Cover

Lilli Gruber

Das Erbe

Die Geschichte meiner Südtiroler Familie

Aus dem Italienischen von Franziska Kristen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Lilli Gruber

Lilli Gruber, geboren 1957 in Bozen, ist eine der bekanntesten italienischen Journalistinnen und Moderatorinnen. Nach Stationen u.a. bei La Stampa und Corriere della Sera moderierte sie als erste Frau die Hauptnachrichtensendung und war auch für das deutsche Fernsehen tätig. 2004 wurde sie als Abgeordnete ins Europäische Parlament gewählt, wo sie gegen Berlusconi Partei ergriff. Die preisgekrönte Journalistin hat sich auch als Bestsellerautorin weit über die Grenzen Italiens hinaus einen Namen gemacht.

Über dieses Buch

Die bekannte italienische Politikerin und Moderatorin Lilli Gruber taucht ein in die Vergangenheit ihrer Familie. Anhand von Tagebüchern und Briefen, die bis ins 19. Jahrhundert hineinreichen, erzählt sie vom Schicksal ihrer Urgroßmutter Rosa Tiefenthaler, einer starken Frau, die für ihre Liebe und für ihre Heimat kämpfte, indem sie ganz allein das riesige Weingut der Familie führte. Nicht nur sie gerät in den reißenden Strudel der Geschichte, als der 1. Weltkrieg ausbricht und ihre Heimat Südtirol an Italien fällt. Auch ihre Tochter Hella, nicht minder kämpferisch, setzt sich für die »deutsche Sache« ein, bis sie erkennen muss, dass sie sich einem verbrecherischen Regime angedient hat.

Lilli Gruber reist in ihre Heimat an der Etsch, lässt die eigene Kindheit wieder aufleben und erzählt eine packende Familiensaga von der Kaiserzeit bis zum Faschismus – vor dem Hintergrund des ebenso malerischen wie gebeutelten Südtirols.

Impressum

Die italienische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Eredità« bei Rizzoli, Mailand.

 

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2012 RCS Libri S.p.A., Milano.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2013 Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Caroline Draeger

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München nach einem Entwurf von Francesca Leoneschi (Images Art Director) / Emilio Ignozza / theWorldofDOT (Graphic Designer)

Coverabbildung: Umschlagabbildung: © Valentina Sani /Trevillon Images (vorne); © Cesare Cicardini (hinten)

Landkarten und Stammbaum: Computerkartographie Carrle

Alle Fotos: Privatarchiv Lilli Gruber

ISBN 978-3-426-42145-1

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Endnoten

1

Das ist der Text der von Franz Joseph Haydn komponierten habsburgischen Kaiserhymne.

2

Zitat aus den »Bozner Nachrichten« vom 10.10.1920. In digitalisierter Form zugänglich unter: http://dza.tessmann.it.

3

Zitat entnommen aus: »Volksbote« vom 1.11.1923 S. 2. In digitalisierter Form im Internet zugänglich unter: http://dza.tessmann.it

4

Volkslied zu einigen Versen eines Gedichts von Cäsar Flaischlen.

5

Giovan Battista Perasso, gen. Balilla, war ein jugendlicher italienischer Volksheld. Angeblich war er es, der am 5.12.1746, im Kontext des Österreichischen Erbfolgekrieges, durch einen Steinwurf den Volksaufstand in Genua gegen österreichische Truppen ausgelöst hat. (A.d.Ü.)

6

Anm. d. Übers.: Die Zeitung »La Provincia di Bolzano« hat ein deutschsprachiges Pendant, die »Alpenzeitung«, die von der Autorin im Text allerdings nicht erwähnt wird. Ich nenne sie hier, sowie an anderen Stellen, wo im italienischen Text aus »La Provinca di Bolzano« zitiert wird, da die dortigen Artikel exakt in deutscher Übersetzung in der »Alpenzeitung« zu finden sind, wo ich sie entsprechend entnommen habe. Die »Alpenzeitung« findet sich in digitalisierter Form im Internet unter: dza.tessmann.it. Hier ist der am 6.1.1932 in beiden Zeitungen erschienene Leitartikel gemeint.

7

Anm. d. Übers.: Dieses und die folgenden Hitler-Zitate habe ich seiner »Ansprache am Ehrentag des Reichsarbeitsdienstes« vom 9.10.1936 entnommen, sie entsprechen inhaltlich ziemlich exakt den Hitler hier im Text auf Italienisch in den Mund gelegten Worten.

8

Friedl Volgger, »Mit Südtirol am Scheideweg«, Haymon-Verlag, Innsbruck 1984, S. 22

9

Friedl Volgger, Mit Südtirol am Scheideweg, s.o. S. 22

10

Der italienische Name für Margreid (A.d.Ü.).

11

Faschistischer Frauenverband in Italien während der Mussolini-Herrschaft (A.d.Ü.).

12

Adolf Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, Kapitel 13. Zitiert nach einem online zur Verfügung stehenden Text. Vgl. z.B. http://www.magister.msk.ru/library/politica/hitla004.htm

13

Anm. d. Übers.: Es erscheint sinnvoll, hier aus der als Audiodatei im Internet zugänglichen Rede Hitlers vom 7.5.1938 in Rom zu zitieren.

14

Zitiert nach einem Online-Tagebuchauszug (vergl.: http://www.erinnern.at/bundeslaender/tirol/unterrichtsmaterial/tirol-in-der-ersten-republik-im-nationalsozialismus-und-in-der-nachkriegszeit/4_-franz-g-melichar-die-option-der-sa1-4dtiroler)

Der weiter unten zitierte Tagebucheintrag vom 8.5. ist derselben Quelle entnommen.

15

Dieses sowie alle im Text folgenden Zitate aus der Tageszeitung »Dolomiten« sind in digitalisierter Form im Internet-Archiv unter http://dza.tessmann.it zu finden.

16

Vgl. ebenfalls unter http://dzy.tessmann.it.

17

Vergl. dazu die digitalisierte Ausgabe unter:
http://dza.tessmann.it/tessmannPortal/Zeitungsarchiv/Seite/Zeitung/4//12.11.1938/87348/2

18

Der italienische Name für Montan, zu dessen Gemeinde Pinzon gehört (A.d.Ü.).

19

Italienische Bezeichnung für Entiklar (Kurtatsch) (A.d.Ü.).

20

Die Autorin nennt hier nur die »Provincia di Bolzano«, nicht jedoch das deutsche Pendant, die »Alpenzeitung«, der nachfolgendes Zitat entnommen ist. Vgl. dza.tessmann.it. Anm. d. Übers.:

21

Die nachfolgenden Zitate stammen jeweils aus der Alpenzeitung vom 26.10.39 (unter: dza.tessmann.it)

22

Anm. d. Übers.: Für die deutsche Ausgabe zitiert nach einem »Dableiberflugblatt«: Zitiert aus einem »Dableiberflugblatt«, das dem Wortlaut des hier zitierten italienischen Textes ziemlich exakt entspricht. Vergl. den Link: http://www.erinnern.at/bundeslaender/tirol/unterrichtsmaterial/tirol-in-der-ersten-republik-im-nationalsozialismus-und-in-der-nachkriegszeit/4_-franz-g-melichar-die-option-der-sa1-4dtiroler

23

Anm. d. Übers.: Ausnahmsweise ließ sich kein entsprechender Artikel in der »Alpenzeitung« finden, daher habe ich hier aus dem italienischen Original übersetzt.

24

Zitiert nach dem amtlichen Optionsformular. Vergl. z.B. das digitalisierte Formular unter: http://www.erinnern.at/bundeslaender/tirol/unterrichtsmaterial/tirol-in-der-ersten-republik-im-nationalsozialismus-und-in-der-nachkriegszeit/4_-franz-g-melichar-die-option-der-sa1-4dtiroler

Für meine Familie,

ihre großartigen Frauen und besonderen Männer:

Herlinde und Micki, Alfred und Winfried.

You are so nice to come home to.

Das Südtiroler Unterland

Vorbemerkung

Das Schreiben dieses Buches hat über zwei Jahre dokumentarischer Arbeit erfordert. Die geschilderten historischen Ereignisse sind tatsächlich geschehen, die Personen hat es gegeben. Einige Teile der Handlung, Situationen und Dialoge sind jedoch das Werk der Fantasie. Dabei habe ich mich strikt auf die von meiner Familie zur Verfügung gestellten Informationen, auf das Tagebuch, die Briefe und schriftlichen Zeugnisse, auf Bücher zur Lokalgeschichte und Archivunterlagen gestützt und so einige Begebenheiten erzählerisch rekonstruiert.

In der Zeit, in der diese Geschichte beginnt, gehörte Südtirol seit Menschengedenken zum Kaiserreich Österreich-Ungarn, und alle Ortschaften hatten deutsche Namen. Als Südtirol an Italien fiel, wechselte die Sprache. Und während die Autorin im italienischen Original die üblichen italienischen Bezeichnungen verwendet hat, werden in der deutschen Übersetzung, trotz des historischen sprachlichen Bruchs, fast durchgehend die deutschen Entsprechungen verwendet, auch wegen der Lesefreundlichkeit, auf die es der Autorin im italienischen Original ankam. Nur an manchen Stellen, insbesondere in Zitaten von Zeitungsartikeln oder amtlichen Schreiben aus der Zeit des faschistischen Regimes, tauchen die italienischen Namen auf. Unter Mussolini war die Sprache und Kultur der deutschen Minderheit unterdrückt und die Verwendung der deutschen Ortsnamen im öffentlichen Diskurs verboten. Im Anhang sind die im Text vorkommenden deutschen Ortsbezeichnungen mit ihren italienischen Entsprechungen aufgeführt.

Dieses Buch ist eine Hommage an Rosa, die sich wie so viele nie wirklich italienisch gefühlt hat.

Dreifach ist der Schritt der Zeit:

zögernd kommt die Zukunft hergezogen,

pfeilschnell ist das Jetzt entflohen,

ewig still steht die Vergangenheit.

 

Motto des Tagebuchs von Rosa Tiefenthaler,

zitiert nach Friedrich von Schiller, Sprüche des Konfuzius.

Der Riss

Rosa ist es schwer ums Herz. Sie sitzt im Wohnzimmer ihres großen Hauses und starrt auf die holzvertäfelte Wand. Am Ende ist die Katastrophe eingetroffen.

Mit aufrechter Haltung, in ihrem grauen, hochgeschlossenen Kleid, schlägt sie auf dem Schreibtisch vor sich das in braunes Leder gebundene Tagebuch auf, dem sie ihre Gedanken anvertraut. Sie greift nach einer Feder und taucht diese in die schwarze Tinte. Ihre Handschrift, alte deutsche Kurrentschrift, ist sauber und leicht geneigt. Sie beginnt, eine weitere Episode ihrer Geschichte zu erzählen, für Nachkommen, denen sie niemals begegnen wird.

Zuallererst schreibt sie den Namen des Ortes nieder, an dem sie sich befindet: »Pinzon.« Sie hat dieses kleine Dorf in Südtirol, abgesehen von kurzen Reisen, nie verlassen. Hier hat sie vor sechzehn Jahren begonnen, Tagebuch zu führen. Hier, auf den Höhen über der Etsch, hat sie ihre Wurzeln. Zwischen Weinbergen, Apfelhainen und den großen Bäumen, die die Gebirgshänge mit sattem Grün überziehen.

Sie fügt das Datum hinzu: »November 1918.«. Rosa braucht nicht genauer zu werden. Für sie bedeutet der gesamte Monat Unglück: Er hat die Niederlage gebracht und einen schmerzlichen Riss. Und er kündet von neuen Tragödien. Rosa weiß, dass ihre Welt zusammengebrochen ist, dass ihr Leben nie mehr so sein wird wie zuvor. Dass ihre Familie, ihre Gemeinschaft, ihre Identität in Gefahr sind.

Rosa, diese 41-jährige Frau, hat ein offenes, gütiges Gesicht, in dem zwei blaue Augen leuchten. Sie hat hohe Wangenknochen, eine ebenmäßige Nase und wohlgeformte Lippen. Um die Schultern geschlungen trägt sie einen schwarzen Schal zum Schutz gegen die Kälte. Der Winter droht streng zu werden, und es fehlt an Holz, um den großen weißen Kachelofen zu beheizen, der gut sichtbar in einer Ecke der Stube thront, jenem mit Tannenholz vertäfelten, einzig der Familie und engen Verwandten vorbehaltenen Raum.

Sie beginnt zu schreiben: »Die aufregendsten Tage, die je der Krieg mit sich führte, sind angerückt.« Hin und wieder hält sie inne, um zu lauschen. Ihre Jüngste, Helene, genannt Hella, die im Mai ihr zweites Lebensjahr vollendet hat, ist eingeschlummert, und Rosa wacht über ihren ruhigen Schlaf. Für dieses Mädchen wird das Leben vollkommen anders sein, sie wird in einer Welt aufwachsen, die ihre Mutter nicht kennt und die sie sich noch nicht vorzustellen vermag.

Ob Hella wohl jemals glücklich sein wird?

 

Es wurde Waffenstillstand mit dem italienischen Heere vereinbart, doch die Italiener nahmen selben erst 14 Tage später an, somit konnten sie ohne Anstrengung über die Grenzen schreiten. Die große Hungersnot, der Verrat, das Elend im Hinterland, die vielen Nationen in Österreich, sie sahen sich verloren; der schreckliche Zusammenbruch kam. Es rette, was sich retten kann. Am Allerseelentage sah es aus, als riefe die Posaune die Toten und Lebenden zum jüngsten Gericht. Der Rückzug ist nicht zu beschreiben, wer sich die Wirklichkeit mit eigenen Augen ansehen konnte, der hat sich das Bild ins Herz gedrückt. Ungarn und Tschechen nahmen in netter Linie Reißaus, plünderten die Lebensmittelmagazine, steckten Dörfer und Städte in Brand, töteten, wer ihnen nahen wollte, raubten den Besitzern Pferd und Wagen um rascher heim zu gelangen, oder verkauften es, um sich große Beute zu gewinnen.

Die Italienischen Soldaten kommen bald nach, was einerseits zum Glücke war.

Was Mensch und Tiere schleppen konnten, wurde schleunigst aus dem Bahn-Magazine weggeschafft, jeder dachte nur mehr an sich allein, der Schwur an Gott, Kaiser und Vaterland hat sich gelöst.

 

Die Ereignisse im November 1918 beenden eine schwierige Phase im Leben von Rosa Rizzolli, geborene Tiefenthaler. Der Krieg in Europa, der soeben mit der Niederlage der österreichisch-ungarischen Monarchie und des wilhelminischen Deutschlands zu Ende gegangen ist, hat das Leben in dem Haus in Pinzon lange Zeit geprägt. Dieses beschauliche Dörfchen war seit Beginn der feindlichen Auseinandersetzungen dazu bestimmt, ein Kommando des österreichischen Heeres zu beherbergen. Weiter oben am Berghang hatten russische Gefangene einen Eisenbahnabschnitt gebaut, um die Versorgung der Front zu sichern. Und das große Haus von Rosa und ihrem Ehemann Jakob, das schönste Heim in ganz Pinzon, wurde beschlagnahmt. Offiziere zogen ein, und in die zugehörigen Gebäude, den Stall und das Lagerhaus, quartierten sich Soldaten ein. Jakob wurde einberufen und im rund zwanzig Kilometer nördlich gelegenen Bozen stationiert, gottlob weitab vom Kampfgebiet. So musste Rosa allein den Unwägbarkeiten des Krieges trotzen. In diesen stürmischen Zeiten hat sie die vier älteren Schwestern der kleinen Hella – Elisabeth, Auguste, Maria und Berta – und deren Bruder Josef, den einzigen, kostbaren männlichen Erben der Familie, aufziehen müssen. Auch Rosas Schwester Luise mangelte es nicht an Sorgen: Ihr ältester Sohn Hans, Erbe des weitläufigen Familienbesitzes, ist soeben verletzt von der Front heimgekehrt.

Rosa schlägt ihr Tagebuch, in das sie seit über vier Monaten nichts mehr geschrieben hat, wenige Tage nach jenem Ereignis auf, mit dem sich das Schicksal einer Region, seiner Bewohner und ganz Europas radikal verändern wird. Am Nachmittag des 10. Novembers 1918 hat ein Militärfahrzeug der italienischen Armee im Zentrum des Dorfes Brenner geparkt, auf dem Pass, der zur neuen Grenze des Königreichs Italien werden soll. Ein General ist mit seinen Offizieren ausgestiegen, um voller Genugtuung dem Rückzug der österreichischen und ungarischen Soldaten beizuwohnen. Die Truppen fliehen bereits seit Tagen, sie haben darum gekämpft, die Herrschaft des Habsburger-Reiches über Istrien, das Trentino und Tirol zu wahren. Aber sie wurden geschlagen. Am 3. November ist der Waffenstillstand in der Villa Giusti, unweit von Padua, unterzeichnet worden. Infolge dieses Abkommens muss Kaiser Karl I. auch auf Südtirol verzichten. Ein Land, das für Rosa Heimat bedeutet. Eine Gegend, deren Bewohner Deutsch sprechen und die durch eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte und Kultur mit dem Habsburger-Reich verbunden ist.

In den Tagen nach der Ankunft der Italiener am Brenner wird quer über die Hauptstraße, zwischen Italien und Österreich, eine Grenze aus Holz errichtet. Anfangs ist es nur ein einfaches Wachhäuschen, das man in den Nationalfarben Weiß, Rot und Grün lackiert hat. Später wird man einen richtigen Grenzposten schaffen, um dem Land das Zeichen eines historischen Risses aufzuprägen. Diese Teilung wird durch den im September 1919 unterzeichneten Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye besiegelt. Mit einem Federstrich sind die Menschen, die seit Generationen hier leben, einem anderen Reich unterworfen.

 

Rosa erhebt sich kurz, um eine Lampe anzuzünden, und schaut hinaus auf das Etschtal. Die Ländereien, die sanft zum Fluss hin abfallen, gehören ihr. Wenn sie den Blick nach rechts wandern lässt, sieht sie die gewaltigen Ausläufer der Dolomiten, die Bozen beherrschen. Der Brennerpass, wo das Drama wenige Tage zuvor zu Ende ging, liegt nur ein wenig weiter nördlich. Sie schreibt:

 

Zerrissen ist Österreich, geteilt unser liebes, gutes Tirolerland, wir arme Südtiroler sind nun unter die Gewalt der welschen Faust geraten. Doch wir hoffen und dulden noch weiter, nicht lange wollten wir dieser Nation angehören, unser Herz und Sinn bleibt ewig Deutsch.

 

Rosa schließt das Tagebuch und lauscht in die Stille der Nacht. Mit dem Ende der Kämpfe ist in Pinzon wieder Ruhe eingekehrt. Die österreichischen Offiziere haben das Haus bereits verlassen, die Soldaten ihre Lager abgerissen. Bald werden die Welschen kommen – so nennt man hier die Italiener. Die Arbeiten zum Bau der Eisenbahn sind unterbrochen. Und die Kanonen, deren gewaltige Schläge so oft und so furchterregend durch das Tal donnerten, wie kein Gewitter es je vermocht hätte, schweigen nun.

Sie durchquert die Eingangshalle und geht auf ihr Zimmer. Vor dem großen Kruzifix an der Wand kniet sie nieder. Sie wendet sich an jenen Christus, der sie seit ihrer Kindheit geleitet hat. In Tirol hat sich eine ganz eigene Form der Herz-Jesu-Verehrung bewahrt, und Rosa lebt ihren Glauben mit Hingabe und Strenge. Sie weiß, dass sie an diesem Abend, noch bevor die Geschichte ihren neuen Lauf nehmen wird, mehr denn je des göttlichen Beistandes bedarf. Doch bevor sie Jesus um Hilfe bittet, will sie ihm danken.

In einem Konflikt, dem Millionen von Menschen zum Opfer gefallen sind, hat er das Leben ihres Mannes Jakob verschont. Bald wird ihr innigst geliebter Gemahl heimkehren und sie seine beruhigende Gegenwart im Ehebett spüren, in dem sie sich nun niederlegt. Gott hat auch ihre Kinder verschont, während Hunger und Krankheiten ganze Familien dahingerafft haben. Und er hat ihre Besitztümer bewahrt, während ringsum die Vernichtung hereingebrochen ist und so viele Häuser niedergebrannt, geplündert und zerstört worden sind.

 

Rosa ist meine Urgroßmutter. Ich habe sie nie kennengelernt, sie ist 1940 verstorben. Sie kam 1877 in einer Zeit zur Welt, die so vollkommen anders war als die meine. Als ich ihr Tagebuch fand, das eine Verwandte sorgfältig aufbewahrt hatte, und zu lesen begann, kam mir ihre Stimme sofort vertraut vor. Sie sprach von sich, von Freud und Leid. Aber auch von mir und meinen Wurzeln.

Natürlich war Rosa für mich, auch bevor ich jene Seiten gelesen hatte, keine Unbekannte. Im Gegenteil. Meine Mutter und meine Großmutter Elsa haben mir oft von ihr erzählt. Diese fast schon legendäre Gestalt tauchte in jeder Anekdote in unterschiedlicher Schattierung auf: die sanfte Mutter, die liebevolle Großmutter und die unabhängige, gebildete Grundbesitzerin. Die Wohltäterin mit dem großen Herzen und die starke, um jeden Preis auf das Wohl der Familie bedachte Frau. Eine charismatische, für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Person. Eine Siegerin in einer Zeit, in der ihr Heimatland bittere historische Niederlagen einstecken musste.

Außerdem war Rosa schön. Ihr Gesicht sticht auf den Fotos hervor, und während meiner Kindheit hat sie mich stets ein wenig nachsichtig und ein wenig streng aus ihrem Porträt in der Eingangshalle des Hauses in Pinzon heraus angeschaut.

Vielleicht habe ich mich deshalb immer so für diese Gestalt interessiert, vielleicht aber auch, weil meine Mutter Herlinde – ihre Lieblingsenkelin und einziges Mädchen ihrer ältesten Tochter Elisabeth, genannt Elsa – sie mir stets als eine ganz besondere Person beschrieben hat. Ich habe gespürt, dass ich ihrer Geschichte, die gleichzeitig die stürmische Geschichte jener Gegend ist, in der ich aufgewachsen bin, eine Stimme verleihen muss. Heute nenne auch ich diese Gegend meine Heimat.

 

Jahrelang habe ich mir vorgenommen, mich in einem Buch mit Südtirol auseinanderzusetzen. Ich bin viel gereist und habe mit meiner Arbeit versucht, über die Welt zu berichten: über den Mittleren Osten, seine Spannungen und Reichtümer, über Europa, seine Unruhen und Hoffnungen, über Amerika, seinen Glanz und die Widersprüche. Aber über den Boden, von dem ich stamme, habe ich nie gesprochen.

Als junge Frau war ich oft unduldsam gegenüber den Traditionen und jener patriotischen Rhetorik, die in Südtirol leicht in einen unverhohlenen Nationalismus münden kann. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich als kleines Südtiroler Mädchen mit Geschichte regelrecht überschüttet wurde. Und nicht nur damit. In der Schule und im öffentlichen Diskurs war ständig von unserer besonderen Kultur, dem Andenken, der Heimat die Rede. Zu Hause bei meinen Eltern war das zum Glück anders: Sie haben immer darauf Wert gelegt, dass wir unsere Wurzeln kennen, aber als Ausgangspunkt, um anderen Völkern zu begegnen und um Grenzen zu überwinden. »Ihr müsst wissen, woher ihr kommt, um fortgehen zu können«, erklärten sie. In den 1970er Jahren, jenem Jahrzehnt der Ideologien, Revolutionen und des Verdrängens, war die fest durch eine kulturelle Identität verankerte Offenheit gegenüber der Welt ein ungewöhnliches, wertvolles Anliegen. So spielte ich Mozart auf dem Klavier und hörte die Schallplatten der Rolling Stones.

Allerdings bin ich im ständigen Dialog mit einer Vergangenheit aufgewachsen, die nicht vergehen wollte. Das fing mit den Kleinigkeiten des Alltags an. Meine Großmutter Elsa weigerte sich ihr Leben lang entschieden, Italienisch zu lernen, da für sie Südtirol ganz einfach deutsch war. In ihrem Haus fanden sich neben der geschichtsträchtigen Tageszeitung »Dolomiten« nur deutsche und österreichische Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Die Küche war österreich-ungarisch geprägt, es gab oft Braten mit Preiselbeeren und alle Arten von Knödeln. Bei uns aß man keine Cannoli und keinen Baba, sondern Strudel und Sachertorte. Butter statt Olivenöl.

Außerdem gab es da diese kleinen Bilder in der Küche, die in einer Reihe über der Holzvertäfelung hingen und die für mich als Kind eine Quelle permanenter Neugierde und Beunruhigung darstellten. Sie zeigten zerlumpte Flüchtlinge, Szenen von Elend und Gewalt. Auf einem, das ich nie vergessen werde, war eine Frau mit einem Bauernkopftuch zu sehen, ein Kind an der Hand und einen Alten im Schlepptau, die ein schweres Bündel auf ihrem gebeugten Rücken trug. Die klassische Ikonographie der Vertreibung: der Mann an der Front, die Frau auf der Flucht vor den Kämpfen, auf den Schultern ein ganzes Leben. »Das ist der Krieg«, sagte meine Großmutter. »Denk immer daran, er bedeutet nur Hunger, Angst und Elend.«

Als Korrespondentin war ich dazu bestimmt, mehr als einen Krieg zu sehen. Meine Großmutter hatte zwei erlebt. Und in gewisser Weise hat der eine sie davor »bewahrt«, ihrer Heimat für immer Lebewohl zu sagen. Im Jahr 1939, mit der sogenannten »Option«, war sie Gefahr gelaufen, ihr Haus und all ihre Güter verlassen zu müssen. Eine gewaltige, von Hitler und Mussolini gesteuerte, kollektive Tragödie.

 

Rosas Tagebuch beginnt 1902 und bricht Weihnachten 1939 ab. Schmerzliche Jahre nicht nur für Südtirol. Krisen und nationalistische Spannungen, die den Beginn eines unruhigen Jahrhunderts kennzeichnen. Das Trauma des Übergangs der Region von Österreich zu Italien. Zwei Jahrzehnte Faschismus. Der aufkommende und erstarkende Wunsch nach Vergeltung, der viele, allzu viele Südtiroler direkt in die Arme des Führers treiben sollte. Und der Pakt mit dem Teufel, nach dem Abkommen zwischen dem deutschen Diktator und dem Duce.

Es ist nicht leicht, über diese Zeit zu berichten, viele haben dazu bereits einen maßgeblichen Beitrag geleistet, und dieses Buch ist kein Geschichtswerk. Es ist ein Buch des Erinnerns und der Wiederaneignung eines mir eigenen familiären und kulturellen Erbes. Heute bedauere ich es, darüber nicht mit einigen Zeitzeugen, Verwandten und Freunden, gesprochen zu haben, die gegangen sind und deren Stimme für immer schweigt. Dies ist auch ein Versuch, gemeinsam mit denen, die geblieben sind, wiederzufinden, was verlorengegangen ist. Eine Form, das zu würdigen und im Gedächtnis zu halten, wofür sie gekämpft, gelitten und gelebt haben.

Um mich auf diesem Weg zu leiten, hat Rosa mir die Hand ausgestreckt, und ich habe sie ergriffen. Seite um Seite hat sie meine Neugierde geweckt. Ich konnte sie sprechen hören, wie es meine Mutter Herlinde tat, die oft Hand in Hand mit ihr spazieren ging. Sie ließ sich von ihr die Geheimnisse des Lebens erklären, erfuhr von der Weisheit, derer es bedarf, um seine schönen Seiten zu preisen, und von dem Mut, um dem Unglück zu begegnen.

Auf ebendiese Weise, von Mensch zu Mensch, lebt das Andenken der Welt fort.

Die Grenzen von Norditalien

von 1915 und 1918

1

Die Herrin von Pinzon

An diesem Frühlingstag des Jahres 1893 scheint die Natur Rosa Tiefenthaler anzulächeln. In der Kalesche ihres Vaters Johann hat sie soeben Entiklar, wo sie aufgewachsen ist, verlassen. Einen Moment lang schaut sie zurück, heftet den Blick auf das mittelalterliche Castel, das sich auf der Flanke des Hügels abzeichnet. Wie innig ihr Vater und die Schwestern sie umarmt haben. Sie ist gerade sechzehn Jahre alt und geht nun fort, aber nicht allzu weit. Doch im Grunde ihres Herzens weiß sie, dass ein neues Leben vor ihr liegt.

Die Sonne scheint. Die Pferde sind unruhig, aber der Kutscher lenkt sie sicher über die Straße, die ins Etschtal hinabführt. In den Apfelhainen und Weingärten begeben sich die Knechte an die Arbeit. Auf den Ländereien ihres Vaters heben jene den Kopf, die bereits zu arbeiten begonnen haben, und grüßen mit der Hand. Fräulein Rosa ist bei allen gern gesehen.

Am Ende der abschüssigen Straße von Kurtatsch beginnen die Pferde zu traben. Der Weg wird breiter und führt zum Flussufer, wo sich Obsthaine, Mais- und Getreidefelder erstrecken. Auch neue Weinstöcke gibt es, aber sie sind noch jung. Drei Jahre zuvor ist die Etsch infolge der starken Schneeschmelze in den Bergen angeschwollen und über die Ufer getreten. Das schlammige Wasser hat die Felder überschwemmt, sich dort tagelang gestaut und gedroht, die Saat zu vernichten. Rosa erinnert sich noch an den Anblick des Tals, das sich in einen riesigen, reglosen See verwandelt hatte. Ihr Vater Johann hatte gegen die Dämme gewettert, die offenbar niemals stabil genug waren, um dem Wasserdruck standzuhalten. Die Etsch ist für die gesamte Region, durch die sie fließt, eine Quelle des Reichtums, aber seit jeher haben die Menschen Mühe, sie zu bändigen. Und wenn sie zornig ist, kann sie nichts mehr halten. So hat Rosa sehr früh begriffen, dass die Schönheit um sie herum im Nu zum Verhängnis werden kann. Und dass der grüne Schmuck der Berge sich in eine furchtbare Falle zu verwandeln vermag.

Als die Kalesche die Brücke bei Neumarkt überquert, fallen die Pferde in den Schritt. Die bergan führende Hauptstraße des Dörfchens ist von niedrigen, fest gemauerten weißen Arkaden gesäumt. Rosa denkt daran zurück, wie der Vater ihr als kleines Mädchen erzählt hat, dass sie schon seit Hunderten von Jahren dort stünden und auch die kommenden Jahrhunderte Generationen von Tirolern beherbergen würden. Diese Prophezeiung wird ihr in den harten Zeiten, die vor ihr liegen, wieder in Erinnerung kommen.

Der Kutscher biegt nach rechts ab, zum Dorf hinaus, dann gleich wieder links. Die Schotterstraße steigt zwischen Weinhängen bergan. Rosa ist ungeduldig und beugt sich vor, um nach ihrem Ziel Ausschau zu halten. Schließlich lässt ein Lächeln ihre blauen Augen erstrahlen und breitet sich über das ganze zartblasse Gesicht aus. Hinter der Kurve erkennt sie das Spitzdach des zu einer Kirche gehörenden Glockenturms.

»Endlich daheim«, seufzt sie. »Dem Herrgott sei Dank!«

Sie kommen nach Pinzon. Die hohe, dichte Linde auf dem Dorfplatz scheint sie zu begrüßen. Tief in ihrem Herzen birgt Rosa einen Traum, den umzusetzen sie wild entschlossen ist.

Es ist Johann, der entschieden hat, die Tochter nach Pinzon zu schicken. Er spürt die Last seiner Jahre und setzt sein Vertrauen in sie, damit sie sich um diesen Teil seiner Besitzungen kümmert. Die Ernten, die Knechte und Tagelöhner müssen überwacht und die Kelter in Betrieb gehalten werden. Schon seit sie ganz klein ist, fühlt sich Rosa eng mit diesem schönen Heim verbunden, das sie nach ihrem eigenen Ebenbild gestalten wird. Offen, großzügig und unerschütterlich angesichts der Grausamkeit der Menschen.

Johann Tiefenthaler ist fünfundsechzig Jahre alt und einer der wohlhabendsten Grundbesitzer der Gegend.

Die Ländereien von Pinzon, zwischen den Ortschaften Neumarkt und Montan, erstrecken sich über viele Hektar. Es heißt, Johann könne vom Dorf bis zu dem drei Kilometer entfernten Ufer der Etsch laufen, ohne ein einziges Mal den eigenen Grund zu verlassen. Er hat noch ein weiteres Gut, auf der anderen Seite des Flusses, das Castel von Entiklar, zwischen Margreid und Kurtatsch. Er ist 1861 dorthin gezogen, ein Jahr nach seiner Hochzeit mit Anna Waldthaler, die ihrerseits aus einer Familie wohlhabender Grundbesitzer stammt. Seit 1881 ist er Witwer, doch bis dahin hat Anna ihm sechzehn Kinder geschenkt, darunter zehn Mädchen. Die männlichen Erben sind jedoch einer nach dem anderen gestorben. Der letzte, Karl Josef, am 6. Januar 1890. Ein seltsames, unerwartetes Ende, das für den Vater einen schweren Schlag bedeutete.

»Halte hier an«, befiehlt Rosa dem Kutscher. Vor der Kirche steigt sie aus und stößt das schmiedeeiserne Tor zum Friedhof auf, der das Gebäude umgibt. An einem Grab neben der kleinen Kapelle, die der Vater an das Hauptgebäude hat anbauen lassen, kniet sie nieder. Die junge Frau flüstert den Namen ihres Bruders: »Karl Josef.« Niemand hat ihr je erklärt, was wirklich vorgefallen ist. Ihr ist zu Ohren gekommen, Karl habe während eines Festes in seinem Haus bis tief in die Nacht getrunken und getanzt. Dann sei er in den Garten hinaus, um den Kopf unter dem eiskalten Wasser des Brunnens zu kühlen. Eine schwere Lungenentzündung raffte ihn in wenigen Tagen dahin. Rosa fragt sich, warum ihr Bruder das Bedürfnis hatte, sich derart mit Alkohol und Musik zu betäuben. Vielleicht ist dieser große, schöne junge Mann, der so elegant war wie die Mutter Anna, wegen jenem kleinen Karl gestorben, der neben ihm unter demselben Stein ruht? Karl Josefs kleiner Sohn ist nur zehn Monate alt geworden, bevor er am 1. Dezember 1889, fünf Wochen vor jener kalten, verhängnisvollen Nacht, einer Krankheit erlag.

Wie auch immer es gewesen sein mag, Johann hat sich nicht mehr davon erholt. Die Geige, auf der er mit solcher Leidenschaft gespielt hatte, ist nach jenem Empfang, der seinen Erben das Leben kostete, für lange Zeit verstummt. Durch den Tod des letzten Bruders sind Rosa und ihre Schwestern nun die Erbinnen der ausgedehnten Ländereien der Familie Tiefenthaler. Eine ungewöhnliche und schwierige Situation in einer Zeit, in der Frauen nicht dazu bestimmt sind, die Führung eines Gutes zu übernehmen. Aber Johann hat nicht noch einmal heiraten wollen.

Rosa bekreuzigt sich und verlässt den Friedhof. Vor ihr am Glenweg, der in den nahe gelegenen Ort Glen führt, liegt das Herrenhaus, in dem sie leben wird. Ein zweistöckiges, massives Gebäude, dessen Mauern bereits seit dem 13. Jahrhundert im Boden verankert sind. Die geschnitzte Holztür wird von einem Bildnis der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind im Arm gekrönt – die Kopie eines berühmten Werkes des deutschen Malers Lucas Cranach. In dem Gebäude nebenan wohnen die Knechte und Mägde, die sich um die Landwirtschaft und das Vieh kümmern, sowie die mit den Hausarbeiten betrauten Dienstboten. Ein Stück weiter links kann Rosa eine große Scheune erspähen. Ringsum Felder, Weinberge, Obsthaine und Wälder. Rechts von ihr, ganz in der Nähe, erhebt sich ein weiteres Gebäude. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden dort Seidenspinner gezüchtet, doch nun verbirgt sich in jenen Gewölben das Herzstück des Familienreichtums: die Tiefenthalersche Weinkellerei, ein Unternehmen zur Herstellung und zum Vertrieb von Wein. Mit Beginn des Herbstes bringen die Weinbauern der Gegend ihre Traubenernte, Johann verwandelt sie in einen hervorragenden Wein, und die Geschäfte laufen gut. Einmal im Jahr verlässt der Gutsherr das Castel von Entiklar, um auf dem sogenannten Weinritt seine Kunden zu besuchen. Seit dem Bau der Brenner-Eisenbahn geht alles viel schneller, und so durchquert er mit verschiedenen Lokalbahnen ganz Tirol von Kufstein bis nach Halla und Aue. Er kehrt mit einem Koffer voller Geld heim, das er zum Rechnungsführer bringt, bevor er sich bei einem gut gekühlten Gläschen Weißwein erfrischt.

Johann hat die Maulbeerbäume, von denen sich die Seidenraupen ernährten, aus diesem Boden reißen lassen, hat sie durch Weinstöcke, Obstbäume, Gemüse und Getreide ersetzt. Der Gutshof liefert Milch, Käse, Eier, Fleisch, und die kleine Welt, die hier arbeitet, kann als Selbstversorger gelten. In späteren Jahren wird diese Unabhängigkeit die Rettung der Familie sein.

 

Zu der Zeit, in der Rosa sich in Pinzon niederlässt, ist Tirol eine Provinz des Kaiserreiches Österreich-Ungarn. Im Internat der Englischen Fräulein in Brixen hat das Mädchen die Geschichte ihrer Heimat seit deren Bestehen als unabhängige Grafschaft, im Mittelalter, studiert. Die Region fällt, abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, als Napoleon sie im 19. Jahrhundert eroberte und aufteilte, seit 1363 in das Herrschaftsgebiet der Habsburger.

Unter Napoleon gehörte der Norden Tirols zu einem Bund deutscher Satellitenstaaten Frankreichs. Der Süden wurde dagegen Teil des »Italienischen Reiches«, wie der französische Feldherr die auf der Halbinsel eroberten Gebiete nannte. Doch mit der Niederlage von Leipzig 1813 kehrte das wiedervereinigte Tirol in den Schoß des Habsburger-Reiches zurück, zu dem damals auch Lombardo-Venetien gehörte. Mit den Unabhängigkeitskriegen gewann Italien diese beiden reichen Provinzen zurück: die Lombardei 1859 und Venedig 1866.

Die kaiserliche und königliche, oder kurz k. und k. Monarchie Österreich-Ungarn, die 1867 durch die Vereinigung der österreichischen und der ungarischen Krone entstand, umfasst bei Rosas Geburt im Jahre 1877 elf große Nationalitäten, deren Sprachen offiziell anerkannt sind. Dazu zählen unter anderem das Tschechische, Kroatische, Polnische, Rumänische, Ukrainische und Italienische. Jede Ethnie hat ihre gewählten Vertreter im Wiener Parlament. Aber es gibt auch viele sogenannte Irredentisten, nach deren Auffassung sich jede Sprachgemeinschaft mit ihrem Mutterland vereinen sollte. Unter ihnen sind natürlich auch Verfechter des Italienischen.

 

In dieser Übergangszeit zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert ist das alltägliche Leben in Südtirol noch ziemlich hart. Im Winter sinken die Temperaturen bis auf zwanzig Grad unter null. Der Schnee, der sich auf den Straßen türmt, lässt jegliche Fortbewegung schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden. Für Wärme sorgen große Kachelöfen, die mit Holz befeuert werden.

Rosa weiß, was ihre Pflichten sind: Jene zu schützen und ihnen beizustehen, die auf ihrem Land leben, um es gedeihen zu lassen. Für die Arbeiten im Haus wählt sie Mädchen aus dem Ort als Haushälterinnen, Dienstmädchen und Köchinnen. Und sie erlangt den Ruf einer strengen, aber gerechten Herrin. Die alten Frauen aus Pinzon erinnern sich, lange nach ihrem Tod in anderen Häusern der Gegend gearbeitet und immer dasselbe Kompliment zu hören bekommen zu haben: »Man merkt, dass du bei Frau Tiefenthaler im Dienst warst. Du hast Manieren gelernt.«

Im Augenblick ist Rosa ganz von Glück erfüllt, sie malt sich ihre Zukunft rosig aus und denkt über ihren Plan nach. Sie muss ihn zu einem guten Ende führen, doch sie weiß, dass er Zeit brauchen wird, vermutlich Jahre. Aber sie ist hartnäckig, geduldig und verliebt.

Als Erstes lässt sie das Deckenfresko in ihrem Zimmer, das für ein tugendhaftes Mädchen allzu suggestiv ist, weiß übermalen. Zwar ist es eine religiöse Darstellung, aber Engelchen mit nackten Hintern sind nicht ihre Sache, sie zieht die Darstellungen des heiligen Franz und des heiligen Antonius von Padua an der Decke der großen Eingangshalle vor. Die Familie ist seit jeher sehr fromm, das galt insbesondere für Onkel Anton, der in dem Haus gelebt hat, bis es nach seinem Tod 1889 in den Besitz seines Bruders Johann überging. In den letzten Tagen seines Lebens lag er in dem Zimmer, das nun Rosa bezogen hat. Krank und ans Bett gefesselt, hatte er in die Wand vor sich ein Loch bohren lassen. So konnte er die Kirchentür sehen und am Morgen, wenn der Pfarrer sie zur Laudes öffnete, sich beim Anblick des Altars Gott näher fühlen.

Rosa, die Gesellschaft liebt, hat bereits beschlossen, dass es in der guten Stube nie an Gästen mangeln wird. Und eben hier, in der Ruhe dieses Zimmers, das sich über den sanften Hängen ihrer Ländereien erhebt, plant sie die eigene Zukunft. In ihrem Blickfeld liegt ein kleiner quadratischer Turm, der Reisenden, Pilgern und Eindringlingen seit Jahrhunderten einen Kammweg oberhalb der Etsch weist. Nach der Urbarmachung durch Kaiserin Maria Theresia von Österreich sind die einst sumpfigen und von Mücken verseuchten Täler für die Landwirtschaft nutzbar geworden. Und sie haben sich in eine strategische Durchgangsachse verwandelt, haben diese Alpenregion für Handel und Tausch, aber auch für die Stürme, die über Europa wehen, geöffnet.

 

Als der Abend hereinbricht, sitzt Rosa beim Schein der Kerzen, die in dem schmiedeeisernen Halter an der Wand stecken, an ihrem Arbeitstisch. Vor sich hat sie ein Stück Papier und in der Hand eine Feder.

»Lieber Jakob«, beginnt sie, und ihre Augen bekommen einen zärtlichen Ausdruck.

Jakob Rizzolli ist der Sohn einer Familie aus dem Dorf Kalditsch. Dort, auf einem weiteren seiner Güter, verbringt Johann Tiefenthaler den Sommer, um die frische Luft zu genießen. Und ebendort hat Rosa, noch als kleines Mädchen, den drei Jahre älteren Jakob kennengelernt. Sie ist seit jeher in ihn verliebt. Aber in einer Zeit und Gesellschaftsordnung, in der für eine Ehe nicht nur Liebe maßgebend ist, hat er einen großen Fehler: Er besitzt nichts, denn die Güter seines Vaters werden alle an den älteren Bruder gehen. Für Johann ist das ein unüberwindliches Problem. Mag ihn seine Tochter noch so sehr um die Zustimmung zu einer Verbindung anflehen, nach der sie sich aus tiefstem Herzen sehnt, nichts wird ihn umstimmen. Jakob mit seinem kühnen Schnurrbart, den breiten Schultern und dem gewinnenden Lächeln ist nicht auf Augenhöhe. Johann will ihn einfach nicht als Schwiegersohn. Aber er unterschätzt Rosas Hartnäckigkeit.

 

Fast hundertzwanzig Jahre nach meiner Urgroßmutter fahre ich die Straße nach Pinzon hinauf. Meine Kalesche ist ein silberfarbenes Auto mit ein paar Pferdestärken mehr. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass ich in dieses Haus komme, aber diesmal, im Juli 2012, möchte ich versuchen, Rosas Gedanken und Gefühle besser zu verstehen.

Das Dorf gleicht, wie damals, einer zeitlosen Ansichtskarte. Die kleine Kirche mit dem Friedhof ist immer noch da. Alle Gebäude sind intakt. Die naiven Fresken an den Fassaden scheinen kaum verblasst. Biblische und mythologische Szenen in Ocker, Rot und Blau, und im Hintergrund die vertraute Landschaft der Dolomiten und des Etschtals. Diese Bilder sind das ureigene Werk von Johann Tiefenthaler. Rosas Vater war im Tal unter anderem als exzentrischer Künstler bekannt. Wenn er nicht mit der Herstellung und dem Vertrieb von Wein beschäftigt war, griff er zum Pinsel.

Ich erinnere mich, dass mir das Haus in Pinzon als Kind ein wenig Angst einflößte, insbesondere in der kalten Jahreszeit, wenn die Sonne zeitig unterging und die Zimmer sich mit Schatten füllten. Ein Hauch der Dagewesenen lag in der Luft, ein Hauch der Leben und Gefühle jener, die einst hier gewohnt hatten. Nicht nur Familienangehörige, sondern auch viele Gäste mit ganz unterschiedlichen Schicksalen: fröhliche Studenten aus Wien, Beamte des Kaisers oder des Dritten Reiches, und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die anglo-amerikanischen Alliierten.

Meine Unruhe hielt allerdings nicht lange vor, nur so lange, bis ich um Erlaubnis bat, mir das alte, massive Himmelbett anschauen zu dürfen, das bereits 1785 geschreinert worden war. Es faszinierte mich. Mit seinem eleganten Kopfteil aus Holz, das mit dem Familienwappen bemalt war, schien es einem Märchen entsprungen zu sein, das Bett von Dornröschen. Und es war mit einem weichen Gänsedaunenbett bedeckt, auf dem ich mich ausstrecken und mir eine Vergangenheit voller Abenteuer ausmalen konnte. All das betraf auch mich. Dieser Ort mit seiner bewegten Geschichte sollte mich gefangen nehmen und fesseln. Ein wenig fürchtete ich mich davor.

Dank der warmen Herzlichkeit seiner Besitzer zeichnete sich dieses Heim vor allem durch Gastfreundschaft aus. Heute weiß ich, dass das Rosas Vermächtnis ist. Als Kind ging meine Mutter jeden Sonntag zur geliebten Großmutter, und diese Besuche gehören zu ihren schönsten Erinnerungen. Sie war noch zu klein, um in seiner historischen Tragweite zu begreifen, was sich in jenen für die Geschicke Europas so entscheidenden Jahren zwischen diesen Mauern abspielte. Sie erinnert sich, dass Großvater Jakob sie »Herlindika« nannte und sie ein ums andere Mal mit dem Kartenspiel, seiner großen Leidenschaft, in Beschlag nahm. Dass man im Sommer draußen, auf der Bank vor dem Haus oder unter der Linde in der Mitte des Platzes saß. Dass sie im Winter in der Stube spielten und dass an den Weihnachtsfeiertagen scharenweise Onkel, Tanten, Vettern und Basen der schier endlosen Verwandtschaft herbeiströmten, um Rosas Leckerbissen zu kosten.

Als ich auf die Welt kam, hatte sich mit den neuen Erben und infolge der unvermeidlichen Kluft zwischen den Generationen die Zahl der Gäste bereits verringert. An Jakob habe ich, abgesehen von seinem unverbrauchten Gesicht und dem Schnurrbart, kaum Erinnerungen; ich war vier Jahre alt, als er starb. Erst jetzt beginne ich, ihn wirklich kennenzulernen, und das Bild des zärtlichen Urgroßvaters wird überlagert von dem des jungen, stattlichen und von seiner Frau Rosa über alles geliebten Ehemanns.

 

Nichts hat sich verändert im Dorf, oder fast nichts. Die riesige Linde auf dem Platz ist leider gefällt worden, da sie krank war. Die Bank, auf der Rosa saß, hat man entfernt, um den Schottergrund zu asphaltieren. Von den drei großen Brunnenbecken, an denen man Wasser holte, das Vieh tränkte und die Wäsche wusch, ist nur eines geblieben. Die Kelter und die Fässer der Weinkellerei sind verschwunden, eine junge Frau aus Neumarkt hat die Räumlichkeiten zu einem sehr guten Restaurant umgestaltet, das recht gefragt ist. Die Gebäude und das Land sind zwischen zwei Rizzolli-Erben, Nachkommen der Tiefenthaler, aufgeteilt worden. Und die Sonne setzt wie immer ihr unermüdliches Spiel aus Licht und Schatten fort. Früh am Morgen geht sie in Entiklar auf der anderen Seite des Tales auf. Dann erreicht sie Pinzon und bleibt dort, bis sie untergeht.

Nichts hat sich hier verändert, aber alles ist anders. Pinzon heißt heute Pinzano, da die Region, die zu Rosas Zeiten zum Kaiserreich gehörte, heute ein Teil von Italien ist. Deutsch, die Sprache meiner Urgroßmutter, besteht neben dem Italienischen fort.

Von weiter unten aus dem Etschtal, das Rosa mit der Kalesche durchquert hat, dringt Lärm herauf. Die Neumarkter Brücke gibt es noch, aber heute blickt man von dort aus auf eine der belebtesten Handelsachsen des Kontinents. Eine Eisenbahnlinie und eine vierspurige Autobahn sorgen für den Austausch zwischen Nord und Süd. Dutzende Züge, Tausende LKWs, ein Verkehrsstrom, der nie abreißt. Alle Nationalitäten mischen sich, bewegen sich vollkommen frei auf dieser Strecke, die im Lauf der Jahrhunderte Weg für Feldzüge, Eroberung und Flucht war. Und die 1918 errichtete Grenze am Brenner, ein Symbol für die Spaltung der Staaten Europas, ist durch den Zusammenschluss ebendieser Staaten beseitigt worden.

Ich öffne die Tür des Hauses in Pinzon, und Rosa empfängt mich. Sie ist da, der Kopf leicht nach links geneigt, der ernste Blick der blauen Augen auf mich geheftet. Ihr schönes Gesicht strahlt Ruhe aus, der Mund deutet ein Lächeln an. Ihr Haar ist zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden, wodurch die elfenbeinfarbene Haut besonders zur Geltung kommt. Sie trägt eine Bluse mit gesticktem Kragen und um den Hals ein kleines Goldkettchen. Um die Schultern hat sie eine Pelerine aus braunem Samt gelegt, die ihre Hände teilweise bedeckt. Sie scheint dem Maler, der sie verewigt hat, nahezulegen, sein Möglichstes zu geben, um jene Zurückhaltung zu wahren, die sie ihr Leben lang ausgezeichnet hat.

In der Stube führt mich ein über vierhundert Jahre altes Pergament noch weiter in der Geschichte zurück. Es handelt sich um ein Zertifikat, das Kaiser Rudolf II. am 9. Juni 1610 für unsere Vorfahren ausstellte und mit dem den Brüdern Christof und Thomas Tiefenthaler die Wappen als würdige Diener des Österreichischen Kaiserhauses verliehen wurden. Von Generation zu Generation, »ihren Erben, und den Erben ihrer Erben«.

Auf den Stufen zum Dachboden, auf dem meine Mutter noch gespielt hat, glaube ich die Schritte der Zeit zu vernehmen.

2

»Dieser Mann ist nichts für dich!«

Es ist acht Uhr früh, und über Pinzon wölbt sich ein blauer Himmel. Das bevorstehende Fest wird den ganzen Tag lang von der Sonne erhellt. Die Kirchenglocken läuten ohne Unterlass, das Portal ist weit geöffnet, und die Gläubigen drängen sich auf den alten Holzbänken. Man schreibt den 8. April 1902, und mit diesem freudigen Tag endet für Rosa, die gerade fünfundzwanzig Jahre alt geworden ist, ein langer Kampf. Sie hat die Oberhand behalten. Sie hat gewonnen. Sie wird Jakob heiraten. Ihr Vater hat nachgegeben. Auch wenn er in einer letzten Geste der Missbilligung nicht bereit war, sie zum Altar zu führen.

So betritt Rosa in ihrem langen schwarzen Seidenkleid am Arm des Schwagers Emil von Leys die Kirche. Gleichwohl strahlt sie. Im Haar trägt sie einen Myrtenkranz, das Symbol der Liebe, die den Tod bezwingt. Neben den Kniebänken und zwei mit rotem Samt bezogenen Stühlen blickt Jakob ihr aus dunklen, leuchtenden Augen entgegen.

Hochwürden Andrealta steht vor dem historischen Triptychon von Hans Klockner aus dem 15. Jahrhundert und trägt ein gewichtiges Lächeln zur Schau. Seine Arme sind leicht geöffnet, als wolle er das Glück des jungen Paares in Empfang nehmen.

Rosa lässt den Blick über die Anwesenden schweifen. Ihre Schwestern sind da. Ganz vorn die ihr am nächsten stehende, Luise, mit ihrem Mann, Johann Tiefenbrunner. Mit Luise hat Rosa alles geteilt, sie ist nur vier Jahre älter, aber bereits mehrfache Mutter. Sie und ihr Mann interessieren sich für das Gut in Entiklar. Auch Antonia und ihr Mann Franz Mall aus Salurn sind gekommen. Anna Maria, die Aloys Haueis, einen hohen Beamten der österreichischen Regierung geheiratet hat. Johanna Josefa mit Doktor Sembianti aus Kurtatsch. Und schließlich Auguste, genannt Gusti, die gerade erst zweiundzwanzig und noch ledig ist. In der Familie heißt es, dass ein namhafter Militär aus Innsbruck ihr unablässig den Hof mache. Rosa lächelt ihr zu und denkt: »Bald, meine Liebe, wirst auch du die Freuden der Liebe kennenlernen.«

Schließlich ruht der Blick der jungen Frau auf einer aufrechten Gestalt in der ersten Reihe, auf dem Mann mit den gerunzelten Brauen, der auf der schönen Taschenuhr mit dem Goldkettchen, die er sich eigens aus der Schweiz hat schicken lassen, nachschaut, wie spät es ist. Ihr Vater Johann trägt einen eleganten, schwarzen Festanzug, der durch das Jabot aus grauer Seide ein wenig aufgelockert wird. Steif und ernst, wie es sich für einen Patriarchen gehört, kann Rosa, wenn er sich umwendet, um sie anzuschauen, doch auch ein wenig Ergriffenheit in seinen Augen erkennen. Sein Mädchen, sein Liebling geht aus dem Haus. Zwar lebt sie schon seit Jahren in Pinzon, aber von diesem Tag an wird sie ihrem Ehemann und nicht länger ihrem Vater gehören.

In Wahrheit war sie stets Herrin ihrer selbst. Das beweist die Entschlossenheit, mit der sie erreicht hat, was sie wollte. Sie hatte Jakob ihr Herz geschenkt, und nichts konnte sie mehr davon abbringen.