Freedom Bar

Freedom Bar

David Bielmann

Prolog

Das Haus in der Lausannegasse mit der Nummer dreiundvierzig hatte eine lange Geschichte hinter sich, aber dafür interessierten sich selbst unter den Historikern nur diejenigen, die sich mit der Belle Époque, speziell mit der Stadt Freiburg in der Belle Époque, speziell mit der Entwicklung der Lausannegasse in der Stadt Freiburg in der Belle Époque auseinandersetzten.

Heute interessierte man sich eher für die Bar, die sich im Keller des Hauses befand. Sie hieß Freedom Bar, und trotz des knappen Raums fühlten sich die Leute hier meistens sehr frei, weil sie vieles an Amerika erinnerte, das freie Land schlechthin, weil sie sich von ihren Sorgen und Ängsten freitrinken konnten, manchmal mit Freibier, weil sie fast immer, wenn sie hierherkamen, freihatten, und schließlich auch, weil viele von ihnen in keiner festen Beziehung lebten und deshalb freie Menschen waren. Der Name der Bar war also durchaus Programm, etwas, was ihr Inhaber bei sich selbst unbedingt vermeiden wollte, denn er hieß Heinrich Schweizer, und er hatte seiner Bar nicht einen Wildwesttouch verpasst, um dann als klassischer Eidgenosse wie ein Fremdkörper darin zu wirken, außerdem besaß er keinen ausgeprägten Nationalstolz. Inzwischen nannte er sich einfach Henry, ein kleiner Kunstgriff, der ihn selbstbewusster und insgesamt zufriedener machte.

Das Erdgeschoss besetzte ein introvertierter Mann namens Johann B. Grab mit seiner Buchhandlung Wissensarchiv. Die Buchhandlung hatte ihre besten Zeiten hinter sich, und dafür gab es tausend Gründe: Die Leute fanden keine Zeit mehr, um Bücher zu lesen, man bekam die Bücher im Internet billiger, die guten Bücher wurden alle verfilmt und man konnte sich das Lesen sparen, die berühmten Schriftsteller schrieben keine Bücher mehr, weil sie längst tot waren – mit Sicherheit aber lag der wachsende Misserfolg des Wissensarchivs auch daran, dass Johann B. Grab zwar Ahnung von Büchern, aber nicht vom Führen einer Buchhandlung hatte.

Im ersten Stock befand sich eine Kanzlei, die der Scheidungsanwalt Gregor Mahrer kürzlich eröffnet hatte. Sein Geschäft lief gut, und auch sonst hatte er kaum Anlass dafür, mit seinem Leben unzufrieden zu sein, er war immer noch gut aussehend, immer noch sportlich, immer noch verheiratet. Und er war Vater eines kleinen Sohnes, den man dem großen Scheidungsanwalt zu Ehren Gregor getauft hatte. Seine Frau Corina kümmerte sich um die Erziehung, und dass sie das gut tat, war gewiss, denn sie hatte einmal Erziehungswissenschaften studiert, ohne Abschluss zwar, aber mit Schwerpunkt Schwererziehbarkeit.

Die Dachwohnung schließlich hatte während Jahrzehnten dem Ehepaar Flüeler gehört, das den Nachbarn in all dieser Zeit höchstens durch seine Unauffälligkeit aufgefallen war. Als Konrad Flüeler vor fünf Jahren starb, wirkte sich dies nicht im Geringsten auf das Leben der Leute in der Lausannegasse aus. Auch im Haus mit der Nummer dreiundvierzig ging der Alltag weiter, als lebte Konrad Flüeler immer noch oder als hätte er nie gelebt, und die nahen Verwandten stellten nach anfänglicher Besorgnis fest, dass der Tod des Gatten sogar für die Witwe kein so einschneidendes Ereignis war. Vor zwei Wochen nun starb auch Seraphina, und ihr Ableben war für einige Personen schon von größerer Bedeutung. Es bescherte dem Musiker Bert Bucher die Ankunft in der Stadt. Und der Stadt die Ankunft von Bert Bucher.

 

1

Bert Bucher hatte mit einer gewissen Coolness auf den Tod seiner Großmutter reagiert. Er hatte sie, da er in einem anderen Teil der Schweiz aufgewachsen war, nicht sehr oft gesehen, andere Dinge dominierten sein Denken und Handeln, und überhaupt war der Altersunterschied für eine richtig innige Beziehung einfach zu groß gewesen.

Inzwischen fand er sogar, dass ihr Tod das Beste war, was ihm hatte passieren können, denn sein Leben war damit in völlig neue Bahnen gelenkt worden. Natürlich hätte er das so niemandem gesagt, positive Äußerungen über den Tod eines Mitmenschen waren im 21. Jahrhundert noch nicht salonfähig, auch dann nicht, wenn sie angebracht gewesen wären. Den guten wie den schlechten Menschen erließ man nach dem Tod nachsichtig ihre Sünden, der Tod war schließlich Strafe genug. Darüber hinaus zu richten stand dem Erdbewohner nicht zu, er bevorzugte ein versöhnliches Ende und sprach die Verstorbenen in seinem Gedächtnis heilig.

Von solch archaischen Ehrfurchtsriten hielt Bert nicht viel, er behielt seine Großmutter so in Erinnerung, wie er sie zu ihren Lebzeiten erfahren hatte, als zwar nette, aber furchtbar engstirnige und langweilige alte Frau.

Seit ein paar Tagen lebte er in ihrer Wohnung, wobei er kein schlechtes Gewissen zeigte, es sich dabei gut gehen zu lassen. Man hatte jemanden gesucht, der die Wohnung bis zu deren Vermietung ein bisschen unterhalten und vor allem aufräumen sollte. Einem Außenstehenden wollte man diese Aufgabe nicht anvertrauen, und der Einzige innerhalb der Familie, der sich einen längeren Aufenthalt in Freiburg vorstellen konnte, war Bert gewesen.

Der Umzug in die große Westschweizer Metropole, die hundert Mal mehr Einwohner zählte als sein Heimatdorf im Oberwallis, war für Bert schon ein Kulturschock. Aber er wollte an diesem pulsierenden Stadtleben einmal teilhaben, Kaufhäuser, Nachtclubs, Verkehrschaos, Fußgängermeilen, Drogenrazzien, Obdachlose, er wollte diesen ganzen urbanen Wahnsinn einmal aus dem Kern heraus fühlen und aufsaugen. Außerdem hatte ihm sein Cousin den Insidertipp gegeben, Freiburg sei in den letzten Jahren so etwas wie ein geheimer Mittelpunkt der Rockmusik geworden, besitze eine unglaublich lebendige und vielseitige Undergroundszene, es wimmle hier nur so von Talenten und solchen, die etwas mit diesen Talenten vorhätten. Mit ihrer Universität und ihrer Zweisprachigkeit sei die Stadt außerdem ein Schmelztiegel, ein riesiger völkerverbindender Rummelplatz, ein Weltdorf – die Schwärmereien hatten Bert an London erinnert, das als Rockmusikkapitale oft mit ähnlichem Vokabular beschrieben wurde.

In seinen Tagträumen stellte er sich die Sache ungefähr so vor: Wie die Beatles zu Beginn ihrer Karriere in Hamburg wollte er hier seinen kometenhaften Aufstieg starten. Er würde sich zuerst als Straßenmusiker einen Namen machen, bald in den angesagtesten Clubs der Stadt auftreten, allmählich vom Geheimtipp zur gefeierten lokalen Größe werden, bis ihm jemand, der die Macht dazu besaß, in die erste Liga der Rockmusik verhelfen würde. Freiburg sollte zu seinem Hamburg werden, zum Sprungbrett also, das ihn in die Welt hinauskatapultierte, zum Beispiel direkt nach London.

In London aber wusste im Moment noch niemand etwas von der Existenz eines unermesslich talentierten, erst 20-jährigen Hoffnungsträgers namens Bert Bucher. Obwohl es theoretisch durchaus möglich gewesen wäre, denn im Internet kursierten bereits vier kurze Kritiken über sein Schaffen:

Eine Konzertvorschau hatte ihn als Minnesänger des 21. Jahrhunderts vorgestellt. Noch immer wusste Bert nicht, was er davon halten sollte. An schlechten Tagen befürchtete er, dass man sich über ihn lustig gemacht hatte, an guten Tagen entnahm er der Bezeichnung eine abenteuerliche, ja heldenhafte Note.

Im Forum einer Schülerwebsite war er der Bob Dylan des armen Mannes. Das hatte ihn zuerst umgehauen. Je länger er aber über die Worte nachdachte, umso weniger gefielen sie ihm. Er konnte Bob Dylan nämlich nicht besonders gut leiden, zählte ihn sogar zu den meistüberschätzten Musikern aller Zeiten. Und wie genau der Zusatzdes armen Mannes gemeint war, hatte sich ihm nie ganz erschlossen, es bedeutete aber wohl, dass man ihn für schlechter hielt als Bob Dylan. Den er selbst wiederum für schlecht hielt. So gesehen war das nicht besonders ehrenvoll, doch die meisten Leute hielten Bob Dylan nicht für schlecht, sondern für großartig, und darauf kam es ja schließlich an.

Bert Bucher will eingängige, unkitschige, herzerwärmende Liebeslieder schreiben – und scheitert kläglich daran, befand man im Livereview eines Untergrundmusikmagazins. Das hingegen war übel, das war sogar ziemlich boshaft. Was erlaubte sich dieser Kritiker, der eigentlich von Natur aus gar kein Kritiker, sondern ein Idiot war? Die Frage hatte Bert viele Stunden Schlaf gekostet. Der Typ glaubte nicht nur zu wissen, ob der Künstler scheiterte oder nicht, er glaubte sogar zu wissen, was der Künstler wollte – was natürlich unmöglich war und letztlich seine Untauglichkeit bewies. Aber ob man diese Einsicht der ganzen Leserschaft zutrauen konnte, bezweifelte Bert.

Zum Glück stand darunter die vehemente Entgegnung eines Konzertbesuchers, der die Kritik des Idioten mit schlagenden Argumenten ad absurdum führte und Bert Bucher schließlich als Erben John Lennons bezeichnete. Das war schmeichelhaft, denn Berts Verehrung von John Lennon ging so weit, dass er ihn für einen der meistunterschätzten Musiker aller Zeiten hielt. Mit Lennon in einem Satz genannt zu werden, das würde ihm niemand mehr nehmen, der Satz würde bis zum Ende der Zeit im Internet zirkulieren.

Einen kleinen Schönheitsfehler hatte der Satz aber doch. Es war nicht ein Konzertbesucher, der ihn geschrieben hatte, sondern Bert selbst. Kürzlich war es ihm mithilfe einer Flasche Wodka gelungen, diesen Makel kurz auszublenden. Er hatte den Moment sehr genossen.

Das also waren die Spuren, die Bert Bucher bis dahin im weltweiten Netz hinterlassen hatte. Vier Kommentare, mit denen die Welt ihn wahrnehmen konnte. Wenn er morgen sterben würde, wäre alles, was von ihm in hundert Jahren noch bliebe, diese vier Kommentare. Weshalb er vorhatte, morgen noch nicht zu sterben und ein Lebenswerk zu erschaffen, das mehr auslöste als vier Kurzkritiken im Internet, von denen er die beste selbst verfasst hatte.

Natürlich hätte er sich lieber nicht um Kritiken gekümmert. Es wäre ihm gerne egal gewesen, was die Leute über ihn schrieben, aber leider war man halt schon ein bisschen auf die Leute angewiesen, vor allem als Künstler. Vor allem, wenn man noch nicht berühmt war. Eine gute Resonanz im Internet war fundamental, das wusste Bert, schließlich trieben sich täglich zwei Milliarden Leute im Internet herum, dagegen waren die paar Dutzend Fußgänger, die ihn gerade in Fleisch und Blut wahrnahmen, doch marginal, und niemand von ihnen wusste nach der Begegnung mit ihm, wie er hieß und wie viel Potenzial er wirklich besaß.

Seit knapp einer Stunde spielte Bert an jenem Januarnachmittag auf der Straße, und obwohl es für den Winter viel zu warm war – es gab keinen Schnee, stattdessen seit Tagen Sonnenschein –, bekam er langsam kalte Finger. Immer noch genügte ein kurzer Blick in die Büchse, um die bisherige Ausbeute zu zählen, geradezu unverschämte drei Franken achtzig waren es erst, ein miserabler Stundensatz, der noch geringer wurde, wenn man die ganze Vorbereitungszeit mitrechnete.

Die meisten Leute beachteten ihn nicht oder taten sogar so, als bemerkten sie ihn nicht. Dabei war er nun wirklich nicht zu überhören, wenn er seine eingängigen, unkitschigen, herzerwärmenden Liebeslieder sang. Manchmal hätte er sich nur ein Lächeln gewünscht, ein Nicken oder einen Blick, doch er konnte auch nachvollziehen, dass das ohne Gabe nicht ging. Die Leute wurden verlegen, ihn anzulächeln, ihm zuzunicken, ihn anzusehen, ohne den Geldbeutel zu zücken. Vielleicht, dachte er, müsste er nächstes Mal die Büchse zu Hause lassen, eine Tafel mit der Aufschrift Gratis-Konzert aufstellen, und alle würden stehen bleiben, zuhören und ihn lieben.

Endlich kam wieder ein Passant auf ihn zu. Bert setzte ein freundliches Lächeln auf und machte sich zum Dank bereit, doch der Mann war offenbar nicht einer Spende wegen näher getreten.

»Entschuldigung«, sagte er. Er trug eine Brille, die zu keinen Zeiten modern gewesen sein konnte, eine Jacke aus dunkelbraunem Leder und einen grauen, eng gebundenen Schal.

Bert begann eben die zweite Strophe. Er deutete mit dem Kopf auf die Gitarre, um dem Mann klarzumachen, dass eine Unterhaltung im Moment nicht möglich war.

»Entschuldigung«, sagte der Mann unbeirrt. »Könnten Sie bitte etwas zur Seite treten? Niemand kann so mein Schaufenster sehen.«

Bert drehte sich um und entdeckte einen winzigen Laden mit einer seltsamen Beschriftung:

WISSENSARCHIV

Buchhandlung

Korrekturen und Übersetzungen

Er improvisierte einen Schlussakkord, hob die Büchse auf und wollte sie ein paar Meter weiter wieder zu Boden stellen, doch dann entschied er, die Aufforderung des Mannes als willkommene Einladung zum Feierabend zu betrachten. Es hatte sowieso niemand bedauert, dass er einen seiner besten Songs vorzeitig abbrechen musste. Bert beendete seinen Arbeitstag und zog sich in die Wohnung zurück.

Auf dem Küchentisch entleerte er die Büchse, die einmal Großmutters Isländisch-Moos-Tabletten enthalten hatte und jetzt sein Einkommen. Was er mit dem Häufchen Kleingeld machen wollte, konnte er noch nicht sagen, er hatte auch keine Lust, darüber nachzudenken, denn es lief sowieso darauf hinaus, was er damit nicht machen konnte. Er entschied sich vorerst für ein warmes Bad, das hatte er sich draußen in der Kälte verdient und es war gratis.

Er hatte einen gewissen Respekt davor, in die Badewanne zu steigen, denn sein Großvater war vor ein paar Jahren in ebenjener Badewanne ertrunken. Ein klassischer Rockertod eigentlich, dachte Bert, auch für Jim Morrison sollen sich die Türen zum Jenseits ja in der Wanne geöffnet haben. Er versuchte, sich den Anblick vorzustellen, der Großmutter damals zugemutet worden war, ein bleicher, verrunzelter Körper, der leblos im Wasser schwamm – ihr Mann. Das musste schon grausam gewesen sein. Berts Fantasie brachte kein detailliertes Bild zustande, dafür fehlten ihm die Grundlagen. Er hatte noch nie einen alten Mann in der Badewanne gesehen, er wusste nicht, wie Leichen im Wasser aussahen, und er konnte sich auch gar nicht mehr so gut an Großvater erinnern.

Während er das Wasser einlaufen ließ, zog er sich im Schlafzimmer aus und warf die Kleider aufs Bett, eine enge, auf Kniehöhe zerrissene und unten zerfranste Jeans, ein rotes Shirt mit einem abstrakten Aufdruck und ein schwarz-weißes Second-Hand-Flanellhemd. Unterwäsche und Socken stopfte er in einen Plastiksack. Langsam musste er sich Gedanken darüber machen, was mit den getragenen Kleidern geschehen sollte.

Nackt ging er in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm einen Schluck Milch direkt aus dem Beutel – kleine Extravaganzen, die er sich leisten konnte, seit er nicht mehr bei den Eltern wohnte. Manche von ihnen tat er nur, weil er sie eben jetzt tun konnte, doch er tat sie alle mit Genuss.

Zuletzt hatte er zu seinen Eltern kein entspanntes Verhältnis mehr gehabt. Sie waren ziemlich alte Schule und besaßen noch diese unzeitgemäße Vorstellung vom Leben: arbeiten, um sich ein Auto kaufen zu können, ein Auto kaufen, um arbeiten gehen zu können. Ein Dasein im Zeichen der sinnlosen Schufterei, wie es bis ins 20. Jahrhundert hinein üblich gewesen war, aber Bert graute davor, selbst zu einer solchen Sisyphusexistenz zu werden, und er kämpfte entsprechend dagegen an. Dass sein älterer Bruder, inzwischen Versicherungsberater, ebenfalls im Fahrwasser aller vorangegangenen Generationen schwamm, machte es für Bert nicht einfacher. Die unterschiedlichen Lebensauffassungen hatten allmählich einen tiefen Graben zwischen Eltern und Sohn Bert gerissen, ja zu einer Entfremdung geführt, die so weit ging, dass sie sich für seine Pläne gar nicht mehr richtig interessierten.

Überhaupt stammte Bert aus einer eher emotionslosen Familie. Familienfeste waren stets ein Trauerspiel, seine Onkel und Tanten zeigten ohne Weißwein kaum Gefühlsregungen, und mit Weißwein äußerten sich diese in die falsche Richtung. Nur sein Cousin hatte immer zu ihm gehalten, er war anders als der Rest, neuen Dingen und der Welt gegenüber viel offener. Wahrscheinlich war er sogar sein bester Freund, um den er gerade jetzt, nachdem seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hatte, doch sehr froh war.

Als Bert ruhig im Wasser lag, dachte er an jenen traurigen letzten Donnerstag zurück, an dem ihm seine Freundin telefonisch mitgeteilt hatte, dass sie ab sofort nicht mehr seine Freundin sein wollte. Nach ein paar Rückfragen war er damit einverstanden gewesen. Nichts gegen ihn, überhaupt nicht, sagte sie, aber er ziehe jetzt sein Ding durch, und sie wolle ihr Ding ebenfalls durchziehen, leben und leben lassen, es sei für beide besser so.

Eigentlich war ihm nie viel an Nina gelegen, er hatte vor allem ihren Musikgeschmack gemocht, und ihren Arsch vielleicht. Aber mit der Trennung hatte sie ihn doch irgendwie auf dem falschen Fuß erwischt, jedenfalls hatte er den Abend nach dem Telefonat damit verbracht, an das Bettgehäuse gelehnt traurige Akkordfolgen zu spielen – eine Träne allerdings war ihm dabei nicht gelungen.

 

Zum Abendessen gab es ein Menü, in dem Berts neu erlangtes Lebensgefühl als Bohemien kulinarischen Ausdruck fand: Steinpilzfertigsuppe mit darin schwimmenden Schweinswürsten. Danach suchte er die Freedom Bar auf, die sich zu seinem Entzücken als Eldorado für alle Liebhaber des guten Geschmacks entpuppte. Dumpfes Licht und dunkelrot gestrichene Mauern sorgten für jene verruchte Grundstimmung, die Bert behagte. Die Theke friedete ein üppig bestücktes Flaschenregal ein, im hinteren Teil der Bar blinkten eine Jukebox und ein Flipper­automat, daneben entfesselte ein riesiges, direkt an die Wand gepinseltes Bild irgendeines amerikanischen Highways den Freiheitsdrang aller Rastlosen. An den übrigen Wänden hingen Plattencover, Konzertplakate, Fotos von Bands wie den Eagles, Lynyrd Skynyrd, Boston, Foreigner, Journey, ein schönes Stück Rockgeschichte also, das mit Blechschildern diverser Whiskeymarken passend ergänzt wurde, aus den Lautsprechern kam »Carry On Wayward Son«.

Bert setzte sich vor den Highway und wartete eine Weile, bis ihm klar wurde, dass hier niemand bediente. Also stand er auf und begab sich an die Theke, hinter der der Barkeeper gelangweilt in einer Zeitschrift blätterte. Er war einer dieser Typen, mit denen man lieber keine Geschäfte machte, die Bierbestellung verlief dann allerdings reibungslos. Bert reichte ihm eine Handvoll Münzen, dafür erhielt er Rückgeld in korrekter Höhe sowie ein goldfarbenes, mit prächtiger Schaumkrone abgerundetes Bier. Alles in allem ein ausgesprochen fairer Handel, fand Bert.

Mit dem erfüllenden Gefühl, das Bier allein mit dem heute erspielten Geld bezahlt zu haben, setzte sich Bert wieder und nahm sich vor, es ganz langsam und bewusst zu trinken. Für jeden Schluck hatte er praktisch einen Song spielen müssen. Den ersten Schluck hatte er sich mit dem heutigen Opener »Tina« verdient, ein Song, den er für seine Freundin Nina geschrieben, nach ihrem überraschenden Anruf aber umbetitelt hatte. Er mochte den Song nicht mehr besonders, schon deswegen, weil er gar keine Tina kannte, und weil der Song ihn immer noch an Nina erinnerte. Inzwischen vermutete er, dass sie ihm nur die halbe Wahrheit gesagt hatte, denn Gerüchten zufolge traf sie sich bereits mit einem anderen, der auch noch ein ehemaliger Mitschüler von Bert war. Irgendwie doch eine bittere Geschichte, fand er nun, denn wahrscheinlich besaß Nina neben einem ansprechenden Musikgeschmack und einem wohlgeformten Arsch schon noch andere Qualitäten. Ebenfalls zur zunehmenden Abneigung gegenüber »Tina« trug die Einsicht bei, dass zwar viele talentierte, aber vor allem viele untalentierte Songwriter der Welt ihre Freundinnen besangen. Er gab es nicht gerne zu, doch vielleicht hatte ihm der Idiot vom Untergrundmusikmagazin sogar ein bisschen die Augen geöffnet, ja seine Entwicklung beeinflusst. Jedenfalls hatte Bert unmittelbar nach dem vernichtenden Livereview seinen Stil ausgebaut, war experimentierfreudiger geworden, mit psychedelischen Klängen, Songs ohne Refrain und dergleichen – und siehe da, der Idiot schwieg fortan.

Es folgte der Schluck für »Time Is Money Is Time«, in dem er sich über unermüdliche Kapitalisten wie seine Eltern oder seinen Bruder lustig machte, dann der Schluck für »Hills Of Fortune«, eine liebevolle Hommage an die Brüste von Frau Glanzmann, seine Deutschlehrerin im Gymnasium.

Allmählich wurden die Gespräche um ihn herum lauter. Neben ihm nahmen zwei Frauen Platz und führten eine angeregte Diskussion, vom Typ her vielleicht Sozial­anthropologinnen oder Dressurreiterinnen. An der Bar saßen vier Typen in Reih und Glied, von denen einer mit seinem hässlichen Schnauz negativ auf sich aufmerksam machte, vielleicht arbeitete er an den Wochenenden als Sänger einer Queen-Coverband. Der Barkeeper, im Nebenamt vielleicht Zuhälter oder Auftragskiller, putzte mit dem Waschlappen einen Tisch, wobei er eine etwas komische, ja tragische Figur abgab. Derweil schritt eine Frau in den Vierzigern in violetter Trainingshose entschlossen an den Flipperautomaten, vielleicht, schloss Bert seine kleine Milieustudie ab, um ihr Sozialhilfegeld oder die Alimente für ihre zu Hause gebliebenen Kinder zu verprassen.

Plötzlich fühlte er eine Berührung auf der Schulter.

Ihr Anblick fühlte sich an wie eine Reise in die Hölle. Kurze schwarze Haare, die Arme voller schwarzer Tätowierungen, dicke schwarze Augenringe aus Schminke. Aber die Augen lebten. Und auch ihr Lächeln, das sie mit den rot gefärbten Lippen formte, stand im Widerspruch zu der ganzen satanischen Aura, die sie umgab.

»Du bist neu hier, nicht wahr?«, fragte sie Bert, als ob er in einen exklusiven Club eingetreten wäre.

»Ja …«, antwortete Bert verwundert.

»Dir geht’s nicht gut, nicht wahr?« Sie sah ihm mit einem mitfühlenden Blick tief in die Augen.

»Was?«

»Entschuldigung«, sagte sie lächelnd, »ich bin ziemlich direkt … Das muss ich auch sein in meinem Beruf. Willst du reden? Hm?«

»Reden? Worüber?« Bert redete zwar gern mit Frauen, aber dieses Gespräch war seltsam.

»Über deine Probleme.«

Verwechselte sie ihn? Sie war etwas älter als er, aber nicht viel, Bert schätzte sie auf dreiundzwanzig, vierundzwanzig. »Ich habe aber gar keine Probleme«, sagte er leicht verlegen.

»Ach komm. Mir kannst du nichts vormachen, ich bin Psychologin. Hm?«

Eine Psychologin? »Mir geht’s gut. Wirklich«, beteuerte er noch einmal.

Sie neigte überlegen den Kopf. Dann zog sie eine Karte aus der Handtasche und legte sie auf seinen Tisch mit den Worten: »Falls es einmal zu schwer werden sollte.«

Es war eine Visitenkarte. Zu Berts Überraschung war sie so farbenfroh wie das Iron-Butterfly-Album, das nebenan­ die Wand zierte, sie ließ ihn zuerst an eine Sekte und dann an ein Bordell denken. Doch dann las er:

SEELENMASSAGE

 

Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt

und doch wie kein anderer zu sein.

(Simone de Beauvoir)

 

Dora Happy

Bachelor Of Arts in Psychologie

dora.happy@unifr.ch

079 xxx xx xx

Bert hatte sich sowohl Psychologinnen als auch Visitenkarten von Psychologinnen anders vorgestellt, irgendwie seriöser. Wahrscheinlich mussten sie ein steriles Image loswerden, dachte er, mussten mit der Zeit gehen.

Er steckte die Karte ein, aus einer gewissen Höflichkeit und in der Hoffnung, das ihm unangenehme Treffen zu beenden – die Seelenmasseurin mit ihren seltsamen Diagnosen war ihm suspekt.

Doch sie blieb stehen und redete weiter, zumindest wechselte sie das Thema: »Eine andere Frage«, begann sie, »möchtest du zwei Eishockeytickets kaufen?«

»Auch nicht.«

»Wenn du es dir anders überlegst, kannst du mich ebenfalls anrufen, okay?«

»Okay.«

Endlich drehte sie sich ab, schien aber noch etwas vergessen zu haben. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie ohne Scham.

Bert nannte ihr seinen Namen, dann verließ sie nicht nur seinen Tisch, sondern auch die Bar, er sah ihr hinterher, im letzten Moment noch verglich er ihren Arsch mit demjenigen von Nina, ein Duell, bei dem sie unterlag, wenn auch nicht so deutlich, wie er prognostiziert hätte.

Als er wieder mit seinem Bier allein war, fragte er sich, ob er wirklich so schlecht aussah. Als Komplimente ließen sich die Bemerkungen der Psychologin nämlich kaum auslegen.

Bert Bucher war weder groß noch kräftig, hatte dünne, knochige Finger, schmale Lippen, kleine, tief liegende Augen – Angst flößte er auch nachts niemandem ein. Um etwas individueller zu werden, war er im Begriff, sein braunes Haar wachsen zu lassen, doch das dauerte länger, als ihm lieb war. Derzeit reichten ihm die Haare bis zum Kinn, hatten also die denkbar lächerlichste, unmännlichste Länge, um die man aber nicht herumkam, wenn man eine anständige Mähne anstrebte. Mit dem Ziel, sich vom leicht femininen Anstrich, den die aktuelle Frisur hervorrief, zu distanzieren, rasierte er sich seit längerer Zeit nicht mehr, doch die Gesichtsbehaarung bildete zu seinem Verdruss noch immer keinen Bart, sondern verteilte sich bloß unkrautartig auf seinen Wangen.

Nach einem weiteren Schluck (»Mad Valley«) ging er auf die Toilette. Zu Hause war eine volle Blase meist die treibende Kraft dafür, in einer Bar allerdings gab es zahlreiche andere gute Gründe. Manchmal wollte man einfach einen Schluck Wasser trinken, kostenlos und ohne sich öffentlich als Wassertrinker zu bekennen, manchmal wollte man sich, ohne dabei wie ein Idiot auszusehen, ein bisschen die Füße vertreten, manchmal ließ einen diejenige, mit der man am liebsten noch stundenlang geredet hätte, plötzlich stehen und man musste erst wieder zurück in den Abend finden, wobei man während des Gangs auf die Toilette in Ruhe die nächsten Schritte planen konnte. Manchmal befand man sich auch in der starken Position, dann konnte man demjenigen, der noch so viel zu erzählen gehabt hätte, leider nicht mehr zuhören – die Natur rief. Berts neuester Toilettenbesuch entsprang einer Verlegenheit, einer inneren Verwirrung, die ihn nicht mehr einfach so herumsitzen ließ. Nach den Vorwürfen, mit denen er sich konfrontiert gesehen hatte, brauchte er kurz eine Luftveränderung. Andere Beweggründe als die naheliegenden bedeuteten allerdings nicht, dass man dann gar kein Wasser ließ, das gehörte, auch wenn es nicht dringend war, dann doch zum Spiel. Bert begann seinen Erleichterungsakt ohne die erforderliche Konzentration – müsste man das Pissoir selber putzen, ließe man sich wohl nie so gehen, dachte er einsichtig, von da an lenkte er den Strahl treffsicher ins Ziel.

Zurück in der Bar musste er zur Kenntnis nehmen, dass sein Tisch besetzt war, zudem befand sich auch kein Bier mehr auf dem Tisch, das er als das seine hätte identifizieren können. Die Gage für den zweiten Set seines Straßenkonzerts, sein halbes Tageseinkommen also, war einfach weggeräumt worden. »Handsome Glasses«, »Saved By Spirits« oder »Green Bean« (das ursprünglich »Christine« hieß, schon damals hätte er lernen müssen, Frauennamen nicht als Endreime einzusetzen) – alles umsonst. Egal, dachte er. Es war ihm beim Spielen heute ja nicht unbedingt um das Geld gegangen, ebenso wenig, wie es ihm beim Bier in erster Linie um das Bier gegangen war. Niemand ging in die Bar ein Bier trinken, nur um ein Bier zu trinken. Außerdem hatte er seine Songs für das Bier ja nicht hergeben müssen. Sie blieben bestehen, sie blieben in seinem Besitz, sie blieben. Es machte ihn allerdings etwas nervös, dass noch immer keine Aufnahmen existierten. Bis jetzt hatte es ihm an einem Mentor gefehlt – sein Cousin taugte dafür leider nicht –, und an Geld, musste er zugeben.

Während er die Bar verließ und über die knarrende Holztreppe zur Wohnung hinaufstieg, dachte er über die Worte dieser Simone oder Dora oder wie sie auch hieß nach.

Er hielt sich allein in einer Stadt auf, fern von seiner stumpfsinnigen Familie, verlassen von seiner Freundin, er besaß keine allzu größeren Ersparnisse und setzte seine ganzen Hoffnungen auf eine Gitarre – etwas Optimismus brauchte es in dieser Lage schon, das stimmte. Doch er wollte sich von einer psychologisierenden Satanistin nicht den Teufel an die Wand malen lassen. Ein bisschen Einsamkeit, eine etwas unsichere Zukunft, das konnte der Kreativität auch nicht schaden.

Langsam bekam er Hunger. Suppe mit Wurst war zwar ein Menü mit einem unschlagbaren Aufwand-Genuss-Verhältnis, aber für ein allzu dauerhaftes Sättigungsgefühl hatte es nicht gesorgt. Auch das halbe Bier nicht. Er begab sich direkt in die Küche.

Die Wohnung, in der Bert seit ein paar Tagen lebte, war von Leuten gebaut und eingerichtet worden, die sich über die Harmonisierung des Menschen mit seiner Umgebung keinerlei Gedanken gemacht hatten. Die Decken waren tief, die Dachschrägen schnitten sämtliche Räume ab. Die Möglichkeit, die Zimmer etwas aufzuhellen, hatte man anschließend durch den Einbau von kleinen Fenstern vertan. Und als ob man sich dann bereits damit abgefunden hätte, dass der Tag auch tagsüber außen vor blieb, bestanden die Wohnwand, die Küche, der Parkettboden, der Tisch und die Stühle allesamt aus dem gleichen dunklen Holz. Doch trotz der vielen Bau- und Einrichtungssünden: Bert fühlte sich hier wohl. Weil er von niemandem gestört wurde, weil es hier keine Zwänge gab, weil er hier alle Zeit der Welt hatte für das, was er am meisten liebte, nämlich Musik zu machen.

Er sah sich in den Schränken und Schubladen der Küche um, fand aber nichts, worauf er wirklich Appetit hatte. Himbeerkonfitüre, Spargelfertigsuppe, Isländisch-Moos-Tabletten, Toggenburger Biscuits, Tomatenfertigsuppe, Holunderkonfitüre, Walnusskerne, Buchstabenfertigsuppe. Davon allein konnte Großmutter doch nicht gelebt haben, dachte Bert. Da fiel ihm ein, dass die schmale Tür in der Küche vielleicht einen Vorratsraum verbergen konnte. Bisher hatte er dahinter eine Putzkammer vermutet, weshalb die Tür sein Interesse nicht geweckt hatte.

Er öffnete sie. Zunächst einmal erwartete ihn viel Dunkelheit, bis er an einem Balken eine Lampe fand, die man mit einer Schnur anknipsen konnte.

Putzutensilien sah er hier auf Anhieb keine. Die Lampe beleuchtete schwach die Umrisse einer schmalen, doch erstaunlich langen Kammer, im hinteren Teil entdeckte Bert sogar ein Fahrrad. Im Gestell gleich neben der Tür lagerten tatsächlich einige Essensvorräte, Haferflocken, Isländisch-Moos-Tabletten, Sonnenblumenkerne, daneben stand eine aus massivem Holz gefertigte Kommode, der Bert kurz seine Aufmerksamkeit widmete, doch er musste feststellen, dass sich die Fächer nicht öffnen ließen, die Kommode war mit einem Schlüsselloch ausgestattet, in dem kein Schlüssel steckte.

Auf einmal spürte er etwas in seinem Haar. Er drehte sich erschrocken um, doch da war nichts, dann schrubbte er sich mit beiden Händen panikartig über den Kopf, bis ihm flatternd, vergeblich gegen den Absturz ankämpfend, etwas vor die Füße fiel: ein Nachtfalter.

Bert stieß die Luft aus, erleichtert und doch etwas angeekelt, der Puls brauchte eine Weile, um sich wieder zu entschleunigen.

Er erinnerte sich daran, wie sie die Viecher einmal in der Schule durchgenommen hatten, einige Artennamen waren ihm sogar noch geblieben: Nachtkerzenschwärmer, Jungfernkind, Schwarzkünstler. Die Namen gefielen ihm, schon damals und immer noch. In englischer Übersetzung gäben sie bestimmt gute Songtitel ab, dachte Bert spontan, und es reizte ihn, den Einfall gleich weiterzuverfolgen, einen düsteren Song über einen Nachtfalter zu schreiben, oder vielleicht sogar ein Konzeptalbum mit Songs, die alle den Titel einer Nachtfalterart trugen, ein Nachtfalterkonzeptalbum …

Bert steigerte sich kurz in eine Euphorie hinein, die allerdings so schnell verflog, wie sie gekommen war, diesen Motten ein ganzes Album zu widmen, kam er zur Vernunft, war wohl doch etwas übertrieben. Der Falter, der ihm einen erheblichen Schreck eingejagt hatte, war inzwischen seinen Verletzungen erlegen.

Bert bemerkte, wie müde er geworden war, er würde nicht schon wieder die halbe Nacht auf seiner Gitarre herumklimpern und darauf warten, dass seine Finger einen großen Song auf die Saiten zauberten. Bevor noch weitere Nachtfalter auftauchten, beschloss er, die Kammer wieder zu verlassen. Da ermahnte ihn, auf einem Hocker liegend, eine Kartonschachtel mit der Aufschrift Nicht wegwerfen!. Sofort erkannte Bert Großmutters geschwungene Schrift, wie sie heute kaum mehr jemand beherrschte.

Die Schachtel enthielt einen Hut, sonst nichts. Verblüfft nahm Bert ihn aus der Schachtel und ging mit ihm zurück in die Küche, um ihn bei besserem Licht betrachten zu können.

Es war ein schwarzer, mit einer blau-weißen Kordel verzierter Hut, wahrscheinlich gehörte er zur Uniform einer Musikgesellschaft, denn vorne war mit goldenem Faden eine Posaune eingearbeitet. Der Hut hob sich in seiner Eleganz von den Kleidungsstücken ab, die Großmutter immer getragen hatte, was allerdings, fand Bert, noch kein Grund war, ihn nicht wegwerfen zu wollen. Als er sich den Hut spaßeshalber auf den Kopf setzen wollte, entdeckte er im Innensaum einen Umschlag. Er enthielt eine Karte, darauf stand in der gleichen Schrift:

 

Du hast den Hut gefunden, offenbar bin ich gestorben. Ich bitte dich, mir einen letzten Gefallen zu erweisen: Bring den Hut persönlich zur unten stehenden Adresse. Die Gegend ist reizvoll, mach dir einen schönen Tag, in meiner Bluse mit den violetten Stiefmütterchen findest du dafür ein kleines Reisegeld. Danke und leb wohl, Seraphina

 

Darunter stand eine Adresse im Kanton Neuenburg.

Bert versuchte, irgendetwas Außergewöhnliches am Hut zu erkennen, doch nichts deutete darauf hin, dass er kostbar wäre, es war ein ganz normaler Hut, wie man ihn in jeder Dorfmusik trug. Umso mehr verwunderte ihn die Geheimnistuerei, die Großmutter um den Hut gewoben hatte. Er las die Karte noch einmal durch und machte sich auf die Suche nach der Bluse mit den violetten Stiefmütterchen.

Als er im Schlafzimmer den Kleiderschrank öffnete, fielen einige leere Isländisch-Moos-Büchsen heraus. Eine Gießkanne mit abgebrochenem Henkel konnte er gerade noch am Fallen hindern, zum Glück enthielt sie kein Wasser mehr. Puzzleschachteln, Werkzeug, leere Bilderrahmen, ein Osterhase. Außerdem lagen im Kleiderschrank noch ein paar Kleider.

Großmutter hatte fast immer Blusen getragen, und fast alle ihre Blusen waren mit Blumenmotiven versehen. Und ihre Lieblingsfarbe war Violett gewesen.

Sie war stets ein Mensch der Gewohnheiten gewesen. Wecker um Viertel vor sieben, Mittagessen um Punkt zwölf, danach zwanzig Minuten Mittagsschlaf, am Nachmittag die obligate Wallfahrt zur nahen St.-Michael-Kirche hoch und wieder runter, um halb acht Tagesschau. Und alles meistens in Blumenblusen. Trotz ihres freien Lebens im Rentenalter hatte sie sich einem strengen Tagesprogramm unterworfen.

Vier Blusen kamen aus Berts Sicht infrage, die Bluse mit den violetten Stiefmütterchen zu sein. Er untersuchte sie genauer, und wie von Großmutter versprochen, fand er in der Brusttasche der einen Bluse einen kleinen Lederbeutel. Darin befand sich Geld. Viel Geld. Jedenfalls für Bert Bucher, der eben sein ganzes Tageseinkommen für ein Bier ausgegeben hatte. Der Beutel enthielt nur eine einzige Banknote, doch die hatte es in sich: eine Tausend-Franken-Note. Tausend Franken, tausend in Erfüllung gehende Träume, tausend Jahre Glück.

Er hatte noch nicht oft eine Tausend-Franken-Note in der Hand gehalten, und er erinnerte sich, dass er das violette Papier als Kind tatsächlich wie eine Fahrkarte ins Paradies betrachtet hatte. Heute wusste er zwar, dass tausend Franken auch einmal aufgebraucht sein konnten, aber eine gewisse Magie von damals kehrte zurück, dieses Gefühl, dass alles möglich war.

Gratis-Konzert

Die schmalen Häuser, die sich auf beiden Seiten entlang der abfallenden Lausannegasse drängten, wirkten so, als müssten sie einander stützen, um nicht wie Dominosteine nach unten in Richtung Kathedrale zu donnern. Eingepfercht zwischen den höheren Häusern 41 und 45 nahm das Haus, in dem Bert gerade lebte, einen eher unscheinbaren Platz im Gefüge ein, ein Erzeugnis aus irgendeinem verflossenen Jahrhundert, erbaut aus schnörkellosem Stein, die Anordnung der Fenster ein Lehrstück strenger Geometrie. Im Erdgeschoss der meisten Häuser befand sich ein Geschäft oder ein Restaurant, vielerorts konnte man durch die Schaufenster sehen, wie man sich drinnen auf die Kundschaft vorbereitete, neue Waren ins Regal stellte, die Auslage gestaltete, Plakate an die Tür hängte. Eine Flaniermeile eigentlich, dachte Bert, wie das Zürcher Niederdorf, autofrei, malerisch und voller Möglichkeiten zum Amüsement. Das Einzige, was fehlte, waren die Passanten.

Bert ging ein paar Straßen weiter und dachte an die verheißungsvollen Worte seines Cousins. Allmählich zweifelte er daran, dass er sich mitten im gelobten Land der Musik befand. Er hatte noch keinen einzigen Musiker getroffen, weder spielend noch wenigstens eine Gitarre unter dem Arm tragend, er hatte noch nicht einmal einen anständigen Plattenladen entdeckt. Und als er eine Passantin fragte, wo sich denn das Zentrum befinde, zeigte sie in die Richtung, aus der er eben gekommen war.

Er wählte schließlich den Platz vor dem Bahnhof aus, da war ihm ein gewisses Publikum sicher.

Es herrschte ein reger Menschenverkehr. Aus allen Richtungen schritten Leute daher, um in den nächsten Zug zu steigen, durch die Türen der Bahnhofshalle eilten Leute, die eben mit dem Zug angekommen waren, um sich in alle Richtungen zu verteilen, die meisten allein, die jüngeren oft in Rudeln, einige hatten sich vom Schlaf noch nicht erholt, andere, in beachtlicher Frühform, lachten bereits. Doch alle hatten sie, vermutete Bert, das gleiche Ziel. Sie wollten arbeiten gehen. Eine Arbeit verrichten, mit der sie die Welt am Laufen hielten. Sie waren Teil einer gigantischen Maschinerie, und doch handelten sie alle aus egoistischen Motiven, da ihnen nicht eigentlich ihre Arbeit am Herzen lag, sondern deren Gegenwert. Der Stapel mit den Gratiszeitungen verkleinerte sich rapide, eine große schwarze Pfanne, in der schwarz gebratene Kastanien lagen, verströmte ihren einnehmenden Duft, der Rosenverkäufer verkaufte eifrig Liebesbekenntnisse, die Kioskfrau Munderfrischungen und Sensationen.

In der Nähe jenes Kiosks stellte Bert das Kartonstück an die Bahnhofsmauer, hängte sich die Gitarre um und stimmte die ersten Takte von »Hills Of Fortune« an.

Die heutige Setliste unterschied sich etwas von der gestrigen. Bert war mit der Reihenfolge der Songs nicht vollkommen zufrieden gewesen. Der Einstieg musste einprägsamer sein, so das Resultat seiner Analysen, und dafür eignete sich der erotisch-spielerische, laszive Song, den er im Deutschunterricht ersonnen hatte, viel besser als das zugegebenermaßen etwas lahme »Tina«, in das er zudem keine starken Emotionen mehr hineinlegen konnte.

Für seinen Konzertbeginn erntete er ein paar erstaunte Blicke, sonst nichts. Diese Blicke enthielten keine zusätzlichen Botschaften, sie verrieten ihm nicht, dass die Leute sein Gratis-Konzert sympathisch fanden oder dass ihnen der Song gefiel. Ihre Blicke waren allein Ausdruck des Erstaunens darüber, dass sie heute Morgen etwas antrafen, das sie noch nicht kannten.

Bert hatte es irgendwie geahnt, dass der Paukenschlag auch mit »Hills Of Fortune« ausbleiben würde. Offenbar bemerkte hier niemand, was er gerade vertonte. Er entschied sich, entgegen seiner Planungen schon jetzt auf eine der drei Coverversionen zurückzugreifen, die er für heute in sein Repertoire aufgenommen hatte.

Er war nicht stolz darauf. Coverversionen waren etwas für Loser. Wer brauchte so etwas? Es gab vielleicht eine Handvoll berechtigter Coverversionen, fand Bert – meistens dann, wenn Bob Dylan gecovert wurde, von Jimi Hendrix zum Beispiel oder von Guns N’ Roses. Dass er sich dennoch dazu herabließ, Coverversionen zu spielen, lag daran, dass die meisten Leute in der Regel leider mehr auf bekannte Songs abfuhren als auf neue. Da konnten die neuen noch so gut sein.

Großmutters Hut auf dem Kopf half ihm, das harte Brot des Straßenmusikers zu ertragen. Er hatte sich schon überlegt, den Hut zu seinem Markenzeichen zu machen, so wie das AC/DC mit den Schuluniformen oder Kiss mit der Schminke gemacht hatten, doch nun diente er ihm eher als Schutz, unter dem er seine Verlegenheit verbergen konnte.

Er spielte gerade den Beatles-Song »Nowhere Man«, als er in der morgendlichen Hektik eine junge Frau erblickte. Sie stand da, in sicherer Entfernung, und hörte ihm zu, zumindest sah sie ihm zu.

Er erstarrte.

Und plötzlich wusste er, warum er sich als Straßenmusiker abmühte, warum er hier trotz des allgemeinen Desinteresses der Leute mit kalten Fingern ausharrte, warum er mit einer Coverversion sein Künstlerherz verleugnete. Er wusste nun, warum er nach Freiburg gekommen war, warum er Gitarre spielte, warum er geboren war.

Anstelle eines F-Moll-Akkords griff er F-Dur und gab dem Song damit eine überraschende Wende. Verwirrt durch dieses Missgeschick spielte er anschließend A statt C, was nun aber nicht mehr wie eine unerwartete, vielleicht sogar originelle Abweichung vom Original klang, sondern wie ein Fußtritt gegen das Vermächtnis der Beatles.­

Sie kam näher, fuhr mit ihrer warmen Hand über sein Gesicht, umarmte ihn, küsste ihn auf die Stirn. Das alles lag in ihrem Blick. Dann kam sie tatsächlich näher.

Was Bert inzwischen spielte, war längst keine Coverversion von »Nowhere Man« mehr. Die Akkorde passten nicht mehr zum Gesang, der Gesang nicht mehr zum Text, denn den hatte er vergessen und reicherte ihn nun mit Zeilen aus eigenen Songs an. Es klang furchtbar.

Als sie schließlich direkt vor ihm stand, bückte sie sich und legte, auf eine behutsame Art, eine Münze neben den Karton. Bert sah sofort, dass die Münze etwas größer war als diejenigen, die die Leute ihm normalerweise im Vorbeigehen vor die Füße warfen.