Zeit der Umkehr
Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zu tun, um von ihnen gesehen zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn von eurem Vater im Himmel zu erwarten.
Wenn du Almosen gibst, posaune es nicht vor dir her, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden! Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen bleibt; und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist! Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler! Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber, wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
Matthäus 6,1–6.16–18
Die vierzig Tage der Vorbereitungszeit auf Ostern nennen wir »Fastenzeit«. Doch was heißt Fasten? Heutzutage sind die Regeln für das religiöse Fasten in der katholischen Kirche nicht mehr streng und oft in Vergessenheit geraten und unbekannt.
Im Lauf der Zeit bin ich oft mit Gläubigen der orthodoxen Kirche und auch mit religiösen Juden zusammengetroffen. Ich war jedes Mal erstaunt zu sehen, wie ernst sie das Fasten nehmen. Für sie ist es etwas Wichtiges, und deshalb halten sie die Fastenregeln gewissenhaft ein. Und sie ihrerseits sind erstaunt darüber, dass wir Katholiken die Praxis des Fastens aufgegeben haben. Sie erinnern uns daran, dass es das Fasten in allen Religionen gibt, insbesondere in der Bibel und in der gesamten christlichen Tradition.
Auch bei uns ist das Fasten wiederentdeckt worden, aber nicht so sehr aus religiösen Gründen, sondern für die Zwecke der Gesundheit und der Schönheit. Viele Männer und Frauen geben eine Menge Geld für Fastenkliniken aus. Sie machen die Erfahrung, dass das Fasten ihrem Körper und auch ihrer Seele eine neue Leichtigkeit und Beweglichkeit verleiht, dass es eine Quelle der Freiheit und der Freude ist. Also scheint die alte religiöse Praxis (die deutlich preisgünstiger ist) doch nicht so unvernünftig zu sein … Im Gegenteil, es gibt gute Gründe, die dafür sprechen!
Allerdings hat das religiöse und christliche Fasten, auch wenn es nach außen hin dem säkularisierten Fasten ähnelt, eine andere Motivation. Natürlich wirkt sich auch das religiöse Fasten in der beschriebenen Weise auf die Gesundheit des Leibes und der Seele aus, doch das ist nicht sein eigentlicher Sinn. Jesus übt Kritik an einem religiösen Fasten, das nur ein Fasten des Magens ist, ein Fasten zu dem Zweck, vor den Menschen als fromm zu erscheinen. Das Fasten des Magens ist für ihn dann sinnvoll, wenn es ein Zeichen ist: Zeichen für ein Fasten des Herzens, Zeichen für eine Läuterung des Herzens, Zeichen für einen Verzicht, um freier zu sein für Gott und die Menschen. In der Bibel kommen daher immer drei Bestandteile zusammen: Fasten, Gebet und Werke der Nächstenliebe. Das Fasten soll uns frei machen für Gott und Güter und Geld sparen für die Armen und die Bedürftigen.
Hier kommen wir wohl an den springenden Punkt unseres menschlichen und christlichen Daseins: Wir alle sind sehr beschäftigt und sorgen uns um vieles. Wir sind in einen oft sehr straffen und engen Terminplan eingebunden. Wir müssen jeden Tag so vielerlei erledigen und laufen Gefahr, das Ganze, den Sinn und die Richtung unseres Lebens, aus dem Blick zu verlieren. Gerade bei dem heutigen Stress brauchen wir eine Befreiung. Freiheit ist eines der großen Worte, das die Sehnsucht der Menschen heute beschreibt. Wir alle wollen frei sein und in einer freien Gesellschaft leben.
Gott hat uns frei erschaffen. Das ist der eigentliche Sinn der vorösterlichen Bußzeit und des vierzigtägigen Fastens. Es geht bei unserem Fasten nicht bloß darum, einen leeren Magen zu haben: Es geht darum, frei zu werden von vielen Dingen, vielen Verpflichtungen, die uns beanspruchen und beunruhigen und oft nutzlos oder unnötig oder zumindest nicht gar so wichtig sind. Es geht darum, dass wir von uns selbst frei werden, leer und frei für das eigentliche Ziel und die wahre Erfüllung, den Sinn und die Freude unseres Lebens. Frei für Gott und für die anderen, frei, das erste Gebot umzusetzen, frei für die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen.
Jesus selbst – so berichten die Evangelien – hat sich auf sein öffentliches Wirken vorbereitet und vierzig Tage lang gefastet.