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David Goldblatt

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Eine Weltgeschichte
der Olympiade

Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper

VERLAG DIE WERKSTATT

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The Games. A Global History of the Olympics bei Macmillan, einem Imprint von Pan Macmillan, zugehörig Macmillan Publishers International Limited.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © David Goldblatt 2016
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe:
2018 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medienproduktion GmbH, Göttingen

ISBN 978-3-7307-0402-8

INHALT

Einleitung

Kapitel 1
Dieses großartige und heilsame Werk: Die Wiederbelebung der Olympischen Spiele
Von der Antike bis Athen 1896

Kapitel 2
Menschen, Sportler, Sensationen: Die Olympischen Spiele am Ende der Belle Époque
Von Paris 1900 bis Stockholm 1912

Kapitel 3
Nicht die Einzigen ihrer Art: Die Olympischen Spiele und ihre Herausforderer in den 1920er Jahren
Von Antwerpen 1920 bis Amsterdam 1928

Kapitel 4
It’s Showtime! Die Olympischen Spiele als Spektakel
Von Lake Placid 1932 bis Berlin 1936

Kapitel 5
Klein, aber fein: Die verlorenen Welten der Nachkriegsolympiaden
Von St. Moritz 1948 bis Melbourne 1956

Kapitel 6
Das Bild bleibt: Inszenierung und Gegeninszenierung bei den Spielen
Von Squaw Valley 1960 bis München 1972

Kapitel 7
Alles in Auflösung: Bankrott, Boykotte und das Ende des Amateurismus
Von Innsbruck 1976 bis Seoul 1988

Kapitel 8
Boom! Die Globalisierung der Olympischen Spiele nach dem Ende des Kalten Kriegs
Von Albertville 1992 bis Athen 2004

Kapitel 9
Auf dem absteigenden Ast: Die Olympischen Spiele in der neuen Weltordnung
Von Turin 2006 bis Rio 2016

Schlusswort

Endnoten

Personenregister

Der Autor

EINLEITUNG

O Sport, du Göttergabe, du Lebenselixier!
Der fröhlichen Lichtstrahl wirft in die arbeitsschwere Zeit,
Der du ein Bote bist der längst vergangenen Tage.
Wo die Menschheit lächelte in Jugendlust,
Wo der aufsteigende Sonnengott die Gipfel der Berge rötete
Und scheidend den Hochwald in leuchtende Farben tauchte.

Georges Hohrod und M. Eschbach
Gewinner der Goldmedaille, Olympische Kunstwettbewerbe 1912

Baron de Coubertin war schon lange der Auffassung gewesen, dass Sport keineswegs im Gegensatz zu den Künsten stünde, sondern einen eigenständigen und wichtigen Bestandteil des kulturellen Lebens innerhalb der Gesellschaft bildete. Deswegen erschien es ihm, im Unterschied zu vielen seiner sportlich und künstlerisch veranlagten Zeitgenossen, nur folgerichtig, dass im Rahmen der Olympischen Spiele auch künstlerische, literarische und musikalische Wettbewerbe zum Thema Sport ausgerichtet werden sollten. Im Vorfeld der Spiele von 1912 in Stockholm hatte er mehrfach versucht, die schwedischen Gastgeber davon zu überzeugen, eine entsprechende Konkurrenz auf die Beine zu stellen, aber nachdem man sich mit der künstlerischen Gemeinde des Landes beraten und nichts als Unverständnis und Ablehnung geerntet hatte, wurde dem Ersuchen eine höfliche Absage erteilt. Der Baron ließ sich nicht beirren und kündigte ungeachtet dessen an, dass es im Rahmen der Spiele von 1912 künstlerische Wettbewerbe geben werde, und rief dazu auf, Beiträge an seine Adresse zu schicken, wo er, soweit dies zu beurteilen ist, als alleiniger Preisrichter fungierte.

Im Bereich Literatur ging der Preis an Hohrod und Eschbachs »Ode an den Sport«. Sie war so ganz nach dem Geschmack des Barons, der einer recht eigentümlichen Religiosität und überspannten Auffassung der antiken und modernen Sportgeschichte anhing. Und doch traf die Ode in mancherlei Hinsicht den Nagel auf den Kopf. Die antike Welt hatte ihre Spiele, in der modernen Welt hingegen wurde Sport getrieben. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein entwickelte sich in Nordeuropa und den Vereinigten Staaten ein Großteil der Sportarten in der Form, wie wir sie heute kennen. Sie griffen zurück auf ältere Spiele und neuere Experimente, oder sie wurden, wie z. B. Handball und Basketball, ganz neu erfunden. Anders als die meisten der vormodernen Disziplinen waren sie losgelöst von religiösen oder lokalen Kalendern, Ritualen und Zwecken und erlangten stattdessen ihre eigene innere Bedeutung und Freude. Entgegen dem engstirnigen Provinzialismus der vormodernen Welt erhielten diese Sportarten festgeschriebene Regeln, die es ihnen ermöglichten, unter der Obhut moderner Verwaltungsapparate, nationale und globale Verbreitung zu finden. Dies alles bedeutete, dass zu eben dem Zeitpunkt, da das Aufkommen des Industriekapitalismus und des Militarismus die Welt zu einem raueren und unwirtlicheren Ort machte, es gleichzeitig eine Alternative beförderte: das organisierte Spiel des modernen Sports.

Hohrod und Eschbach waren nicht nur die Schmiede weitschweifiger Zeilen, sondern auch die Namen zweier Dörfer im Elsass nahe des Geburtsorts von Coubertins Frau, womit klar sein sollte, wessen nur nachlässig verschleiertes Pseudonym sie waren. Da er einen eigenen Wettbewerb ins Leben rief, für den er einen eigenen Beitrag einreichte, den er dann kurzerhand zum Sieger erkor, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass er von den Zeilen recht angetan war, gleichwohl man ein Jahrhundert später festhalten muss, dass sie nicht besonders gut gealtert sind. Das Gedicht, in französischer und deutscher Sprache vorgelegt, weist zwar gewisse Spuren von Rhythmus, Form und Versmaß auf, ist aber mit der schwerfälligen Schwülstigkeit einer Schulpredigt aufgeladen und angesichts des frömmelnden Tonfalls vielleicht auch genau diesem Genre zuzuordnen. Im Wesentlichen ist es nichts weiter als eine unerträglich schlechte Exegese über das Leitbild des vornehmen Amateursports, das im 19. Jahrhundert in den elitären Militär- und Bildungseinrichtungen des Westens Verbreitung fand. Dort diente der Sport der Bildung des Charakters und des moralischen Rüstzeugs, die erforderlich waren, um über Imperien und das gemeine Volk zu herrschen. Diese und nur diese Sorte Athleten und diese Art von Sport waren es, die die Gipfel der Modernität röteten.

Allzu viel lässt sich von Coubertins ideologischem Vermächtnis somit nicht mehr in die heutige Zeit hinüberretten, weder aus seinem Gedicht noch aus der Welt des vornehmen Sports, der es entsprang. Der Amateurismus und seine elitären Codes sind von Olympia längst aufgegeben worden, und Coubertins tief empfundener Glaube, dass die Spiele in erster Linie eine spirituelle Angelegenheit und eine Form moderner Religion seien, geriet still und heimlich in Vergessenheit, als sich die olympische Bewegung vom Gentleman’s Club und neo-hellenischen Athletenkult zum global agierenden Verwaltungsapparat, der eine säkulare, kommerzialisierte Feier der gesamten Menschheit ausrichtet, wandelte. Für mein Empfinden gibt es in der »Ode an den Sport« nur zwei Strophen, die uns auch heute noch etwas zu sagen haben. Zunächst preist der Baron in einer für die damalige Zeit ziemlich untypischen Art und Weise das Vermögen des Sports, soziale Ungleichheiten zu überwinden und individuelle Begabungen und Fähigkeiten in einer ansonsten ungerechten Welt sichtbar zu machen:

O Sport, du bist die Gerechtigkeit!
Vergeblich ringt der Mensch nach Billigkeit und Recht
In allen sozialen Einrichtungen;
Er findet beide nur bei dir.

Zum anderen, in einer Sprache, die Anklänge sexueller Erregung und drogeninduzierter Rauschzustände birgt, rühmt er die viszeralen und intellektuellen Freuden des Sports:

O Sport, du bist die Freude!
Sobald dein Ruf ertönt, erbebt der Leib in Wonne,
Das Auge glänzt und stürmisch Blut durchströmt die Adern.
Klar fliegen die Gedanken ätherwärts.

Coubertin hatte keineswegs die Absicht gehabt, eine globale Bühne zu errichten, auf der Kämpfe um Gleichheit und Inklusion in Bezug auf Klasse, Ethnizität, Geschlecht, Behinderung und Sexualität ausgefochten würden. Noch stellte er sich, nicht einmal in seinen entrücktesten Momenten, die olympische Bewegung und ihre Spiele als einen Schauplatz kollektiven Deliriums, Reflektierens oder Freudentaumels vor, aber trotz allem halten die Olympischen Spiele nach wie vor das alles bereit. Dieses Buch handelt in erster Linie davon, wie sich der Baron de Coubertin und seine eigentümliche Vision des sportlichen Spektakels zu einer globalen Norm und einer weltumspannenden Organisation entwickelten. Darüber hinaus aber ist es die Geschichte der Athleten, die nach Billigkeit und Recht rangen und die unsere Leiber in Wonne erbeben, unsere Augen glänzen und unsere Gedanken ätherwärts fliegen ließen.

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Dieses großartige und heilsame Werk:
Die Wiederbelebung der Olympischen Spiele

Athen 1896

Wo sind all eure Theater und Marmorstatuen?
Wo sind eure Olympischen Spiele?

Panagiotis Soutsos, 1833

Es ist klar, dass der Telegraf, Eisenbahnen, das Telefon, die leidenschaftliche Forschung in der Wissenschaft, Kongresse und Ausstellungen mehr für den Frieden getan haben als jedes Abkommen und diplomatische Treffen. Nun, ich hoffe, dass der Sport sogar noch mehr tun wird … Schicken wir Ruderer, Läufer und Fechter ins Ausland. Das ist der Freihandel der Zukunft, und an dem Tage, da es sich im Leben und Wandel des alten Europa eingebürgert hat, wird der Sache des Friedens eine neue, mächtige Stütze erwachsen sein. Das ist genug, um Ihren Diener zu ermutigen, nun davon zu träumen … dieses großartige und heilsame Werk, nämlich die Wiederbelebung der Olympischen Spiele, auf der Grundlage unseres modernen Lebens, fortzuführen und zu vollenden.

Baron de Coubertin, 1892

EINS

Baron de Coubertins Rede aus dem Jahr 1892 mag der wichtigste öffentliche Aufruf zur Einführung moderner Olympischer Spiele gewesen sein, aber sie war keineswegs der erste. Mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor beschwor der griechische Verleger und Ideologe Panagiotis Soutsos in seinem Gedicht »Dialoge der Toten« den Geist von Platon herauf und ließ ihn zur neuerdings unabhängigen, aber verheerten griechischen Nation sprechen. Was war das moderne Griechenland, das nun endlich von osmanischer Herrschaft befreit war? Wo waren seine großen Spektakel, Künste und sein Sport?1 Diese Fragen trieben ihn so sehr um, dass er in einem Schreiben an den griechischen Innenminister vorschlug, der griechische Staat solle die antiken Olympischen Spiele wiederbeleben, im jährlichen Wechsel an vier verschiedenen Orten von besonderer Bedeutung für die junge Nation: Athen, die neue Hauptstadt; Tripoli, im Herzen der Peloponnes; Mesolongi, eine Bastion des griechischen Widerstands im Unabhängigkeitskrieg; und die Insel Hydra, von wo ein Großteil der griechischen Seestreitkräfte stammte.2 Olympia selbst lag damals noch bis auf wenige Mauern und Säulen unter Schlamm und Schlick begraben.

In diesem Fall war die Berufung auf die antiken Spiele eng an ein griechischnationales Projekt gebunden. Doch schon seit mehr als 300 Jahren hatten die Europäer, gespeist von der Wiederentdeckung und Neubelebung der verlorenen Literatur des Altertums, die antiken Olympischen Spiele neu interpretiert, sich ihrer Metaphorik und Sprache bedient und sogar eigene olympische Feste ausgerichtet. Diese verknüpften die griechischen Spiele, wenn auch in anachronistischer Weise, mit so unterschiedlichen Motiven wie der Politik der Freuden der Gegenreformation in England und der volkstümlichen Feier der Französischen Revolution.

In den 60 Jahren zwischen Soutsos’ Gedicht und Coubertins Rede gab es Dutzende weiterer Sportfeste und Spektakel, die sich auf die Olympischen Spiele beriefen. Sie waren inzwischen geprägt vom Aufkommen und der Verbreitung moderner Sportarten sowie der Ausgrabung von Olympia selbst. Soutsos war der Erste, der zur Wiederbelebung der Spiele aufrief. Coubertin war der Erste, der den Gedanken an eine Form von Internationalismus band und in die Tat umsetzte. Beider Ideen aber entsprangen einem langwierigen und bizarren Aufeinandertreffen von europäischer Moderne und einem antiken sakralen Fest, das bereits, als Kolumbus Amerika entdeckte, seit tausend Jahren verschwunden war und über das bis heute nur Bruchstücke bekannt sind.

Die herkömmliche Geschichtsschreibung lehrt uns, dass der römische Kaiser Theodosius I. die Spiele im Jahr 392 n. Chr. per Edikt verbieten ließ und dass die Kultstätte in Olympia im Lauf der folgenden 200 Jahre durch Feuer und Vernachlässigung allmählich zerstört wurde. Erdbeben und Überflutungen im 5. und 6. Jahrhundert taten ihr Übriges, und die Stätte versank tief in abgelagertem Schlick. Was an Gebäuden noch übrig war, wurde wegen der Steine und der metallenen Halterungen und Dübel, welche die großen Säulen zusammenhielten, geplündert. Das eigentliche Ziel des theodosianischen Edikts waren aber heidnische Bräuche, insbesondere diejenigen der polytheistischen Staatsreligion des altrömischen Reiches, sowie deren Tempel, Orakel und Kultstätten. Die Umsetzung der theodosianischen Verfügung geschah indes relativ halbherzig, denn die Streitkräfte des Kaisers waren vollauf mit einem Bürgerkrieg innerhalb des Reichs und einem Grenzkrieg mit den Goten beschäftigt. Statt einen raschen Tod zu sterben, lebten die Spiele wohl noch eine Weile in verringertem Umfang fort, in einem zunehmend feindlichen Klima gegenüber ihren zentralen religiösen Praktiken und Bezügen. Der byzantinische Historiker Lukian berichtete, dass »die Olympischen Spiele lange Zeit existierten, bis zu Theodosius dem Jüngeren, dem Sohn des Arcadius«. Demnach verschwanden die Spiele endgültig erst unter Theodosius II., um 436 n. Chr.3

Vom früheren Glanz der Olympischen Spiele war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel übrig. Dem byzantinischen Geschichtsschreiber aus dem 11. Jahrhundert Georgios Kedrenos zufolge, war die gigantische Zeusstatue aus Gold und Elfenbein, die im Tempel des Gottes in Olympia gestanden hatte, in das Lauseion gebracht worden, wo sie in einem der gewaltigen Brände, von denen Konstantinopel regelmäßig heimgesucht wurde, um 475 n. Chr. schließlich zerstört wurde. Lukian schrieb: »Nachdem der Zeustempel in Olympia niedergebrannt worden war, wurden die Feste der Eleer und die Olympischen Spiele aufgegeben.«4 Erdbeben und Überschwemmungen machten der Kultstätte Mitte des 6. Jahrhunderts endgültig den Garaus.*5 Nachdem sie im Schlick versunken war, schenkten die jeweiligen Herrscher über die Peloponnes – die Byzantiner, Franken, Osmanen und Venezianer – der Kultstätte keine Beachtung mehr.

Mehr als ein Jahrtausend lang waren Worte alles, was von den Olympischen Spielen übriggeblieben war, doch auch sie mussten erst durch die humanistischen Gelehrten der Renaissance wiederentdeckt und zusammengetragen werden. Mit der größeren Verfügbarkeit von Büchern ab dem 16. Jahrhundert wurden Schlüsselwerke mit bedeutendem Material zu den Spielen einer kleinen, aber wachsenden lesenden Öffentlichkeit zugänglich, im griechischen und lateinischen Original wie auch in volkssprachlichen Übertragungen. In England beispielsweise erschienen allein im letzten Viertel des Jahrhunderts Übersetzungen von Plutarchs Große Griechen und Römer, Herodots Historien und Homers Ilias. Dank Homers Beschreibung der Leichenspiele für Patroklos vor den Mauern Trojas wussten interessierte Leser, dass Sport ein religiöser Ritus sein konnte. Von Plutarch erfuhren sie von der olympischen Karriere Alexanders des Großen und von Herodot, dass Olympia Ruhm jedweder Form versprach, aber keine Geldpreise.** Spätere Leser profitierten insbesondere von der Beschreibung Griechenlands des Reiseschriftstellers und Geografen Pausanias und seinen brillanten, detailreichen Darstellungen von Olympia und den Spielen.6 Das moderne Europa verstand zwar noch nicht, warum die Griechen Spiele ausgetragen und sie dermaßen verehrt hatten, aber wer Pausanias gelesen hatte, wusste gewiss um ihre Bedeutung: »Viel Sehenswertes ist in Griechenland zu schauen, und viele Wunder sind zu hören; nichts aber lässt der Himmel solche Achtsamkeit zuteilwerden wie den Mysterien von Eleusis und den Olympischen Spielen.«

Auch zeitgenössische Autoren ließen sich inspirieren. Im 3. Teil seines zu Beginn der 1590er Jahre verfassten Heinrich VI. lässt Shakespeare seinen Prinz Georg die Truppen Yorks anfeuern:

Und wenn’s gelingt, verheißet solchen Lohn,
Wie der olymp’schen Spiele Sieger tragen;

Ein Jahrzehnt später, in Troilus und Cressida, beschreibt der greise griechische Prinz Nestor seinen trojanischen Widersacher Hektor in der Schlacht folgendermaßen:

Dann sah ich dich verschnaufend Atem schöpfen,
Wenn dich ein Kreis von Griechen rings umschloss,
Wie ein olympischer Ringer.

1633 rühmte Michael Drayton den Anwalt Robert Dover als den »großen Erfinder und Helden der englischen Olympien«.7 Drayton, ein namhafter Dichter seiner Zeit, war einer von 33 Mitwirkenden der Annalia Dubrensia, einer Anthologie zur Feier von Robert Dovers Cotswold Games. Seit 1612 im natürlichen Amphitheater ausgetragen, das der Dover’s Hill bei Chipping Campden im Westen von England bildet, waren die Cotswold Games eine Mischung aus Volksfest und Historienspiel. Es wurde geschlemmt, getanzt und gespielt, außerdem gab es sportliche und andere Wettbewerbe, bei denen Geldpreise winkten. Auf dem Hügel wurde eine provisorische Burg errichtet, und eine große Menge versammelte sich, um bei Hasenjagd und Pferderennen, Ringen und Schienbeintreten, Stockkampf und Hammerwerfen zuzuschauen.

Dover wurde 1582 in Norfolk in die katholische Oberschicht des zunehmend protestantischen Englands Elisabeths I. hineingeboren. Nach seinem Studium in Cambridge praktizierte er als Anwalt am Gray’s Inn in London, bevor er sich auf sein kleines Anwesen auf dem Land zurückzog. Dem Vernehmen nach ein charismatischer, charmanter Mann, der Feste und Frohsinn liebte, begründete Dover die Cotswold Olimpick Games sowohl aus lokalpatriotischen als auch politischen Gründen. Ländliche Wettspiele und Volksfeste waren im England der Stuarts weit verbreitet, diskret von ansässigen Gönnern unterstützt, aber Dover stellte sich bei seinen Spielen selbst in den Mittelpunkt, machte sie bedeutend größer als vergleichbare Veranstaltungen und führte in abgelegten Kleidern von König Jakob I. durchs Programm. Die Spiele waren eine bewusste Feier des Regenten und seiner Haltung zu volkstümlichen Freuden und Festen, was angesichts der beständigen Zunahme eher militanter, asketischer und puritanischer Formen des Protestantismus im England des 17. Jahrhunderts eine Sache von dringender politischer Bedeutung war.

Ab etwa 1630 begannen puritanische Grundherren und Adlige, derlei Aktivitäten auf ihrem Grund zu untersagen, und schoben den Volksfesten einen Riegel vor. Der Ausbruch des Bürgerkriegs 1642 und die Niederlage der Royalisten 1645 machten den Lustbarkeiten endgültig den Garaus. Dover verstarb 1652 unter Cromwells streng asketischem Protektorat, und mit ihm verschwanden auch die Spiele. Nach der Wiederherstellung der Monarchie 1660 gab es eine Reihe von Neubelebungen, aber die Bezeichnung »Olimpick« kam abhanden, und Dovers Spiele, wenngleich stets populär und ausgelassen, waren bald nur mehr »ein versoffenes Volksfest wie jedes andere«.8

Die Cotswold Games mochten ihren Bezug zu Olympia verloren haben, aber in der Vorstellungswelt der europäischen Literatur und Volkskultur behielten die antiken Spiele ihren Platz. Im 17. Jahrhundert beschrieb John Milton in Paradise Lost die Flucht der satanischen Horden folgendermaßen:

Wetteifernd auf der Ebne miteinander,
Versuchten sie im schnellen Laufe sich,
Und schwangen in der Luft sich mit den Flügeln,
Wie im Olympischen Spiel auf Pythons Feld.

Etwas gefälliger schilderte Voltaire, wie er während seines kurzen Aufenthalts in England im frühen 18. Jahrhundert bei einem Sportfest am Ufer der Themse eintraf: »Ich glaubte, zu den Olympischen Spielen versetzt worden zu sein.«9 Friedrich Schiller, einer der deutschen Universalgelehrten der Aufklärung, führte in seinen Schriften zur Ästhetik die antiken Spiele als Beispiel für das »Spiel als ein Element des Schönen« an. Eher grotesk als grandios: 1786 berichtete die Londoner Presse von einer »burlesken Nachahmung« der Olympischen Spiele, bei der weibliche Kandidaten »auf ein Podium gestellt wurden, mit Pferdegeschirr, durch das sie sich präsentierten«. Über ihren Köpfen stand: »Der hässlichste Grinser wird der Sieger sein.« Als Preis winkte ein »goldverzierter Hut«. 1794 beschrieb die Times ein Wagenrennen, bei dem es in Newmarket zwischen Nanny Hodges und Lady Lads um die damals exorbitante Summe von 500 Guineas ging, als »so etwas wie eine Wiederbelebung der Olympischen Spiele, um den Rennbahn-Adel und den rapiden Verfall des Pferdesports anzusprechen«.*10

Ein weiteres halbes Jahrhundert lang waren populäre – wenn auch nicht elitäre – Einsichten in die Olympischen Spiele eher im Zirkus zu gewinnen als in der Bibliothek. Noch in den 1850er Jahren waren olympische Spektakel zu Pferde in New York in Franconi’s Hippodrome zu bestaunen, in ganz Großbritannien in Pablo Fanques fahrendem Circus Royal und in Edinburgh in Madame Macarte’s Magic Ring and Grand Equestrian Establishment. Pablo Fanque, Großbritanniens erster schwarzer Zirkusdirektor, und seine »unerreichte Reitertruppe« boten »neue und einfallsreiche Besonderheiten in den Olympischen Spielen«. Madame Macartes Plakate versprachen, dass die »außergewöhnlichen Umläufe der gymnastischen Lehrmeister klassischen Geistern nachdrücklich die alten Olympischen Spiele ins Gedächtnis rufen«.

Der ambitionierteste, aber glückloseste Erneuerer war Colonel Charles Random, ein Mann von unklarer sozialer Herkunft und noch unklarerer militärischer Vergangenheit, der das stattliche Anwesen Cremorne House in Chelsea im Londoner Westen erstand und dort 1831 »The Stadium« errichtete, mit vollem Namen »The British National Arena for Manly and Defensive Exercises, Equestrian, Chivalric, and Aquatic Games, and Skilful Amusing Pastimes«, also die »britische nationale Arena für mannhafte und wehrhafte Übungen, reiterliche, ritterliche und aquatische Spiele und kunstfertige unterhaltsame Kurzweil«. 1832 und noch einmal 1838 regte Random an, zur Feier der Krönung von Queen Victoria Olympische Spiele abzuhalten. Leider war seinen Bemühungen kein Erfolg beschert, und in »The Stadium« waren in den folgenden Jahrzehnten vor allem die Feste, Jahrmärkte und Spektakel zu sehen, wie sie typisch waren für einen etwas gewagten Lustgarten in viktorianischer Zeit.

Damit Europa einen umfassenderen Einblick in die Welt der antiken Spiele erhielt und sich ihr Einfluss auf die Vorstellungskraft des Kontinents herausbildete, brauchte es mehr als nur Worte. Jemand würde leibhaftig nach Olympia reisen und sich die Sache vor Ort anschauen müssen.

*Jüngere Analysen der Ablagerungen in Olympia haben ergeben, dass sie viel zu dick sind, um allein vom Fluss Kladeos zu stammen, der an der Kultstätte vorbeifließt. Tatsächlich deutet die Zusammensetzung der Sedimente, darunter Reste mariner Mikroorganismen, darauf hin, dass Olympia von katastrophalen Überschwemmungen heimgesucht wurde, verursacht durch Tsunamis – von unterseeischen Beben hervorgerufene Wellen, die gewaltige Wassermassen den Fluss hinauf und bis zur Kultstätte spülten.

**Herodot zufolge sehr zum Erstaunen der Perser: »Mardonios, was sind das für Menschen, gegen die du uns kämpfen lässt? Nicht für Geld treten sie an, sondern nur um des Ruhmes willen!«

*Man kann sich kaum etwas vorstellen, das weniger von einer Wiederbelebung der Olympischen Spiele hat als der Showdown in Newmarket. Zwar war Glücksspiel bei den antiken Spielen durchaus nicht unbekannt, Frauen und Geldpreise fehlten aber gänzlich, und die Spiele wurden eher zu Ehren Zeus’ abgehalten als zum Heil von Pferdenarren. Die besten Schilderungen der Spiele aus dem 18. Jahrhundert – wie die Dissertation on the Olympick Games des englischen Dichters Gilbert West aus dem Jahr 1749 und Jean-Jacques Barthélemys pittoresker Roman Reisen des jungen Anacharsis durch Griechenland von 1778 – basierten auf einer systemischeren und wissenschaftlicheren Lektüre der antiken Quellen als zuvor und hätten zumindest dies verdeutlicht. Aber warum sich von solchen Kleinigkeiten die schöne Show verderben lassen?

ZWEI

Schon seit dem 15. Jahrhundert hatten Wissenschaftler, Altertumsforscher, Grabräuber und Schatzsucher in den Ruinen der europäischen Antike herumgestochert. Ab Ende des 17. Jahrhunderts fingen sie damit an, einige Stätten auch tatsächlich auszugraben. Pompeji und Herculaneum wurden Mitte des 18. Jahrhunderts freigelegt. Napoleons Ägyptenfeldzug wurde von einer großen wissenschaftlichen Mission begleitet, die u. a. den Stein von Rosette zutage förderte. Eine wachsende Zahl von Antiquitätensammlern und seriösen Hellenisten fragte sich, ob man Olympia ausfindig machen könnte und was es dort zu entdecken gäbe. Der französische Benediktinermönch und unersättliche Altertumsforscher Bernard de Montfaucon schrieb 1723 an den Bischof von Korfu, zu dessen Diözese die alte Kultstätte von Olympia gehörte: »Welcher Reichtum an Schätzen liegt dort begraben. Das Eigenartige ist, dass, so glaube ich, noch niemand daran gedacht hat, Ausgrabungen an der Stätte zu unternehmen.« Johann Joachim Winckelmann, der bedeutendste Klassizist des 18. Jahrhunderts und zentrale Interpret griechisch-römischer Kunst und Architektur, war tief bewegt von der homoerotischen Komponente der Kunst jener Epoche sowie der Kultur der Gymnasia und der Spiele. Mehrfach rief er seine Gönner im Vatikan dazu auf, Olympia zu erforschen, aber vergebens.

Doch bevor mit Grabungen begonnen werden konnte, sollte erst einmal jemand von außerhalb der westlichen Peloponnes Olympia aufsuchen und ergründen, ob dort überhaupt etwas war: der englische Archäologe Richard Chandler. Er war von der Society of Dilettanti, einer Londoner Vereinigung adliger Sammler und Liebhaber griechisch-römischer Kunst, beauftragt worden, durch Griechenland zu reisen und Artefakte zu sammeln, Schriften zu kopieren und Illustrationen antiker Ruinen anzufertigen. Chandler erstand nicht nur einige Fragmente des Parthenon in Athen, sondern suchte 1766 auch Olympia auf, wo er von Insekten fürchterlich gebissen und von der Sonne verbrannt wurde. Seine Ernüchterung bei der Ankunft war spürbar: »Wir nahmen die Untersuchung der Stätte mit einem Maß an Erwartung auf, das nur von unserer Enttäuschung, sie fast bloß vorzufinden, übertroffen wurde.« Sie fanden nichts weiter als »verstreute Überbleibsel von Ziegelbauten und die Reste von Steinmauern«.1

So enttäuschend dies auch war, wussten die Hellenisten aus Westeuropa nun zumindest, wie man nach Olympia kam. 1787 fertigte Louis Favel im Auftrag des französischen Botschafters in Konstantinopel die ersten topografischen Skizzen der Stätte an.* 1828 landete ein bedeutendes französisches Expeditionskorps auf der Peloponnes, um die griechischen Rebellen im Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische Reich zu unterstützen. Ebenso wie bei Napoleons Ägyptenfeldzug wurde die Armee, wenn auch in geringerem Umfang, von einer Gruppe von Altertumsforschern, Geografen, Botanikern und Künstlern begleitet, der Expédition scientifique de Morée (Morea-Expedition; Morea ist die romanische Bezeichnung der Peloponnes). In sechs Wochen Arbeit legten sie 1829 weite Teile der Ruinen des Zeustempels frei, inklusive einer Reihe von Metopen. Diese gemeißelten Marmortafeln stellen die zwölf Taten des Herkules dar und bildeten einen Teil der Außenfassade des Gebäudes. Sie wurden in den Louvre in Paris gebracht, wo sie noch heute zu sehen sind. Die fünf Meter Schlick, die den Tempel einschlossen, ganz zu schweigen von den schieren Ausmaßen der Stätte, erforderten jedoch eine wesentlich systematischere Herangehensweise.2

Es dauerte sechs Jahre, den Tempel vollständig freizulegen, aber fast 25, ehe der deutsche Klassizist Professor Ernst Curtius grünes Licht dafür erhielt. Nach zwei Jahrzehnten komplexer diplomatischer Verhandlungen zwischen Griechenland und Deutschland wurde 1874 endlich eine Einigung erzielt, derzufolge die Deutschen bezahlen und graben durften, während die griechische Regierung die Funde behalten würde. Sechs Jahre Arbeit förderten nicht nur den Zeustempel zutage, sondern einen Großteil der von Pausanias und den anderen Hauptquellen erwähnten Gebäude, wie den Tempel der Hera, die Echohalle sowie den Statuentempel der makedonischen Königsfamilie, das Philippeion. Die Ausgrabung der gesamten Stätte dauerte ein weiteres Jahrhundert und wurde erst in den 1970er Jahren vollendet, als schweres Gerät zum Einsatz kam, um Stadion und Hippodrom freizulegen. Zum materiellen Ertrag kam ein Jahrhundert wissenschaftlicher Analysen, die die Olympischen Spiele in ein wesentlich breiteres Verständnis der hellenischen Welt und ihrer Körper- und Sportkultur einbetteten. Nachfolgend eine Zusammenfassung unserer heutigen Sicht der antiken Spiele, wobei einzelne Punkte nach wie vor heftig umstritten sind.3

Die Griechen selbst datierten die erste Olympiade – konventionell, wenn auch sehr unzuverlässig – auf 776 v. Chr., aber schon mehr als zwei Jahrhunderte zuvor diente die Kultstätte von Olympia als ein Ort religiöser Verehrung und Riten. Es gibt sogar Hinweise auf Opferrituale in mykenischer Zeit, ein halbes Jahrtausend vorher. Wahrscheinlicher scheint, dass die Spiele, ursprünglich unter der Ägide des Stadtstaates Elis abgehalten und möglicherweise aus Bestattungsritualen entstanden, im 8. Jahrhundert v. Chr. ausgetragen wurden und im 7. Jahrhundert schließlich panhellenische Bedeutung und Aufmerksamkeit erhielten. Diese Verschiebung lässt sich nachvollziehen, indem man sich die geografische Herkunft olympischer Sieger anschaut. Zunächst stammten sie nur von der westlichen Peloponnes, dann aus Athen und Sparta und ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. auch aus Thessalien in Nordgriechenland und den Kolonien in Sizilien in Süditalien. Zu Olympia gesellten sich später die ebenfalls vierjährlich ausgetragenen Pythischen, Nemeischen und Isthmischen Spiele, was die zentrale Rolle unterstreicht, die sportliche Wettkämpfe in der griechischen Religion, Kultur und Politik spielten.

Seit jeher polytheistisch, wurde dort vielen Göttern gehuldigt, aber vom frühen 5. Jahrhundert v. Chr. an wurden die Spiele in Olympia mit dem Zeuskult gleichgesetzt und zum wichtigsten der panhellenischen Sportfeste. Der Bau des Zeustempels, dem größten und prächtigsten im Kernbereich von Olympia, der Altis, wurde um 490 v. Chr. begonnen. Das Gebäude selbst wurde um 430 v. Chr. aber noch übertroffen mit der Errichtung der großen Zeusstatue des Phidias. Von Herodot als eins der sieben Weltwunder der Antike erachtet, war sie eine gewaltige und imposante, auf einem Thron sitzende Figur aus Marmor, Gold und Elfenbein, die in der einen Hand eine mannsgroße Nike – die Göttin des Sieges – hielt. Zugleich wurde das Stadion von Olympia, entstanden im 6. Jahrhundert v. Chr., nach Süden verlegt und vergrößert und um ein enormes Hippodrom mit Schotterpiste ergänzt; beide waren von Erdwällen umgeben, auf denen mindestens 45.000 Zuschauer Platz fanden.

Die Zahl der Besucher stellte einen erheblich Anteil der Freigeborenen der gesamten griechischen Welt dar – wohl um die fünf Prozent. Sie nahmen nicht nur erhebliche Distanzen bei der Anreise auf sich, sondern mussten auch in der sengenden Sonne des griechischen Augusts ziemlich leiden. Für die Oberschicht gab es Villen und Herbergen. Die Römer stellten, wie gewohnt, ihre imposante Infrastruktur bereit, inklusive neuer Hotels, Kaiser Neros persönlicher Villa, der Bäder am Kladeos und des zivilen Wunders fließenden Trinkwassers, das per Aquädukt zum Nymphäum transportiert wurde. Dabei handelte es sich um eine monumentale mehrstöckige Brunnenanlage aus Marmor, erbaut vom reichsten Mann im Griechenland des 2. Jahrhunderts, Herodes Atticus. Die meisten aber schlugen sich mit den beschwerlichen Zuständen in den provisorischen Zeltstädten herum, die auf den Wiesen rund um das Heiligtum entstanden. Wie von einem Stoiker nicht anders zu erwarten, befand Epiktet, dass sich die Mühen lohnten: »Kommst du nicht schier um vor Hitze? Bist du nicht eingepfercht in der Menge? Ist Baden nicht schwierig? Leidest du nicht unter dem Lärm und dem Tumult und anderen Ärgernissen? Aber ich glaube, du wirst all diese Mühsal ertragen um der Herrlichkeit des Schauspiels willen.«

Was so enorme Zuschauermassen zu den Spielen lockte, war eine komplexe Mischung aus Motiven, die den Körperkulturen der hellenischen und römischen Welt entstammten. Mehr als 1.000 Jahre lang war das Gymnasion – buchstäblich ein Ort, den man nackt aufsucht – das Zentrum des bürgerlichen und sportlichen Lebens für die Oberschicht der freigeborenen Männer, die aufgrund von Wohlstand, patriarchalen Familienstrukturen und Sklavenarbeit von den meisten praktischen Aktivitäten entbunden waren. Der Zusammenhang zwischen bürgerlichen Pflichten und der körperlichen Ertüchtigung im Gymnasion variierte von Ort zu Ort. In manchen Stadtstaaten diente Sport der Vorbereitung auf den Krieg, denn alle Bürger waren verpflichtet, bei Bedarf zu den Waffen zu greifen. In anderen wurde die Beziehung zwischen körperlichem Wohlbefinden, geistiger Gesundheit und bürgerlicher Tugend betont, und überall bedeutete der Kult um athletisch-männliche Schönheit, dass die meisten Griechen der Ansicht waren, dass gut auszusehen auch hieß, gut zu sein.

Sportler ebenso wie Zuschauer wurden einige Monate im Voraus von Herolden, die durch die hellenische Welt reisten, um die Spiele anzukündigen, nach Olympia gerufen. Sogar inmitten der erbitterten Kämpfe der Peloponnesischen Kriege im 5. Jahrhundert wurden die Spiele durchgeführt.

Im 5. Jahrhundert v. Chr. wurde ein fünftägiges Wettkampfprogramm festgelegt, das bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. unverändert blieb, als Griechenland von den Römern erobert wurde. Die neuen Herren tauften Zeus in Jupiter um, machten aus den Spielen eine sechstägige Veranstaltung und behielten es so bei bis zum Niedergang der Spiele fast 600 Jahre später. Am Eröffnungstag mussten Richter und Offizielle – die Hellanodiken –, Athleten sowie deren Trainer und Angehörige sich am Zeustempel versammeln und einen Eid schwören, sich fair zu verhalten und nicht bestechen zu lassen.4 Wie aber die Zanes – eine Reihe von Bronzefiguren, die den Weg zum Olympiastadium säumten – bezeugen, waren Lug und Trug wohl an der Tagesordnung. Diese Zeusstandbilder wurden mit den Bußgeldern finanziert, mit denen Schwindler belegt wurden, und sollten künftigen Athleten als Warnung dienen. Es gab außerdem Wettbewerbe für Trompeter und Herolde – die salpinktes bzw. keryx –, deren Sieger den Rest der Woche über die Ehre hatten, die Athleten anzusagen und von ihren Heldentaten zu künden.

Der zweite Tag begann mit Blutopfern vor den vielen Altären und Tempeln von Olympia, danach begab sich die Menge zum Hippodrom, um Wagen- (Zwei- und Vierspänner) und Galopprennen zu verfolgen. Ungeachtet des gefährlichen Charakters dieser Rennen, wurden die Preise jeweils an die wohlhabenden Besitzer der Pferde statt an die Reiter vergeben. Tag drei war dem Pentathlon vorbehalten, bei dem die Teilnehmer sich im Laufen, Diskuswerfen und Speerwurf maßen sowie im Weitsprung mit Gewichten, dessen genauer Ablauf nicht vollständig überliefert ist. Falls nach vier Disziplinen noch kein Sieger ermittelt wurde, musste ein Ringkampf die Entscheidung bringen. Tag vier war dem Fest des Pelops gewidmet sowie der Schlachtung von 100 Rindern und den Wettkämpfen der Knaben, begleitet von allerlei Festessen und Gelagen.

Am fünften Tag ging es zurück ins Stadion zum Laufen und Kämpfen. Es gab drei Rennen, jeweils mit Vor- und Finalläufen mit etwa 20 Athleten. Die stade war ein Sprint über eine Stadionlänge (192,28 m); der diaulos eine stade und zurück; und der dolichos – wörtlich »der Lange« – war ein Lauf über 24 Stadien, also um die 5.000 Meter. Ringkampf gab es in zwei Formen: kato pale, bei der auch auf dem Boden gerungen wurde, und orthia pale, eine eher formelle Variante, bei der sich die Kontrahenten im Stehen bekämpften. Der dem heutigen Boxen ähnliche Faustkampf wurde ohne Handschuhe ausgetragen, die Römer aber regten, gewohnt blutrünstig, die Einführung von Schlagringen an. Schließlich gab es noch das pankration, den Allkampf, bei dem außer Beißen und in die Augen stechen so ziemlich alles erlaubt war. Der letzte Tag war dem Feiern vorbehalten: Zunächst gab es eine Prozession, bei der die Teilnehmer mit Zweigen und Blumen überschüttet wurden, danach folgte im Zeustempel die Verleihung von Ölzweigen an die siegreichen Athleten, die in der Altis, dem heiligen Hain von Olympia, geschnitten wurden, und abschließend ein Opferfest nur für die Kampfrichter und Sieger.

Vieles davon war bekannt in Coubertins Zeit, und wie er die spirituelle Feier der Athletik und des Körpers, den Wettkampfruhm und die Ehre eifriger Bemühung und Teilnahme interpretierte, ließ sich in vielen Aspekten mit seiner Auffassung der angelsächsischen Sportund Erziehungsethik verbinden. Freilich herrschte eine enorme Kluft zwischen den beiden, aber Coubertins Versuch, sie zu überbrücken, war – wenn auch schrecklich bieder, ungelehrt, romantisch und patriarchal –zumindest plausibel.

Was einer eingehenden Analyse nicht standhält, ist seine Lesart der Beziehung der antiken Spiele zu Amateurismus und Politik. Der Ausschluss professioneller Teilnehmer bei den modernen Spielen und die ungemein strengen Bestimmungen, die an die Idee des Amateurismus geknüpft waren, wurden mehr als ein halbes Jahrhundert lang unter Berufung auf eine imaginierte Vergangenheit gerechtfertigt und moralisch aufpoliert. Avery Brundage, IOC-Präsident in den 1960er Jahren, konnte noch behaupten: »Der Amateurkodex, der aus der Antike zu uns kommt, folgt den höchsten moralischen Grundsätzen.«5

In Wahrheit waren die Olympischen Spiele, obwohl es keine Geldpreise gab, in eine oftmals hoch professionalisierte und kommerzialisierte Sportkultur eingebettet. Jenseits von Olympia gab es eine ganze Reihe von Sportfesten im gesamten östlichen Mittelmeerraum, bei denen um Geldpreise und andere Güter gestritten wurde. Die Teilnahme an solchen Wettkämpfen bedeutete für die Athleten keineswegs den Ausschluss bei Olympia. Ehrgeizige Politiker, wie der Athener Solon im 6. Jahrhundert, lobten Preise für heimkehrende Sieger aus. 500 Jahre später notierte Marcus Antonius, dass olympische Ehren häufig mit einer Freistellung vom Militärdienst, Ländereien, Renten und Steuervergünstigungen belohnt wurden. Pausanias berichtete, dass der Kreter Sotades nach seinem Olympiasieg im Langlauf zu den nächsten Spielen erneut anreiste, diesmal aber für Ephesos antrat, denn die Stadt hatte ihn für seine Gefolgschaft großzügig entlohnt.

Coubertins Bemühen, klassische Vorläufer für seine internationalistischen und pazifistischen modernen Spiele zu finden, bedeutete außerdem, eine Sportkultur zu evozieren, die sich von jeglicher politischer Macht und deren Belangen gelöst wähnte. Dies deckte sich aber keineswegs mit der Auffassung des Altertums. Herodot zufolge war es sein Olympiasieg im diaulos im Jahr 640 v. Chr., die den Athener Kylon dazu ermutigte, daheim einen Staatstreich anzuzetteln. Kimon wiederum, ein athenischer Aristokrat, der vom Stadtherrscher Peisistratos verbannt worden war, »errang den Olympiasieg im vierspännigen Wagenrennen … Bei den nächsten Olympischen Spielen gewann er mit dem gleichen Gespann, gestattete aber Peisistratos, sich zum Sieger erklären zu lassen, und indem er jenem den Sieg überließ, kehrte er aus dem Exil zurück zu den Seinigen.«6 Andere griechische Tyrannen, die auf der olympischen Siegerliste erscheinen, sind u. a. Kypselos von Korinth und die Orthagoriden von Sikyon.

Wie Coubertin selbst erfahren sollte, als er schließlich damit begann, Sportfeste auszurichten, war Olympia bezeichnenderweise ein Ort, an dem Politiker sich gerne zeigten. So heißt es z. B. in Plutarchs Darstellung der Ankunft des athenischen Staatsmanns und Feldherrn Themistokles bei den Spielen im 5. Jahrhundert: »Den ganzen Tag wandten die Zuschauer den Blick ab von den Athleten, um ihn zu betrachten, und zeigten ihn unter bewunderndem Applaus den anwesenden Fremden, so dass auch er erfreut war und seinen Freunden gestand, dass er nun voll und ganz die Ernte seiner Mühen in Hellas’ Namen erntete.«7 Olympia war seit jeher ein Ort, an dem politisches Kapital generiert und gehandelt wurde. Wie Coubertin feststellen sollte, verhielt es sich in der modernen Welt nicht anders; im Gegenteil würde sich dieser Aspekt der Spiele noch um ein Vielfaches vergrößern und verstärken.

*Colonel William Leake, ein erfahrener Militärkartograf, wurde von der britischen Regierung im Zusammenhang mit dem Schattenkrieg, den sie in der Region gegen die Franzosen führten, beauftragt, Albanien und die Peloponnes zu vermessen. 1805 erreichte er Olympia und unternahm eine umfassende und genaue Untersuchung der Stätte, deren Ergebnisse jedoch erst 1830 in seinen Travels in the Morea veröffentlicht wurden.