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ÜBER DIE AUTORIN UND DEN AUTOR

Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. 2015 emigrierte sie nach Santa Fe, New Mexico. Zuletzt erschienen die beiden Bestseller über ihr Leben in den USA Das Glück sieht immer anders aus (2015) und Hinter diesen blauen Bergen (2017) sowie der Roman Land der Söhne (2018).

Victor-Mario Zaballa, 1954 in Mexico City geboren und in Cuernavaca aufgewachsen, ist Künstler. 1982 gewann er den ersten Preis für traditionelle Altäre in Cuernavaca. Seit über zwanzig Jahren baut er jedes Jahr für den Día de los Muertos öffentliche Altäre, u.a. in der Davies Symphony Hall und der Galerie Somarts in San Francisco, wo er auch lebt.

ÜBER DAS BUCH

In der mexikanischen Kultur ist der Tod immer präsent, nie tabuisiert, ganz im Unterschied zur europäischen Kultur. Man freut sich auf den Tag der Toten, wenn die Verstorbenen zu Gast sind, um ein rauschendes Familienfest mit Torten und Tequila, Geschenken und Gelagen zu feiern. Milena Moser hat eine sehr persönliche Geschichte über den Día de los Muertos geschrieben: Ihr Partner Victor-Mario Zaballa ist selbst schwer krank. Doch er sieht seinem Ende ohne Furcht entgegen, denn er weiß: Den Toten geht es blendend.

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Für Maria,
ohne die wir gar nicht erst
auf die Idee gekommen wären,
dieses Buch zu schreiben.



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Vorwort

»Könnt ihr das nicht mal aufschreiben?«

Folgenschwere Worte.

Es war kurz vor Weihnachten. Mein Sohn Lino und seine Freundin Maria besuchten uns in San Francisco. Sie brachten uns eine traditionelle mexikanische Scherenschnitt-Girlande mit, die sie in einer Zürcher Boutique gefunden hatten. Filigrane Skelette, Hand in Hand, tanzten einen bunten Reigen unter der Zimmerdecke.

»Der Tag der Toten ist auch bei uns ein Thema«, sagte Maria. »Wir haben Freunde, die ihre Wohnung im November mit Totenköpfen und Scherenschnitten schmücken. Aber niemand weiß genau, wie man den Tag richtig begeht.« Und dann kam sie, die unschuldige Frage: »Könnt ihr das nicht mal aufschreiben?«

So ist dieses Buch entstanden; so hat es sich zu einer persönlichen Auseinandersetzung nicht nur mit dem Día de los Muertos, dem Tag der Toten, sondern mit dem Tod an sich entwickelt.

Ich wusste nichts über mexikanische Kultur, als ich mich in Victor verliebte, einen mexikanischen Indianer vom Stamm der Nahua, einen Conchero und Imaginero, ausgebildet, um traditionelle Zeremonien durchzuführen, einen Künstler, dessen Arbeit bis in jede Zelle von seiner Kultur geprägt ist. Ich hatte mich nie wirklich für seine Geschichte interessiert.

Obwohl ich meinte, den Brauch des Totentages zu kennen: Als ich vor zwanzig Jahren mit meiner Familie in San Francisco lebte, übernahmen wir mit Begeisterung alle möglichen, uns damals noch fremden Feiertage. Zu Thanksgiving tischten wir einen Truthahn auf, obwohl der eigentlich niemandem so richtig schmeckte. Wir verkleideten uns zu Halloween und forderten ganz unschweizerisch Süßigkeiten von Fremden. Am Día de los Muertos trafen wir uns bei einer befreundeten Familie im damals noch mehrheitlich von Einwanderern aus Südamerika bewohnten Mission District. Pflichtbewusst, aber mit einem etwas mulmigen Gefühl malten wir unseren Kindern bleiche Totenkopfgesichter auf und schlossen uns nach Einbruch der Dunkelheit dem lärmenden Umzug an, der gleich vor ihren Küchenfenstern entlangging. Dieser Brauch war uns Schweizer Einwanderern ebenso fremd wie das drei Tage vorher stattfindende Halloween – vielleicht noch ein bisschen fremder. Skelette und Totenköpfe leuchteten in der Dunkelheit. Unheimliche Trommelmusik. Die Kinder verstanden den Feiertag ebenso wenig wie wir. Warum gab es keine Kostüme? Warum die Totenköpfe? Und viel wichtiger: Warum keine Süßigkeiten? Von Jahr zu Jahr verlagerte sich die Feier immer mehr ins Wohnzimmer unserer Freunde, immer weniger von uns schlossen sich dem Umzug an, bis wir am Ende auch das Schminken sein ließen.

»Der Día de los Muertos ist kein Karneval«, sagt Victor. »Und kein Disneyfilm.«

Tatsächlich hat Disney vor ein paar Jahren versucht, ein Patent auf den Día de los Muertos anzumelden. Nicht nur den Begriff, sondern gleich den ganzen Feiertag zu kaufen. Die Vorstellung, dass der Medienkonzern an allem, was mit diesem Brauch zu tun hat, mitverdienen könnte, lässt einen schwindlig werden. Eine albtraumhafte Vision wie aus einem Disneyfilm: »Der Tag, an dem Weihnachten verkauft wurde!« Eine wahnwitzige Idee, mit der sich der Konzern allerdings nicht durchsetzen konnte. Kurz darauf produzierte Disneys Tochterfirma Pixar den oscargekrönten Trickfilm Coco. Der Konzern hat aber wenigstens oberflächlich aus den heftigen Protesten gelernt und seinen lautesten Kritiker, den Cartoonisten Lalo Alcaraz, als kulturellen Berater engagiert. Oder wurden die Kritiker so gekauft? Die Meinungen gehen auseinander. Doch allein der Versuch beweist, dass der Día de los Muertos seine geografischen und kulturellen Grenzen gesprengt hat und im Mainstream angekommen ist. Wenn sich James Bond in Spectre durch einen gespenstisch anmutenden Umzug von tanzenden Skeletten ballert, ist das jedem klar. Und prompt tauchen traditionelle mexikanische Dekorationen überall auf: Totenköpfe auf Notizbüchern, Handyhüllen – und besonders ironisch: Schminktaschen. Scherenschnitte in Zürcher Boutiquen, tanzende Skelette in nordeuropäischen Fenstern. Was ist es nun, das uns an diesem alten Brauch so fasziniert?

Vielleicht gerade dieser respektlose, vertraute, lockere Umgang mit dem Tod, der ihm so viel von seinem Schrecken nimmt. Der Tod ist das Einzige, was in unserem Leben gewiss ist – okay, der Tod und die Steuerrechnung. Und doch tun wir so, als könnten wir ihn ignorieren. Wir blenden ihn aus, wir erwähnen ihn nicht. Wir umschreiben ihn hilflos, mit gedämpfter Stimme. Wir bilden uns ein, wir könnten ihn austricksen, mit extremen Diäten und obskuren Zusatzstoffen in Schach halten. Je älter wir werden, desto einleuchtender scheint uns die Idee, ihm einfach davonzulaufen. Wir versuchen ihn auf endlosen Marathonstrecken und exotischen Berggipfeln abzuschütteln, ihn mit jugendlicher Kleidung, mit faltenfreier, aufgespritzter Haut zu täuschen. Als ob der Tod nur die Alten holen würde!

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Und wenn das alles nicht hilft, wenn er uns unweigerlich einholt, der Tod, wenn er hinter der nächsten Kurve auf uns wartet – dann sind wir hilflos. Ob er nach uns greift oder uns unsere Liebsten entreißt: Wir haben ihm nichts entgegenzusetzen. Keine Tradition, die uns auffängt, kein Ritual, das uns hält. Wir sind allein. Verzweifelt versuchen wir die religiösen Strukturen, die den meisten von uns fremd geworden sind, zu ersetzen. Wir beschäftigen Sterbebegleiter und Trauerbegleiter, die uns durch ein unüberschaubares Angebot von alternativen Ritualen führen. Die Beisetzung auf dem Friedhof wird durch ein Waldgrab ersetzt, wir streuen die Asche unserer Verstorbenen in fließende Gewässer und von Berggipfeln herunter. Und doch sind wir mit unserer Angst vor dem Sterben, mit unserer Trauer um die Verstorbenen oft gnadenlos allein. Weil selbst unsere engsten Freunde keine Werkzeuge zur Hand haben, um mit unserer Trauer umzugehen, ja sie nur auszuhalten. Sie haben es nicht geübt. Wir haben es nicht geübt.

Was hat uns die mexikanische Kultur voraus? Mit ihren Totenköpfen und Skeletten überall, die einen schon auf der Türmatte und vom Fenster begrüßen, die auf schicke Lederjacken gemalt und auf Geldbeutel gestickt am Alltag teilnehmen und zu süßen Brötchen gebacken verzehrt werden?

Es ist eigentlich ganz einfach: Die mexikanische Kultur hat den Tod akzeptiert. Sie bekämpft ihn nicht, sie integriert ihn. Der Tod ist untrennbar mit dem Leben verbunden. Er ist immer dabei. Er wird gefeiert, er wird geneckt, er wird herausgefordert, er wird geehrt. Man kann ihm nicht entkommen, man versucht es auch gar nicht. Stattdessen lernt man, mit ihm zu leben. Vom ersten Tag an.

Das Entscheidende ist die Vorstellung, dass der Tod oder vielmehr das Totsein ein höchst erstrebenswerter Zustand ist. Dass die Toten, wo immer sie sind, die beste Zeit ihres Lebens haben. Und zwar ganz unabhängig davon, wie sie sich im Diesseits benommen haben. Das Paradies ist keine Belohnung für untadeliges Verhalten, sondern eine Tatsache. Ein Fakt des Lebens. Und deshalb trauern wir auch nicht um die Toten, nein, wir trauern um uns, die wir unsere Lieben verloren haben.

Und hier schafft der Día de los Muertos Abhilfe: Wenigstens diesen einen Tag im Jahr können wir mit unseren Muertitos, unseren lieben Toten verbringen. Wir müssen sie allerdings nach allen Regeln der Kunst bezirzen, damit sie ihre paradiesische Existenz vorübergehend verlassen. Andererseits ist dieser Aufwand auch in ihrem Sinne, denn wenn die Toten vergessen werden, zerfällt ihr ganzes tolles Jenseitsleben zu grauer Asche. Beziehungen enden nicht mit dem Tod, sie enden mit dem Vergessen.

Der Día de los Muertos ist der wichtigste Feiertag, der Höhepunkt des Jahres. Nicht nur in Mexiko, sondern auch in Victors Leben. Und unterdessen ist er auch mein liebstes Fest. Wir laden die Toten ein, wir stellen sie unseren Freunden vor, wir teilen eine Mahlzeit mit ihnen. Wir verbringen einen Abend nicht nur mit unseren Muertitos, sondern auch mit denen unserer Freunde und Nachbarn. Wir laden den Tod zu uns nach Hause ein.

Das nimmt ihm seinen Schrecken. Das macht das Leben leichter. Davon handelt dieses Buch. Es ist keine kulturhistorische Abhandlung, hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist ein Gespräch zwischen zwei Kulturen, zwischen zwei Menschen. Es erzählt im weitesten Sinn meine eigene Annäherung an diesen fremden und doch so einleuchtenden, beinahe intuitiv vertrauten Brauch. So, wie Victor ihn mir näher gebracht hat. Durch seine Erfahrungen, seine Geschichten, seine Tradition. Es ist ein sehr persönliches Buch geworden.

Und nun – was ist der Día de los Muertos also?

Ein Fest für die Lebenden.

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