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Unterwegs in den Weiten Sibiriens

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Auf zu neuen Horizonten im Outback von Australien

Inhalt

Die Faszination des Reisens

Loslassen

Indische Sikhs und Kaffeesatz als gute Omen

Im Reich des Zaren

Die Wurzeln des alten Russland

Russische Gastfreundschaft

Durch die kasachische Steppe

Vergorene Stutenmilch, Brautraub und andere Traditionen

Das Geheimnis der Seidenherstellung

Eine Welt aus Tausendundeiner Nacht

Ein überwältigendes Willkommen im Iran

Isfahan, eine Perle des Orients

Kunst auf Rädern und ein orientalisches Märchen

Hunza, ein Shangri-la im Norden von Pakistan

Von heiligen Männern, Kamelen und einem Tempel voller Ratten

Hochzeit in Rajasthan

Trekking in der Bergwelt des Himalaya

Die indische Seele und das vollkommene Glück

Fünf Minuten Autofahrt in Indien

Alleiniger Chef hinterm Lenkrad

Schafschur im Akkord

Autopanne im australischen Outback

Auf staubiger Piste durch die Kimberleys

Die Mythologie der Aborigines

Von Krokodilen, Schlangen und anderen Begegnungen

Schulbesuch im größten Klassenzimmer

Lästige Fliegen als Touristenattraktion

Einen Bären aufgebunden und Cervelats als Weihnachtsschmaus

Volksfest mit Wildwest-Atmosphäre

Penang – quirlige Stadt und ein Bett voller Wanzen

In den Mühlen der japanischen Bürokratie

Von heißen Quellen, Tempeln und Geishas

Hiroshima – eine Stadt für den Frieden

Ein japanisches Theaterstück mit Fuji-Kulisse

Sibirien – Land der unendlichen Wälder

Naadam, das Sommerfest der Mongolen

Über Freud und Leid im Reisealltag

Ein russischer Abend auf der Datscha

Eine Reise geht ihrem Ende entgegen

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Beim »Cervelat« braten – ein Stück Heimat in der Ferne

Die Faszination des Reisens

Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, alles stehen und liegen zu lassen und loszuziehen, um neue Welten zu entdecken und Menschen aus anderen Kulturen kennenzulernen? Ich lebe diesen Traum seit mehr als 30 Jahren, indem ich immer wieder alles mir Vertraute zurücklasse und mich auf den Weg mache. Man muss ja nicht gleich für Jahre wegfahren, auch ein paar Wochen oder Monate sind genug, um dem Leben neue Impulse zu geben und Erfahrungen zu sammeln, die ein Leben lang halten. Aber worin liegt eigentlich die Faszination des Reisens? Ist es das Kennenlernen von neuen Menschen, Kulturen, Landschaften oder ist es die Ungebundenheit – das Glück, genug Zeit zu haben, um sein Leben zu leben? Für mich besteht die Faszination zuallererst darin, keinen alltäglichen Verpflichtungen und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt zu sein. Ungebunden und weit weg von zu Hause fühlt man sich so ungemein lebendig. Man lebt ohne Vergangenheit oder Zukunft; was zählt, ist einzig der Moment. Das Ziel liegt nicht im Ankommen, sondern im Unterwegssein, in der vorüberziehenden Landschaft mit all ihren Farben und Formen und dem Ungewissen, das hinter der nächsten Kurve wartet.

Für mich ist das Reisen längst zum Lebensinhalt, ja zu einer Art Sucht geworden. Angefangen hat alles mit einem Jugendtraum. Damals habe ich mir vorgenommen, mein irdisches Dasein auch dafür zu nutzen, etwas von dieser Welt zu sehen. Es gibt wohl keine bessere Lebensschule als das Reisen. Unterwegs lernt man mit viel weniger auszukommen, besitzt man doch nur, was man mit sich führen kann, und lernt so andere Werte kennen und die Dinge in einem neuen Licht zu sehen.

Das Wertvollste am Reisen sind aber sicherlich die Begegnungen mit den Menschen, die man unterwegs hat. Durch sie erhält man einen unmittelbaren Einblick in den Alltag der jeweiligen Kultur. Sie bringen einem diese näher. Umgekehrt bringt man ihnen seine Ideen und Vorstellungen mit. In abgelegenen Gebieten ist ein Fremder für die Einheimischen meist nicht nur eine willkommene Abwechslung, sondern, trotz Internet und sozialer Netzwerke, einer ihrer seltenen wirklichen Kontakte zur Außenwelt.

Loslassen

All meine bisherigen Reisen sind aus Tagträumereien heraus geboren worden. Aus Fantasien, die mich in weite, offene Landschaften entführen – für mich Sinnbild grenzenloser Freiheit –, in denen ich in die Farben und Düfte eines orientalischen Marktes eintauche oder mich in der Stille und Abgeschiedenheit eines buddhistischen Klosters wiederfinde. Am Anfang sind dies alles nur Gedankenspiele, die aber mit jedem Mal stärker werden und irgendwann danach verlangen, ausgelebt zu werden. Ist der Entschluss einmal gefasst, beginnen die Planungs- und Vorbereitungsarbeiten. Fragen zu möglichen Routen wollen geklärt, die Dauer der Reise festgelegt und Informationen über die Einreisebestimmungen der einzelnen Länder zusammengetragen werden. Welche Dokumente sind nötig? Welche Impfungen? Nicht zuletzt stellt sich auch die Frage nach dem für die Reise geeigneten Fahrzeug. War ich bis heute immer allein und mit dem Motorrad unterwegs, will ich diesmal zusammen mit meiner Lebenspartnerin Yvonne auf die große Fahrt gehen.

Mit einem Bus wollen wir erst einmal nach Indien fahren und uns dort entscheiden, wie es weitergehen soll. Also kaufen wir uns einen gebrauchten Mitsubishi-Lieferwagen mit Allradantrieb und bauen diesen nach unseren Vorstellungen für die geplante Reise um. Schließlich sind wir stolze Besitzer eines fabelhaften Campingbusses, der über ein Hubdach mit einem 1,05 Meter breiten Doppelbett verfügt. Es gibt darin eine drei Quadratmeter große Wohnküche mit Drei-Flammen-Gaskocher, eine solarbetriebene Kühlbox, eine Standheizung, viel Stauraum und einen Klappspaten als Toilette.

Die letzten Tage vor der Abreise sind wie immer von Hektik gekennzeichnet. Plötzlich gibt es noch so viel zu tun – Sachen, die man eigentlich längst schon hätte erledigen können. Und auch diesmal ist da wieder dieses seltsame Rumoren im Bauch. Zweifel kommen auf: War es wirklich die richtige Entscheidung, alles zurückzulassen und sich ins Ungewisse zu stürzen? Aus Erfahrung jedoch weiß ich, sobald wir losgelassen haben, werden plötzlich alle Selbstzweifel und Ängste verflogen sein und wir werden unser Glück über die soeben gewonnene Freiheit kaum fassen können.

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Reisen bedeutet Zeit zu haben, sein Leben zu leben.

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Begegnung mit indischen Sikhs – für uns ein gutes Omen für die bevorstehende Fahrt nach Indien

 

Indische Sikhs und Kaffeesatz als gute Omen

Mit warmen, selbstgestrickten Bettsocken und vielen guten Wünschen im Gepäck machen wir uns schließlich an einem Frühlingstag auf den Weg. Am Kreisel im heimatlichen Wolhusen müssen wir uns ein erstes Mal entscheiden, welche Ausfahrt die richtige ist, um nach Indien zu gelangen. Wir entscheiden uns für die zweite, wollen wir doch erst einmal über Luzern und Zürich nach Deutschland. Mit feuchten Augen werfen wir einander einen verstohlenen Blick zu. Sind es Tränen des Abschieds oder des Glücks? Wir fühlen uns wie zwei Vagabunden, die sich nach einem geglückten Coup aus dem Staub machen. Ja, wir haben es geschafft, haben einfach losgelassen und sind unendlich glücklich. Dann drehen wir das Radio weit auf und stimmen mit ein in »Highway to Hell« von AC/DC.

An den Rheinfällen bei Stein am Rhein legen wir spontan einen Halt ein, denn keiner von uns beiden hat sich dieses Touristenspektakel jemals aus der Nähe angesehen. Dabei treffen wir auf eine Gruppe indischer Sikhs. Als wir ihnen von unserer Fahrt nach Indien erzählen, schütteln sie nur ungläubig die Köpfe und raten uns, ganz besonders in Pakistan auf uns achtzugeben. Sie wünschen uns viel Glück auf dem Weg.

Zügig bringt uns die Fahrt auf deutschen Autobahnen nach Norden. Für ein paar Tage bleiben wir bei Freunden in Berlin. Als wir Niki, der Mutter unserer Freundin Paros, einen Besuch abstatten, liest diese in unserem Kaffeesatz. Die Zukunft halte viele positive Überraschungen für uns bereit, prophezeit sie, und sagt uns eine paradiesische Zeit voraus. Diese guten Nachrichten und die kurze Begegnung mit den Indern am Rheinfall werten wir als gute Omen für unsere weitere Reise und machen uns voller Zuversicht wieder auf den Weg. Das frische Grün der Birken und der würzige Duft der Föhrenwälder lassen uns im Baltikum so richtig den Frühling spüren. Wir gondeln durch liebliche Landschaften mit Wiesen voller Löwenzahn, vorbei an bunten Holzhäusern und blühenden Gärten. Überall sind die Menschen bei ihrer Feld- und Gartenarbeit zu beobachten. Wir können kaum glauben, dass es im Europa des 21. Jahrhunderts noch Bauern gibt, die mit einem PS den Acker pflügen und mit Pferd und Wagen den Mist auf den Feldern ausbringen. Ein paar Tage bleiben wir an einem idyllisch gelegenen See und lauschen dem Vogelkonzert in den Baumkronen. Wie herrlich doch so ein Vagabundenleben ist, das möchten wir mit niemandem tauschen.

Obwohl wir beide unabhängig voneinander schon viel gereist sind, hat mit dieser Tour ein ganz neuer Lebensabschnitt für uns begonnen. Vieles ist anders. Statt mit Rucksack und Motorrad sind wir dieses Mal mit unserem Haus auf Rädern unterwegs und haben allen erdenklichen Luxus dabei. Neu ist auch, dass sich unser Alltag in den nächsten zweieinhalb Jahren fast rund um die Uhr auf engstem Raum abspielen wird. Früher auf meinen Motorradtouren habe ich das Alleinsein so sehr genossen, dass ich mir nicht hätte vorstellen können, über längere Zeit zu zweit oder gar in einer Gruppe zu reisen. Für mich war das Alleinreisen der Inbegriff von Ungebundenheit und Abenteuer. Ich war frei in meiner Routenwahl und konnte so lange an einem Ort verweilen, bis es mich weiterzog.

Auch wenn das Reisen zu zweit nun nicht mehr ganz so kompromisslos ist, sehen wir beide in unserem gemeinsamen Trip eine Bereicherung – für uns persönlich, aber auch für unsere Beziehung. Wir müssen aufeinander Rücksicht nehmen und versuchen, die Wünsche des anderen mit in unsere Entscheidungen einzubeziehen. Dafür können wir uns gegenseitig inspirieren, uns wo nötig unterstützen und Glücksmomente miteinander teilen. Auch bietet uns diese Reise die einzigartige Gelegenheit, uns noch besser kennenzulernen und unsere Beziehung zu festigen.

 

 

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Die Eremitage, der ehemalige Winterpalast des Zaren in St. Petersburg, ist heute ein bedeutendes Kunstmuseum.

Im Reich des Zaren

Eigentlich haben mich meine früheren Reisen gelehrt, niemals spätnachmittags an einer Grenze zu erscheinen, weil sich dann die Grenzformalitäten leicht bis in die Nacht hinziehen können. Doch die Tage im Norden sind lang und so wagen wir uns in Narva nachmittags um fünf Uhr noch an die estnisch-russische Grenze. Postwendend werden wir zurückgeschickt, weil wir es unterlassen haben, uns im Zollhof vor der Stadt einen Laufzettel zu besorgen. Also fahren wir zurück und reihen uns in die endlos scheinende Warteschlange ein. Lange bewegt sich vorn gar nichts und wir rechnen bereits damit, dass wir es wohl heute nicht mehr bis nach Russland schaffen werden. Dann wieder lässt man eine kleine Gruppe von Fahrzeugen durch und wir schöpfen neue Hoffnung. Von hinten fahren ein paar Autos vor, werden sogleich abgefertigt und können weiterfahren. Was war denn das jetzt? Haben die sich etwa mit ein paar Geldscheinen eine Sonderabfertigung erkauft? Egal. Einwände zu erheben, würde wohl kaum etwas bringen, im Gegenteil, man könnte uns und all die anderen noch länger warten lassen. Also üben wir uns weiter in Geduld und reden uns ein, dass wir schließlich über alle Zeit dieser Welt verfügen.

Nach drei Stunden sind dann auch wir endlich an der Reihe und kriegen für die ganze Warterei nicht mehr als einen grünen Zettel mit von Hand gekritzeltem Namen und dem Kennzeichen unseres Fahrzeugs. Fünf Minuten Fahrt und wir stehen wieder auf der estnischen Seite der Grenze, wo wir heute schon einmal waren. Wieder heißt es warten. Knapp eine halbe Stunde vergeht, dann endlich schaut sich jemand unsere Papiere an. Der Schlagbaum geht hoch und wir fahren über die Brücke auf die russische Seite. Diesmal nutzen wir das Warten, um die Einreiseformulare auszufüllen. Plötzlich geht es Schlag auf Schlag. Zuerst müssen wir bei der Fremdenpolizei zur Passkontrolle und im Anschluss nehmen zwei Zollbeamte unser ganzes Hab und Gut unter die Lupe. In jede Kiste und jede Schublade wollen sie ihre Nase reinstecken. Für uns hat es den Anschein, dass es dabei weniger um eine dienstliche Pflichterfüllung geht, sondern vielmehr darum, die Neugier der Beamten zu stillen. Was diese ausländischen Touristen wohl so alles mit sich führen? Sie scheinen ihren Spaß zu haben, und wir machen gute Miene zum bösen Spiel. Jetzt fehlt uns nur noch eine für Russland gültige Autoversicherung. Diese können wir gleich an einem Schalter neben dem Zollgebäude abschließen. Endlich haben wir alle notwendigen Papiere zusammen und dürfen die Grenze passieren. Wir haben es geschafft: Nach fünf Stunden »Grenzerfahrung« sind wir in Russland angekommen.

Unsere größte Herausforderung ist nun nicht etwa die Sprache, denn wir können uns auch mit Händen und Füßen verständlich machen. Es sind vielmehr die katastrophalen, mit Schlaglöchern durchsetzten Straßen, und die Fahrweise der Russen ist auch alles andere als vorbildlich. Eigentlich kein Wunder, angesichts der Tatsache, dass man sich in Russland seinen Führerschein auch mit Geld erkaufen kann, wie vieles andere auch.

Unser erstes Ziel heißt Sankt Petersburg. Je mehr wir uns dieser Stadt nähern, umso hektischer wird der Verkehr. Das frühere Leningrad ist nach Moskau die zweitgrößte Stadt Russlands. Von 1712 bis 1918 war Sankt Petersburg die Hauptstadt des russischen Reiches. Der vielspurige Newski-Prospekt gilt als die Champs-Élysées Russlands und bringt uns direkt ins Herz dieser zauberhaften Stadt. Sankt Petersburg wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter Zar Peter dem Großen in einem sumpfigen Gebiet erbaut. Ihren Beinamen »Venedig des Nordens« verdankt die Stadt dem Fluss Newa mit all seinen Seitenarmen und den zahllosen Wasserkanälen, die ihr Gebiet durchziehen.

Das Zentrum präsentiert sich als architektonisches Gesamtkunstwerk: prächtige Gebäudekomplexe, prunkvolle Paläste und Kirchen mit vergoldeten Kuppeln harmonieren mit breiten, elegant angelegten Straßenzügen und majestätischen Plätzen. Wenngleich 1917 mit der Oktoberrevolution und dem Sturz der Zarendynastie Moskau zur neuen Hauptstadt erklärt wurde, ist Sankt Petersburg bis heute die unumstrittene Kulturhauptstadt der russischen Förderation geblieben. Die Eremitage, der ehemalige Winterpalast des Zaren, ist heute eines der größten und bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Die ganze Sammlung umfasst um die drei Millionen Kunstgegenstände, von denen derzeit etwa 65 000 Exponate in den prächtigen Museumsräumen ausgestellt sind. Nebst Werken von Leonardo da Vinci, Picasso, van Gogh und anderen großen Namen beinhaltet die Ausstellung Schätze aus aller Welt: etwa griechische und römische Skulpturen sowie Kunstgegenstände aus Tonnen von Gold und Bernstein. Eindrucksvoll sind allein schon die Gebäude dieser ehemaligen Zarenresidenz mit ihren verschwenderisch ausgeschmückten Zimmern und Sälen. Auf unserem Rundgang kommen wir aus dem Staunen nicht heraus. Wie verzaubert stöbern wir gierig weiter, als hätten wir soeben eine Schatztruhe geöffnet, obwohl unsere Aufnahmefähigkeit längst ihre Erschöpfungsgrenze erreicht hat. Wir können einfach nicht mehr aufhören zu staunen und fühlen uns in die glanzvolle russische Zarenzeit zurückversetzt.

Die Wurzeln des alten Russland

Auf halbem Weg zwischen Sankt Petersburg und Moskau erstrecken sich die Waldaihöhen, ein Gebiet mit zahllosen Seen und dichten Wäldern. Der Seligersee gilt als das Herzstück dieser Gegend. Hier besuchen wir unseren Freund Iwan. Er wohnt im Fünf-Seelen-Dorf Dubovo, in das keine Straße führt. Also parken wir unseren Bus bei einem Freund von ihm im Nachbardorf Zadubye. Dort holt uns Iwan mit einem ganz besonderen Gefährt, einem dreirädrigen Amphibienfahrzeug auf Motorradbasis, Marke Eigenbau, ab. Für diese Gegend ist es genau das richtige Fahrzeug. Mit den riesigen Ballonreifen aus alten Lastwagenschläuchen kann Iwan problemlos durch die Sümpfe und auf den morastigen Feldwegen fahren – selbst in den See hinaus, wobei dann allerdings der Vorwärtstrieb etwas zu wünschen übrig lässt.

Yvonne darf auf Iwans »Mofa« mitfahren, ich aber muss die knapp vier Kilometer bis ins Dorf zu Fuß gehen. Dubovo liegt malerisch am Seligersee: blühende Bäume und kleine Gärten prägen das Bild. Doch die Idylle trügt. Der kleine Ort hat seine besten Zeiten längst hinter sich. Während der Sowjetunion gab hier einen großen gemeinschaftlichen Landwirtschaftsbetrieb, eine sogenannte Kolchose. Diese hat das ganze Dorf am Leben erhalten. Doch als nach Perestroika und Glasnost die Sowjetunion zerbrach, wanderten die meisten Menschen ab und zurück blieben einige wenige alte Menschen. Der Ort war dem Zerfall überlassen. Heute gibt es hier weder einen Einkaufsladen noch einen Arzt noch sonstige öffentliche Einrichtungen. Ein Schicksal, das viele Dörfer im heutigen Russland teilen. Wenn nicht Iwan, der als Einziger ein Auto besitzt, ab und zu auch ein paar Besorgungen für die übrigen Dorfbewohner machen würde, wären die alten Menschen völlig auf sich allein gestellt, gefangen in ihrem eigenen Dorf. Den Winter stelle ich mir hier ganz besonders lang und einsam vor. Iwans Haus ist sehr einfach. Die kleinen Fenster lassen kaum Tageslicht in den etwa 20 Quadratmeter großen Raum, der gleichzeitig als Küche, Wohn- und Schlafraum dient. Es gibt zwar Strom, dafür aber kein fließendes Wasser, dieses holt man in Eimern unten aus dem See. Die Toilette ist ein einfaches Plumpsklo hinter dem Haus im Garten, wo auch eine Banja, eine russische Sauna, steht.

Iwan ist freischaffender Journalist und verbringt etwa die Hälfte seiner Zeit in Dubovo, ansonsten wohnt er mit seiner Frau Nadja und den beiden Töchtern Angelina und Nastja in Moskau. Mit seinem Motorboot erkunden wir die großartige Natur, die hier unmittelbar vor der Haustür beginnt.

Wie andere russische Städte auch, ist Moskau wieder eine ganz besondere Herausforderung für uns. Auf den Straßen regiert das Chaos und bei den Autofahrern scheint es sich ausnahmslos um gesetzlose Irre zu handeln. Der Verkehr fließt unglaublich schnell, überholt wird rechts wie links. Konzentriert sitzt Yvonne hinterm Steuer, bemüht, im Verkehrsfluss zu bleiben und gleichzeitig Ruhe zu bewahren. Ich spiele den Navigator und versuche die kyrillischen Straßennamen zu entziffern, um unseren Standort auf dem Stadtplan zu eruieren. Keine einfache Sache, wurden doch in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion viele Straßenbezeichnungen geändert. Entstanden ist ein Durcheinander aus alten und neuen Namen, und keiner scheint sich mehr wirklich auszukennen.

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Iwan unterwegs mit seinem Amphibienfahrzeug, Marke: Eigenbau

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Mit seinem Motorboot zeigt uns Iwan die Natur vor seiner Haustür.

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Die Idylle trügt: Seit der Perestroika haben viele Jüngere ihre Dörfer verlassen, zurück bleiben meist ein paar alte Menschen.

Endlich im Stadtzentrum, erwartet uns auch schon die nächste Herausforderung, nämlich eine bezahlbare Unterkunft und einen sicheren Parkplatz für unseren Bus zu finden. So sind wir doppelt dankbar, als wir schließlich – ein paar Gehminuten vom Roten Platz entfernt – auf dem Firmenparkplatz einer russischen Zeitschrift stehen und in unserem Bus übernachten dürfen. Für ein paar Tage können wir uns so unbekümmert den Sehenswürdigkeiten Moskaus widmen. Dann verlassen wir die Stadt in nordöstlicher Richtung, denn uns lockt ein Abstecher zum sogenannten Goldenen Ring. Inmitten einer hügeligen Waldlandschaft befinden sich hier ein paar der ältesten Städte Russlands. Prachtvolle Kathedralen und Klosteranlagen mit goldenen Türmen und zwiebelförmigen Kuppeln prägen das Bild. Weiß getünchte Mauern zeugen von den einstmals befestigten Siedlungen und der Anblick der Menschen, die mit einfachsten Mitteln ihren Alltag bewältigen, läßt in uns das mittelalterliche Russland lebendig werden. Nach zum Teil aufwendigen Renovierungsarbeiten in den letzten Jahren erstrahlen viele dieser Baudenkmäler heute wieder in ihrem alten Glanz und vermitteln uns einen Einblick in die 1000-jährige Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche. Wir lassen uns verzaubern von dieser anmutig-magischen Märchenwelt.

Unaufhaltsam zieht sich die Straße nach Osten, vorbei an Ackerflächen, Birken- und Föhrenwäldern. Immer wieder führt die Straße auch durch Dörfer. Die kleinen Holzhäuser präsentieren sich in den buntesten Farben und mit vielen Verzierungen. Enten- und Gänsemütter führen ihre Küken spazieren. Alte Menschen sitzen auf Bänken vor ihren Häusern in der wärmenden Sonne, andere sind mit Pferd und Wagen unterwegs und wir glauben uns in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt.

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Die Basilius-Kathedrale am Roten Platz in Moskau

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Entlang des Goldenen Rings tauchen wir ein in die 1000-jährige Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche.

Je weiter wir uns Sibirien nähern, umso offener wird die Landschaft. Tiefe Schlaglöcher, von Lastwagen in den Asphalt gedrückte Spurrillen: Der Zustand der Straße lässt oftmals zu wünschen übrig. Dann wieder rollen wir über ein neues, spiegelglattes Stück Teerstraße. Von Zeit zu Zeit ertappen wir uns dabei, wie wir uns dem einheimischen Fahrstil anpassen und auch mal ein Verkehrsschild übersehen oder eine Sicherheitslinie überfahren. So kommt es, dass wir auf einer Anhöhe von der Polizei angehalten werden, nachdem ich noch kurz zuvor eine langsam den Berg hochkriechende Baumaschine überholt habe. Ich werde aufgefordert auszusteigen und dem Chef meine Papiere zu zeigen, der gelangweilt ein Stück weiter vorn in seinem Polizeiwagen sitzt. Halbherzig mustert er die Schriftstücke und verkündet dann mit betont strenger Mimik, ich sei eines Vergehens schuldig, weil ich in einer Baustelle überholt habe. Ich versuche meine Nervosität hinter einem Lächeln zu verbergen und gebe vor, nichts zu verstehen. Nachdem all seine Erklärungsversuche nicht zielführend waren, droht er mir jetzt, meinen Pass einzubehalten, und beginnt damit, einen Strafzettel auszufüllen. Ich versuche standhaft zu bleiben und brummle mehr zu mir selbst, wie gut es uns in Russland gefalle und schwärme vom liebenswürdigen und warmherzigen russischen Volk. Das ganze Schauspiel dauert eine knappe halbe Stunde. Aus Erklärungsnotstand oder weil ihm die Zeit nun plötzlich doch zu kostbar erscheint, um sich weiter mit diesem ausländischen Touristen abzugeben, dürfen wir weiterfahren.