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Nicholas Jubber

DIE ACHT LEKTIONEN DER WÜSTE

Mit den Nomaden Nordafrikas nach Timbuktu

Aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf, Robert A. Weiß und Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif

Quellen der Zitate: Leo Africanus: zitiert nach Johann Leo Africanus, Beschreibung Afrikas. Hrsg. von Karl Schubert. Brockhaus, Leipzig 1984; Hawad-Gedicht ("Widmung") und Dayak-Zitat ("Teil 9"): Harald A. Friedl, KulturSchock Tuareg. Reise Know-How Verlag, Bielefeld 2008, Motto und ("Sechste Lektion") ; Tennyson-Gedicht ("Teil 1"): zitiert nach Marc Engelhardt, Heiliger Krieg - heiliger Profit: Afrika als neues Schlachtfeld des internationalen Terrorismus. Christoph Links Verlag, Berlin 2014, ("Teil 3"); Stevenson-Zitat ("Teil 6"): Robert Louis Stevenson, Reise mit einem Esel durch die Cévennen. Übersetzt von Christoph Lenhartz. Editions La Colombe, Bergisch Gladbach 2000, ("Teil 2").

1. Auflage 2017

© Nicholas Jubber 2016

© 2017 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Die englische Originalausgabe ist 2016 unter dem Titel »The Timbuktu School for Nomads« bei Nicholas Brealey Publishing, London, erschienen.

Übersetzung: Gerlinde Schermer-Rauwolf, Robert A. Weiß und Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif

Gestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: finepic.de / shutterstock

Fotos "Bilderstrecke": Nicholas Jubber

eISBN 978-3-6164-9101-1

www.dumontreise.de

Für Poppy

Ich habe dieses Land [Afrika] überall bereist und, was mir denkwürdig erschien, von Tag zu Tag sorgfältig aufgezeichnet. Was ich aber nicht selbst gesehen habe, entnahm ich wahrhaften und vollständigen Berichten glaubwürdiger Augenzeugen … zu Rom, den 10. März 1526.

LEO AFRICANUS, BESCHREIBUNG AFRIKAS

Für den Sohn des Nomaden

Nimm deine Sandalen und tritt fest in den Sand,

Den noch kein Unfreier berührt hat.

Wecke deine Seele und schmecke den Ursprung,

Den noch kein Schmetterling gestreift hat.

Entfalte deine Gedanken zu den milchweißen Spuren,

Die noch kein Unbesonnener zu träumen gewagt hat.

Atme den Duft der Blumen,

Dem noch keine Biene gehuldigt hat.

Entferne dich von den Schulen und Dogmen.

Lausche den Geheimnissen der Ruhe,

Die dir der Wind ins Ohr flüstert.

Sie genügen dir.

Entferne dich von den Märkten und Menschen.

Stelle dir die Muster der Sterne vor,

Wie Orion sein Schwert gürtet,

Wie die Plejaden um den Hof des hellen Mondes lachen.

Dort, wo kein Phönizier seine Spur hinterlassen hat.

Pflanze dein Zelt weit an den Horizont,

Dort, wo kein Strauß je daran gedacht hat,

Seine Eier zu verstecken,

Wenn du frei aufwachen willst.

HAWAD

INHALT

Prolog

Teil 1: Mitten im Nirgendwo

Die Goldene Stadt

Abendessen bei den Blauen Männern

Das Grab des weißen Mannes

Erste Lektion: Beharrlichkeit

Teil 2: Die Stadt

Gottes Werk und Taubendreck

Wie ich meine Liebe zu Knacklauten entdeckte

Tod eines Kamels

Zweite Lektion: Überwindung

Teil 3: Das Gebirge

Die Sultanstraße nach Azrou

Die Kräfte des Marktes

Die Suche nach Azizas verschwundenem Vieh

Dritte Lektion: Weitsicht (ohne Sicht)

Teil 4: Die Wüste

Dichter der Sahara

Die letzte Kolonie in Afrika

Picknick in der Wüste

Vierte Lektion: Kreativität

Teil 5: Die Hochebene

Mit dem Güterzug nach Adrar

Tanz mit den Nomaden

Bibliotheken im Sand

Fünfte Lektion: Bildung

Teil 6: Stadtnomaden

Fischen und F***en

Die Stadt des Zaubers

Sechste Lektion: Tradition

Teil 7: Die Ebene

Das verlorene Paradies

Cowboys und Animisten

Ein kurzer Abstecher in den Busch von Gondo

Siebte Lektion: Klarheit

Teil 8: Der Fluss

Herren des Flusses

Die Geisterwelt des Niger

Achte Lektion: Geduld

Lichter aus in der Sahara

Teil 9: Noch einmal mitten im Nirgendwo

Das leidgeprüfte Timbuktu

Die Wunden der Wüste

Nachwort

Danksagung

Wörterbuch für werdende Nomaden

Für die Bibliothek

Über den Autor

Die acht Lektionen der Wüste

PROLOG

In den Städten herrschte brütende Hitze; Abkühlung fand man in der Wüste.

Auf den großen öffentlichen Plätzen flatterten Transparente. Menschen, die jahrzehntelang geknebelt gewesen waren, schrien sich heiser. Ganz Nordafrika war von Protesten lahmgelegt. Allerdings war es ein städtisches Phänomen, beleuchtet von Blitzlichtern und LEDs, koordiniert in den sozialen Netzwerken. Die Menschen auf dem Land blieben außerhalb des Fokus.

Ich blickte gen Süden. Ich wollte Berge erklimmen und über Dünen reiten, Flüsse befahren und unter Doumpalmen rasten. Ich wollte Abenteuer – die Wüste durchqueren, das Land zwischen Fez und Timbuktu erkunden. Insbesondere wollte ich der Route von Leo Africanus folgen, jenem Forscher des 16. Jahr-hunderts, der mit seinem Onkel um 1510 ins Königreich der Songhai reiste.

Mir ging es weniger darum, die Wüste zu »durchqueren«. Vielmehr reizte mich die Aussicht, in der Wüste zu reisen. Ich war nicht davon besessen, irgendeine unbekannte Route zu kartografieren oder einen Rekord zu brechen – ich wollte einfach die Menschen kennenlernen, die dort lebten. Von so etwas hatte ich, glaube ich, schon als Sechsjähriger geträumt. Wie so viele Gleichaltrige hatte ich damals zum ersten Mal die Sahara erblickt, wenn auch mittels einer Braunschen Röhre in einem Kasten aus Teakholz und vom sicheren Sattel der väterlichen Knie aus.

Seit jener erste Star Wars-Film die aufregenden Dünen von Tatooine ins Wohnzimmer meiner Familie geweht hatte, verband ich die Wüste mit Fremde und Ferne – sie war das ultimative Abenteuer. Wenn ich nachts unter meiner Bettdecke las, fesselten mich nicht Heyerdahls Kon-Tiki-Expedition oder Kiplings Dschungelbuch, sondern die Geschichten von Ali Baba und Sindbad. Regenwälder und arktische Pole hatten nie eine vergleichbare Wirkung auf mich. Immer war es die Wüste, die mir – ob in Mad Max und Der Wüstenplanet oder bei T. E. Lawrence und Sir Wilfred Thesiger – das Tor zu einer Welt öffnete, die sich grundlegend von meiner unterschied.

Zwar hatte Science-Fiction mein frühes Interesse an der Wüste geweckt, doch zu dieser speziellen Reise verlockte mich das nicht sonderlich faktengetreue Buch von Leo Africanus. Zuerst in Venedig unter dem Titel Della descrittione dell’Africa et delle cose notabili che iui sono (Die Beschreibung Afrikas und der bemerkenswerten Dinge, die es dort gibt) erschienen, hat es unter den zeitgenössischen Reisebeschreibungen kaum seinesgleichen. Mit seinem Fundus an Beobachtungen über Handel und Traditionen, Historien und Legenden, einer Menge Vorurteile des 16. Jahrhunderts und hin und wieder einer schlüpfrigen Anekdote beschwört es ein Afrika herauf, das gleichzeitig schwer fassbar und doch auf unheimliche Weise vertraut scheint.

Zuerst hatte ich vor, auf Leos Spuren unterwegs zu sein. Doch während meiner ersten Reise wurde mir klar, dass ich weniger die Parallelen zu seiner Reise suchte, sondern die Menschen, die er beschrieb – und ihre Nachfahren. Das Ziel einer Reise ergibt sich oft erst, wenn man sie schon angetreten hat: Je weiter ich ins Innere Nordafrikas vordrang, umso stärker faszinierten mich die Nomadengruppen, denen ich unterwegs begegnete. Ihre Welt sollte der Höhepunkt meiner Reise werden. Ich wollte mich in Timbuktu einer Kamelkarawane anschließen, einer Nomadengruppe auf dem Weg zu den Salzminen Nordmalis – ein würdiger Abschluss meines Abenteuers.

Tief in den Dünen Südmarokkos kampierte ich unter dem zerklüfteten Kamm eines schwarzen Berges bei einem Kameltreiber, einem Berber namens Salim. Ich ritt ein Kamel, das offenbar den Harlem Shake übte, fiel zweimal herunter, aß gesalzenes Ziegentrockenfleisch, das an Salims Sattel hing, und bot der lokalen Insektenpopulation ein Festmahl. Zu meinen bleibenden Erinnerungen zählt, wie ich es gerade noch aus dem Zelt schaffte, um mich zu übergeben. Dabei trat ich fast in mein eingetrocknetes Erbrochenes von kurz zuvor, während ich im Lichtstrahl meiner Taschenlampe entsetzt Hunderte stechende Augen aufglühen sah. Meine Lernkurve in der Wüste musste so steil ansteigen wie die Düne, der ich meinen ersten Sturz verdankte.

Schon lange vor meiner Reise waren die nordafrikanischen Städte in Aufruhr gewesen. Autoritäre Regime wurden gestürzt. Ägypten litt unter den Geburtswehen einer Revolution, Libyen erstickte im Bürgerkrieg. Ein paar Wochen zuvor hatten libysche Rebellen Oberst Gaddafi aus einem Abflussrohr gezogen. Seine Waffenarsenale fanden eine Vielzahl neue Besitzer, darunter auch die Tuareg, die in seiner Armee an vorderster Front gekämpft hatten.

Ich war in derselben Richtung unterwegs wie die Aufständischen – wovon ich glücklicherweise nichts ahnte. Mit einem Rucksack, der kaum mehr wog als meine Stiefel, reiste ich mit Bussen, auf Booten und gelegentlich auf einem Eselskarren. Die Jeeps der Kämpfenden waren mit Raketenabschussrampen, Minenwerfern und Maschinengewehren beladen. Als ich Timbuktu erreichte, braute sich der Wüstensturm bereits zusammen. Ich allerdings sah nur ein paar Staubwolken am Horizont.

Theoretisch hätte mein Timing noch schlimmer sein können, aber mir reichte es auch so. Eine Woche, bevor die Salzkarawane losziehen sollte, waren bewaffnete Dschihadisten in Timbuktu eingedrungen, während die ganze Stadt beim Freitagsgebet war. Sie hatten vier Touristen in ihrem Hotel überfallen und einen, der sich wehrte, erschossen. Eine Reise durch die Wüste war jetzt unvorstellbar, schon weil mich kein Karawanenführer mehr mitnehmen wollte. Also kehrte ich unverrichteter Dinge nach Hause zurück.

Einen Monat später war nicht mehr der Osten Libyens, sondern der Norden Malis das gefährlichste Gebiet Afrikas. Ein Militärposten nach dem anderen fiel. Ganze Landstriche der Sahara waren besetzt. In Bamako, der Hauptstadt Malis, kochte die Unzufriedenheit über, weil die Armee offenbar nicht in der Lage war, die Rebellion zu ersticken. Im März 2012 stürzte ein Putsch der Militärs den Präsidenten Amadou Toumani Touré. Mali drohte im Treibsand des Aufruhrs zu versinken. Die Kämpfer nutzten das Chaos in der Hauptstadt für ihre Zwecke und erklärten den Azawad, die Wüste im Norden Malis, für unabhängig. Gut ausgebildete Dschihadisten, mit Geldern der maghrebinischen Al-Qaida, fragwürdigen Spenden aus dem Nahen Osten und Lösegeldern naiver europäischer Regierungen üppig ausgestattet, schlossen sich ihnen zuerst an, bevor sie sich gegen sie wandten und sie später besiegten. Mali, lange Zeit einer der angenehmsten Staaten im Sahara-Gürtel, war zu einer ebenso unwirtlichen No-Go-Area geworden wie Syrien und der Irak.

Ein Jahr lang hing die schwarze Flagge der Dschihadisten im windstillen Timbuktu schlaff von den Fahnenstangen. Tristesse lag über der ganzen Stadt. Man hatte den Menschen die Musik verboten, Frauen mussten ihre Haare verdecken, und der Umgang zwischen Männern und Frauen war untersagt. Wer konnte, stimmte mit den Füßen ab: Während der Besatzung verließ ein Großteil der Bevölkerung die Stadt. Doch im Februar 2013 nahm die Geschichte erneut eine überraschende Wendung. Die französische Armee startete die Opération Serval und marschierte an der Spitze einer panafrikanischen Allianz in die Sahara ein, die Dschihadisten wurden aus Timbuktu und von anderen Stützpunkten vertrieben. Aber nach den ersten Siegesfeiern verhedderten sich die französischen Streitkräfte in den Niederungen des Langzeitkonflikts – ein bekanntes Phänomen. Mali blieb eine höchst bedrohliche Region, doch erstmals seit meinem letzten Aufenthalt schien eine Rückkehr denkbar.

Zwar zogen nun keine Salzkarawanen mehr durch die Wüste, doch es gab andere Gründe zurückzureisen. Ich wollte noch einmal zu jenen Nomaden, die ich in Nordafrika bereits kennengelernt hatte, und Bekanntschaft mit neuen schließen, um die Puzzleteile zu einem Bild des Nomadenlebens im 21. Jahrhundert zusammenzusetzen. Außerdem wollte ich meine Kenntnisse von der ersten Reise erweitern und von den Nomaden lernen, wie man Wasser holt, ein Kamel reitet und ein Lager aufschlägt.

Es war Zeit, bei ihnen in die Schule zu gehen.

Man stelle sich vor, man könnte heute noch zwischen Rhein und Donau reitenden Hunnen begegnen, in den Filzjurten der Skythen am Schwarzen Meer übernachten oder an der Ostseeküste in Schaffelle gekleidete Goten sehen. In Nordafrika leben die Berber, die Fulbe und die Tuareg (und andere, ähnlich alte Stämme) noch heute wie vor tausend Jahren. Ich möchte sie nicht idealisieren, aber bestimmt kann uns jede Lebensweise, die so lange überdauert hat, etwas lehren.

Je mehr ich über Nordafrika lernte, desto mehr fühlte ich mich den Nomaden verbunden, die dort mit größeren Herden in vielfältigeren Landschaften leben, als ich es sonst irgendwo erlebt habe. Auch unsere moderne, sesshafte Zivilisation wurzelt im Nomadenleben unserer Vorfahren und weist noch Spuren davon auf, obwohl das Umherziehen in Europa in den letzten Jahrhunderten fast völlig zum Erliegen gekommen ist. Seine größten Widersacher waren Einhegungen, Industrialisierung und Privatisierung.

Das Wort »Nomade« entstammt dem Altgriechischen: Nomeus ist der »Hirt«, nomé bedeutet »das Treiben von Vieh auf die Weide«, und so ist nomás »jemand, der mit einer Herde umherzieht«. Das arabische Wort badawi, bei uns zu »Beduine« mutiert, ist hingegen von bad’ abgeleitet, das »Anfang« heißt. Für die in der Wüste lebenden Araber war eine Existenz als Jäger und Sammler nicht möglich, die ursprüngliche Lebensweise, das Umherziehen als Hirte, war hier die einzige, die das Überleben sicherte. Genau deshalb wird das Nomadentum von den städtischen Arabern verachtet – warum so altmodisch leben, wenn man sein Geld doch im Ölgeschäft machen kann? –, zugleich aber auch verehrt.

Wegen dieser Ambivalenz genießen die Nomaden schon seit Beginn der Geschichtsschreibung einen zwiespältigen Ruf. Selbst wenn Kain Abel nicht erschlagen haben sollte, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass irgendein Bauer irgendeinem Hirten schon sehr früh in der Geschichte eins übergezogen hat (ich habe von vielen derartigen Zwischenfällen unter den Fulben in Zentral-Mali gehört). Seither fliegen die Fetzen. Nomaden werden beschuldigt, an der Erosion der Berge schuld zu sein, die Wälder abzuholzen und zur Ausbreitung der Wüste beizutragen, ohne Steuern zu zahlen. Andererseits werden sie von den Politikern gern vereinnahmt, wenn diese ihr Umweltbewusstsein oder ihre kulturelle Sensibilität zur Schau stellen wollen. Wie sehr sie politisch von Nutzen sein können, hat Oberst Gaddafi demonstriert, der vier Jahrzehnte lang in einem Zelt herumzog und Klischees des Nomadentums bediente.

Ist das Nomadentum wirklich »wie Tod schon im Leben«, wie es T. E. -Law-rence nannte? In Nordafrika praktizieren nach wie vor Millionen Menschen diesen Lebensstil, und in Mali sind schätzungsweise zehn Prozent der Bevölkerung Nomaden. Nicht alle möchten sesshaft werden, zumindest vorläufig nicht. Indem ich mit verschiedenen Nomadengruppen reiste, hoffte ich herauszufinden, warum immer noch so viele ein derart mühseliges Leben auf sich nehmen: Welchen Bezug haben sie zu ihrer komplexen Vergangenheit, mit welchen Hindernissen haben sie in der Gegenwart zu kämpfen, was erhoffen sie sich von der Zukunft? Meine Lehre beginnt in einer Stadt in der Sahara, am Ende der Welt und so weit ab vom Schuss, dass man von den Bewohnern mit den Worten begrüßt wird: »Willkommen mitten im Nirgendwo.«

Teil 1

MITTEN IM NIRGENDWO

Beleuchtet die Sonne im weiten Afrika

tatsächlich eine Stadt, die so schön ist

wie die Mythen alter Zeit?

Oder ist Timbuktu nur ein Gerücht,

ein zerbrechlicher Traum?

ALFRED LORD TENNYSON, TIMBUKTU

Die Goldene Stadt

Eine Moschee ist von einem geschickten Baumeister aus Granada mit Steinen und Kalk erbaut. Derselbe hat auch einen großen Palast angelegt, worin der König wohnt … Der König [von Timbuktu] besitzt große Reichtümer an Goldplatten und -stangen, deren einige 1300 Pfund wiegen. Sein Hof ist gut eingerichtet und prächtig.

So sah Leo Africanus die Stadt, als er um 1510 nach einer fast 2000 Kilometer weiten Reise durch die Sahara in Timbuktu eintraf. Ich kam fünf Jahrhunderte später per Schiff dort an und notierte in meinem Tagebuch:

Man kommt aus der Wüste und erwartet, eine Stadt zu sehen, dabei ist man schon mittendrin, ohne es gemerkt zu haben. Das beeindruckendste Gebäude ist die Große Moschee, sie erinnert wie die Moschee von Djenné an einen Termitenbau (und hier kann ich niemanden bestechen, mich einen Blick hi-neinwerfen zu lassen). Die Straßen sind so staubig, dass ich mir ständig Sand aus den Augen reibe. Und ich schwitze so stark, dass ich mich wie einer der von Fliegen umschwärmten Fleischfetzen fühle, die vor den Metzgereien hängen.

Aber aber aber. Es ist Timbuktu! Timbuuktuu, verdammt noch mal! Ich spaziere hier durch die Straßen von Timbuktu!!!

Jede andere historische Stadtikone – ob Fez, Venedig oder Jerusalem – müsste ihrem Ruf gerecht werden, oder man käme sich betrogen vor. Für Timbuktu hingegen ist es keine Schande, lediglich ein Schatten seines früheren Selbst zu sein. Es macht die Stadt nur umso mehr zu dem Timbuktu, das man erwartet. Sie ist die Miss Havisham unter den berühmten Metropolen – ein verblassendes Relikt, das seinen besonderen Charakter nicht seiner Blütezeit verdankt, sondern seines langjährigen Verwelkens.

Nach mehreren Monaten unterwegs hatte ich es endlich nach Timbuktu geschafft! Der Gedanke ließ mich federnd durch die Straßen gehen, und meine Augen suchten nach etwas, das zu meiner Stimmung passte: Frauen, die mit riesigen Spateln Brot aus Öfen an den Straßenecken zogen; ein Mädchen in gelbem Kleid, das ihrer Schwester auf einer Bank vor einem dépôt de boissons Cornrows flocht. Auf einem Betonbogen prangte ein Reiter auf einem geflügelten Pferd: Al-Farouk schien gerade die unter ihm ins Gespräch vertieften Tuareg mit ihren blauen Turbanen zu belauschen.

Ich war zum ersten Mal hier und völlig aufgekratzt. Von diesem Tag hatte ich geträumt, seit ich mit acht Jahren Aristocats gesehen hatte. Am Ende des Disneyfilms wird der hinterhältige Butler in eine Truhe mit dem rätselhaften Aufkleber: »Nach Timbuktu« gesteckt. Wo war dieser seltsam klingende Ort? Gab es ihn wirklich? Wir hören Timbuktu häufig als Synonym für »am Ende der Welt«, eine Metapher ohne geografischen Bezug. Bruce Chatwin machte sich »auf und davon nach Timbuktu«. Und jetzt war ich hier und sah, dass man manche Metaphern tatsächlich betreten, darin herumlaufen, darin schlafen konnte … nun hatte die Reise wirklich begonnen.

Als der Sultan von Fez Leo Africanus’ Onkel zum König von Songhai sandte, war Timbuktu der Leitstern eines großen Reiches, eine blühende Metropole und Mittelpunkt des internationalen Goldhandels. Für die Europäer war die Neue Welt noch immer sehr neu, ihre Schätze sollten erst später ihre Märkte befriedigen. Afrika blieb das Dorado, aus dem das Gold der europäischen Währungen stammte, ob für den venezianischen Dukaten (mit einem Feingehalt von 99,47 Prozent, also fast 24 Karat) oder die nach der westafrikanischen Herkunftsregion benannte britische Guinee. Mit derlei harter Währung ließen sich Stadtstaaten erbauen, Söldner bezahlen und Handelsreisen finanzieren.

War es das Gold vom Schwarzen Kontinent, das dem finsteren Mittelalter in Europa den Garaus machte? Timbuktu hingegen sah dem Ende seiner Glanzzeit entgegen, es stand an der Schwelle zu seiner düsteren Epoche, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Und so verwundert es nicht, dass sich ein ortsansässiger Historiker, den ich aufsuchte, vor allem auf eine Chronik aus dem 17. Jahrhundert stützte.

Salem Ould El-Hadje, ein pensionierter Geschichtsprofessor, schrieb mit dem zweibändigen Werk Tombuctou die erste Geschichte der Stadt, die aus der Feder eines Einwohners stammt. Er ist Chevalier de l’Ordre National du Mali, war Gast im westafrikanischen Fernsehen und Redner bei Konferenzen in den USA. Daher fiel am häufigsten sein Name, wenn ich mich erkundigte, wer mir die Geschichte vom Aufstieg und Fall Timbuktus erzählen könne.

Ich traf ihn in einem der hellen Kalksteinhäuser mit den ummauerten Flachdächern unweit des zentralen Marktes. Gelbes Licht fiel durch ein vergittertes Fenster und warf ein Karomuster auf sein silbernes, von einem Deckenventilator leicht bewegtes Haar. Auf seinem Schoß lag das Geschichtsbuch -Tarich as-Sudan (Geschichte des Sudan), das der Beamte und Imam Abdarrahman as-Sa’di Mitte des 17. Jahrhunderts verfasst hatte. Der Bucheinband war ebenso runzlig wie El-Hadjes Gesicht. »Schauen Sie mal«, sagte er und blätterte in dem gewichtigen Schmöker, in dem von brutalen Massakern ebenso berichtet wurde wie über die märchenhaft glorreichen Zeiten der Stadt.

»Die Geschichte Timbuktus beginnt vor tausend Jahren mit den Tuareg-Nomaden, die ihr Lager am Fluss aufschlugen«, erzählte El-Hadje. »Da es aber wegen der Feuchtigkeit Mücken und andere Insekten gab, das Wasser schlecht war und es nach Fisch stank, wurden alle krank. Und so beschlossen sie, in die Wüste zu ziehen, wo es keine Insekten gab und das Wasser gut war. Damals wohnte eine Frau hier, die als zuvorkommend und vertrauenswürdig galt, sie hieß Buktu. Wenn die Tuareg umherzogen, ließen sie ihr Gepäck bei ihr, und bei der Rückkehr sagten sie: ›Wir gehen zum ›Brunnen der Buktu‹, in ihrer Sprache zum ›Tin Buktu‹.«

Aber erst unter Mansa Musa, dem »Löwen von Mali«, wurde Timbuktu zur Legende. Er war ein 24-karätiger Protzkönig, der sich am Gold der westafrikanischen Goldminen mästete und seinen Reichtum herausposaunte, als er mit einer Karawane von 60.000 Soldaten, 500 Sklaven und hundert mit Gold beladenen Kamelen zur Hadsch nach Mekka aufbrach. Unterwegs zeigte er sich überaus großzügig, besonders in Kairo, wo Mansa Musa so viel Gold unters Volk brachte, dass es ein Viertel seines Wertes verlor. Gerüchte darüber verbreiteten sich auch jenseits des Mittelmeers. Die erste Erwähnung von Timbuktu findet sich in Europa im Jahr 1375 unter der Bezeichnung »Tenbuch« im Katalanischen Weltatlas, wo ein König mit Zepter und Goldklumpen die Stadt symbolisiert. Vergessen Sie Bill Gates, die Rothschilds oder Krösus: Laut einer Aufstellung der Finanz-Website Celebrity Net Worth im Jahr 2012 war Mansa Musa mit einem inflationsbereinigten Vermögen von 400 Milliarden Dollar der reichste Mann, der je gelebt hat.

Das gewöhnliche Volk allerdings musste sich mit weniger zufriedengeben. Viele Einwohner der Flussstadt lebten vom Handel mit den Wüstennomaden.

»Timbuktu ist die Stadt der Piroge und des Kamels«, erklärte El-Hadje. »Die Leute aus der Wüste brachten Milch und Leder und Salz. Die Leute vom Fluss boten Reis, Sheabutter, Fisch und Gold an. Immer mehr Menschen zogen in die Stadt, um sich Wissen anzueignen, zu handeln oder aus anderen Gründen.«

In Timbuktu konzentriert sich die ganze Sahara-Region an einem Ort, denn es ist die Tauschbörse für Nomaden und Sesshafte, der Umschlagplatz ihrer Waren. Für ihr Salz und ihr Vieh bekommen die Wüstennomaden, was sie für ihre langen Karawanenreisen brauchen: Reis, Zucker und Tee. Diese wechselseitige Abhängigkeit währt nun schon fast tausend Jahre, und das aus gutem Grund. Denn in einer ausgedörrten Region, wo man von Gras meist nur träumen kann, können die Nomaden nur durch Umherziehen genug Futter für ihre riesigen Herden finden, um die städtische Nachfrage nach Fleisch und Milchprodukten zu befriedigen. Timbuktu ist weit mehr als eine Metapher, es ist Dreh- und Angelpunkt dieser Beziehung. Deshalb war es für mich das Herzstück und der Ausgangspunkt meiner Reise.

Als Leo Africanus hierherkam, hatte die Goldstraße durch die Wüste Konkurrenz durch den Seeweg bekommen: Portugiesische Karavellen erwiesen sich als ebenso gewinnbringend wie Kamelkarawanen. Trotzdem stand Timbuktu noch in voller Blüte. Leo bewunderte die Märkte, den Handel mit Manuskripten, die fröhliche Musik. Unter den Königen von Songhai – insbesondere unter dem Usurpator Mohammed Askiya – war Timbuktu Epizentrum einer großen Regionalmacht. Neben einer effektiven Verwaltung gab es ein stehendes Heer, und die Songhai-Gesetze galten von der Atlantikküste bis zum Tschadsee. Diese Größe beeindruckte auch Leo noch, obwohl damals der Verfall der sittlichen Normen in Askiyas Reich bereits begonnen hatte. Laut as-Sa’di verwandelte sich Timbuktu in einen lasterhaften Sumpf, wo »Schnaps getrunken und Sodomie und Unzucht getrieben wurde – ja, Letzteres in einem Maße, dass scheinbar nichts verboten war.« Die Stadt, dieses Tor zum Land des Goldes, war wie eine überreife Frucht. Und der Sultan von Marokko fand, es sei höchste Zeit, dass sie ihm in den Schoß fiel.

Angeführt von dem kastilianischen Kastraten Judar Pascha, marschierte 1591 eine 5000 Mann starke marokkanische Armee (darunter christliche Sklaven, Söldner aus Osteuropa und tausend Musketiere aus Andalusien) durch die Wüste, begleitet von mehr als 10.000 Kamelen. Die Donnerbüchsen und die englischen Kanonen erschreckten das malische Vieh, und angesichts der technologischen Überlegenheit ihrer Feinde warfen sich die Truppen von Songhai vor ihnen in den Staub. »Judar Paschas Truppen hatten Askiyas Armee im Handstreich erledigt«, schrieb as-Sa’di.

»Es war die denkbar größte Katastrophe für unsere Stadt«, meinte El-Hadje. Dabei schüttelte er den Kopf, als habe die Invasion erst gerade eben stattgefunden. »Denn sie haben uns die Gelehrten geraubt. Wenn vorher jemand aus Kairo von der Azhar-Universität kam, um hier an der Universität von Sankoré zu lehren, schickte man ihn fort, denn nirgendwo sonst gab es ein solches Niveau. Und dann, nach einer einzigen Unglücksnacht, war das alles vorbei.«

Diese Niederlage leitete den endgültigen Zusammenbruch ein. Im Lauf der nächsten Generationen wurde Timbuktu vom Unglück verfolgt. Dürren und Hungersnöte vernichteten die Vegetation und die Viehbestände. Um zu überleben, aßen die Menschen die verendeten Tiere und wurden manchmal sogar zu Kannibalen. Durch den Aufschwung der Schifffahrt verlagerte sich der Handelsverkehr an die Küste, und die Einfuhr von Edelmetallen aus Nord- und Südamerika nach Europa minderte den Wert des afrikanischen Goldes. Während Europas strahlendste Epoche anbrach – die Renaissance, das Zeitalter der Entdeckungen, die wissenschaftliche Revolution –, zerfiel die Region um Timbuktu. Auch andere Karawanenstädte erlebten einen Niedergang, etwa Sidschilmasa im Süden Marokkos, oder sie dämmerten nur mehr dahin, wie Ouadane und Walata in Mauretanien. Doch keine Stadt stand so sehr für Abgelegenheit und Unzugänglichkeit wie Timbuktu, das sich allmählich den Spitznamen verdiente, der auf allen Touristenplakaten entlang des Nigers prangt: Timbuktu la Mystérieuse.

Abendessen bei den Blauen Männern

Der Knall zerriss die Luft und nagelte mich an Ort und Stelle fest. Das war eindeutig ein Schuss. Wie erstarrt stand ich neben der Sankoré-Moschee, jener Universität, die Salem El-Hadje so gerühmt hatte: eine bröckelnde Lehmpyramide, gespickt mit Stämmen von Palmyrapalmen, erbaut im 14. Jahrhundert auf Geheiß einer Wohltäterin der Tuareg. Sie sah aus wie eine Rakete, die auf einem Wüstenplaneten gelandet war und noch Staub ansetzte, nachdem ihren Passagieren schon vor langer Zeit die Luft ausgegangen war.

»Keine Angst«, sagte eine blau gewandete Gestalt unter einem Sonnendach aus Ziegenleder und trat auf mich zu. »Das ist nur eine Feier anlässlich einer Beschneidung.«

Das Gesicht des Mannes war wie mumifiziert, und der Turban ließ wie der niqab einer Frau nur einen schmalen Schlitz für die Augen frei, diese aber blinzelten mir ein herzliches Willkommen zu. Dem Wink seiner staubigen Hand folgend setzte ich mich zu ihm unter das Sonnendach. Um uns herum verstreut lag sein Werkzeug: Schaber, Schmelztiegel, Ahle, ein Holzblasebalg mit Lehmstutzen. Er hob eine kleine Kuhle in der Erde aus, um Teewasser zu kochen.

Ousmane, so hieß er, arbeitete an einem Ohrring, dessen Kreise die Brunnen entlang einer Karawanenroute darstellten, silberne Punkte standen für die Sterne. Neben ihm lag ein Messer, die auf dem Griff eingekerbten Zackenlinien bezeichneten den Karawanenpfad, Höcker symbolisierten Kamelsättel, Sicheln den Mond. Eine Tasche mit Knebelverschluss neben ihm im Sand war mit so vielen Motiven verziert, dass ein Semiotiker seine helle Freude daran gehabt hätte. Ein Dreieck mit drei Punkten stand für ein Kitz, ein Speichenrad für die Fährte eines Schakals. Kodierung ist der Tuaregkultur eigen, was sich auch in einer Vorliebe für Wortspiele, Rätsel und Geheimsprachen zeigt und sich bis in die Kleidung erstreckt. So muss Ousmane seinen tamelgoust in Gegenwart von Älteren über die Nase ziehen, doch wenn er mit Freunden zusammen ist, lässt er ihn herunterrutschen.

»Du siehst vielleicht nur ein Kopftuch«, sagte er, »aber es gibt mehr als hundert Arten, es zu tragen.« Er zog zwei Gläser aus der Knebeltasche, schüttete ein paar Kügelchen Gunpowder-Tee hinein.

Was die Zubereitung von Tee angeht, kann es niemand mit den Tuareg aufnehmen. Es gibt so viele Aufgüsse von einem Behältnis ins andere und zurück und die entnervende Langsamkeit des Vorgangs wird mit so viel Aufhebens noch in die Länge gezogen, dass man sich fragt, ob man einem obskuren alchemistischen Prozess beiwohnt.

Ich versuchte zu zählen, wie oft Ousmane das Wasser in den Kessel zurückgoss, doch nach dem fünften Mal musste ich meine ganze Konzentration darauf verwenden, mir nicht vor lauter Durst das Glas zu schnappen. Ousmane – schmal, undurchdringlich, grazil wie ein Figürchen auf einer Miniaturmalerei – hob den Arm und ließ eine schaumige Kaskade niederrinnen, bevor er mir endlich einen Fingerhut des köstlichen bernsteinfarbenen Tees reichte.

»Willkommen im Nirgendwo«, begrüßte er mich.

Leo Africanus schreibt: »… die Wüste Zenaga – so heißt sie nach dem dort wohnenden Volk – ist trocken und dürr. … gegen Süden [stößt sie] an Nigritien, namentlich an die Reiche Walata und Timbuktu.« Hier, in der Ebene Arawan, begegnete Leos Gruppe dem Stammesfürsten der Zenaga, der beträchtlichen Zoll von den Reisenden verlangte, sie aber auch in sein Lager einlud, um »dort zwei bis drei Tage auszuruhen.« Kamele wurden geschlachtet, Strauße gebraten, Hammel gekocht. »So behielt uns der Fürst zwei Tage bei sich, umgab uns ständig mit großer Fürsorge und erwies uns Ehre«, berichtet Leo, der die Kosten der geschlachteten Tiere auf das Zehnfache des Wegezolls schätzte, den sie entrichtet hatten.

»Die fünf Völker Zenaga, Wenziga, Terga, Lemta und Berdoa werden von den Lateinern Numidier genannt«, heißt es an anderer Stelle. »Sie leben alle in der gleichen Weise, ohne Gesetz und Ordnung.«

Ich sollte auf meiner Reise keiner Nomadengruppe begegnen, die unabhängiger, rastloser, rätselhafter war als die Tuareg. Es sind Supernomaden, und sie spielen in der Geschichte Nordmalis die Rolle der Außerirdischen in einem Pulp-Science-Fiction-Film: Zwischen Phasen von Ruhe und Ordnung brechen sie immer wieder als blutrünstige, plündernde Urgewalt über die Erdlinge herein. Ungewöhnlich ist allerdings Leos Schilderung der Gastfreundschaft, denn laut as-Sa’di sind die Tuareg hauptsächlich für krasse Ungerechtigkeit und Tyrannei bekannt. Im 14. Jahrhundert baten daher die Einwohner Timbuktus Mansa Musa, er möge die Herrschaft über ihre Stadt übernehmen, denn die Tuareg »streifen durch die Straßen und vollziehen Akte voller Verdorbenheit, zerren die Menschen gewaltsam aus ihren Häusern und vergehen sich an den Frauen.« Im 15. Jahrhundert führten die Tua-reg-Überfälle dazu, dass die Städter Sonni Ali, den ersten Herrscher des Songhai-Reiches, zu einer Invasion aufforderten. Als dann im 17. Jahrhundert der harte Griff der Marokkaner nachließ, übernahmen wieder die Tuareg die Herrschaft. Ebenso sicherten sie sich erneut die Vormachtstellung, als die Zentralgewalt im 19. Jahrhundert zusammenbrach. Der französische Forschungsreisende René Caillié hielt fest, dass drei bis vier Tuareg ausreichten, um Angst und Schrecken in fünf bis sechs Dörfern zu verbreiten, weil die Angegriffenen vor Angst wie gelähmt waren.

Als die Franzosen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Französisch-Sudan gründeten, leisteten die Tuareg am hartnäckigsten Widerstand gegen diese Kolonialisierung. Daraufhin wurden unbewaffnete Tuareg bei Strafexpeditionen massakriert und von Tuareg-Sklaven eingebrachte Ernten vernichtet. Zudem konfiszierten die Franzosen Tausende Stück Vieh und stellten die abgeschlagenen Köpfe von Tuareg-Kämpfern auf den Marktplätzen der Dörfer zur Schau.

Da diese Stämme aus religiösen Gründen und aus Rassenhass niemals Freundschaft mit den Franzosen schließen würden, müssten sie nach Möglichkeit liquidiert werden, schlussfolgerte der Gouverneur von Französisch-Sudan im Jahr 1898. Romantischer gestimmte französische Offiziere sahen in den Tuareg allerdings die »Ritter der Wüste«. Und fragten sich, ob diese frei und ungehindert umherstreifenden Menschen, bei denen alle nahezu gleichgestellt waren und der Mut als wichtigste Tugend galt, nicht glücklicher seien als sie selbst.

Im rosigen Schein des Abendlichts führte mich Ousmane an den Stadtrand, damit ich seine Familie kennenlernte. Zwischen den Müllhaufen der Nachbarschaft und dem Betonklotz des Libya Hotel (erbaut mit großzügigen Mitteln des kürzlich dahingeschiedenen Oberst Gaddafi) stand am anderen Ende einer Düne ein Zelt aus ausgefranstem Grobleinen. Dort hockten im Windschatten, von Kopf bis Fuß in Blau, Ousmanes Vater und einige seiner Brüder auf einem zerschlissenen Teppich. Sie tranken Tee und rauchten eine Pfeife aus Antilopenhorn, ohne sich um den Ziegenkot um sie herum zu scheren.

Mit einem traditionell verschleierten Tuareg zu sprechen kann zu einer kriminalistischen Unternehmung werden, weil man alles aus winzigsten Hinweisen zu erschließen versucht: eine Veränderung des Tonfalls, leichtes Blinzeln oder ein Weiten des Auges. Ich habe mehrere Nachmittage bei Ousmanes Familie verbracht und wurde auch zum Essen eingeladen. Bei dieser Gelegenheit ließ sein Bruder Haka den Schleier sinken und aß zusammen mit uns vor dem Zelt, während sein Vater und mehrere andere verschleierte Familienmitglieder sich ins Zelt zurückzogen. Im Schneidersitz vor dem Metalltablett, Ellbogen auf den Knien, rollten wir den Butterreis in unseren Handflächen zu klebrigen Bällchen. Das Mahl war vielleicht nicht so üppig wie das von Leo Africanus geschilderte, aber zumindest musste kein Wegzoll entrichtet werden und ich konnte das Essen umso mehr genießen, weil ich mich ebensolcher Freiheit erfreute wie meine Gastgeber.

Ich war begeistert davon, mit den blauen Männern essen zu dürfen. Als inedan (Kunsthandwerker oder -schmied) gehörte Ousmane mit seiner Familie zu einer Kaste, der man einen Zugang zur Geisterwelt nachsagte und die bei Feierlichkeiten und Festen gebeten wurde, epische Gedichte vorzutragen. Von der nobleren Kaste (den imajeren) verachtet, sind sie in der Tuareg-Kultur noch heute von vielfältigem Nutzen, unter anderem als Hersteller von Brandzeichen für Vieh, als Zahnärzte, Heiratsvermittler und Apotheker.

Das Kastensystem gehört zu den vielen Eigenheiten der Tuareg-Kultur, die Außenstehenden befremdlich erscheinen wie andere immer noch latente Traditionen: die Überfälle, die Sklaverei und das adanay-Ritual (bei dem Mädchen ungeheure Mengen Milch trinken müssen, damit sie bei der Eheschließung schön fett sind). Was der westliche Beobachter oftmals faszinierend findet, ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Exotischen und dem Vertrauten. Denn neben diesen fremdartigen Elementen bestehen durchaus auch Parallelen zu unserer Kultur, etwa dass in der dekorativen Bilderwelt der Tuareg immer wieder Kreuze auftauchen oder die unverschleierten Tuaregfrauen relativ viele Freiheiten genießen (auch wenn uns Europäern die Tradition der Matrilinearität ebenso fremd ist wie den arabischen Muslimen). Gelehrte haben versucht, die Ursprünge dieser Ambivalenz auf den Einfluss der Iberischen Halbinsel, auf die Kreuzfahrer, auf die babylonische, christliche, biblische, eine prä-islamische arabische, persische, griechische oder ägyptische Kultur zurückzuführen, blieben den Beweis dafür aber stets schuldig. So wurden die Tuareg zu einer reinen Projektionsfläche für allerlei romantische Theorien, zu einem imaginierten Bindeglied zwischen dem »zivilisierten« Europa und den »Wilden« Afrikas.

»Mein Vater ermahnt Haka, er muss mehr essen.« Ousmane hatte eine Weile Tamaschek mit seinem Bruder gesprochen und wandte sich jetzt an mich.

»Oh, war er krank?«, erkundigte ich mich.

»Nein, aber im Gefängnis. Deshalb ist er keine großen Portionen mehr gewöhnt.«

Haka nahm ein paar Sandkörner und rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann hielt er den Kopf schief darunter, rollte in gespieltem Staunen mit den Augen und ließ sich die Sandkörner in den Mund rieseln, als seien sie eine ganz besondere Delikatesse. Dabei erinnerte er mich an Charlie Chaplin als Tramp in Goldrausch, der seine Schnürsenkel wie Nudeln verspeist.

»Wenn wir mal etwas zu essen bekamen, konnten wir uns glücklich schätzen«, erklärte Haka auf Tamaschek, und Ousmane übersetzte. »Auch wenn es nur Brot gab, musste ich es sofort essen, sonst hätte es mir jemand weggenommen. Ein Tamaschek in einem malischen Gefängnis ist eine Ratte unter Schlangen.«

Es ließ sich schwer herausfinden, welches Vergehen ihm zur Last gelegt worden war. Haka beharrte darauf, von seinem Arbeitgeber, einem Koro-Boro (ein Angehöriger der Songhai-Mehrheitsethnie in der Stadt) hereingelegt worden zu sein, weil dieser einen Bauauftrag ohne die erforderlichen Genehmigungen übernommen hatte.

»Die Regierung glaubt, Tamaschek brauchen nichts zu essen.« Haka formte den Reis in seiner Faust zu einem Ball. »Vielleicht verwirrt sie unser tamelgoust, und sie meinen, Sand genügt uns – als Nahrung und als Schlafunterlage.«

Das Grab des weißen Mannes

Timbuktu ist keine protzige Stadt. Sie prahlt nicht mit stolzen Türmen, Brustwehren und Bastionen. Vielmehr breitet sie sich flach und geduckt in einer Senke auf sandigem Boden aus. Nur wenige Städte liegen so offensichtlich in der Wüste: In Timbuktu ist der Sand allgegenwärtig.

Das findet auch in der Architektur seinen Ausdruck. In manchen Vierteln sieht man ebenso häufig Zelte und Hütten aus geflochtenem Schilf wie Häuser; und besonders dort, wo die erst seit Kurzem Sesshaften ihr Lager aufgeschlagen haben, sind die Besitztümer eher in Satteltaschen als in Truhen verstaut. Sogar größere Bauten verraten sich durch Elemente nomadischen Ursprungs. Fein gearbeiteter Stuck und geschnitztes Gitterwerk ahmen die Muster von Tuareg-Schmuck und Berberteppichen nach, und oft orientiert sich der Grundriss an den Zweckmäßigkeiten eines Zelts. Die Bewohner halten sich draußen in großen Höfen auf, wie sie es von ihren Dünen kennen, nur dass hier hohe Mauern und Tore für die Privatsphäre sorgen, die ihnen sonst die Weite der Wüste sichert.

Einige der schönsten Bauten sind die Häuser der Forschungsreisenden. Wo ein Schild an den glücklosen Major Alexander Gordon Laing erinnert, malen schlüssellochartige Öffnungen über einem Gitterwerk Schatten auf die schönen Holzfensterläden, und ein massiver metallener Türklopfer ziert die schwer beschlagene Tür darunter.

Laing, der gegen Ende der georgianischen Epoche reiste (die als goldenes Zeitalter der tollkühnen Forscher gilt), wollte »seinen Namen vor dem Vergessen bewahren«, indem er als erster Europäer der Moderne seine Eindrücke von Timbuktu wiedergab. Im Lauf der Jahrhunderte hatten sich die Mythen immer mehr aufgebläht, zudem machte ein religiös motiviertes Zutrittsverbot die Stadt für alle, die auf Ruhm und Ehre erpicht waren, nur umso verlockender – vergleichbar Raqqa im Jahr 2016.

Am 14. Juli 1825 heiratete Laing die Tochter des britischen Konsuls von Tripolis. Zwei Tage später gab er ihr einen Abschiedskuss und brach, in Uniform gekleidet, nach Timbuktu auf. Obwohl er hinter jeder Kurve ausgeraubt und von Banditen angegriffen wurde und sich nahezu ausschließlich von Trockenfisch ernährte, den er in Kamelmilch einweichte, gab er nicht auf. Ohne Gepäck und ohne Geld, dafür mit vielen Wunden – darunter etliche von Säbelhieben räuberischer Tuareg – setzte er die Reise unbeirrt fort. Die Sterilität der Wüste bewahrte ihn vor Infektionen, und er schaffte es wider Erwarten bis nach Timbuktu: ein blutiges Wrack, auf dem Kamel festgeschnallt und starr wie eine Salzplatte. Er war der erste Europäer, der nachweislich die Sahara von Nord nach Süd durchquerte. Doch knapp sechs Wochen nach seinem Eintreffen in Timbuktu kehrte er der Stadt wieder eilig den Rücken, angeblich weil fanatische Muslime ihm nach dem Leben trachteten. Für seinen Tod ist aber möglicherweise ein Berber-Scheich verantwortlich, der seine Gefolgsleute angewiesen haben soll, den Reisenden hinterrücks zu ergreifen und ihn grausam zu töten.

Auch andere Afrikareisende hatten kein Glück, etwa Laings schottischer Kollege Mungo Park (der ertrank, als sein Kanu im Niger kenterte) oder Major Daniel Houghton (der in der Nähe von Simbing spurlos verschwand). Und noch bevor Jean Louis Burckhardt seine jahrelang geplante Reise antreten konnte, erlag er in Kairo der Ruhr. Auch Joseph Ritchie wurde ein Opfer von Krankheiten. Doch eine (relative) Erfolgsgeschichte gab es. Robert Adams, ein amerikanischer Seefahrer, hatte vor der afrikanischen Küste Schiffbruch erlitten und war 1812 in die Sklaverei verkauft worden. Laut eigenem Bericht wurde er nach Timbuktu geschafft, dort von Tabakhändlern eingetauscht, durch die Sahara zurückgeschleppt und schließlich vom britischen Konsul in Mogador befreit. Als aber 1816 seine Geschichte veröffentlicht wurde, hielten viele sie für unglaubwürdig, und sie wurde trotz ihrer Authentizität kaum bekannt.

In den 1820er-Jahren hatte Timbuktu so viele ehrgeizige Abenteurer das Leben gekostet, dass es den Spitznamen »Grab des weißen Mannes« erhielt. Doch davon ließ sich René Caillié nicht aufhalten. Er hatte seit seiner Kindheit davon geträumt, Timbuktu zu besuchen. Trotz seiner bescheidenen Herkunft und der mangelnden Unterstützung durch die Franzosen hatte er im Senegal Arabisch gelernt, sodass er sich als Araber ausgeben konnte, der aus christlicher Gefangenschaft freigekommen und auf dem Heimweg war. So gelangte er 1828 in die verbotene Stadt und machte sich Notizen, wann immer er unbeobachtet war. Sein Lohn dafür, als erster Europäer Timbuktu erreicht und einen Bericht darüber geschrieben zu haben, bestand aus 10.000 Francs von der Geographischen Gesellschaft in Paris. Aber auch Cailliés Geschichte stieß auf Skepsis. Wie hätte denn ausgerechnet der Sohn eines Sträflings eine derart bahnbrechende Leistung vollbringen sollen?

Das Haus, in dem Caillié wohnte, liegt gleich um die Ecke von Laings Unterkunft. Mit den angedeuteten Säulen, der mächtigen, verzierten Tür und dem Bossenwerk wirkt es wie ein palladianisches Frühwerk aus Lehm. Ein Stück weiter, hinter der Sidi-Yahia-Moschee und der Bibliothek der Familie Wangara, steht das Haus, in dem Heinrich Barth gewohnt hat, der die Sahara 1853 zu vorwiegend wissenschaftlichen Zwecken durchquerte (was im 19. Jahrhundert recht ungewöhnlich war).

Und seither hat sich in dieser »Straße der Entdecker« kaum etwas verändert.

Ich wohnte am Rand der Wüste, in einer umfriedeten Villa mit Sonnenkollektoren auf dem Dach und filigranen Sternenmustern auf den Mauern; an Spuren von den Rücken der Leute war abzulesen, wie der Schatten tagsüber wanderte, denn die Bewohner folgten seinem Lauf. Da sich die Villa über die Nachbarbehausungen erhob, wirkte sie wie ein Bergfried, umgeben von einer bunten Mischung aus Zelten und Hütten mit Dächern aus Palmwedeln. Sie gehörte einer Familie von Berabisch – einem arabisch sprechenden Stamm, der seine Zelte mindestens seit dem 15. Jahrhundert in diesem Teil der Sahara aufschlägt. Ursprünglich Berber aus Nordafrika, haben sich die Berabisch mit den Arabern vermischt und deren Sprache und Kultur übernommen. Leo Africanus schreibt über solche »Wüsten-Araber zwischen Berberei und Ägypten«, sie führten ein »Leben voller Elend, denn die von ihnen bewohnten Länder sind rau und unfruchtbar. … Gelegentlich tauschen sie ihre Kamele und Schafe gegen Korn ein.«

Doch während fortschreitende Austrocknung und Dürren das Leben für die Städter immer schwieriger machten, nahmen diese Wüstenstämme einen Aufschwung. Als die Forschungsreisenden Mitte des 19. Jahrhunderts mühsam bis nach Timbuktu vordrangen, genossen die Berabisch einen schillernden bis zwielichtigen Ruf. Man machte sie unter anderem für den Tod von Major Laing verantwortlich – andererseits hatte ein Vorfahre meines Gastgebers in den 1850er-Jahren Heinrich Barth beschützt. Auch hatten sie sich als Wirtschaftsmacht etabliert und besaßen das Handelsmonopol auf Salz und andere Massengüter, das bis heute besteht. Häufig waren nicht die Sahara-Stämme mit den stärksten Kriegern am erfolgreichsten, sondern jene, die die jeweilige Nachfrage am Markt befriedigen konnten und geschickt Schlupflöcher auszunutzen verstanden. Als Meister des frud al-haram (des »verbotenen Betrugs«, eine Umschreibung für den Schwarzmarkt) verkörpern die Berabisch geradezu exemplarisch dieses Prinzip. Heutzutage wird auf dem Schwarzen Markt in Timbuktu praktisch alles gehandelt – vom Mehl über Motoröl bis hin zu harten Drogen. Insbesondere Kokain ist ein äußerst lukratives Geschäft.

Aufgrund seiner Lage war das weitläufige, gut gesicherte Haus ein idealer Treffpunkt für die Wüstennomaden, von denen die meisten Karawanenhändler waren. Mich faszinierten diese Leute: Es waren Kameltreiber und geschickte Grenzgänger, manchmal auch Schmuggler. Im Hof rieben sie sich die Hände über einer Kohlenpfanne und diskutierten die Preisunterschiede zwischen Mali und Algerien, sprachen über Treibstoffhändler, die einem den Tank mit Sand füllten, erwähnten einen Plan der Regierung, entlang der ganzen 700 Kilometer langen Strecke bis zu den Salzminen von Taoudenni militärische Stützpunkte zu errichten (was gemischte Gefühle bei ihnen auslöste, denn es könnte den Warenverkehr behindern), und beredeten noch manches andere, für das mein Arabisch nicht ausreichte. Ich saß viele Nächte dort, teilte eine Platte Nudeln mit ihnen und versuchte, mir einen Reim auf all das Gerede zu machen.

»Isma’, hör zu.«

Eines Abends zündete ein Händler zwei Zigaretten an der Kohlenpfanne an und reichte mir eine. »Hast du ein Satellitentelefon?«

»Leider nicht.«

»Eine Speicherkarte?«

»Ähm, ja, aber die brauche ich eigentlich.«

Er beugte sich näher zu mir, und ich spürte das Band seiner Digitaluhr an meinem Arm. »Hör mal, mein Freund. Ich habe Marlboro Red. Zum besten Preis von ganz Timbuktu. Komm, wir können sie jetzt holen.«

»Toubib, weißer Mann, komm und schau.«

Ich war gerade beim Frühstück, als jemand am Tor rüttelte. Der Junge aus einem der Zelte in der Nachbarschaft war zwar noch kein ausgewachsener Händler, aber er hatte ein Superschnäppchen für mich. Denn nur einen kurzen Fußweg vom Haus entfernt, am Fuß einer Düne, traf eine Salzkarawane ein. Es war eine so aus der Zeit gefallene Szene, dass ich fast damit rechnete, Jean-Léon Gérôme oder Eugène Delacroix mit einer Staffelei danebenstehen zu sehen.

Die Salzplatten, jede schwerer als 35 Kilogramm und so lang und breit wie ein Grabstein, lagen auf den Kamelflanken. Sie waren mit geflochtenen Grasseilen an die Sättel gebunden und blendeten mit ihrem grellen Weiß. Die Tiere wirkten völlig am Ende, Bäuche und Flanken waren vernarbt, Fliegen umschwirrten ihre Augen. Dann gingen die Kamele in die Knie, und ihre Bäuche knallten auf den Sand, als wollten sie nie wieder aufstehen. Nun machten sich die Männer an den Seilen zu schaffen, banden die Salzplatten los und trugen sie vorsichtig wie Kristalllüster auf spiegelglattem Boden. Dann wurden die Platten paarweise wie Stützböcke auf den Sand gestellt, als wollten die Männer einen langen Banketttisch für die Stammesoberhäupter der Wüste aufbauen.

An diesem Abend waren die Salzhändler in der Villa zu Gast, wo sie im Hof rauchten, Schnupftabak aus Zinndosen schnupften und sich Spaghetti von der gemeinsamen Platte nahmen.

»Es ist zu hart«, murmelte einer. »Sechsunddreißig Tage, die ganze Zeit zu Fuß. Es ist zu heiß, und Taoudenni ist die Hölle.«

»Warum machen Sie es dann?«, fragte ich. »Bringt es viel ein?«

Ein anderer Salzhändler lachte. »Dann würde ich Gott danken!« Mit einem Zweig stocherte er im Feuer und starrte in die Glut. »Wenn einer nicht reist, hat er einen Kopf wie eine Wassermelone.«

Die Männer verbrachten die eine Hälfte des Jahres auf der Azalai, der traditionellen großen Salzkarawane zwischen Taoudenni und Timbuktu; die anderen sechs Monate war es zu heiß und sie ruhten sich aus. Meistens schnitten sie selbst das Salz, nur manchmal kauften sie es von den dortigen Bergarbeitern. Dann brachten sie so viel, wie sie transportieren konnten, in zehnstündigen Nachtmärschen nach Timbuktu. Es klang gleichermaßen großartig wie schrecklich. Wie konnte eine derart beschwerliche Methode so lange fortbestehen? War es heutzutage denn nicht viel einfacher – und schneller –, den Salzhandel mit Lkws abzuwickeln?