineralwasser. „Ist aber doch merkwürdig, dass auch Ihr alter Bekannter Walter Hansen auf der Liste auftaucht. Sehen Sie da keine Zusammenhänge?“
„Nein.“
„Und mit den anderen fünf Namen können Sie wirklich nichts anfangen?“, fragte Sara Hagedorn.
Der Privatdetektiv überflog noch einmal die Liste. „Tut mir Leid. Ich wäre ja selbst froh, wenn ich aus diesem Durcheinander schlau werden würde.“ Er nahm einen kräftigen Schluck. „Köstlich!“, sagte er seufzend. „Andererseits wird es mal wieder höchste Zeit, dass ich mein bequemes Dasein aufgebe und mich mit einem interessanten Mordfall befasse. Ein solches Glück hat man schließlich nicht alle Tage.“
„Sie wollen doch nicht etwa ...?“, sagte die Kommissarin.
Bloch winkte ab. „Keine Angst. Ich werde Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen. Ehrenwort.“
Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Eine Frage hätte ich dann noch zum Schluss.“
„Brauche ich ein Alibi?“
„Schaden könnte es jedenfalls nicht. Wo waren Sie am letzten Sonntag? Sagen wir von achtzehn bis einundzwanzig Uhr.“
„Zu Hause. Ich kann Ihnen sogar sagen, was ich gemacht habe. In verschiedenen Büchern gelesen.“
„Zeugen?“
„Selbstverständlich. Muzel kann alles bestätigen. Wir waren die ganze Zeit über zusammen.“
Nachdem die beiden Kriminalbeamten gegangen waren, nahm Tobias Bloch ein Bad. Während das Wasser einlief, hockte die dreifarbige Katze auf dem Rand der Wanne und beobachtete höchst interessiert, wie sich der weiße Schaum auf der Wasseroberfläche ausbreitete. Dann schnupperte Muzel intensiv. „Rosmarin“, erklärte Bloch ihr beim Ausziehen. „Herrchen muss heute nämlich fit sein. Es gibt einiges zu tun.“
Gegen Mittag rief er Susanne Kramer im benachbarten Wiebelsbach an. „Ich hoffe, ich habe dich nicht aus süßen Träumen gerissen.“
„Von wegen!“ Sie schnaufte. „Bin schon seit neun Uhr auf den Beinen.“
„Bist du krank?“
„Witzbold! Im Gegensatz zu dir habe ich ab und zu auch etwas zu tun.“
„Kopierst du schon wieder einen Picasso? Für diese Pizzeria in Dieburg?“
„Hahaha!“
„Aber das hast du doch mal gemacht. Ich kann mich genau daran erinnern. Dein Werk hängt rechts vom Tresen. Gleich neben den Schnapsflaschen.“
„Dieses Mal ist es wieder ein Kinderbuch. Es geht um einen Elch, Knut heißt er übrigens sinnigerweise. Und dieser Knut hat leider einen Sprachfehler.“
„Soll bei Ölchen öfter vorkommen.“
Er hörte, wie sie sich eine Zigarette ansteckte. „Ist dir langweilig, wolltest du mich vom Arbeiten abhalten – oder hat dein Anruf tatsächlich einen Sinn?“
„Ach, es ist eigentlich nur eine Kleinigkeit“, sagte der Privatdetektiv. „Aber vielleicht interessiert es dich ja. Ich bin nämlich in einen Mordfall verwickelt. Für die Kriminalpolizei gehöre ich sogar zum erweiterten Täterkreis – oder wie man das unter Fachleuten nennt.“
Ihr schien die Spucke weggeblieben zu sein. Nach einer Pause sagte sie verdrossen: „Verarschen kann ich mich selbst.“
„Daran habe ich nie gezweifelt. Aber die Geschichte stimmt ausnahmsweise wirklich. Und deshalb wollte ich dich fragen ...“
Susanne jauchzte. „Du brauchst wieder eine Assistentin? Eine erfahrene, diskrete und effektiv arbeitende Kriminalistin?“
„Richtig. Eine Agatha Christie für Arme. Bist du bereit?“
„Logisch. Das Kinderbuch kann warten. Außerdem bezahlt der Verlag sowieso nicht so gut wie du. Der übliche Tagessatz, plus Spesen?“
„Ja. In einer halben Stunde bei mir? Und bring ein paar Klamotten mit. Das Hauptquartier wird nämlich hier in Heubach eingerichtet.“
Etwa eine Dreiviertelstunde später fuhr ein grüner Fiat älteren Baujahrs den steil ansteigenden Weg am Ortsrand von Heubach hinauf. Vor Blochs idyllisch gelegenem Haus stellte Susanne den Wagen ab. Sie öffnete die Heckklappe und hob zwei große, prall gefüllte Leinenkoffer heraus. Ausreichend Gepäck für eine dreiwöchige Kreuzfahrt. Sie ging an der Vorderseite des Hauses vorbei zur Terrasse.
„Komm nur rein. Es ist offen“, sagte der Privatdetektiv, der im Wohnzimmer saß. Er legte das Telefonbuch beiseite. „Ich dachte schon, du hättest dich verfahren“, scherzte er. Er warf einen Blick auf die beiden Koffer, die Susanne schnaufend abstellte. „Ich hoffe, wir finden den Mörder schneller.“ Muzel war inzwischen von der Sessellehne gesprungen und schnupperte intensiv an den beiden Gepäckstücken.
„Auspacken kannst du später. Wir haben heute noch einiges zu erledigen.“
„Stets zu Diensten“, sagte Susanne erwartungsfroh.
In groben Zügen klärte Bloch sie über den Besuch der beiden Kriminalbeamten auf. „Der einzige Anhaltspunkt, den wir haben, ist diese Liste. Man hat sie bei dem ermordeten Fritjof gefunden.“ Er reichte ihr die Fotokopie, auf der er inzwischen einige Notizen gemacht hatte. „Ich würde sagen, wir gehen wie immer systematisch vor und knöpfen uns diese Personen einmal vor. Von Platz eins bis Platz sieben. Meine Wenigkeit natürlich ausgenommen.“
Susanne legte das Blatt zur Seite. „Und was ist mit dem Tatort? Und was mit Holger Fritjof? Sollten wir nicht besser ...?“
Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf. „Das kann warten. Im Felsenmeer finden wir sowieso nichts Interessantes – außer ein paar eingetrockneten Blutflecken. Oder glaubst du, die Polizei hätte eine wichtige Spur übersehen? Ein Streichholzbriefchen vielleicht, in dem eine Telefonnummer steht?“
Sie verzog das Gesicht.
„Und um Fritjof, ich meine um sein Umfeld, können wir uns auch später noch kümmern. Nein, ich will wissen, wieso diese Leute auf seine Liste gekommen sind.“
„Du bist der Boss.“
„Erraten. Die Nummer zwei, diesen Walter Hansen in Höchst, übernimmst du. Ich habe vor nicht allzu langer Zeit für seine reizende Gattin eine kleine Observierung gemacht, deshalb lasse ich mich da zunächst lieber nicht blicken.“ Bloch erhob sich. „Ich kümmere mich um die Nummer eins auf der Liste. Laut Telefonbuch hat Angelika Küster einen Spielzeugladen in Michelstadt. Wenn ich etwas Schönes sehe, bringe ich dir ein Geschenk mit. Hast du einen bestimmten Wunsch?“
„Ein Ölch wäre nicht schlecht.“

Kapitel 3
Spielzeug

Die Möbelfabrik mit dem anspruchsvollen Namen Hansen Design lag außerhalb des Höchster Stadtkerns. Susanne folgte dem roten Hinweisschild, das an der zweiten Ampel im Zentrum nach links wies. Nach einigen hundert Metern, vorbei an einem Sägewerk, einem Verbrauchermarkt und einem Getränkehandel, bog sie auf die abschüssige Zufahrt ein, die sie direkt auf den Firmenparkplatz brachte. Sie steuerte ihren Wagen auf einen der freien Besucher-Parkplätze. Bevor sie ausstieg, ordnete sie ihr kurzes hellblondes Haar und entfernte die Aschereste von ihrem dunkelblauen Sweatshirt.
Der Dame am Empfang nannte Susanne ihren Namen und erklärte, sie habe einen Termin bei Herrn Hansen.
„Moment, da muss ich nachfragen. Um wie viel Uhr, sagten Sie?“
Susanne warf einen kurzen Seitenblick auf die imposante Wanduhr. „Um 15 Uhr 30“, antwortete sie lächelnd. „Da bin ich ja sogar ziemlich pünktlich.“
Während die Empfangsdame mit der Sekretärin des Firmenchefs sprach, nahm Susanne auf dem Besuchersofa Platz. Sie wollte gerade nach einer Zeitschrift der Industrie- und Handelskammer greifen, als sie an den Schalter herangewinkt wurde.
„Bedaure, Herr Hansen ist leider nicht im Haus. Und für heute Nachmittag ist auch kein Termin eingetragen.“
„Zu dumm.“
„Haben Sie sich vielleicht im Datum geirrt?“
„Nein, ausgeschlossen.“ Susanne stützte sich mit den Händen an der Schaltertheke ab. „Wissen Sie, es ist ziemlich dringend. Könnte ich wohl mit Frau Hansen sprechen?“
„Für Einstellungen ist eigentlich der Chef zuständig“, sagte die Empfangsdame.
„Darum geht es nicht. Rufen Sie doch bitte Frau Hansen an und sagen Sie ihr, ich möchte sie in der Angelegenheit Fritjof sprechen. Sie weiß dann sicher Bescheid.“
Das geräumige Büro von Marianne Hansen lag im ersten Stock, nur wenige Meter vom Fahrstuhl entfernt.
„Sind Sie von der Kriminalpolizei?“, fragte Frau Hansen ohne Umschweife. „Ihre Kollegen waren doch heute Vormittag schon da.“
Susanne verneinte. „Darf ich mich setzen?“
„Ja, sicher. Also?“
„Ich komme im Auftrag von Tobias Bloch. Mein Name ist Susanne Kramer. Ich bin seine Assistentin.“
Frau Hansens Gesichtszüge strafften sich. „Verstehe. Hören Sie, junge Frau, die Sache von damals ist erledigt. Damit wir uns da nicht falsch verstehen. Mein Mann darf davon nichts erfahren.“
„Herr Bloch ist für seine Diskretion bekannt. Ich komme auch nicht deshalb, sondern wegen der Mordsache Fritjof. Sie wissen, dass auch mein Chef auf der Liste des Toten steht?“
Marianne Hansen nickte. „Mein Mann hat mir die Kopie gezeigt, die er von der Kriminalpolizei bekam. Merkwürdige Geschichte. Walter kannte diesen Erbacher Rechtsanwalt gar nicht.“
„Sind Sie sicher? Es könnte doch sein ...“
„Wieso sollte er lügen? Wenn er mit diesem Fritjof etwas zu tun hatte, wird man das doch sicher herausfinden. Früher oder später. Der Mann scheint sich ja ziemlich viele Notizen gemacht zu haben. Außerdem ist da auch noch seine Kanzlei in Erbach. Seine Angestellten, sein Terminkalender, seine Korrespondenz.“ Frau Hansen lehnte sich zurück. „Nein, ich glaube nicht, dass Walter die Unwahrheit sagt. Wieso sollte er auch? Das würde ihn doch nur verdächtig machen.“
„Er hat also keine Erklärung für sein Auftauchen auf dieser Liste?“
„Nein.“
„Dann wären es schon zwei“, sagte Susanne emotionslos.
„Wie meinen Sie das?“
„Herr Bloch hatte auch keinen Kontakt zu Fritjof. Die einzige Verbindung, die er erkennen kann, der einzige Name auf der Liste, der ihm etwas sagt, ist der Ihres Mannes. Komischer Zufall, nicht?“
Marianne Hansen beugte sich vor. „Ihr Chef kümmert sich doch um die Angelegenheit?“
„Selbstverständlich. Schon aus eigenem Interesse. Schließlich wird auch er von der Kriminalpolizei behelligt.“
Frau Hansen lächelte. „Sehr gut, sehr gut“, murmelte sie. „Dann können wir ihm ja alle nur viel Glück wünschen.“ Sie stutzte. „Ihnen natürlich auch, Frau ...? Wie war doch gleich Ihr Name?“
„Kramer. Susanne Kramer.“ Sie erhob sich langsam aus dem unbequemen Stuhl Marke Hansen Design. „Gut möglich, dass Herr Bloch Sie oder Ihren Mann demnächst aufsucht.“ Sie lächelte. „Heute hat er sich noch nicht getraut, weil er nicht sicher sein konnte, dass Sie bereits eingeweiht sind. Aber jetzt wissen Sie ja Bescheid, nicht wahr?“
Die Firmenchefin nickte. „Es geht einzig und allein um den Mordfall Fritjof.“ Sie führte Susanne zur Tür. „Er kann ruhig mal vorbeikommen, Ihr Chef, wenn er etwas herausgefunden hat. Ein reizender junger Mann, finden Sie nicht auch?“
Susanne war über den plötzlich so vertraulichen Tonfall erstaunt. „So jung ist er nun auch nicht mehr.“
„Alles eine Frage der Sichtweise“, antwortete Frau Hansen verschmitzt. „Wenn Sie erst mal in meinem Alter sind ...“
In der malerischen, verwinkelten Altstadt von Michelstadt nahm sich Tobias Bloch – wie schon viele Male zuvor – die Zeit, um einen Blick auf das spätgotische Rathaus zu werfen, das im Jahre 1484 von einem leider unbekannten Baumeister errichtet worden war. Der originelle Fachwerkbau ruhte auf wuchtigen Pfosten aus Eiche. Sie rahmten eine offene Halle unterhalb des eigentlichen Rathauses ein, wo in früheren Zeiten Gerichtsverhandlungen stattgefunden hatten und bei schlechtem Wetter Markt abgehalten worden war. Bloch stand vor der Westfront des beeindruckenden Fachwerkbaus, die ihre Schönheit den beiden Erkertürmchen und dem abgekanteten Giebel verdankte.
Als er weiterging, hatte er ausgesprochenes Glück. Schon in der zweiten Gasse hinter dem Rathaus entdeckte er einen vielversprechenden Schnellimbiss. Während er die umfangreiche Speisekarte studierte, die an der Außenwand angebracht war, wurde die Scheibe geräuschvoll beiseite geschoben.
„Was darf es denn sein, der Herr?“ Eine nicht mehr ganz taufrische Dame, wahrscheinlich Anfang vierzig, wischte sich die Hände an ihrer ebenfalls nicht mehr ganz taufrischen Schürze ab.
Bloch hatte auf der Karte sein Lieblingsgericht entdeckt. „Nierenspieß“, sagte er.
„Nierenspieße habe ich leider keine mehr. Aber ich könnte Ihnen einen Fleischspieß empfehlen. Der ist auch sehr gut.“
Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf. „Dann nehme ich eine Currywurst. Mit wenig Ketchup und viel Curry, wenn möglich.“
„Kein Problem. Rind oder Brat?“
„Rind.“
„Pommes, Brötchen?“
„Brötchen. Und ein kleines Pils.“
„Wir haben nur große Flaschen.“
Bloch zuckte die Achseln. „Dann trinke ich eben ein bisschen schneller.“
Sie beugte sich nicht ungeschickt zum Kühlschrank herunter und nahm eine Bierflasche heraus. Mit schlafwandlerischer Sicherheit setzte sie den Öffner an. Der Korken flog direkt in den dafür vorgesehenen Abfalleimer. Es klackerte angenehm.
„Darf ich Sie zu etwas einladen?“, fragte der Privatdetektiv.
Die Schönheit lächelte erstaunt. „Ein Kümmerling wäre nicht schlecht. Wollen Sie auch einen?“
„Nein danke. Ich hab es nicht so mit den Kräutern.“
„Dann einen guten Weinbrand?“
„Überredet.“
„Na, sehen Sie. Geht doch alles, wenn man nur will.“
Höchste Zeit, den Rückzug anzutreten.
Mit dem Curry hatte die Dame im Überschwang ihrer Gefühle wahrlich nicht gespart. Schon nach zwei Bissen trieb es Bloch die Tränen in die Augen. Nur gut, dass er ordentlich nachspülen konnte. Und sie ihn nicht sah, weil er ihr den Rücken zugewandt hatte.
„Hat es geschmeckt?“, fragte sie, als er die leeren Flaschen und den Teller auf die breite Holzfensterbank stellte.
Er nickte dankbar.
„War doch genug Curry?“
„Genau richtig. Was macht es?“
Sie murmelte ein paar Zahlen vor sich hin und nannte dann die Summe. Bloch nahm einen Geldschein aus seiner Brieftasche. „Stimmt so.“
„Nobel, nobel. Noch einen kleinen Weinbrand? Auf Kosten des Hauses.“
„Nein. Aber eine Auskunft. Hier in der Altstadt soll es einen Spielzeugladen geben. Wissen Sie zufällig, wo ich den finde?“
„Sicher. Sie gehen am Rathaus vorbei, nächste Straße links. Ist ein Eckhaus am Ende der Gasse. Sie können es gar nicht verfehlen.“
„Danke.“ Er nickte ihr lächelnd zu.
„Beehren Sie uns bald mal wieder.“
„Mache ich.“
Bevor Tobias Bloch das Spielzeuggeschäft betrat, sah er sich zunächst die beiden Schaufenster näher an. In der Auslage an der Vorderfront des renovierten Fachwerkhauses war ausschließlich ökologisches Holzspielzeug ausgestellt. Eine blaue Lokomotive mit fünf verschiedenfarbigen Waggons fiel ihm sofort ins Auge.
„Die könnte Muzel gefallen“, murmelte der Privatdetektiv.