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Für Marc,
den Geduldigen.
Ich liebe dich.
Fast immer.

 

 

 

EPA-KEKSE

ROARING FORTIES

DIE QUALLE

GRÜNSCHNÄBEL

HOBO

BRASILIEN. ODER BIRKHOLM?

354 SEEMEILEN

PLÖTZLICH EINHAND

MOMMARK

OCTOPUSSY

KLEIDERSCHRANK UND EIMER

ICH HAB DIE HAARE SCHÖN

WENIGER IST MEHR

ZEHNTAUSEND WEGE, DIE NICHT FUNKTIONIEREN

KÖNNEN UNKEN SEGELN?

AUFGELAUFEN

ANGEBAGGERT

PLAN B

ÆRØDYNAMISCH

KÄFFCHEN?

RÜCKZUGSORT

32 KNOTEN

FYNSHAV

POMP AND CIRCUMSTANCE

HOME RUN

REVOLVERHELD – EINEN SOMMER SPÄTER

SPEED DURCH GESCHWINDIGKEIT

DANKE!

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Meine Tochter an der Pinne von TASS KAFF. Mit einer solchen Robinsonjolle fing es in den Achtzigern auch bei mir an. Mein Boot hieß FREITAG und wurde immer Mittwochs gesegelt.

 

1

EPA-KEKSE

 

 

FREITAG bahnt sich stur seinen Weg hinaus auf die Flensburger Förde.

Die kurzen Windwellen schütteln uns in unserer kleinen braunen Robinson-Jolle mächtig durch, während wir uns vom Hafen frei kreuzen.

 

Alle Zufahrten zu der Anlage sind von Schlaglöchern übersät. Der schmale Waldweg zur Landseite ebenso wie die kabbelige Wasserfläche jenseits der Mole. Die blaue Förde liegt als Buckelpiste vor uns, hier und da dekoriert der anbrechende Herbst das Wasser mit blitzenden Schaumkronen. Gurgelnd, kichernd und platschend klettern einige der Wellenkämme zu uns in den Doppelopti, als wollten sie es sich dort bequem machen. Aber acht Kinderhände treiben die umherschwappenden Wasserlachen mit Ösfass und Schwamm in die Enge und befördern sie umgehend wieder nach draußen.

Wir schreiben das Jahr 1986. Zu viert hocken wir in einem nicht einmal fünf Meter langen Holzboot. Kinder an die Macht. Wir fühlen uns als Herrscher über die Wasserfläche und die Spielzeugwelt am fernen Ufer, wo unser Bootshaus unterhalb des Flottenkommandos Meierwik nun bunt im Sonnenlicht aufleuchtet. Wie ein kleiner gelber Bauklotz duckt es sich in den Schutz des grünen Uferhangs. Von achtern kündigt Inkas Stimme das nächste Manöver an. »Klar zur Wende!« Wir melden zurück: »Ist klar!« Mit einem beherzten »Re!« und einem Ruck an der Pinne schickt unsere Rudergängerin die Robinson-Jolle in die Kurve. Unsere Nussschale quittiert die Ansage mit einem erschrockenen Sprung auf den neuen Bug.

»Holt dicht! –

Holt diiiicht …!«

»Ja, gleich!«

»Seht mal zu an den Schoten!«

»Jaahaa!« Die Kommandotafel haben wir neulich auswendig gelernt. Aber wie wir Manöver sinnvoll koordinieren, stand da nicht drauf. Auch Weltherrschaft will gelernt sein.

In einem kurzen Handgemenge turnen wir unter den Segeln hindurch an die neuen Sitzplätze und Schoten: ich am Großsegel, Ole am Besan und mein Bruder Sven an der Fock. Das kleine Boot fällt ab und ruckelt vorwärts. Die Gangart unseres Gefährts erinnert mich nun an den holprigen Galopp der kurzbeinigen Ponys aus dem Reitstall.

Reiten oder Segeln? Die Begeisterung für Huftiere und Ballsport ist in der Bevölkerungsgruppe der Zwölf- bis Dreizehnjährigen fest verankert. Entsprechend schlägt Svens Herz für König Fußball, meines für das Reiten. Verzichtbare Hobbys – ginge es nach unserem Vater. Als Marineoffizier hat er sich alle Mühe gegeben, unseren Genpool maritim zu beeinflussen und möchte seine wertvolle Lebenszeit nur ungern dem sinnlosen Warten an den Banden norddeutscher Reitställe und Fußballfelder opfern.

Sven und ich sitzen also bei der Wahl unserer Freizeitbeschäftigung sprichwörtlich im selben Boot.

FREITAG hält inzwischen mit raumen Kurs und unverminderter Fahrt auf den Strand von Solitüde zu. Ebenso stur wie eines der zotteligen Huftiere – einmal in Bewegung, können die Viecher erstaunlich zielstrebig sein. Wenngleich nicht immer im Sinne des Reiters. Die Wellen kommen jetzt achterlicher und schieben mit, der Holz-Opti rauscht entschlossen auf den Strand zu.

Das Schwert geht hoch, gefolgt vom Ruderblatt. Wir lassen die Schoten fahren. Unser Lastentier hat ein Einsehen, fällt in einen gemäßigten Trab, dann in langsamen Schritt. Mit etwas Restfahrt und einem schlurfenden Geräusch landet die hölzerne Jolle schließlich auf dem Sandstrand. Der feste Boden unter den Füßen schwankt, die Hände sind kalt, der Magen knurrt. Also hocken wir uns in den Windschatten der kleinen Sanddüne, die den Strand vom Uferwald trennt. Hierher also hat sich der Spätsommer verzogen!

»Dann hol doch mal deine TOLLEN Kekse aus deiner TOLLEN Jacke!«, ziehe ich Sven auf.

Der Herr Offiziersvater hat zu Saisonbeginn die hinteren Ecken seines heimischen Schlafzimmerspinds kontrolliert. Ans Tageslicht kamen die ausrangierten Öljacken unserer Eltern und der Befund, dass die fürs Opti-Segeln noch allemal gut seien. Papa hat klare Vorstellungen von der maritimen Kleiderordnung. Preußisch-pragmatisch. Widerrede zwecklos. Es ist Friesennerz befohlen.

»Die sind peinlich!«

Unser kläglicher Versuch der Gegenrede wird im Keim erstickt.

»Schwimmweste drüber, dann passen die. Da habt ihr Kekse und jetzt ab!«

Brot und Spiele. Uralter Trick.

Sven fummelt also ein silbernes Paket aus der zu großen gelben Jacke.

Das Verfallsdatum der Packung liegt in für uns unvorstellbarer Zukunft, der Inhalt entstammt einer Bundeswehr-Einmannpackung. Es sind EPa-Kekse. Stahlharte Panzerplatten. Mürbeteigplätzchen sind Softgebäck dagegen. Auch geschmacklich sind die rechteckigen Teigplatten für uns ungefähr so interessant wie versteinerte Wellpappe.

In den Achtzigern bekommen normale Kinder Schoko-Doppelkekse. Oder wenigstens Butterkekse. Nur Bundeswehrkinder müssen mühsam an Hartkeksen aus NATO-Notrationen nagen.

Sven erntet wissende Blicke von Ole und Inka. Auch ihre Väter sind als Reiseleiter bei Y-Tours angestellt und reichen Bundeswehr-Feingebäck zum Tee. Im vergangenen Winter haben unsere Erzeuger beschlossen, uns die grundlegenden Werte der Marine näherzubringen. Somit genießen wir seit dem Frühjahr eine anständige Segelausbildung und eine anständige Bordverpflegung. Letztere fehlt nun offenbar der GORCH-FOCK-Stammbesatzung. Irgendwo müssen die Kekse ja herkommen.

Während die Bordverpflegung eher wehrkraftzersetzende Wirkung entfaltet, verläuft die Segelausbildung erstaunlich unmilitärisch und zur allgemeinen Zufriedenheit. Einer der Väter, Kapitän Schäfer, trägt in hoheitlicher Mission die Verantwortung für unser seemännisches Seelenheil und leitet unsere Segelstunden mit einer Sonntagsfrage ein: »Jeder allein im Opti oder alle zusammen im Robinson?«

Jenseits dieser Frage sind wir recht frei in unserem Tun. Entweder ist Herr Schäfer in seinem Privatboot bei uns oder ersatzweise sein Gottvertrauen. Offiziere bei der Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht.

Nach Klärung der Frage zerren wir unsere Kleinstboote auf klappernden Slipwagen aus einer wettergegerbten Bootshalle, die ihre besten Tage längst hinter sich hat. Mutmaßlich seit Dekaden vor unserer Zeugung. Charme und Erhaltungszustand der Anlage rangieren irgendwo zwischen Dornröschenschloss und Edgar-Wallace-Krimi. In dem kleinen Bootshafen des Flottenkommandos Meierwik sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Oder der Militärische Abschirmdienst und der KGB. Vermutlich verschieben unsere Väter nachts auch von hier aus geklaute EPa-Rationen in das noch Schengen-freie Dänemark. Wir wissen es nicht genau.

Was auch immer Heimliches hinter den alten Mauern geschieht, von uns erwartet Herr Schäfer politisch korrektes Opti-Segeln.

»Einmal Richtung Ochseninseln und zurück. Kein Landgang. Keine Versenkungsspiele. Kein sonstiger Mist!«

Angetrieben vom Wind und seinen mahnenden Worten, schippern wir in unseren Nussschalen los. Der kleine Grenzverkehr, den wir mit den Flensburger Butterdampfern pflegen, fällt vermutlich unter die Kategorie »Kein sonstiger Mist«.

Was passiert eigentlich, wenn man die weißen Schiffe nahebei passiert? Gemeint ist: nahe nahebei. So nahe, dass die Besatzung des Ausflugsdampfers den Bootsnamen FREITAG lesen kann?

Nachdem wir wiederholt juchzend und zu nahebei die Heckwelle des Dampfers hinuntergeritten sind, wird es der Förde-Reederei zu bunt. Durch Herumtelefonieren bei den ansässigen Segelvereinen findet sie heraus, wo unsere Flitzekiste hingehört. Das an uns gerichtete Beschwerdeschreiben verliest Herr Schäfer später mit schneidiger Windstärke-6-Offiziersstimme. Besonders betont er Formulierungen wie »Gefahr für die Sicherheit«, »Behinderung der Berufsschifffahrt« und »Unterlassen«. Vorsichtshalber übersetzt er das Gesagte kindgerecht in »saugefährlich«, »Kleinholz« und »Ihr habt sie wohl nicht mehr alle!«.

Nun stehen wir frisch gefönt unter strengerer Beobachtung.

Allerdings reicht der Blick unseres Betreuers nicht bis hinter die Sanddünen von Solitüde, wo wir zwischenzeitlich überlegen, was wir alles mit unseren EPa-Keksen anstellen können. Flächig im Opti ausgelegt, geben die Kekse bestimmt ein ganz passables Lenzmaterial ab. Vielleicht halten sie sogar ein Weilchen als provisorischer Leckstopfen? Und angezündet mit dem Molotowcocktail, den der KGB neulich in der Bootshalle vergessen hat, könnten wir mit ihnen ein bisschen im Gestrüpp hinter der Halle kokeln.

Der kindlichen Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, die Umsetzung scheitert allerdings am langen Ton einer Signaltröte. Es ist Herr Schäfer, der mit seiner Segelyacht in Schleichfahrt weite Kreise vor dem Strand beschreibt. Er hat die kleine Jolle ausgemacht, die mit ungeduldig schlagenden Sprietsegeln auf dem Strand liegt.

Als wir die Köpfe über die Düne strecken, signalisiert uns Herr Schäfer mit einem weiteren Ton und eindeutigen Gesten, die zarten Kinderpopos sofort in freitag zu schwingen und ganz flott nach Hause zu segeln. Vermutlich sah er uns schon inmitten von Robinson-Wrackteilen im Kielwasser eines Butterdampfers treiben.

* * * * *

Jahre später.

Im Spätsommer 2012 sitze ich am Strand von Solitüde auf einer Picknickdecke, die die Ausmaße eines Hubschrauberlandeplatzes hat. Genug Fläche für drei Personen und alle Eventualitäten eines Strandbesuchs. Diverse Taschen mit Badesachen, Sandspielzeug und Grundnahrungsmitteln zeugen von meinem mütterlichen Engagement. Ich halte mich hoch konzentriert für meine Nachkommen bereit, um im Krisenfall umgehend stimmungserhaltende Maßnahmen einzuleiten. Während ich also so vor mich hin träume, lasse ich den Blick und die Gedanken schweifen. Unbewusst beginne ich, das Nahrungsangebot auf den umliegenden Strandlaken und Picknickdecken zu analysieren.

Da. Eine Familie mit Kleinkind. Es gibt Reiswaffeln. Die Dinger sind unvermeidlich. Sobald die kleinen Fressmaschinen etwas greifen können, halten sie in jeder Hand eine dieser runden Scheiben. Schön eingespeichelt, vervielfacht der gepresste Puffreis sein Volumen ins Unermessliche. Theoretisch gelingt es so, das Kind für mehrere Stunden ruhigzustellen. Reiswaffeln konnten vermutlich nur deshalb zum Verkaufshit werden, weil verzweifelte Eltern auf dieses Werbeversprechen hereinfallen. In der Praxis zerkrümeln die Kinder die Waffeln, bevor sie den Mund erreichen. Dafür verkrümeln sich die Reste in Bereiche des täglichen Lebens, die vom putzbeauftragten Erziehungsberechtigten nur schwer zu reinigen sind.

»Ey Alter!« Etwas weiter weg fläzt sich ein Grüppchen Halbstarker auf Badehandtüchern. Ich sehe eine Tüte Chips und zerknülltes Hot-Dog-Papier. Lecker, aber natürlich ein pädagogisches No-Go. Schlechte Ernährung für Kinder. Betonung auf Kinder. Ich schaue mich um. Meine Brut spielt friedlich etwas entfernt an einer Sanddüne und beachtet mich nicht. Ich überlege, wie ich »Ey Alter!« und seine Kumpels ablenken kann. Chips sind gar nicht gut. Nicht, dass die spiddeligen Jungs noch adipös werden.

Na ja. Nebenan werden Salzstangen gereicht. An Grundschulkinder, also schon eher unsere Peergroup. Salzstangen sind so schön Achtziger! Ich schaue verstohlen, ob irgendwo ein Käseigel steht. Nein. Schade.

FREITAG und die EPa-Kekse kommen mir in den Sinn. Salzstangen wären seinerzeit eine kindgerechte Alternative gewesen. Für die damals erträumten Schokokekse ist es heute zu heiß. Aber Butterkekse gingen immer noch, auch 30 Jahre nach FREITAG. Doch da ich sie zu Hause vergessen habe, schleppe ich nur biologisch abbaubare Dinkelbrezeln mit Sesamstreuseln mit mir rum, von führenden Naturkostherstellern empfohlen. Pädagogisch wertvoll und politisch korrekt, aber bei den Kindern unbeliebt.

Alles hat seine Zeit. Die EPa-Kekse haben uns noch unsere ganze Kindheit über begleitet. Nicht auf dem Wasser, aber auf Reitplätzen und Fußballfeldern. Denn unsere kurze Opti-Karriere endete eine Saison nach unserem Butterdampfer-Experiment mit dem Abriss des kleinen Meierwiker Hafens.

Heute schmecken die Panzerplatten für mich nicht nur nach versteinerter Wellpappe, sondern auch nach Salzwasser. Sie riechen nach feuchtem Holz und alter Ölfarbe. Sie klingen nach pfeifenden Masten und klatschenden Wellen. Die Kekse wecken wohlige Kindheitserinnerungen. Das passende Wort dazu heißt FREIHEIT.

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30 Jahre später: Der Stagsegelschoner QUALLE kommt um die Ecke und riecht nach Salzwasser, feuchtem Holz und alter Ölfarbe. Kindheitserinnerungen werden wach – das Verhängnis nimmt seinen Lauf.

 

2

ROARING FORTIES

 

 

 

Mai 2013. Mein Mann Marc und ich sind mit den Kindern zu Besuch bei unseren Freunden Frauke und Olli. Die Männer hocken seit 20 Minuten in Demutshaltung vor dem Couchtisch, tief versunken in die Anbetung eines Laptops.

 

Der kleine Computer ist der zentrale Baustein des Home-Entertainment-Systems, dessen Inbetriebnahme höhere spirituelle Weihen erfordert. Olli und Marc mühen sich vergebens. Vermutlich hat das WLAN-Kabel einen Marderschaden. Der 40-Zoll-Bildschirm an der Wand bleibt schwarz, obwohl die beiden darauf brennen, der anwesenden Restfamilie atemberaubende GoPro-Mitschnitte ihrer jüngsten Mountainbiketour in Full HD zu zeigen. »Das kommt auf dem Flatscreen viel besser als auf dem Laptop!«

Denn Marc und Olli sind Helden. Immer sonntags, Punkt 9:30 Uhr, rollen Batman und Robin in Vollvermummung vom Hof, um sich auf ihren 29er-Mountainbikes den alpinen Herausforderungen der norddeutschen Tiefebene zu stellen.

»Dahlbeckschlucht-Downhill«. Die jüngste Dokumentation ihrer Heldentaten verspricht atemberaubende Filmsequenzen. Zwei Männer allein im Wald. Auge in Auge mit dem Abgrund des Elbe-Urstromtals. Frauke und ich können es kaum erwarten.

»Gleich haben wir es. Gib mir mal die Fernbedienung!«, bittet mich Olli.

»Welche der fünf Fernbedienungen?«, frage ich. »Die große schwarze«, höre ich Olli sagen. Ich reiche ihm das Monstrum. Viele Knöpfe in bunten Farben. Ich sehne mich zurück in meine Kindheit. Da schien einiges einfacher. Es gab ein Testbild und einen Kaiser, zumindest im Fußball, und Fernbedienungen hatten nur eine Handvoll Tasten. An. Aus. Laut. Leise. Und eine für die Farbe. Muss das sein, dass ich heute meine knappe Freizeit der verkorksten Netzwerkarbeit von Bose-Lautsprechern und Blu-Ray-Playern unterwerfe?

Das analoge Home-Entertainment spielt auf dem Wohnzimmerteppich. Finja lässt eben den Vorschoter eines gekenterten Playmobil-Katamarans über Bord gehen. Marten befördert den Skipper außenbords. Die Plastikmännchen segeln am sechs Monate alten Tjark vorbei. Fraukes kleiner Sohn liegt auf dem Bauch und müht sich mit staunendem Blick, der Flugbahn der Figuren zu folgen. Als er ebenfalls kentert und zu weinen beginnt, trösten Finja und Marten ihn geduldig. Meine sechsjährige Tochter und ihr dreijähriger Bruder können auch empathisch. Wäre toll, wenn ihnen das auch gegenüber Verwandten ersten Grades so gut gelänge.

Die großen Jungs programmieren gerade eine der Fernbedienungen. »Könnt ihr bitte nur zwei Knöpfe belegen?«, denke ich. Die für Lautstärke und Abspielgeschwindigkeit. Und dann das Ganze mit meinem Leben koppeln, MUTE und PAUSE drücken.

Ich bin in den Roaring Forties angekommen. Anfang 40. Mittendrin im Bermudadreieck aus Familie, Arbeit und Doppelhaushälfte. Ein paar Tage ohne E-Mails, die mit »@ all« beginnen und mit »asap« enden, wären schön. Gleiches gilt für Kinder, die den ganzen Tag in Großbuchstaben reden und ungefragt die Laktose-, Nuss- und Fruchtzuckergewohnheiten ihrer Spielfreunde rezitieren. Dem Gras im eigenen Garten beim Wachsen zuhören, statt es zu mähen. Kurz: einfach mal eine Pause vom Alltag einlegen.

Ich ahne nicht, dass mir die Lösung meines Problems zu Füßen liegt.

»Wer hat Tjark eigentlich den Playmobil-Katamaran geschenkt?«, frage ich Frauke.

»Den habe ich Frauke geschenkt. Als Gutschein für ein Segelwochenende in Rostock. Yachthafenresidenz Hohe Düne!«, meldet sich Olaf zu Wort. Die Yachthafenresidenz kenne ich. Schicke Hotelanlage mit Marina. Respekt.

Ich will das gleiche, was sie hat! Und zufälligerweise habe ich sogar bald einige Tage Urlaub. Auffordernd blicke ich Marc an. »Tu, was du nicht lassen kannst!«, meint er schulterzuckend.

Am späten Abend haben wir es uns zu zweit auf dem Sofa gemütlich gemacht. Ich stecke mit meinem Kopf im Computer und klicke mich durch Kojencharter-Angebote. Wunderschöne Boote zu wunderschönen Yachthafenresidenz-Preisen. Das sprengt den Rahmen. Auf der Seite von »Hand gegen Koje« geht es moderater zu. »Hand gegen Koje steht unter Seglern für günstiges Mitsegeln gegen aktive Unterstützung bei allen Arbeiten an Bord«, so die Definition. Ich finde einige Angebote, die nach Meilenfressen und dem Geruch salzwasserfeuchter Herrensocken klingen. Das ist es nicht, was ich suche. Mir ist eher nach Entspannung. Kieler Jung, Stapellauf 1972, mit Schiff gleichen Baujahrs sucht Mitseglerin für Wochenendtörn, bei Sympathie auch für länger und mehr. Auch das trifft es nicht ganz. So entspannt soll es nun auch nicht zugehen.

Schließlich bleibe ich bei dem Angebot eines Traditionsseglers hängen. Die Dinger hatte ich ja bisher für alles Mögliche gehalten, aber nicht für etwas, das man segeln kann. Die QUALLE ist ein 80 Jahre alter griechischer Frachtsegler. Das Segeln wird bei uns noch mit der Hand gemacht – die Mitarbeit ist freiwillig. Untergebracht seid ihr in sechs gemütlichen Doppelkabinen. Alle außen, aber ohne Balkon.

Marc gibt zu bedenken, dass ich als termingeplagte Teilzeit-Workaholic und nervenschwache Mutter mit einem Wellness-Wochenende in der Hohen Düne, wo die Doppelkammern mit französischen Betten und Außenbalkonen ausgestattet sind, vielleicht besser bedient wäre.

Aber irgendwas hat der olle Kahn. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf.

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3

DIE QUALLE

Der Wagen der Regionalbahn von Hamburg nach Kiel ist fast leer. Ich suche mir zwei Sitzreihen, die Rücken an Rücken stehen und schiebe meinen großen Rucksack in den Spalt zwischen den Lehnen. Mit Blickrichtung Kiel lasse ich mich in einen der blau gemusterten Sitze fallen. Der morgendliche Pendlerstrom hat sich gelichtet. Die Uhr am Bahnsteig zeigt kurz nach neun. Vor mir liegen zwei Tage auf der QUALLE – ohne Arbeit, Kinder, Mann und unser »kleines Morgen-Grauen«.

 

Das »kleine Morgen-Grauen« ist unser persönlicher Poltergeist. Es fühlt sich in menschlicher Umgebung sehr wohl und hält sich irgendwo bei uns zu Hause versteckt. Es bereichert unseren Alltag, indem es mit gutem Gespür für falsches Timing Kindersocken, Schuhe und Mützen versteckt. Oder es kippt Trinkbecher um und verschmiert Zahnpasta im ganzen Haus. Dann setzt es sich in eine Ecke, guckt treudoof und freut sich über unsere emotionalen Entgleisungen. Das Biest. Ich freue mich sehr, dass sich Marc morgen und übermorgen um Wartung und Pflege des kleinen Monsters kümmert.

Für heute hatten das kleine Morgen-Grauen und ich ein Stillhalteabkommen getroffen. Sonst wäre es etwas eng geworden mit meiner Abreise. Dafür habe ich ihm erlaubt, dass es morgen früh den heutigen Mist nachholen darf.

Ich sitze in der Bahn und freue mich über jede Bahnschwelle, die zwischen mich, den heimischen Herd und den Büroschreibtisch rückt. Um diese Zeit des Tages stecke ich üblicherweise irgendwo zwischen Kinder-in-die-Kita-Bringen, Stau auf der Süderelbbrücke und dem täglichen Teammeeting. Die Zugfahrt ist ein willkommenes Meeting mit mir selbst. Ich schaue einfach nur aus dem Fenster und lasse die Landschaft an mir vorbeiziehen. Denn mein Buch liegt irgendwo ganz unten im Wanderrucksack, tief unter geborgtem Ölzeug, Gummistiefeln und dem Schlafsack, den ich heute Morgen eilig hineingestopft habe. Der Rucksack sieht unförmig aus und ist zum Bersten gefüllt. Sein Anblick sagt mir: Öffne mich besser nicht.

Ich bin neugierig auf die QUALLE. Das Schiff. Den Skipper. Die Gäste.

»Dann komm mal am Donnerstag nach Kiel. So gegen elf, Reventloubrücke. Alles andere beschnacken wir an Bord. Tschüsstschüss!« Sehr ökonomisch, die telefonische Buchung beim QUALLE-Skipper Bernhard Tews. Er klang nach rauem Charme der Sorte »rostige Spundwand«.

Marc hatte dieses sehr zielorientierte Gespräch feixend mitgehört.

»War’s das schon? Das ging ja flott. Da hast du mal ein paar Tage frei und verbringst die mit wildfremden Leuten. Auf engstem Raum. Ohne Ausgang. Wär ja nichts für mich. Wann wird das Ganze bei RTL II übertragen?«

Irgendwie hat er ja recht. Ich kenne das Schiff nicht. Ich kenne den Skipper nicht. Und ich kenne meinen eventuellen Kojen-Nachbarn nicht. Was für Leute machen auf diese Art Urlaub? Bislang bin ich nie auf die Idee gekommen, mich allein einer Gruppenreise anzuschließen, die so wenig Raum für Privatsphäre bietet. Was, wenn ich eine Kammer von drei Quadratmetern mit einem Typen aus dem Sägewerk teilen muss? Auf der Internetseite der QUALLE steht etwas von einer Honeymoon-Suite. Was sage ich, wenn ich dort zusammen mit dem Traum meiner schlaflosen Nächte eingesperrt bin?

»Hallo, ich bin Svenja – willst du mich trotzdem heiraten?!?«

Marc gibt sich unbesorgt.

»Dir fällt schon was ein. Bis Wismar hast du ihn so zugetextet, dass er die Ehe sofort wieder annulliert!«

Ich liebe meinen Mann und seine realistische Sicht der Dinge.

Ich muss still über mich lachen, denn die QUALLE entspricht in keinem Punkt dem Bild, das Fraukes Katamaran-Gutschein in meinen Kopf gezaubert hat. Statt an die grüne Adria fahre ich an die Kieler Förde, die sich gern mal in ein belebtes Bleigrau hüllt. Statt der schnittigen weißen Yacht soll dort ein rundlicher, 80 Jahre alter Frachtsegler auf mich warten. Und von hochsommerlichen Temperaturen und Cocktails auf dem Achterdeck sind wir noch mindestens zehn Grad entfernt.

An der Haltestelle Reventloubrücke lasse ich mich mitsamt Gepäck aus dem Bus fallen. Der Anleger ist verwaist, von der QUALLE keine Spur. Schade, wo ich doch bis zum Bersten auf Schiff, Skipper und die unbekannte Mannschaft gespannt bin. Mein Kapitän hatte seine knappe Ortsangabe immerhin noch mit der Information garniert, dass die QUALLE am Vormittag zwei Stunden mit Kindern segeln werde. Also setze ich mich, das Kieler Landeshaus im Rücken, auf die Steinkante der Kiellinie. Meine Beine baumeln über dem Wasser, ich warte und halte Ausschau. Die Förde-Fähren kommen und gehen, Radfahrer, Jogger. Alles, nur keine QUALLE.

Warten verlangt Geduld. Und in Geduld bin ich nicht gut. Marc hat mir daher irgendwann eine Postkarte mit dem passenden Spruch geschenkt: »Herr, gib mir Geduld – aber zackig!« Die hängt zu Hause über dem Herd. Gleich neben seiner Lieblingskarte: »Vor dem ersten Kaffee Klappe halten!« Da mag nun jeder eins und eins zusammenzählen, wie es bei Familie Neumann so am Frühstückstisch zugeht.

Da hier gerade niemand ist, den ich mit meiner Ungeduld nerven kann, nerve ich mich einfach selbst noch ein bisschen und denke über unerledigte To-do-Listen und unbeantwortete E-Mails nach. Die Sonne bringt meine Hirnwindungen schließlich auf andere Gedanken. Sie wärmt angenehm die Steinkante, auf der ich sitze. Auch die Kieler Förde gibt sich Mühe. Im schwachen Wind schwappen gutmütige Wellen an die Pfeiler der Reventloubrücke. Statt des befürchteten Bleigraus liegt mir ein dunkles Marineblau zu Füßen. Verglichen mit den Farben der Adria ist das nordisches Understatement, aber trotzdem sehr einladend.

Die Entspannung geht mit dem ganz weltlichen Wunsch nach einem Kaffee einher. Aber meinen Rucksacktrum dafür hin- und herschleppen? Keine Lust. Das Ding einfach kurz stehen lassen? Zum Café sind es nur 100 Meter. Den möchte ich sehen, der sich damit auf die Flucht begibt. Was passiert eigentlich mit herrenlosen Gepäckstücken, die im Umfeld des Kieler Landtages herumstehen? Kommt sofort der Kampfmittelräumdienst? Streifenwagen mit blinkenden Lichtern? Wird die Schifffahrt auf der Kieler Innenförde eingestellt und rot-weißes Flatterband mit der Aufschrift »Polizeiabsperrung« um einen lila Wanderrucksack gespannt? Au ja. Ich schultere mein Gepäck und trabe in Richtung Heißgetränk.

Mit einem »Grande-Latte« aus »TOGO« kehre ich an meinen Sitzplatz zurück und werde endlich für meine Ungeduld belohnt.

Hinter dem Sportboothafen von Düsternbrook erscheinen der Rumpf und die zwei Masten eines Traditionsseglers. Unter dem Klüverbaum weht blau-gelb-rot die Flagge Mecklenburg-Vorpommerns. Die QUALLE. Gemächlich hält sie Kurs auf das Ostufer der Förde. Zeit genug, den Kaffee in aller Ruhe zu genießen und das Schiff zu betrachten. Mit ihrem schwarzen Rumpf, dem hölzernen Süll und angehängtem Ruder ist die QUALLE eine eher rundliche Dame. Nicht schnittig, aber auch nicht behäbig. Eher auf eine gefällige Weise solide. Sie wirkt wie ein Schiff, das gelassen allen Unwägbarkeiten der See standhält.

Nur die Besegelung gibt mir Rätsel auf. Mein fernes Opti-Wissen lässt mich im Stich. Der hintere Mast ragt höher auf als der Vormast. Die dreieckigen Segel am Bug: Klüver und Fock. Das Segel achtern das Großsegel. So weit komme ich klar. Aber was ist mit den beiden Segeln dazwischen? Vor dem Großsegel fährt die QUALLE eines, das wie eine Fock geschnitten ist. Davor ein ebenfalls dreieckiges Segel, das auf dem Kopf steht: Die Spitze ist gen Deck gerichtet.

»Du musst nicht segeln können, um bei uns mitzufahren«, hatte das Angebot auf Hand gegen Koje geworben. Ein Glück. Denn abgesehen von den rätselhaften Tüchern schwirren auch jede Menge verwirrende Leinen in der Takelage herum. »Aber du kannst gerne mit anfassen, wir bringen dir etwas bei.« Später lerne ich, dass die QUALLE schonergetakelt ist und ich mir über das Großstagsegel und den Fisherman den Kopf zerbrochen habe. Und dass die Fallen auf Nägeln belegt sind. Auf dem ersten, zweiten und dritten Nagel an Steuerbord. Aber nicht der Fisherman. Der ist an Backbord festgenagelt. Und dann sind da noch die Backstagen, Lazy-Jacks und Niederholer. Und bei Downfucker und D-Kugeln denke ich … nicht ans Segeln. Noch Fragen?