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Yosef Şimşek

Im falschen Paradies



Wie mein Leben zwischen den Kulturen zum Albtraum wurde

 



Für meine Mutter

 

1

Als meine Eltern in Deutschland angekommen waren, dachten sie, hier sei das Paradies. Viele der heutigen Flüchtlinge denken das wohl ebenfalls, denn den allermeisten von ihnen müssen Deutschland und natürlich auch die anderen Länder Europas in der Tat wie das Paradies selbst vorkommen – verglichen mit dem, was sie hinter sich gelassen haben: Krieg, Hunger, Folter, ein unwürdiges und chancenloses Leben.

Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, und ich habe Deutschland geliebt – Deutschland war meine Heimat.

Ob ich augenblicklich und im Rückblick Deutschland und die anderen Länder Europas jedoch als Paradies bezeichnen würde, weiß ich offen gestanden nicht – oder nicht mehr. Ich könnte vieles nennen, was mir an Deutschland und auch an Europa nicht gefällt. Andererseits wüsste ich keinen Kontinent, der mir aus heutiger Sicht der Dinge gerechter, sicherer und toleranter vorkäme.

Dennoch versucht Europa gerade dieser Tage, seine Grenzen so unüberwindlich wie möglich zu machen: modernste Technik, Unmengen an Personal – sogar Soldaten! – und Millionen, ja gar Milliarden an Euros werden eingesetzt, um Flüchtlinge daran zu hindern, über das Mittelmeer bzw. auf der Balkanroute nach Zentraleuropa zu gelangen.

Ich bin nicht naiv und verstehe sehr wohl, dass Europa beim besten Willen nicht alle Menschen, denen es schlecht geht auf dieser Welt, aufnehmen kann. Auch nach all den Jahren, die ich nun in der Türkei lebe, informiere ich mich immer noch regelmäßig über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa und halte Kontakt zu Freunden in Deutschland. So weiß ich auch von den Vorfällen: von Flüchtlingen und Menschen aus meiner Kultur, die sich sehr schlecht benehmen, die die Sitten und Regeln der westlichen Welt nicht akzeptieren wollen, die Frauen belästigen oder sogar vergewaltigen. Und dann gibt es auch noch einige wenige, die als Flüchtlinge getarnt nach Europa kommen, um Angst und Terror zu verbreiten.

Aber dennoch: Die meisten der Flüchtlinge sind nicht kriminell – sie wollen einfach nur leben. Anders gesagt: Diese Menschen klagen ihr Recht auf Leben ein!

Zu denen aus meiner Religion und Kultur, die in Europa und auf der ganzen Welt im Namen des Islam Angst, Terror und Tod verbreiten, sage ich Folgendes: Terrorismus hat nichts mit dem Islam zu tun. Es ist für mich – und ich glaube, dass ich für viele spreche – in keiner Art und Weise tolerierbar, andere Menschen im Namen einer Religion oder Weltanschauung zu ermorden! Dies ist verabscheuungswürdig – ohne jedes Wenn und Aber.

Ich selbst bin sehr strenggläubig erzogen geworden und meine Familie richtet ihr Leben nach wie vor stark nach den Glaubenssätzen des Islam aus. Aber keiner von uns käme je auf die Idee, alles stehen und liegen zu lassen, um in den sogenannten »Dschihad«, den Heiligen Krieg, zu ziehen.

Oft sind die »Dschihadisten« wohl sehr junge Menschen mit wenig Lebenserfahrung, auf die permanent eingeredet wurde, die sehr unter Druck gesetzt wurden – mit Aussagen wie: »Wir machen das für Allah! Denk an deine Familie! Willst du denn nicht ins Paradies kommen? Das ist unsere Religion …!«, und so weiter und so fort. Sie bekommen eine Gehirnwäsche und gehen dann den falschen Weg. Wenn Selbstmord wirklich der kürzeste Weg ins Paradies wäre, dann würden die Anführer der Terroristen es selbst tun und nicht ihre jungen und unwissenden »Schüler« in den Tod schicken, indem sich diese in die Luft sprengen und dabei unschuldige Menschen ermorden.

Wie ich schon sagte: Die meisten Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten, sind meiner Meinung und Erfahrung nach weder Terroristen noch Kriminelle. Ich glaube jedoch ganz ehrlich, dass eine Integration in die deutsche oder irgendeine andere westliche Kultur bei älteren Menschen unserer Kultur kaum mehr möglich ist. Das mag hart klingen, aber ich sage das wirklich aus eigener Erfahrung.

Bei den jüngeren Menschen unserer Kultur ist es vermutlich etwas leichter. Insbesondere bei den Menschen, die wie ich selbst in westlichen Ländern geboren wurden. Doch bei den meisten Jungen und Männern aus dem muslimischen Kulturkreis bin ich eher skeptisch. Ganz besonders bei denen, die ihren Vätern »gefallen« wollen und denken, dass ein »richtiger Mann« ein Macho zu sein hat – sie werden sich nie freiwillig einer westlichen Kultur anpassen.

Dennoch: Wenn jemand das wirklich will, kann er beide Kulturen oder Glaubensrichtungen verbinden und wird weder in der westlichen, christlich orientierten Kultur noch in der arabisch-islamischen Kultur ein Außenseiter sein – das habe ich selbst auch gelernt.

In meinem Fall jedoch unter umgekehrten Vorzeichen, denn ich wurde letztlich und trotz der archaischen Erziehung meines Vaters in Deutschland sozialisiert. Die offene westliche Gesellschaft und die humanistischen Grundsätzen verpflichtete Kultur meines deutschen Umfelds haben mich als Kind und Jugendlicher mehr geprägt als die strenggläubige Erziehung meines Vaters – und dafür bin ich dankbar. Dennoch war es für mich vielleicht noch viel schwieriger, und das meinte ich mit »unter umgekehrten Vorzeichen«, mich mit meinem deutschen Hintergrund, mehr noch, ich würde fast sagen, mich als Deutscher fühlend und denkend im fernen Südosten der Türkei in eine völlig andersartige Kultur zu integrieren. Eine Kultur, die meiner Meinung nach viele Rechte des Menschen, insbesondere die der Frauen, noch immer völlig missachtet.

Es gibt in der deutschen Sprache einen wunderschönen Satz. Er ist kurz und prägnant. Weder wurde er von einem großen Dichter noch von einem berühmten Literaten verfasst. Dennoch sagen diese sechs Worte mehr aus als manches Buch mit tausend Seiten. Es ist der erste Satz im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und dieser lautet:


»Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Ich bin kein Jurist und auch kein Gelehrter, aber ich glaube, dass dieser Satz im Wesentlichen Folgendes bedeutet: dass alle Menschen dieser Erde, egal welchen Geschlechts, unabhängig davon, aus welcher Kultur, aus welchem Land oder Kontinent sie auch stammen, was ihre Hautfarbe oder ihr Glauben auch sein mögen – tief im Herzen eines gemeinsam haben: das Recht, ein menschenwürdiges Leben in Frieden und Freiheit zu führen.

Dieses Buch enthält meine Lebensgeschichte und ich erzähle darin von meinen persönlichen Erfahrungen. Ich bin erst fünfundzwanzig Jahre alt, dennoch wage ich zu behaupten, dass ich schon sehr viel erlebt habe – mehr als mancher vielleicht in seinem ganzen Leben. Ich erzähle meine Geschichte aus meiner eigenen Perspektive und mit meinen eigenen Worten. Meine Erfahrungen und Meinungen mögen nicht auf alle Menschen aus der arabisch-islamischen oder türkischen Kultur zutreffen. Dies zu behaupten, würde ich mir nie anmaßen. Meine Lebensgeschichte möchte ich auch nicht als politisches Manifest verstanden wissen, vielmehr als das, was es ist: die wahre Geschichte eines Menschen, der zwischen zwei Kulturen, die konträrer nicht sein könnten, seinen eigenen Weg ins Leben finden musste.

Es ist aber auch die Geschichte meiner geliebten Mutter, die sich gegen die ihr anerzogenen und auferlegten kulturellen und religiösen Traditionen auflehnte, um mich mit allen Mitteln und so gut sie konnte zu schützen.

Und dafür werde ich ihr ewig dankbar sein.

Mein Name ist Yosef, auf Arabisch Yussuf, und ich komme aus einer arabisch-islamischen Familie, die lange Zeit im Libanon gelebt hat. Dort haben meine Eltern in der Hauptstadt Beirut geheiratet und ihre ersten Kinder zur Welt gebracht. Meine Familie war schon damals sehr arm und konnte sich lediglich eine Einzimmerwohnung leisten (wenn man so etwas überhaupt »Wohnung« nennen kann, es war mehr oder weniger die Abstellkammer des Hochhauses, in dem sie lebten). Während mein Vater als Wächter dieses Hochhauses ein wenig Geld verdiente, putzte meine Mutter die Wohnungen von reichen Menschen. Sie ist als Haushaltshilfe aufgewachsen und hat eine Zeit lang sogar beim libanesischen Präsidenten gearbeitet. Bereits mit sechs Jahren wurde sie von ihren Eltern zum Arbeiten geschickt, um die Familie finanziell zu unterstützen; eine Schule durfte sie nie besuchen. Hin und wieder erzählte meine Mutter uns etwas über ihre Kindheit und wie sie groß geworden ist – zum Beispiel die Geschichte, dass sie bei einer ihrer Arbeitsstellen noch so klein war, dass die Hausherren ihr einen Hocker zum Draufstehen gebracht haben. Sie hätte sonst nicht ans Spülbecken zum Geschirrspülen hochgereicht.

Mit 18 Jahren heiratete sie meinen Vater und lebte mit ihm in Beirut, bis Mitte der Siebzigerjahre der Krieg ausbrach. Das war eine furchtbare Zeit für meine Familie, in der viele Verwandte, Freunde und auch Bekannte starben. Meine Mutter hat mir immer wieder Geschichten über diese Zeit erzählt, als ich mit ihr an den Samstagen unterwegs war, um die Wohnung eines Künstlers in Winsen zu putzen.

Da uns das Geld, das wir in Deutschland vom Staat bekamen, nicht ausreichte und mein Vater nichts verdiente, arbeitete meine Mutter auch hier als Putzhilfe. Trotzdem waren und blieben wir eine arme Familie, die finanziell nur mit Müh und Not über die Runden kam. So war es selbstverständlich, dass meine Geschwister und ich immer gebrauchte Kleidung trugen, entweder die jüngeren Geschwister die von den älteren oder, häufiger noch, gespendete Hosen, Shirts und Jacken vom Roten Kreuz. Oft wurde ich deshalb in der Schule gehänselt, zum Beispiel indem meine Kameraden mir sagten, ich würde mich wie ein alter Mann kleiden oder aussehen wie mein eigener Großvater. Diese Worte kratzten sehr an meinem Selbstbewusstsein, aber ich konnte die Situation nicht ändern. Wir hatten nun mal kein Geld. Trotzdem bin ich immer mit dem Motto durchs Leben gegangen, das meine Mutter mich gelehrt hat: »Das ist zwar unser Schicksal, Yussuf, aber es liegt in deinen Händen, das Beste daraus zu machen.«

Ich glaube, ich war so an die sechs Jahre alt, als alles anfing. Zuerst waren es nur Andeutungen, dann Hänseleien gewesen, die ich vonseiten der männlichen Familienmitglieder über mich ergehen lassen musste. Im Laufe der Zeit wurden aus den Hänseleien kleinere Handgreiflichkeiten, die sich schließlich zu fast täglichen handfesten Schlägen steigerten.

Warum es überhaupt anfing?

Na ja, weil ich hin und wieder meiner Schwester half, die Haare ihrer Barbies zu kämmen, aber vor allem, weil ich mein altes, etwas zerrissenes Hasenkuscheltier, das ich vom Roten Kreuz geschenkt bekommen hatte, so gern bei mir im Arm trug, es voller Liebe drückte und meistens mit ihm auch schlafen ging.

Das war der Auslöser für die Schläge.

An das erste Mal kann ich mich noch ganz genau erinnern: Plötzlich stand er in meinem Zimmer – Mustafa, einer meiner älteren Brüder. Angsterfüllt schaute ich in seine zu schmalen Schlitzen zusammengezogenen Augen, sah seinen kräftigen Körper, seine starken Arme, spürte seine Hände: die eine Hand, die meinen Oberarm wie ein Schraubstock umfasste, und die andere, die sich wie eine Stahlzange in meine Schultern krallte.

»Das tut so weh, bitte lass mich, Mustafa!«, heulte ich auf, als seine Pranken sich noch stärker in mein Fleisch bohrten und ich gleichzeitig meinen Kuschelhasen fest an mich presste, als müssten wir uns gegenseitig schützen vor dem, was gleich kommen würde.

Ich verstand es nicht. Hatte denn nicht jedes Kind sein Lieblingsspielzeug? Ganz egal, ob es ein Gameboy war, ein Kuscheltier, eine Barbiepuppe oder auch nur ein Fußball? Das ist doch kein Grund, mich zu schlagen!‹, dachte ich verzweifelt, ›jedes Kind darf doch sein Lieblingsspielzeug haben!‹ In meinem Fall war es eben ein Kuscheltier – mein Hase, mein einzig richtiger Freund.

Mein Bruder Mustafa sah das gar nicht so. In seinen Augen waren Kuscheltiere nur was für Mädchen – eine Logik, die ich nie verstanden habe. Vor ihm hatte ich immer besonders viel Angst, denn er war, wie schon gesagt, groß und stark gebaut, und für mein Empfinden war er ein Mensch ohne Wärme und Gefühle.

»Bist du ein Mädchen?!«, schrie er mich an.

»Bitte lass mich doch, alle meine Freunde haben eins. Hör bitte auf, mich zu schlagen, ich verspreche auch, ganz brav zu sein«, wimmerte ich in der Hoffnung, er würde dann von mir ablassen. Gleichzeitig drückte ich mein Kuscheltier noch enger an meinen Körper.

Was hatte ich denn getan?

Selbst im Rückblick denke ich das oft: Was hatte ich denn getan? Was war genau das Verbrechen, wofür man mich bestrafte? Damals war ich noch ein Kind. Was kann man als sechs Jahre altes Kind schon denken, wenn man, wie jedes andere Kind auf dieser Erde, doch bloß sein Lieblingsspielzeug nicht hergeben will?

Es nützte nichts. Je mehr ich schrie, desto wütender wurde Mustafa, je öfter ich versicherte, ganz brav zu sein, desto stärker drückte er zu, schüttelte mich und versuchte, mir meinen Hasen aus den Händen zu reißen. Aber ich hielt ihn fest, mit aller Kraft, als hinge mein Leben davon ab. Er war das Wertvollste, was ich hatte, das, was ich wirklich liebte.

Doch das brachte meinen Bruder nur noch mehr in Rage. Und als er es nicht schaffte, mir mein Kuscheltier zu entreißen, schlug er zu. Erbarmungslos und heftig drosch er mit seinen Fäusten auf mich ein.

Die Schmerzen, die er mir zufügte, kann ich nur schwer beschreiben. Ich fühlte mich wie ein Tier ohne Worte, das innerlich litt und die Gefühle nur mit Tränen zeigen konnte. Während seiner Schläge war ich immer mehr zurückgewichen, bis ich in der Zimmerecke eingeengt war und, meinem übermächtigen Gegner ausgeliefert, keinen Ausweg mehr zum Flüchten hatte. Meine Tränen nässten das Fell meines Hasen, den ich immer noch fest umklammert an mich drückte, während ich weinend flehte: »Bitte, bitte … du tust mir weh …«

»Ach sooo, jetzt verstehe ich«, höhnte Mustafa, während er kurz seine Schläge unterbrach, »du bist ’ne kleine Schwuchtel, nicht wahr?«

›Schwuchtel? Dieses Wort … Was bedeutet das?‹, dachte ich immer wieder, wenn er mich so nannte. Damals kannte ich die Bedeutung dieses Begriffes nicht. Ohne zu wissen, als was er mich da bezeichnete, schaute ich ihn nur mit Tränen in den Augen an. Ich konnte ja doch nichts tun, mich nicht wehren, nicht weglaufen, gar nichts.

Ja, es ist wahr, ich liebte mein Kuscheltier, ohne Zweifel, aber das war es offenbar nicht allein: Ich habe damals nicht verstanden, warum mir mein Hase nicht einfach weggenommen und damit alles beendet wurde, diese unbeschreibliche Qual, diese fließenden Tränen und diese Erniedrigungen. Und warum hat niemals eines meiner anderen Familienmitglieder meinen Bruder oder meinen Vater daran gehindert, mich zu schlagen? Doch aus der Perspektive meines Vaters betrachtet, stellte ich vermutlich mit meiner Sensibilität und »Andersartigkeit« eine massive Bedrohung für seine sehr archaischen Wertevorstellungen dar. Und mein Vater hatte nie gelernt, anders als mit Schlägen auf Bedrohungen zu reagieren.

So flehte ich also seitdem fast täglich einen meiner älteren Brüder oder meinen Vater an, mich doch bitte in Ruhe zu lassen. Und Nacht für Nacht drückte ich meinen Hasen ganz fest an meinen schmalen Körper und betete zu Allah, er möge mir jemanden schicken, der mir helfen würde – bis ich einschlief.


floral

Es ist dunkel. Trotz dieser Dunkelheit fühle ich mich so geborgen und wohl, als wäre ich eingehüllt in eine große, weiche Decke, die mich wie ein schützender Mantel umgibt und zart wie Seide meine Haut umspielt.

Ich lausche hinein in diese Dunkelheit. Ein leises Raunen ist zu hören. Es klingt wie das Rascheln von Blättern. Ganz allmählich kommt dieses Rauschen näher, wird lauter. Und noch immer ist es so dunkel, dass ich nicht mal die Hände vor meinen Augen erkennen kann.

Da!

Ich sehe ein schwaches Leuchten. Und nun spüre ich auch etwas. Mit jeder Faser meines Körpers kann ich es spüren, gleich wird etwas geschehen, etwas Schönes, etwas, das …

Meine Brust presst sich zusammen. Ich bekomme keine Luft mehr, jeder Atemzug wird zur Qual … Der Druck wird immer stärker …

Zitternd wachte ich auf, kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich war wieder da, in meiner Welt, in meiner Realität, in der ich nicht sein wollte, in einem Umfeld, das mich Tag für Tag quälte und aus dem es kein Entrinnen gab. Den Kuschelhasen fest an meine Brust gedrückt, schloss ich die Augen und wollte weiterträumen, einfach raus aus diesem Leben, mit dem ich nichts zu tun haben wollte, und raus aus dieser Welt.

Ich wusste nicht, was dieser Traum bedeutete oder wie er enden würde, aber ich war mir sicher, dass ich es eines Tages wissen würde, dass ich irgendwann im Leben genügend Selbstbewusstsein und Kraft haben würde, um meinen Traum nicht nur zu träumen, sondern zu leben – die einzige Frage war immer nur: Wann?

 

2

Wir lebten damals in einem kleinen Ort in der Nähe von Hamburg und jetzt, im Winter, waren die Menschen, die mir morgens auf meinem Schulweg die Hauptstraße entlang begegneten und schnell an mir vorbeihuschten, dick mit Mützen, Schals und Handschuhen vermummt, um sich vor der Kälte zu schützen.

Ich ging meistens allein zur Schule, denn das war mir lieber, als an irgendeiner Ecke auf einen meiner Kameraden zu warten. Wenn ich nicht vom Schaufenster eines Souvenir- oder Bekleidungsgeschäftes abgelenkt wurde, war ich ziemlich schnell in der Schule, etwa in zehn Minuten. Meine Mutter wollte immer, dass ich unterwegs mit niemandem spreche und nie vergesse, dass es ein Geschenk ist, in die Schule gehen und lernen zu dürfen. Oft bot mir mein kleiner Bruder für den Schulweg sein Fahrrad an, das er von unseren deutschen Nachbarn geschenkt bekommen hatte. Da wir aber kein Schloss dazu hatten, konnte ich sein Angebot nie annehmen, denn ich hatte Angst, dass das Fahrrad geklaut wird.

In der Grundschule habe ich mich immer sehr wohlgefühlt. Sie war mitten im Ort, ein altes, aber schönes kastenförmiges Gebäude. In unserer Kultur nennt man die Schule das »zweite Haus der Kinder«, und so habe ich es dort auch empfunden. Auf dem großen Schulhof hatten wir genügend Platz zum Seilspringen, Versteckenspielen, zum Rennen oder einfach nur, um mit Freunden in der Gruppe zu stehen und zu reden. Wir hatten sogar einen kleinen Hügel mit Rutsche auf dem Gelände. Besonders gut haben mir die vielen alten Eichen gefallen, die dem Hof eine ganz besondere Atmosphäre verliehen. Auch unser Klassenzimmer war sehr schön. Der hintere Bereich war der »gemütliche Teil«, ausgestattet mit Teppichboden und Regalen mit Spielen, Büchern, Malsachen und Legoklötzen.

In unserer Klasse waren die meisten Schüler Deutsche. Ich war der einzige Südländer, und dann hatten wir noch einige russische Freunde. Trotzdem wir etwas mehr Mädchen als Jungs waren, haben wir uns alle super verstanden.

An einem Wintermorgen, nach einer weiteren Nacht mit Schlägen, habe ich wie immer so getan, als wenn gestern nichts gewesen wäre. Warum sollte ich denn auch etwas zeigen? Es würde ja nichts daran ändern und es war ja zudem auch nichts Neues, sozusagen fast mein täglicher Ablauf. Und doch war heute etwas anders als sonst.

»Frau Schulz?«, fragte ich nämlich meine Klassenlehrerin ganz schüchtern kurz vor Beginn des Unterrichtes. »Ist es eigentlich etwas Schlimmes, wenn ich ein Kuscheltier habe und damit spiele und schlafen gehe?«

»Aber natürlich nicht, Yosef! Das ist doch schön und wirklich nichts Schlimmes«, sagte sie mit einem warmen Lächeln und strahlenden Augen. »Hast du denn eins?«

»Ja, einen Hasen.«

»Wie heißt er denn?«

Nach langem Überlegen sagte ich ganz verzweifelt: »Ich weiß es nicht. Ich habe mir noch nie einen Namen ausgedacht.«

Mir war das damals etwas peinlich, weil ich ja mein Stofftier so gernhatte. Ich weiß auch nicht, warum ich niemals darauf gekommen war, ihm einen Namen zu geben.

»Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag: Morgen bringst du ihn einfach mit, und dann denken wir uns zusammen einen passenden Namen aus, einverstanden?«

Das Lächeln war immer noch in ihrem schönen Gesicht zu sehen. Frau Schulz war seit der ersten Klasse meine Klassenlehrerin. Sie war damals etwa 35 Jahre alt, schlank und hatte eine dynamische, offene Ausstrahlung. Mit ihr habe ich mich immer sehr gut verstanden, sie behandelte mich fast so, als wäre ich ihr eigenes Kind. Warum sie das tat, weiß ich auch nicht. Vielleicht ahnte sie etwas, obwohl ich über die Zustände zu Hause nie etwas erzählt habe. Oder sie hatte Mitleid mit mir, weil ich aus einer ungebildeten Familie kam und sie mir das Gefühl geben wollte, auch dazuzugehören. Sozusagen eine Art Willkommenszeichen. Ich weiß es nicht, aber wie dem auch sei, sie versuchte mich immer voller Liebe bei allem zu unterstützen, egal, in welcher Situation ich gerade war oder welches Problem, welche Frage mich beschäftigte. Und dass sie mir jetzt auch noch helfen wollte, für mein Kuscheltier einen passenden Namen zu finden, machte mir sehr große Freude, so sehr, dass ich erst verlegen auf den Boden starrte und dann plötzlich zu weinen begann. Denn ich war überglücklich in jenem Augenblick: Noch nie hatte jemand wohlwollendes Interesse für meinen Hasen gezeigt.

»Aber Yosef, was ist denn? Warum weinst du auf einmal?«

Ich hätte ihr so gerne erzählt, was ich zu Hause immer erlebte und durchmachen musste, aber ich konnte und durfte einfach nicht. Meine Mutter schärfte uns immer ein, dass das, was im Haus passiert, auch im Haus bleiben muss. Es gilt als das Geheimnis des Hauses und keiner darf jemals dieses Geheimnis erfahren. In Deutschland heißt es ja auch, man wäscht nicht seine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit, das hat wohl eine ähnliche Bedeutung. Ich hatte meine Mutter sehr gerne und ihr bei allem sehr vertraut. Deshalb versuchte ich immer, das zu tun, was sie sagte, um sie nicht traurig zu stimmen.

»Ach nichts, ich bin nur so froh, dass sich jemand um mein Kuscheltier kümmert. Das macht sonst keiner«, antwortete ich leise.

Frau Schulz ging in die Knie, sodass wir auf Augenhöhe waren, nahm mich kurz in den Arm und sagte dann: »Deswegen musst du doch nicht weinen. Du weißt doch, dass ich dir immer gerne helfe und zuhöre, egal bei welchem Thema. Aber nun setz’ dich hin, damit wir mit unserem Unterricht beginnen können. Heute gibt es viel Neues zu lernen.«

Mit einem Lächeln streichelte sie mir übers Haar, bevor ich wieder auf meinen Platz lief und aufmerksam dem Mathematikunterricht folgte.

Auf dem Weg nach Hause habe ich meinen damals drei besten Freunden, Thomas, Mike und Janne, erzählt, dass Frau Schulz mir bei der Auswahl für den Namen meines Kuschelhasen helfen wollte. In ihren Blicken meinte ich, Eifersucht zu sehen – wir waren ja noch Kinder und wollten alle die ungeteilte Aufmerksamkeit unserer Lehrerin. Von uns vieren war ich der einzige Ausländer. In meinem engeren Umfeld hatte ich nur deutsche Kinder als Freunde, die anderen waren mir immer etwas zu grob. Unsere kleine Gruppe aber verstand sich super, und so kümmerte mich auch die leichte Eifersucht nicht. Ich dachte nur: ›Hauptsache, jemand hilft mir und zeigt Interesse für meinen Hasen.‹

Als ich zu Hause angekommen war und geklingelt hatte, öffnete mir mein zwei Jahre jüngerer Bruder Ali die Tür und ich betrat, immer noch ganz beglückt, unser Haus. Unser Haus erschien mir damals sehr groß. Der kleine Flur im Eingangsbereich hatte drei Türen: die auf der rechten Seite führte ins Gäste-WC, die linke nach oben, wo das Schlafzimmer meines älteren Bruders Hassan war und das große Wohnzimmer, das wir zum Schlafzimmer von mir, Ali und meinem anderen älteren Bruder, Nebil, umfunktioniert hatten. Die mittlere Tür führte zum großen Wohn- und Ess­zimmer, von dort aus ging es zur Küche und zu einem länglichen Flur, wo das Badezimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern und meiner kleinen Schwester Rima waren, außerdem das Schlafzimmer meiner großen Schwester Leya und das Schlafzimmer von Mustafa und seiner Frau Rüya. Wir waren eine richtige Großfamilie, insgesamt zehn Personen, davon sieben Kinder: zwei Mädchen und fünf Jungs. Mustafa hatte bereits mit 17 Jahren geheiratet, und seitdem lebte auch seine Frau bei uns. Rüya, die bei der Hochzeit 14 gewesen war, war immer wie eine große Schwester zu mir, die ich sehr gernhatte. Rima, meine kleinste Schwester, die fünf Jahre jünger ist als ich, schlief noch bei unseren Eltern mit im Zimmer, da wir keinen anderen Platz hatten. Sie ging damals noch in den Kindergarten.

Ich lief mit meiner Schultasche direkt zur Küche und rannte meiner Mutter gleich in die Arme. Sie hatte wieder etwas Leckeres gekocht, man konnte es schon durchs ganze Haus riechen. Es nennt sich Maklube, das ist ein orientalisches Reisgericht mit Hähnchen – eine wahre Delikatesse, die in den arabischen Ländern sehr beliebt ist. Rüya hatte ihr bei allem geholfen, wie es wohl damals ihre Aufgabe war, denn zur Schule ging sie nicht mehr.

Ich wusch mir in der Küche schnell die Hände, setzte mich an den Tisch und freute mich auf das Essen. Doch dann kam mein Vater und schaute mich lange und mit unerklärbarem Blick an. Mein Vater ist ein kleiner Mann mit dickem Bauch. Er ist nicht kräftig, hat aber einen Gesichtsausdruck, der uns allen immer sehr Angst machte. Er trug an diesem Mittag dieses Negative in sich, das man mit Worten nicht gerne erklären möchte.

»Hast du Hunger?«, fragte er schließlich in das Schweigen hinein.

»Ja«, antwortete ich scheu und war sehr überrascht, da mein Vater mich so etwas noch nie gefragt hatte. Als ich ihn verwundert ansah, bemerkte ich, dass er seinen Gürtel nicht mehr um die Hüfte trug, sondern fest in seiner Hand drückte. Schlagartig wurde mir klar, was jetzt schon wieder passieren würde. Man musste dafür nicht lange nachdenken, es war ja eindeutig. ›Warum sollte er denn sonst seinen Gürtel in der Hand halten? Ich wollte es nur in diesem Moment nicht wahrhaben und wusste auch keinen Grund dafür.

Wie in Zeitlupe kam er auf mich zu, fasste mich sanft an der Schulter und befahl mir, mit ihm zu gehen. Beim Aufstehen schaute ich meine Mutter an und sah schon ihre Augen glänzen. Sie musste weinen … Was war bloß wieder los? Was hatte ich nur wieder falsch gemacht? Wir gingen langsam ins Wohnzimmer, wo er auf einmal anhielt und anfing, mich auszupeitschen.

Laut schreiend riss ich mich los, rannte davon und versteckte mich hinter dem Sofa. Doch der Schutz währte nicht lange. Mein Vater packte mich am Arm und zerrte mich wieder in die Mitte des Zimmers, wo er fortfuhr, auf mich einzuprügeln. Ich schrie und schaute Hilfe suchend nach meiner Mutter, die weinend vom Esszimmer aus zusah, ihr wunderschönes Gesicht mit beiden Händen halb verdeckte und es nicht wagte einzugreifen. Rüya, die selbst noch sehr jung war, war vor Angst in ihr Zimmer gerannt, um sich zu verstecken. Meine Brüder Ali und Nebil hatten meine Schreie gehört und waren aufgeschreckt ins Wohnzimmer gekommen. Der Rest der Familie war wohl nicht anwesend, sonst hätten auch sie sich dieses brutale Schauspiel mit angeschaut.

Mein Vater prügelte mich, als wäre ich ein unartiges wildes Tier, dem er Respekt beibringen musste. Er schlug so lange weiter, bis mein ganzer Körper mit roten Flecken übersät war und ich vor Furcht nur noch zitterte. Als er aufhörte, ging er neben mir in die Hocke, hob mich grob hoch, sodass wir auf Augenhöhe waren, und gab mir eine Ohrfeige. Dann schrie er mich an:

»Du spielst tatsächlich mit Barbies, ja?! Und gehst auch noch mit deinem Hasen ins Bett?! Bist du etwa ein Mädchen mit einem Penis, oder was?! Ich sage dir eins, Junge, ich will nur richtige Männer in meinem Haus haben! Ich ziehe hier keine Weicheier oder Schwuchteln auf, ist das klar!«

›Schon wieder dieses Wort – Schwuchtel … Was ist das bloß? Und wer hat ihm gesagt, dass ich mit Barbies spiele? Das stimmt doch gar nicht!‹ Ab und an mal hatte ich Rima beim Kämmen der Puppenhaare geholfen, weil sie mich immer so lieb fragte. Aber ich hatte nie selbst damit gespielt. Doch es war mir schnell klar, wer ihm so etwas erzählt hatte: Außer Mustafa konnte es ja keiner gewesen sein. Er mochte mich einfach nicht.

»Wenn ich noch einmal hören sollte, dass du mit Mädchensachen spielst oder dich wie ein Mädchen benimmst, dann bringe ich dich um, ist das klar?!«

Ich sah ihn nur mit großen Augen an, nickte zitternd und hoffte, dass diese Qual damit beendet wäre.

»Für so eine Schwuchtel wie dich gibt es heute kein Mittagsessen mehr, geh rauf auf dein Bett und warte, bis ich dir erlaube, wieder aufzustehen! Und wenn ich mitbekommen sollte, dass du vorher aus dem Bett steigst, fange ich noch mal von vorne an!«

Ohne jeden Mucks rannte ich nach oben in mein Zimmer und warf mich auf mein Bett. Nun fing ich an, noch heftiger zu weinen, ich konnte gar nicht mehr damit aufhören. Verzweifelt schlug ich auf mein Kissen ein und fragte mich in meiner Einsamkeit: ›Warum? Warum das alles? Was bedeutet Schwuchtel? Warum sagt jeder immer voller Verachtung dieses Wort zu mir?‹

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, doch schließlich legte ich mich still auf den Rücken und starrte die alte Holzdecke über mir an. Lange, sehr lange lag ich einfach so da, ohne etwas denken oder fühlen zu können. Es war, als wäre ich bereits tot und würde auf meine Beerdigung warten.

Später kamen irgendwann Nebil und Ali ins Zimmer, schauten mich erst nur an, zeigten dann mit dem Finger auf mich und begannen, mich auszulachen. Nebil hatte damals Ali sehr oft gegen mich aufgehetzt. Es machte ihm Spaß, wenn er uns streiten sah. Doch wenn keiner auf Ali einredete, verstand ich mich wirklich blendend mit ihm.

Traurig und verzweifelt schaute ich beide wortlos an. Tränen flossen mir übers Gesicht und ich dachte mir: ›So etwas findet ihr auch noch lustig? Geschlagen zu werden, ohne überhaupt etwas dafürzukönnen?‹

Meine Gedanken wurden durch meine Mutter unterbrochen, die für mich genau zum richtigen Zeitpunkt das Zimmer betrat. Sie schrie Ali und Nebil sehr wütend an und schickte sie raus. Beschämt verließen beide ohne weiteren Kommentar den Raum. Dann kam meine Mutter auf mich zu, setzte sich vorsichtig neben mich und fing an, mein Gesicht zart zu streicheln und zu küssen. Ich selber schaute sie nur wortlos an. Was hätte ich auch sagen sollen? Sie wusste bestimmt, dass ich nichts Schlechtes getan hatte.

Schließlich nahm sie ihre Hände wieder weg, setzte sich aufrecht hin und begann, in ihrer Schürze zu wühlen, wobei sie sich ab und an ihre eigenen Tränen wegwischte. Sie musste tatsächlich auch weinen, nur meinetwegen …

Meine arme Mutter … Ich mag es nicht, sie weinen zu sehen, und schon gar nicht, wenn ich der Grund dafür bin. Weinen passt einfach nicht zu ihrem schönen Gesicht. Für mich war sie schon immer die schönste Frau der Welt. Sie mag zwar etwas pummelig sein, aber ihre leuchtenden Augen ließen sie schon immer eine große Wärme ausstrahlen, die sie auch wirklich besitzt.

Langsam holte sie ein Brot mit Butter und Käse und dazu zwei kleine Gurken heraus und reichte es mir.

»Mein kleines dummes Kindchen«, sagte sie mit einem Lächeln und streichelte mir noch mal über mein Gesicht. »Iss etwas … Ich weiß, es ist nicht das, was ich gekocht habe, aber ich konnte ja nicht mit einem Tablett hochkommen, sonst sieht das vielleicht dein Vater – und das wollen wir ja nicht, stimmt’s?«

Ich nickte nur und griff dann gierig nach dem Stück Brot, weil ich wirklich sehr hungrig war. In meinem Zustand kam mir diese Kleinigkeit wie ein großes Festmahl vor.

Meine Mutter sah mir erst still beim Essen zu und fragte dann nach einer Weile: »Yussuf, sag mir bitte die Wahrheit: Hast du mit Barbies gespielt oder nicht?«

Ich schaute sie verwundert an und schüttelte nur den Kopf. Zweifelte sie etwa doch an mir?

»Wirklich, mein Sohn? Sag mir die Wahrheit! Du hast niemals Geheimnisse vor mir.«

»Wirklich, Mummy, ich bin doch ein Junge und Jungs spielen nicht mit Mädchensachen. Du weißt doch, dass ich so etwas niemals machen würde. Warum fragst du mich das?«

»Ja, ich weiß … Ich wollte mich nur vergewissern …«

Eine Zeit lang sprachen wir kein Wort mehr. Meine Mutter schaute nur nachdenklich auf den Boden, während ich mit Essen beschäftigt war. Wie gern ich doch gewusst hätte, was in ihrem Kopf vor sich ging. Irgendwann streichelte sie mir noch mal übers Gesicht, küsste meine Stirn, erhob sich und ging in Richtung Treppe. Erst schaute ich ihr nur nach, doch dann sammelte ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Mummy, was bedeutet Schwuchtel

Sie drehte sich blitzschnell um, blieb wie angewurzelt stehen und starrte mich sehr böse an. Mein Gott, wie hatte ich in diesem Moment Angst, etwas Falsches gesagt zu haben! Nach langem Schweigen antwortete sie nur kühl: »Etwas Schlimmes, etwas Abscheuliches. Ich will nicht, dass du noch mal solche Ausdrücke benutzt. Das passt nicht zu dir. Das passt zu niemandem von uns, verstehst du? Nun iss, und ich will nie wieder, hörst du, nie wieder so etwas von dir hören!«

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ den Raum.

›So etwas passt nicht zu mir … So etwas passt nicht zur Familie … Weshalb werde ich denn dann als so etwas bezeichnet?‹

Ich grübelte lange darüber nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Wie denn auch? Mit acht Jahren kann man sich über einen solchen Begriff so lange den Kopf zerbrechen, wie man will, man würde nie auf eine Antwort stoßen. Aber trotzdem hatte ich den Gesichtsausdruck meiner Mutter, als ich sie nach der Bedeutung dieses Wortes gefragt hatte, immer vor Augen. Wenn sie schon so böse reagierte, dann konnte es wirklich nur etwas ganz Schlimmes sein. Da war ich mir hundertprozentig sicher.

Nach langem Nachdenken wandte ich mich wieder der kleinen Mahlzeit zu, die mir meine Mutter gebracht hatte. Ich aß weiter und war glücklich, dass sie den Mut gehabt hatte, mir etwas hochzubringen. Leider reichte mir das Wenige nicht, um satt zu werden, und mein Magen knurrte weiter. Ich legte mich wieder zurück auf mein Bett, drehte mich auf die Seite, nahm meinen Hasen in den einen Arm und schlang den anderen über meinen Bauch, in der Hoffnung, das Hungergefühl dadurch etwas mildern zu können. Dann wartete ich, bis mein Vater mich wieder nach unten lassen würde.

Als es langsam dunkel wurde, überlieferte Nebil mir die Erlaubnis meines Vaters, am Tisch mit der ganzen Familie zu Abend essen zu dürfen. Schon wieder hatte meine Mutter eines meiner Lieblingsgerichte gekocht. Der Duft zog verlockend durchs Treppenhaus.

Ich setzte mich neben Rima auf die Bank. Die ganze Familie bis auf Mustafa war an diesem Abend zum Essen erschienen. Er war noch bei seiner Ausbildung in Hamburg und es fiel mir wirklich ein großer Stein vom Herzen, ihn jetzt nicht dabeizuhaben. Ich hätte seine Gegenwart kaum aushalten können, immerhin war er ja wohl für den heutigen Streit mitverantwortlich. Außerdem war mein Vater immer so seltsam, wenn er da war. Als ob er den anderen etwas beweisen müsste.

Unser Abendessen verlief so, als wäre mittags nie etwas geschehen. Natürlich war ich derjenige, der am meisten zu sich nahm. Um ehrlich zu sein, aß ich sogar vor Hunger wie ein kleines Ferkel. Außerdem strahlten meine Augen auf, als ich sah, dass es auch Cola zu trinken gab. Für uns war es nämlich immer ein großes Fest, wenn es mal Getränke wie Cola, Fanta oder auch einfach nur einen normalen Saft gab. Das war ein Luxus, den wir uns nur ab und an leisten konnten. Mein Vater hat in Deutschland niemals gearbeitet – aus welchem Grund, weiß ich auch nicht. Mir kam es aber immer so vor, als wenn er etwas zu faul dafür war und sich lieber ein gemütliches Leben mit der Sozialhilfe machte. Vermutlich hätte es ihm besser getan, auch einer Arbeit nachzugehen. Damit wäre er sicher ausgeglichener und zufriedener gewesen.

Als ich fertig war und die Reste noch mit meinem Fladenbrot aufgewischt und ebenfalls verzehrt hatte, stand ich auf, rannte zu meiner Mutter und küsste sie am Arm. Dann drehte ich mich zu den anderen Familienmitgliedern und bemerkte, wie mein Vater mich ansah. Erst traute ich mich nicht, dann aber ging ich langsam auf ihn zu, legte meine Arme fest um seinen Nacken und küsste ihn auf die Wange. Er streichelte mir nur kurz über meine Haare, ohne etwas zu sagen, und rauchte schweigend seine Zigarette weiter. Ja, das war halt mein Vater, er war schon immer etwas gefühllos. So etwas wie Kinder- oder Familienliebe oder Ähnliches kannte er überhaupt nicht. Im Rückblick überlege ich heute oft, ob er sich dessen bewusst war. Vielleicht betrachtete er es ja als völlig normal, dass man die Kinder zu züchtigen hatte und dass ganz besonders ein Mann eben ein Mann zu sein hatte und nur dann zu einem richtigen Mann werden konnte, wenn man ihn schon als Kind zu einem Macho erzog. Vielleicht war mein Vater auch so erzogen worden und hatte es die ganzen Jahre in seiner Abgeschiedenheit zu Hause gar nicht wahrgenommen, dass wir nun in einer völlig anderen Kultur lebten?

Nachdem ich Hände und Mund gewaschen hatte, lief ich wieder in mein Zimmer. Dort ging ich direkt zu meinem Bett und griff nach meinem Hasen. Erst sah ich ihn lange sehr traurig und verzweifelt an. Dann begann ich, ein ernstes Wort mit ihm zu reden, in der Hoffnung, dass er, den ich von ganzem Herzen liebte, mich verstehen würde.

»Hase, meinst du nicht, es wäre besser, wenn wir uns trennen würden? Ich habe heute, als ich allein auf meinem Bett lag, sehr lange darüber nachgedacht. Meine Familie mag dich einfach nicht. Ich weiß auch nicht, warum. Ich kriege deinetwegen immer Ärger, und das tut immer so weh.«

Ich zog mein Shirt hoch und zeigte ihm einige meiner blauen Flecke.

»Bitte sei mir nicht böse, ja? Freunde müssen nicht immer beieinander sein, um glücklich zu sein. Freunde können auch Freunde bleiben, wenn sie sich gegenseitig im Herzen haben. Und du wirst stets in meinem Herzen bleiben und ich werde immer an dich denken, versprochen. Ich hoffe, du kannst mir vertrauen. Ich wollte so gerne, dass Frau Schulz dich auch kennenlernt. Nun aber hoffe ich, dass sie dich schon längst vergessen hat und sich keinen Namen für dich ausgedacht hat. So brauche ich ihr morgen keine Erklärung zu geben. Aber wie hätte ich das denn auch machen sollen, Hase? Ich darf ja nicht das Geheimnis des Hauses brechen.«

Lange sah ich meinen Hasen nach diesen Worten an und strich ihm über sein weiches Fell. Dann nahm ich ihn und lief heimlich hinaus in den Garten. Es war ein kalter Winterabend, ein stürmischer Wind ließ die Schneeflocken immer wieder herumwirbeln und auftanzen. Mit meinem Hasen in der Hand ging ich in die Scheune und schaute nach einem Spaten, der nicht zu groß für mich war. Anschließend suchte ich eine ruhige Ecke im Garten und fing hektisch an, dort, wo meine Mutter im Frühjahr gerne Blumen anpflanzte, zu graben. Sehr lange, ununterbrochen. Meinen Hasen hatte ich so an die Seite gesetzt, dass er mir zusehen konnte. Als ich dann außer Atem war, machte ich eine Pause und begutachtete mein Werk. Das Loch war nicht wirklich breit, aber so tief, dass ich zur Hälfte darin Platz gefunden hätte. Da mir das Loch tief genug erschien, wandte ich mich wieder an meinen Hasen. Ganz vorsichtig nahm ich ihn noch mal hoch, schlang meine Arme um ihn und drückte ihn, so fest ich konnte. Die Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich mich schluchzend ein letztes Mal von ihm verabschiedete.

»Du willst doch auch, dass ich keinen Ärger mehr bekomme, stimmt’s, Hase? Du brauchst nichts zu sagen, mein Lieber, ich weiß, dass es so ist. Ich werde oft an dich denken, mein bester Freund. Das verspreche ich dir, Habibi, mein Liebling. Bitte vergib mir …«

Ich küsste ihn noch ein paar Mal und warf ihn dann ins Loch. Tränenüberströmt sah ich ihn dort unten sitzen, dann fing ich an, Erde über ihn zu kippen und das Loch zuzuschaufeln.

Ab diesen Zeitpunkt existierte mein Hase nur noch in meinen Träumen, in meinem Herzen und in meinen Vorstellungen. Ich hatte ja nicht einmal ein Bild von ihm. Doch selbst heute noch, als erwachsener Mann, denke ich oft an ihn. Das, was man als Kind durchmachen muss, vergisst man nicht so leicht, es bleibt immer sehr tief im Herzen verborgen. Egal, wie viele Jahre vergehen. Aber wie dem auch sei: Seine Ecke, sein Grab habe ich immer mit vielen bunten Blumen bepflanzt und gepflegt. Man sagt zwar, die Zeit heilt alle Wunden, aber da kann ich wirklich nicht zustimmen. Je mehr Zeit verging, desto mehr wuchs er mir ans Herz und ich vermisste ihn umso mehr. Es war, als hätte man mir ein Stück vom Körper abgerissen. Besonders fehlte er mir in den Nächten, da ich ihn während des Schlafens immer fest in den Armen gehalten hatte. Um es kurz zu sagen: Es war tatsächlich mein bester Freund, den ich da beerdigt hatte und den ich nie mehr wiedersehen sollte.