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Für meinen Mann
und für meine Töchter

Petra Hauser wurde 1950 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg und war über 30 Jahre lang als Lehrerin vor allem in der Erwachsenenbildung tätig. Ihren ersten Roman „Das Glück ist aus Glas“ veröffentlichte sie 2009 (6. Auflage, 2015). Es folgte die Novelle „Falsche Wimpern“ (2011), der Roman „Die Tage vor uns“ (2012), der Krimi „Binokelrunde“ (2014), der Roman „Heimatstadt“ (2016, 2. Auflage) sowie 2018 „Das Geheimnis vom Weihnachtsgebäck“.


Petra Hauser

Ein herrliches
Vergessen

Roman

Lindemanns

Sie liebten es, Pläne zu schmieden, und sie konnten dabei leicht ihren Horizont beliebig dehnen über das augenblicklich Sichtbare hinaus.

1

Am Tag seiner Geburt hätte keiner gedacht, dass er sich eines Tages für ein Glückskind halten würde. Sein Start war schwierig. Seine Mutter stieg in Eile aus einem Zug, noch weit außerhalb des Bahnhofs. Sie sah in der Dunkelheit nicht genau, wohin ihr nächster Schritt sie führen würde und fiel vornüber auf ihren Bauch, auf das Kind, das sie eigentlich noch zwei Monate dort bewahren sollte.

Sie war eine energische Frau, rappelte sich auf und schüttelte die Hände ab, die sich an ihre Ellbogen hefteten, um zu helfen. Aber dann, ein bisschen später, als sie angekommen war mitten in Straßburg, wo sie ihren Mann besuchte, der dort derzeit arbeitete, wurde aus dem Druck in ihrem Bauch ein schmerzhaftes Reißen, das ihr fast den Atem nahm.

Sie lag oben unterm Dach des Hotels in der Kammer, die man ihrem Mann zugewiesen hatte, wartete darauf, dass er käme, und biss die Zähne aufeinander. Zwischen den Krämpfen in ihrem Bauch gab es Ruhepausen. In einer solchen stand sie auf und lugte vorsichtig aus der Kammer hinaus, sah am Ende des Ganges eine junge Frau in einem Wandschrank hantieren. Gerade als diese sich umdrehte und ihr in die Augen blickte, begann das Stechen und Krampfen wieder und Käthe musste einen kleinen Schrei ausstoßen, bevor sie in die Knie ging.

Die andere Frau kam herbei, half ihr auf, zog sie hinein ins Zimmer, hinüber zum Bett, das unter der Dachgaube stand. Sie erkannte die Lage richtig, ahnte auch schon, wen sie vor sich hatte. Das musste wohl die Frau des Chefkellners Georg sein, er hatte viel von ihr gesprochen, hatte ihr Bild herumgezeigt und ihre schönen Augen gelobt. Nicht dass sie selbst eine Gesprächspartnerin für Georg gewesen wäre. Sie huschelte nur immer möglichst im Hintergrund von einer Tätigkeit, die man ihr auftrug, zur anderen, war eine jener Personen, die unsichtbar und effektiv die Maschinerie des großen Hotels am Laufen hielten. Sie war eine Art Mädchen für alles, aber doch kein Mädchen mehr, deshalb erkannte sie sofort die ungewöhnliche Situation.

„Ich hole Hilfe“, versprach sie, rannte mit klappernden Absätzen zur Treppe am Ende des Ganges. Wenige Minuten später kam Georg mit ängstlich aufgerissenen Augen in die Stube geplatzt und kniete sich neben Käthe. Mit der steifen Serviette, die sonst über seinem Unterarm hing oder schnell mal unter die Achsel geklemmt wurde – in der Eile hatte er sie nämlich mitgenommen –, tupfte er Käthes Stirn ab. Er hielt ihre Hand und presste ihre Finger heftig, als ob er ihr damit helfen könnte, den Schmerz zu ertragen, der aus ihren Augen schrie.

„Die Wilhelmine holt die Sage-femme, die hier gleich um die Ecke wohnt. Es ist eine Freundin von ihr ...“, stieß er aufgeregt hervor, ganz außer Atem vom Heraufrennen und auch vom Schreck, der sich seiner zu bemächtigen begann.

„Die was?“, stammelte Käthe.

„Die Hebamme, Käthe.“

Und die wurde gebraucht, denn das Kind, der kleine Sohn von Käthe und Georg, wollte jetzt geboren werden. Jetzt sofort.

Winzig klein und verknautscht lag er drei Stunden später im Arm seiner erschöpften Mutter, es war inzwischen drei Uhr nachts und der Sonntag hatte begonnen. Im Haus herrschte Stille. Dort oben unterm Dach wusch sich Hélène Pannier die Hände, raffte die Tücher zusammen, die Wilhelmine ihr gebracht hatte, warf sie auf den Boden und schob sie mit einem leichten Drehen ihres Fußes in die Ecke. Dann griff sie nach den Geldscheinen, die Georg zusammengesucht hatte, und steckte sie in die Tasche ihres Mantels. Sie zog ihn an, tätschelte Georg zum wiederholten Mal nun die Schulter und flüsterte: „Ça va, ça va venir, il va vivre! Je le vois dans les étoiles, ne te fais pas de souci!”

Sie lächelte, dabei zeigte sie ihre ungewöhnlich weißen Zähne.

„Ein Sonntagskind isch er, wenn das nit ein Glück isch.“

Hélène zwinkerte Georg noch ein letztes Mal zu. Befriedigt blickte sie hinüber zum Bett. Sowohl Käthe als auch Wilhelmine streichelten das kleine bläulich-graue knittrige Gesicht, griffen nach den winzigen Fingern und lächelten einander zu, als die sich um ihre Daumen rollten. Das braucht ein Menschlein, wenn es auf diese Welt kommt, dachte die Pannier, Aufmerksamkeit.

Eine kleine rechte Hand und eine kleine linke Hand, beide hatten einen festen Griff. Die Augen hielt der Kleine geschlossen, die Lippen aufeinandergepresst. Er schien erschöpft, aber er war da, angekommen in dieser Welt. Der jungen Mutter ging es gut. Die Zeit der Schmerzen und des Stöhnens war vorerst vorbei für sie.

2

Georg, der frisch gebackene Vater, hatte die Stelle als Oberkellner im September des Vorjahres angenommen. Am 14. September 1914, genau an dem Tag, an dem Erich von Falckenhayn in Berlin die Oberste Heeresleitung übernahm. Für Georg war es eine Wintersaison, für den Kriegsminister begannen vier lange Jahre, an deren Ende er gescheitert und die ganze Welt eine andere sein würde.

Ein Kellner verpflichtete sich oft nur für eine Saison, einen Sommer, einen Winter. Man konnte dieses Leben unstet nennen, wenn man nichts verstand vom Hotelgewerbe. Es war ein Wanderleben, dem der Artisten vergleichbar; der Beruf des Kellners hatte schließlich auch etwas vom Künstlerischen an sich. Wenn man an die Kleidung dachte: schon das eine Camouflage! Die Miene, die nichts von Emotionen verraten durfte. Nichts vom Ärger über unverschämtes Herrengehabe mancher Gäste, nichts von der Bewunderung für die schönen Damen, denen man den Teller vorlegte, sich dabei über sie beugte, über ihr Dekolleté und ihren Duft und den wunderbaren Glanz ihrer Haare, die künstlichen Blüten und Schleierchen, die es schmückten. Nichts von der Verachtung für die Herren deutschen Offiziere, die sich gerade hier in Straßburg so gebärdeten, dass man sich wirklich schämen musste, ein Deutscher zu sein. Das Wort „Wackes“, das allgemeine Schimpfwort für die alteingesessenen Elsässer, wurde nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern laut und ungeniert ins Tischgespräch eingeflochten. Mit Herablassung. Das machte man dem Kaiser und seinen Beamten nach. Gerade ein Jahr war es her, dass ein Gericht hier in Straßburg in seinem Namen entschieden hatte gegen die Menschlichkeit und für die Macht des Militärs. Einem jungen schnöseligen Unteroffizier, der sein arrogantes Gehabe auf die Spitze getrieben und damit im Geschichtsbuch unter dem Titel Zabern-Affaire einen Platz gefunden hatte, wurde Recht gegeben: „Der Rock des Kaisers muss unter allen Umständen respektiert werden“, hatte sogar der Reichskanzler Bethmann-Hohlweg in Berlin verfügt. Und nun hatte man den Salat: Krieg! Einige Tage vor der Geburt des Kindes hatte die 16. Division bei Soissons ordentlich eins auf die Haube bekommen und noch bevor es laufen konnte, würden viele Soldaten auf schreckliche Weise hingemetzelt sein, erstickt am Giftgas, dem neuen Kampfmittel, das diesen Krieg eskalieren ließ.

Die hoheitsvollen einstudierten Gesten der Kellner, ihr Auftritt! Das schnelle Dahingleiten auf glänzend gewichsten Schuhen, die einstudierten Gesten, das Jonglieren von Tabletts voller Teller, Tassen, Gläser, Gefäße mit Speisen, die den Mund wässrig machen, aber ja nicht den des Trägers. Ein Ober, der etwas auf sich hielt, musste so daherkommen, als ob er leere Teller trüge. Es sollte ihm nicht anzumerken sein, ob er die Zusammenstellung der Speisen billigte, ob er daraus Schlüsse zog auf den Speisenden oder sich heimlich ins Fäustchen lachte, weil er dessen Ignoranz durchschaute. Einen Nouveau-riche konnte er durchaus schon an der Wahl seiner Speisen, besonders an der Wahl der dazu gehörigen Getränke erkennen, wie dick auch immer der Brillant seiner Krawattennadel sein mochte.

Georg war Oberkellner. Hier im alten Traditionshaus, wo die Mächtigen noch abstiegen, um sicher zu sein, so behandelt zu werden, wie sie sich fühlten: als Herren, und weil sie von solchen Kellnern bedient werden wollten, denen man ihre Erfahrungen ansah an ihrer undurchsichtigen Miene.

Was für ein Glück, dass Georg nicht hatte in den Krieg ziehen müssen, dem er von Anfang an nicht hatte zustimmen können. Da war die Krankheit, die ihn wenige Tage nach der Hochzeit erwischt hatte und die Käthe in Angst und Schrecken versetzt hatte, doch zu etwas nutze gewesen. Als junge Witwe sah sie sich schon, dachte an den Tod der Mutter, das Husten, das Blut im Taschentuch, das Ringen um Atem, das Röcheln, den hageren Griff nach ihrem Arm, der langsam nachließ, und an diesen letzten langen Blick voller Fragen und flehender Apelle, denen sie nichts mehr hatte entgegensetzen können als ihr Zittern und ihre Tränen, das alles sah sie sich wiederholen. Aber dann ging’s ihm besser, dem Georg. Er musste nicht sterben. Er nahm sie eines Tages wieder in den Arm und sagte: „So schnell wirsch du mich nimme los“, in seinem alemannischen Dialekt, das kam selten vor, fast gar nicht, weil er doch fast ein Herr war, ein weltgewandter. Nur nachts hüstelte er noch, keuchte und zog hörbar die Luft ein, nach der ihm verlangte; sie stellte ihm ein Glas Wasser ans Bett und harrte neben ihm aus, bis er sich wieder niederlegte, sie in den Arm nahm, und so schliefen sie beide wieder ein. Bei der Musterung, das war nur wenige Wochen später, hörte man das Geräusch auf seiner Lunge und schüttelte den Kopf. Nein, so einen konnten sie nicht gebrauchen im Heer, einen, der einen Todeskeim in sich trug und damit die Wehrkraft zu zersetzen drohte. Das war dem Georg nur recht gewesen. Es hatte ihm so ganz an der Begeisterung seiner Altersgenossen gefehlt.

Käthe, Georgs Frau, jetzt auch Mutter seines Sohnes, dem die beiden durch die Eile seiner Ankunft überrascht einfach die Namen des Vaters gaben, Georg und Wilhelm, nur in vertauschter Reihenfolge, also Wilhelm Georg, Käthe wurde trotzdem die Sorgen, dass ihr Ehemann doch noch Soldat werden, doch noch an die Front gehen musste, wo die Männer starben wie die Fliegen, erst los, als es aus war mit Schießen und Sterben und auch mit dem Kaiser und der alten Zeit.

3

An diesem Sonntag jedoch, am 20. Januar 1915, hatte sie andere Gedanken. Es wurde schon hell, da wachte Käthe auf, spürte hinter sich Georgs warmen Körper, hörte die tiefen Atemzüge, sah vor sich das winzige Bündel. Atmet er überhaupt noch, der kleine Sohn? Ja, man sah, dass sich die Nasenflügel ein winziges bisschen blähten, und dann wieder wurde die kleine Nase schmaler, es zuckte um seine Lippen. Der Winzling zog seine Stirn in Falten. Er ließ wieder locker, eines seiner Ohren schien zu zittern. Als Käthe sich zurechtrückte, öffneten sich die beiden Fäustchen, die Finger spreizten sich schreckhaft. Langsam löste sich die Spannung danach wieder. Käthe griff nach der Hand ihres Sohnes. Ein tiefes warmes Glücksgefühl erfüllte sie, als sich diese Hand um ihren Finger schmiegte, ihn festhielt. So verharrten sie eine Weile, fest miteinander verbunden. Dann weckte sie ihren Mann, schubste ihn aus dem Bett, öffnete ihre Bluse und legte sich das Köpfchen an die Brust, so wie Madame Pannier es ihr in der Nacht noch erklärt hatte, streichelte mit dem Finger über die Wangen des Kleinen, zog an seinem winzigen Kinn. Er reagierte nicht.

Mit den Augen verfolgte sie Georg, wie er sich Wasser aus dem Krug in die tönerne Schüssel leerte und davor stand mit nacktem Oberkörper. Er rührte Seife an, schäumte sie sich auf die Wangen mit dem Dachshaarpinsel, das war ihr erstes Geschenk an ihn gewesen. Extra nach Stuttgart war sie gereist, um dort zu kaufen, wo auch die Herren zu Fürstenberg Kunden waren. Er öffnete nun das Rasiermesser und schaute dabei in den kleinen Spiegel, den er an den Fensterrahmen gehängt hatte. Sie freute sich an seinen Bewegungen, freute sich, dass er ihr Mann war, freute sich, dass sie in dieser Nacht eine richtige Familie geworden waren, weil sie ihm einen Sohn geboren hatte. Dann wieder beugte sie sich über das Kind und ihre Seligkeit verpuffte wie ein Zündholzflämmchen.

„Georg, wo soll ich hin? Hier kann ich doch nicht bleiben? Und mit dem Kind wieder raus in die Kälte ... stundenlang in diesen überfüllten Zügen sitzen, auf den zugigen Bahnsteigen warten, zwischen all den vielen Menschen, die sich schnäuzen und husten, und man weiß nicht, welche Krankheiten sie verbreiten ...“

„Heute bleibst du auf jeden Fall hier. Die Pannier wird nachher noch einmal nach dir schauen. Bis morgen habe ich mir was überlegt. Lass mich nur machen.“

Lass mich nur machen, das war typisch Georg, machen wollte er, immer machen. So wie der Kaiser und der Adel, den er doch verachtete, den er einen „alten Zopf“ nannte. Endlich müsse das Geschick des Landes in die Hände aller gelegt werden. Man brauche endlich auch eine Republik; so wie die Franzosen müsse man es machen. Allenfalls aber wie die Engländer, die den König auf einen dekorativen Sockel gestellt hatten, wie eine Art lebendiges Denkmal stand er dort und jeder konnte ihn anschauen, aber er konnte nichts mehr anrichten.

Ja, der Georg kannte sich aus in der Welt. Mit der RMS Lusitania war er zweimal in Amerika gewesen, das er die „Vereinigten Staaten“ nannte, weil er genau wusste, dass es nicht ein großes Land war so wie vielleicht Frankreich oder Russland, sondern eine Vereinigung vieler ganz verschiedener Länder. New York hatte er erlebt, bei Tag und bei Nacht. Bei seiner zweiten Überfahrt überredete ihn sein Bruder Albert, der auch auf der Lusitania angeheuert hatte, zu einem Abenteuer. Mit Zügen und Kutschen gelangten sie in den heißen feuchten Süden nach New Orleans. Nur mal so, um die schönen Frauen mit der goldbraunen Haut und dem schwarzen glänzenden Haar, den unergründlichen dunklen Augen und blitzenden weißen Zähnen zu erleben, hautnah. Danach wäre man ein anderer Mensch, behauptete Albert, wer hatte ihm das wohl erklärt? Nach einer heißen Nacht ging es weiter nach Jacksonville, dort nahm sie ein stinkender Fischkutter auf. Sie köchelten in einer winzigen Kombüse für die sieben Mann Besatzung zwei warme Mahlzeiten, verdienten sich damit den Rückweg nach New York und kamen eben noch rechtzeitig an, um wieder an Bord der Lusitania zu gehen und ihren Frack überzustreifen. Zuvor hatten sie sich im Hafen eine Handvoll teure Seifen und Essenzen gekauft, um den verdammten Gestank aus den Haaren, den Nägeln und von der Haut zu schrubben. Das Publikum auf der Lusitania parlierte in Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Russisch. Man lachte miteinander, war von Musik umgeben, von Glanz, von Luxus, der auch die Leute im Dienstbereich einbezog. Wenn sie abends todmüde in ihre Kojen fielen, begannen sie sofort zu träumen von all dem Aufregenden, was sie tagsüber gesehen und erlebt hatten.

„Ja, Käthe, die schöne große Welt ist voller Wunder. Wie blöd muss man sein, wenn man Krieg anzettelt, wenn man sich gegenseitig totschießt, die Brücken sprengt, die Äcker verwüstet. Das ist doch wie im Mittelalter!“

Das hatte ihr der Georg nicht nur einmal erklärt. Die Mehrheit der Menschen wollte den Krieg nicht, behauptete er. Mochte sein, dass er was von der großen weiten Welt gesehen hatte, mochte sein, dass er wusste, dass Amerika in Wirklichkeit aus vielen Ländern bestand, und zwar aus sehr viel mehr und sehr viel größeren als unser kleines Europa, aber was den Krieg betraf, da täuschte er sich. Käthe wusste es besser und sie wusste es so gut, dass sie gleich wieder einmal einen Streit hätte anzetteln können. Sie hatte gehört, wie sie Hurra schrien und „endlich“ sagten, endlich dürfen wir zeigen, wie sehr wir unsere Heimat lieben, dürfen sie verteidigen mit diesen Händen, und wenn wir dabei draufgehen sollten. Wir wollen gerne Helden sein, wollen gerne, wenn es sein muss, sterben für unser Vaterland.

„Dieser Krieg ist ein Irrsinn! Was will der Kaiser denn? Mehr Land, mehr Einfluss, mehr Vermögen, mehr Macht?“

„Sie sagen, dass es nicht darum geht, sondern darum, uns gegen den Feind zu verteidigen.“

„Und wer soll das sein, der Feind?“

„Der Serbe, halt.“

„Der Serbe? Wenn schon, dann musst du die Serben sagen, denn das sind genauso Menschen wie wir, verschiedene Menschen, verstehst du, Käthe? Du bist doch sonst nicht auf deinen Kopf gefallen, ich hätte wirklich gerne, dass du manchmal nachdenkst, bevor du was sagst! Und weißt du denn, was die Serben uns getan haben, sagen wir mal dir und mir? Sind sie unsere Feinde? Nichts haben sie uns getan. Sie sind wie du und ich. Warum also sollen wir sie bekriegen? Weil irgendeiner von ihnen irgendwo dort unten einen österreichischen Prinzen und seine Frau getötet hat, sollen wir hier unsere Köpfe hinhalten? Stell dir mal vor, jetzt geht es auch noch gegen die Franzosen, weil die sich mit den sogenannten Feinden verbündet haben, und dann auch noch gegen die Engländer und die Russen. Und welche Franzosen, und welche Engländer sind das denn?“

Käthe wusste schon, was Georg als nächstes Argument ins Feld führen würde. Der eigentliche Feind für den Kaiser und die Seinen in diesem Krieg, das war die europäische Kultur. Das waren diejenigen, die wissen, wie man lebt, richtig lebt, wie man diniert, was man trinkt, wie man eine edle Virginia raucht, wie man ein Champagnerglas hält, wie man sich beim Klang des Pianos lächelnd einer Dame zuwendet, ihr tief in die Augen sieht, ihren Liebreiz lobt, nicht allgemein, sondern zum Beispiel die Augen im Besonderen oder die Lippen oder die kleinen Ohren, die unter den gekringelten Löckchen hervorschauen, wie man sie schließlich verführt, wie man mit dem Zucken der Braue, der rechten oder der linken, dem Kellner ein Zeichen gibt, wenn man einen Wunsch hat und ihn äußern möchte. Er wusste Bescheid darüber. Aus eigener Anschauung konnte er die Kultivierten von den Banausen unterscheiden. Kultur kannte keine Nationalität, sie war eine Nation in sich.

Diese Spitzfindigkeiten gingen Käthe zu weit. Sie fürchtete sich auch davor, dass Georg sich mit solchen Reden um Kopf und Kragen brachte. Was wollte er damit erreichen? Ein eigenes Hotel, ein Haus mit Klasse, in dem alles flutschte wie geschmiert. Gute Küche sollte sich verbinden mit perfektem Service, sodass diejenigen abstiegen, die er kannte von den Kreuzfahrtschiffen und den Seebädern, in denen er sich hochgedient hatte. So ein Haus zu formen und zu führen und sein eigen zu nennen, das wollte er.

„Und du machst dann den Grand-Cru-Cri, dein Schaumsoufflé, das du für die kleine Fürstenberg bei ihrer Verlobung kreiert hast, Käthchen, und noch andere solche Wunder, und du scheuchst die zwei oder drei Kaltmamsellen, die wir haben, vor dir her und ziehst nebenbei noch den Piccolo am Lift an den Ohren, wenn er seine Augen nicht unter Kontrolle hat, seine Schuhe nicht poliert sind, und ich lege die Speisenfolgen fest und der Oberkellner schlägt die Haken zusammen, wenn er am Getrappel meiner Schritte hört, dass ich mich nähere ...“

Der Georg war ein Phantast, er war größenwahnsinnig, jedenfalls ein Pragmatiker war er nicht. Deshalb hatte er sich wahrscheinlich auch dazu entschieden, sie zu seiner „besseren Hälfte“ zu machen und nicht die kleine Geraldine. Die machte ihm nämlich auch schöne Augen. Eine herrliche Sarah-Bernard-Eisbombe konnte sie zubereiten, mit Baiser-Splitter und Haselnusskrokanthagel verziert. Käthe hatte sie wirklich beneidet darum. Aber Geraldine kam immer zu spät und oft wurde sie nicht fertig mit dem, was sie vorhatte. Sie schmiss lieber alles hin und schrie dann hysterisch, kein Dessert heute, nur Kaffee und drei Tage alte Nussbissen, weil das Geplante nicht geklappt hatte. Alles oder nichts. Das war ihre Devise. Darin glich sie Georg. Käthe hatte das manchmal gespürt, wenn sie sich freitagabends im Dienstzimmer trafen und die Arrangements des Fürstenbergschen Haushaltes besprachen, in jenem Frühling 1913, in dem Georg als erster Diener dort engagiert war. Solche Kapricen konnte sie sich nicht leisten. Sie war ein Pflichtenmensch, ein Arbeitstier, keine Diva.

4

Käthe war zufrieden mit ihrem Platz in der Welt. Als sie mit sechszehn Jahren, gerade war ihre Mutter nur zwei Jahre nach dem Vater an einer schweren Lungenentzündung gestorben, in der Fürstenberg’schen Küche auf Vermittlung einer entfernten Verwandten hin als Küchenhilfe eingestellt wurde, erfüllte sie das mit Stolz. Sie wurde beobachtet von der Köchin. Vier Jahre später bat sie darum, während der sommerlichen Abwesenheit der Fürstenfamilie – man verbrachte mehrere Monate an der Ostsee, um sich dort mit seinesgleichen zu treffen und vermischen – im Hotel Post eine Ausbildung zur Kaltmamsell mitzumachen, sieben Wochen und eine Prüfung, davon hatte sie reden hören, denn ihre Ohren hielt sie immer offen. Ihre Begabung für Desserts und Torten hatte nicht nur die Köchin entdeckt – so gewährte man ihr diese Bitte gern. Ihre Strebsamkeit, ihr Sinn für Ordnung, für das rechte Maß und ihre Courage im Umgang mit den Lieferanten, all das zeichnete sie aus als jemanden, von dem noch mehr zu erwarten wäre. Sie kam zurück mit einer Urkunde im Gepäck und voller Heimweh nach dem Fürstenberg’schen Haushalt und fand dort Geraldine und auch den neuen Diener Georg. Staunend beobachtete sie das ständige Geplänkel zwischen den beiden. Bald schon aber mischte sie sich ein, wenn Geraldine alles hinschmiss, nahm wortlos den Topf und den Schneebesen und rührte die Creme weiter, dekorierte sie mit karamellisierten Mandeln und einigen mit aufgeschlitzten Vanillestangen blanchierten Apfelschnitzen, sodass doch noch was daraus wurde, was man servieren konnte. Nach einem dieser Geraldine-Gewitter bemerkte sie zum ersten Mal, dass Georgs Blick länger auf ihr ruhte als sonst. So lange nämlich, bis sich ihre Augen trafen, bis sie ihm mit einem Lächeln zeigte, dass ihr das gefiel, seine Aufmerksamkeit, dieses bisschen „Oho, so eine ist das“, das sie darin vermutete, zu Recht, wie sich bald herausstellte, denn er suchte immer öfter ihre Nähe. Stellte sich neben sie, draußen hinterm Haus, mit seiner Zigarette in der Hand. Stützte ein Bein hinterrücks an die Hauswand und hob das Kinn, wenn er den Rauch ausstieß. Räusperte sich, begann dann eine belanglose Unterhaltung und schließlich stellte er ihr auch die ersten Fragen. Wo kam sie her? Aus Deggendorf? Da war sie also eine Bayerin? Man hörte es kaum, vielleicht nur an ihrem gerollten „r“. Er kam aus Altenheim bei Lahr. Und so weiter und so weiter.

Am Tag als sie entlassen wurden, weil sich die Herrschaften für längere Zeit nach Afrika begeben wollten und das Haus leer stehen würde, kein Küchenpersonal, kaum Dienerschaft würde gebraucht in dieser Zeit, nahm er ihre beiden Hände und sah sie mit weit aufgerissenen Augen ernst an: „Geh mit mir Käthe. Ich hab’ was in München, im Hotel Continental. Vielleicht da oder ... München ist eine Riesenstadt, da gib es viele andere Möglichkeiten, da findest du was. Geh mit mir. Wenn wir es schaffen, dann ...“

Ja, was dann? „Dann könnten wir doch heiraten, du und ich, dann wäre schon mal der erste Schritt geschafft.“ Der erste Schritt hin zum eigenen Hotel, von dem sie viel geredet hatten. Dass immer öfter ihre Vorstellungen ineinander rutschten und allmählich ein gemeinsamer Traum daraus wurde, die Ideen des einen sein eigenes Luftschloss auf die Traumfetzen des anderen bauten, das wurde Käthe erst bewusst, als er diesen Vorschlag machte.

So landeten sie also in der Vorweihnachtszeit 1913 in München. Am 12. März 1914, noch war kein Krieg in Sicht, noch stand ihnen eine Zukunft offen, die all ihre Träume einschloss, gingen sie aufs Standesamt, nur sie beide und der Herr Schmelzle aus Lörrach und Edwige, das Zimmermädchen, die ihre Zeugen wurden. Diese beiden bezeugten, dass es keinerlei Gründe gäbe, diesen Mann und diese Frau nicht zu einer Einheit zusammenzugeben für gute und schlechte Zeiten und bis dass der Tod sie scheiden würde. Dann ging’s zurück in den Service. An Ringe hatte der Georg nicht gedacht und Käthe wollte ihn nicht daran erinnern, weil sie schon viel zu oft „aber“ gesagt hatte, viel zu oft etwas anders oder besser wusste, sodass es manchmal richtiggehend knirschte zwischen ihnen. An Käthes Geburtstag dann, das war fünf Tage später, am 17. März, da zog er morgens in der Früh, es war noch stockfinster, etwas unterm Kopfkissen vor und drückte es ihr in die Hand. Kein Licht sollte sie machen, sollte es auspacken und mit den Fingern fühlen und raten. Das war ja lächerlich, einen Ring kann man doch erkennen, auch wenn man blind und taub und dumm und dämlich ist. Aber sie freute sich doch unheimlich. Einen Ring für sie hatte er gekauft. Er selber wollte keinen tragen. Der würde ihn behindern, meinte er und im Glück schluckte sie alle Einwände hinunter, steckte den schönen breiten Goldreif an und betrachtete ihn immer wieder versonnen mit geheimem Stolz und großem Glücksgefühl.

Solche Erinnerungssplitter kamen und gingen, während Käthe eindöste, dann hochschreckte, weil sie Angst hatte, sich auf das kleine Geschöpf zu legen und seinen zaghaften Atemstrom zu ersticken. Mein Gott, nur das nicht! Er ist ab jetzt das Wichtigste in ihrem Leben. Bis an ihr Lebensende wird er ihrem Weg eine Richtung geben und sie wird nicht aufhören, den Tag zu preisen, an dem sie ihn geboren hat.

Als um die Mittagszeit Hélène Pannier leise Georgs Kammer betrat und sich vorsichtig neben Käthe aufs Bett setzte, das Kindchen hochnahm, wie um Zwiesprache mit ihm zu halten, schreckte Käthe auf.

„Wie isch das nun, hat er was getrunken, unser Prinz?“

Käthe wusste es nicht. Sie sollte es nur immer wieder versuchen, sie sollte mit ihm reden, sollte ihm Lieder singen, das wäre wichtig, sagte die Hebamme.

„Wir wollen doch nicht, dass er es sich noch einmal anders überlegt, n’est-ce pas?“

Am Nachmittag, als die Dunkelheit sich in Georgs Kammer ausbreitete, klopfte es zaghaft an der Tür und Wilhelmine streckte ihren Kopf herein. Käthe war aufgestanden, hatte Ordnung gemacht im Zimmer, hatte die Windeln ausgewaschen und eine Schnur gespannt zwischen der Stuhllehne und dem Fensterkreuz, darüber die nassen Tücher gebreitet, voller Dankbarkeit für alles, was die Pannier ihr brachte, die winzigen Hemdchen, die weichen Moltontücher, die kleine Mütze aus zarter Lammwolle und die Zellstoffeinlagen.

„Ich nehme dich mit, Käthe, mit zu uns nach Hause. Der Friedrich hat’s erlaubt. Er hat sowieso in der nächsten Woche Nachtdienst, da kann er tagsüber hier in Georgs Kammer schlafen. Allez, wir packen alles zusammen.“

So kam es also, dass der kleine Wilhelm Georg oder Willi, wie man ihn bald schon nennen würde, seinen ersten Wohnsitz an seinem zweiten Lebenstag schon verließ und umzog in den nächsten. In seinem Pass stand Geburtsort Straßburg. Einfach nur der Name der Stadt, dieser wunderschönen Stadt, die bis zum Ende des Deutschen Reiches noch dort hineingehörte, sodass er nicht als Franzose, wie man heutzutage denken könnte, sondern als Reichsdeutscher geboren wurde.

5

Käthe wurde aufgenommen von Wilhelmine und Friedrich in ihren zwei Zimmern mit Küche im Hinterhof der Boulangerie Chopard, so als ob sie ein Familienmitglied wäre. Diese Selbstverständlichkeit, mit der beide, Mine und Fried, wie sie sich nannten, Käthe annahmen und ihre Sorgen auch gleich mit übernahmen, rührte Käthe zu Tränen. Bevor Fried seinen Dienst antrat, aßen sie zu dritt auf dem großen Bett im Schlafzimmer und betrachteten den winzigen Willi, bestaunten jedes Zucken in seinem Gesicht.

„Die Pannier hat gesagt, wenn er nicht bei dir trinkt, müssen wir versuchen, ihm einen Milchschleim zu kochen. Kuhmilch verdünnen, ein bisschen Haferflocken aufkochen, nur einen Teelöffel voll in einen halben Liter. Was meinst du Käthe, soll ich das versuchen?“

Der Kleine kam Käthe schwach vor. Alle paar Minuten hielt sie ihr Ohr an seine Lippen, um die flachen Atemzüge wahrnehmen zu können. Ihre Sorge wuchs und wuchs und es wurde ein dickes schwarzes Gespenst daraus, das sich ihr bei Einbruch der Dunkelheit auf die Brust legte und sie davon abhielt zu schlafen.

Nachts noch versuchten die beiden Frauen, ihm die gekochte Milch einzuflößen. Er trank in guten festen Zügen. Ganz ausgehungert kam er ihnen dabei vor. Aber dann ruckelte er mit dem Kopf und plötzlich schoss die Milch in hohem Bogen wieder aus dem winzigen Mund. Das Kind röchelte und hustete, Mine riss ihn Käthe aus der Hand und hielt ihn senkrecht, ging mit ihm herum mit energischen Schritten und sprach dabei beruhigend auf ihn ein.

„Gell, gell, es wird alles gut, mein Kleiner, alles wird gut.“

Aber es wurde erst gut, als Fried am übernächsten Tag eine Ziege mitbrachte, als sie nach einem von der Pannier empfohlenen besonderen Verfahren Ziegenmilch verdünnt, aufgekocht und wieder abgekühlt hatten. In Grammportionen flößten sie dem Kind die wässrige Flüssigkeit ein, hielten es aufrecht dabei, nach jedem Trinken warteten sie auf sein Aufstoßen und freuten sich darüber so, dass es ihnen die Tränen in die Augen trieb.

Nach zwei Wochen, die einerseits verflogen wie im Sturmwind, andrerseits aus vielen bleischweren Minuten bestanden, die gestemmt werden mussten, eine nach der anderen, nach diesen ersten Wochen nickte Hélène Pannier und gab ihr d’accord. Es sieht jetzt gut aus. Weiter so, sagte sie. Und dann aber doch: „Lasset ihn bald taufen, auf alle Fälle jedenfalls.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte Käthe etwas gelernt, was sie in eine Maxime verwandelte: Man muss alles versuchen, wirklich alles, was nur irgend möglich ist, bevor man verzweifelt oder aufgibt. So viele Wege führen zum Ziel, wenn der eine nichts ist, dann versucht man eben den nächsten.

6

Diese Maxime wurde auch für Georg wichtig. Aber prinzipiell neigte Georg nicht dazu, sich Maximen zuzulegen. Er entschied viel lieber spontan und ganz dem Augenblick verpflichtet. So passten die beiden eben einerseits zusammen und andrerseits wieder nicht, so wie es den meisten Paaren ergeht, und man muss irgendeinen Weg finden. Wechselseitiges Nachgeben. Streit bis zur Überzeugung oder Überredung eines Partners durch den anderen. Rückzug eines jeden auf seine Position, Rücken gegen Rücken stehen. Oder gar auseinandergehen. Für eine Zeit, eine kurze, eine lange, für den Rest des Lebens.

Georg sah Käthe wenig in diesen Tagen. Wenn er kam, nahm er den Kleinen auf den Arm, er machte es beherzt und geschickt, so als ob es eine Selbstverständlichkeit für ihn wäre, und das gefiel Käthe an ihrem Mann, dieses Zupackende. Er war vernarrt in seinen Sohn. Die Sorge, dass er zu schwach sein könnte, um zu bleiben, kannte er nicht oder er verbarg sie so tief in seinem Inneren, dass sie noch nicht einmal einen Anflug von Schatten auf sein Gesicht werfen konnte.

Eine Woche, zwei, drei. Wie sollte es jetzt weitergehen? Bald war März, das war der Zeitpunkt, wo man spätestens wissen sollte, wo man im Sommer arbeiten würde.

„Der Albert hat mir geschrieben. Er hat was für uns, Käthe. Drüben überm Rhein, in Badenweiler. Kurhaus. Also keine schlechte Adresse. Der alte Pächter macht’s vielleicht nicht mehr lang. Wir wollen uns das anschauen, mit Blick auf die Zukunft, verstehst du? Es ist eine Riesenchance.“

Käthe hatte wirklich gehofft, dass sie über den Rhein zurückgingen, mehr in die Nähe seiner Familie. Sie hatte gehofft, den Kleinen dort unterzubringen, jedenfalls in den Stunden, in denen auch sie wieder arbeiten wollte und musste. Und so stellte sie nun fest, dass Georg schon Pläne hatte, die er nicht mit ihr, sondern mit seinem Bruder geschmiedet hatte.

Georg und sein Bruder Albert waren ein Gespann, von frühester Kindheit an.

Schon zu Hause rückten sie zusammen, nachdem der kleine Johann Jakob, der zwischen ihnen geboren wurde, starb mit nur drei Jahren. Als die Mutter den kranken Bruder aus dem Bett nahm, das er mit Albert teilte, schlüpfte Georg hinein in die Hitze seines Fiebers und kuschelte sich an den Rücken des zwei Jahre älteren Bruders. Da waren sie zwei und vier Jahre alt. Von da an waren sie unzertrennlich. Georg half mit beim Wegsammeln der Grumpen, der nicht brauchbaren Blätter der Tabakpflanzen, als die Eltern das von Albert verlangten. Weg mussten sie, damit sie nicht nass dort liegen blieben, schimmelten und die Sandblätter verdarben, die edleren, größeren, die später als Umblätter für die Einlagen dienen würden und das meiste Geld brachten. Georg tat es vor allem, um dem Bruder nah zu bleiben. Zu diesem Zeitpunkt war er sechs und Albert acht Jahre alt.

Seit Generationen verdienten sich die Hugs ihr Brot als Tabakbauern, lebten recht und schlecht davon, so wie fast alle im Dorf, dort in der Ebene, nahe dem Rhein, wo man im Sommer manchmal meinen konnte, man wohne in Afrika. Manches Kindchen starb an einem Mückenstich, der sich von einem kleinen rosa Punkt in einen tellergroßen harten scharlachroten Plätzer mit rotem Stiel verwandeln konnte, eine giftige Quaddel, schwanger mit einem Todeskeim. Das nämlich war dem kleinen Johann Jakob passiert, dem Jaköble, wie sie ihn genannt hatten; alle, die Eltern, der Ernst, der David und der Albert, der gerade die ersten selbständigen Schritte getan hatte, waren sie begeistert um das neue Kindchen herumgestanden, als es zum ersten Mal seine Augen parallel schalten und auf die Augen seines Gegenübers richten konnte, als es begann, den zahnlosen Mund in einem breiten Lächeln zu öffnen, und als es schließlich in ein Lachgrunzen ausbrach, wenn man ihm mit den Fingern auf dem Bauch herumdrückte oder am Ohrläppchen zog. Es war für die älteren Söhne der Hugs, so als ob sie zurückschauen könnten und in ihm die eigene Vergangenheit sähen, eine paradiesische Zeit, in der Mutter und Vater ihr Lächeln und ihre Sanftheit auch auf sie verschwendet hatten, so wie jetzt auf ihn und später dann auf den kleinen Georg, den Johann, die Katharina und noch später auf das neue Jaköble, das auch nur ein paar Wochen bei ihnen blieb. Die Tränen der Sorge und die schluchzende Verzweiflung beim Tod Jakobs des ersten verschaffte den anderen Söhnen von Johann Michael Hug und seiner Frau Catharina Barbara eine Ahnung davon, wieviel auch sie ihren Eltern bedeuteten. Denn das auszusprechen, dazu reichte die Zeit nie, fehlten die Energie, der Frohsinn, die Lebensleichtigkeit.

Trotz dieses frühen Arbeitseinsatzes bestand Frau Hug darauf, dass ihre Söhne Kinder waren und blieben, bis ihre Stimmen zu krächzen begannen und ihre Kinne kantig, die Rücken breiter wurden. Die Mutter wollte, dass jedes ihrer Kinder ein Paar Schuhe hatte, damit es von Oktober bis März in die Dorfschule gehen konnte. Jeder. Die Lederstiefel wurden am Samstagabend geputzt und gewachst, damit sie in der Kirche Gottes Wohlgefallen fanden und damit sie eines Tages weitergereicht werden konnten auf das nachkommende Kind, auch auf die kleine Maria Frieda, die zur großen Befriedigung der Mutter kam und blieb. Eines Tages würde sie in der Küche neben der Mutter stehen und wer weiß, vielleicht musste sie später den alten Eltern den Haushalt führen, wenn ihre Rücken sich gekrümmt und die Gelenke sich schmerzhaft versteift hatten. So geschah das nämlich schon seit Generationen. Ob es gut war oder schlecht, das fragte man nicht. Es war eben so.

Die beiden Jaköble hatten viel zu früh herauswollen aus dem warmen Bauch der Mutter und dann die andere Wärme und die Hitze des frühen Sommers einfach nicht gemocht. Nicht genug Luft zum Atmen hatten sie wohl, als die Schwüle kam. Die Mutter weinte still vor sich hin in ihrem Bett, in dem sie ihr totes Kind einen ganzen Tag lang betrauerte, bis man es ihr gewaltsam wegnahm, bis ihr Mann ihr von seinem kostbaren Zwetschgenschnaps ein und ein zweites und noch zwei weitere Gläser voll einflößte und sich eine Weile zu ihr setzte, Hand in Hand mit ihr auf die Ruhe der Einsicht in diese so alltägliche Auflad’ wartend. Der Herrgott gibt’s und nimmt’s halt wieder. Wir Menschen sollten nicht zu viel Getue um den Einzelnen machen. Das Leben ist doch hart genug. Man muss es einfach hinter sich bringen.

Die Schuhe und die feinen Westchen für den Sonntag, die schön gestrickten Pullover mit den raffinierten Mustern, die sie unverwechselbar machten. Der Strich einer Bürste über jedes der braunen Köpfchen, bevor es am Sonntag in die Kirche ging, das alles und dann die Erzählungen der Catharina Barbara aus der Zeit, als sie beim Oberamtsrichter Eichrodt im Haushalt angestellt war, das waren Georgs und Alberts gemeinsame Erinnerungen.

Der Eichrodt’sche Haushalt erschien in vielen Geschichten, die Catharina ihren Kindern erzählte. Seine Familie, inklusive der Dienerschaft, versammelte der Herr am Sonntagnachmittag um sich und las ihnen seine Gedichte vor. Beobachtete scharf ihre Reaktion und – darauf schwor die spätere Frau Hug einen heiligen Eid – veränderte sie, wenn man nicht lachte oder nicht das Gesicht staunend verzog, gerade so, wie er es eben wollte und sich erhoffte.

„Was ist die Gotteswelt doch schön, wenn man gerade Glieder hat, gut hören tut und richtig sehn, so schön ist es in keiner Stadt.“

Das konnte die Mutter auswendig, das konnten auch Georg und Albert auswendig und sagten es sich vor, manchmal, wenn es sie in eine große Stadt verschlug, nach Paris, nach Berlin, nach London, und sie sich ein bisschen einsam fühlten, ein bisschen aufgeweicht von Heimweh nach den Rheinauen und dem Geratsche der Schwäne oder dem Klackern der jungen Kröten im sumpfigen Gras.

7

Badenweiler, also. Heimatluft fast gar, obwohl weiter drinnen gelegen, schon am Rand zu den Tannenhängen hin, am Saum der Weinberge, inmitten der Zwetschgenbäume vielleicht, ein nobles Haus mit Ausblick? Nein, das nicht. Eher mittendrin, nämlich im Kurhaus Restaurant, denk dir bloß.

Für uns sagte Georg. Wie stellte er sich das denn vor?

„Der Albert hat uns im Paket angeboten, Dich, mich und sich selbst. Sommelier, Maître de Salle und Kaltmamsell.“

„Und der Kleine?“

„Ich habe mit Fried gesprochen. Er und Mine würden ihn hier behalten. Wir würden sie dafür bezahlen. Sie bekommen Hilfe von Lorchen Freitag, dem Küchenmädchen, und auch die Pannier wird ihn stundenweise übernehmen können, wenn die anderen beiden beschäftigt sind. Er ist ja noch so klein, nicht mehr als ein kleines Hündchen. Was er braucht, ist einfach nur, dass man ihn füttert und sauber macht. Es ist doch nur für zwölf Wochen. Schau ihn dir an, wie zufrieden er aussieht, wenn die Mine ihn hält. Er lacht genauso, wenn sie ihn nimmt, wie wenn ich oder du ihn nehmen. Er braucht nur gute Pflege, egal von wem.“

Egal von wem? Käthe war verärgert. Verbittert sogar. Achtete er die Mutterschaft so gering? Was bedeutete ihm sein Sohn eigentlich? War er nur ein kleiner Fortsatz seiner selbst, etwas, das er irgendwo ablegen konnte, wo es gut gepflegt wurde, so wie er seine Kleider richten und seine Schuhe wichsen ließ?

Sie musste darüber schlafen. Musste sich an die Idee gewöhnen, ihren Sohn herzugeben, nicht so auf dem Arm rumtragen und neben sich ins Bett legen zu können, wie sie es jetzt tat. Wie oft würde sie kommen können, um ihn zu sehen? Einmal im Monat allenfalls. Sie bräuchte einen ganzen Tag dafür und wie oft hat man einen ganzen freien Tag?

„Ach“, sagte Mine und ein strahlendes Lächeln breitete sich aus auf ihrem kleinen runden Gesicht, „ ich würde ihn hegen und pflegen wie mein eigenes.“

Daran gab es nichts zu zweifeln. Sie hatte es schon bewiesen und Fried stand an ihrer Seite, man konnte es deutlich sehen.

In Käthes Zögern hinein erzählte sie nun wieder einmal von ihrem großen Kummer, dass sie seit Jahren schon wartete auf ein eigenes Kindchen, das sich einfach nicht einstellen wollte. Und so hatte sie das Gefühl, mit dem kleinen Willi machte das Schicksal ihr ein Angebot.

Sie rechneten und dachten nach, dann legten sie die Pläne weg, so als ob man sie auf ein Papier geschrieben hätte, und werkelten weiter vor sich hin.

Inzwischen führte Käthe den Haushalt, kochte für alle, zauberte etwas aus dem, was Mine und Fried und manchmal auch Georg mitbrachten aus der Küche des Bristol und dazukauften in der Fressgasse. Nicht nur Desserts, das war klar, sie kochte auch Baeckeoffe, Gaisburger Marsch, Linseneintopf und irgendwann ein herrliches Boeuf Bourguignon, da aßen sie drei Tage davon. Georg kam so oft er konnte und sah zufrieden aus. Für ihn lag die Zukunft klar voraus. Die Berichte von der Front irritierten ihn nicht. Mit dem Krieg hatte er nichts zu tun. Es war immer noch nicht sein Krieg. Auch Fried brauchte sich nicht zu fürchten. Er hatte sich an den falschen Herrn gehängt, einen, der im deutschen Heer keine gute Reputation mehr hatte, Fried hatte zu deutlich gezeigt, wie sehr er ihn respektierte und bewunderte, damit war er im Heer nicht mehr erwünscht.

8

Friedrich kam aus Konstanz am Bodensee. Er war dort als Sohn eines angesehenen und talentierten Schusters geboren worden. Leider hatte Friedrich, der älteste Sohn, das Talent des Vaters nicht geerbt. Dennoch besaß er den umgänglichen Ton des alten Frei und dazu eine Begabung zu Respekt und Loyalität. Ein Zufall bescherte ihm eines Tages eine Stelle als Hausdiener beim Fürsten Hermann Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, der mit seiner Frau, der badischen Prinzessin Leopoldine, und den Kindern am schönen Seeufer in der Sommerfrische weilte und sich die Jagdstiefel neu besohlen ließ. Das war gerade zu der Zeit, als dieser 1894 als Nachfolger Chlodwigs zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Statthalter des Reichslandes Elsass-Lothringen berufen wurde. Mit seinem Amt übergab der Langenburger dann im Jahr 1907 auch seinen Burschen Friedrich Frei an seinen Nachfolger, den neuen Reichsstatthalter Karl von Wedel. Nun war Friedrich Militär. Er war für die Kleidung und Stiefel des Herrn von Wedel verantwortlich, stand ihm näher fast als die eigene Frau und bekam viel mit vom Wohl und Weh seines Herrn. So auch dessen sich aufbäumende Wut über das Verhalten des deutschen Militärs gegenüber den elsässischen Soldaten im Reichsland Elsass-Lothringen. Die damalige Situation eskalierte in der bereits erwähnten Zabernaffäre. Friedrichs Herr, Karl von Wedel, empörte sich zu Hause in seiner Stube lautstark über die Instinktlosigkeit dieses jungen arroganten Kerls, Leutnant Forster, der nach und nach eine ganze Reihe seiner Kameraden hinter sich gebracht und eine regelrechte Hetz-Kampagne gegen die elsässischen Soldaten losgetreten hatte. Er betrachtete die „Wackes“ als minderwertig, ohne das zu begründen, so wie der Kaiser auch Wert und Unwert von Menschen und anderen Nationen je nach Gutdünken gewichtete. Der junge Forster bewegte sich also in einem Trend, der gerade erst keimte und sich noch aufbäumen sollte in diesem Jahrhundert zu einer Apokalypse von ungeahntem Ausmaß.

Karl von Wedel war ein pensionierter General, der sein Leben lang seine Pflicht getan hatte, ganz dem alten hierarchischen Staatskonzept verpflichtet. Vor allem war er ein Ehrenmann von altem Schlag und ein guter Christ. Jeder Mensch, wo immer er stand, und mochte man das auch oben und unten nennen, hatte für ihn einen Wert an sich. Als Geschöpf Gottes, als Mitgeschöpf, das die Achtung jedes anderen Menschen verdient. Wieviel mehr noch verdiente ein armes Menschenkind, ein verkrüppelter Mann, Rücksicht – ach, es brachte ihn zum Schäumen, wenn er die Berichte der Vorfälle nachlas. Der gehbehinderte Schustergesell Jacques Taillier hatte Forster nicht schnell genug entkommen können, als dieser einen Auflauf von Fabrikarbeitern, die sich gegen die deutschen Frechheiten wehrten, zerstreuen ließ und dabei eifrig mithalf. Taillier wurde vom Säbel des Leutnants niedergestreckt und dabei schwer am Kopf verletzt. Statt die Rechte dieses armen geschundenen Menschen zu verteidigen, wurde nun vom Gericht Forsters Handeln sanktioniert. Wedel hatte zuvor schon dringend empfohlen, den Störenfried und Aufrührer Forster wegzukommandieren und damit die Keimzelle der Unruhen auszumerzen. Er hatte hinter verschlossenen Türen sicher noch mehr erklärt und appelliert an das Verständnis derjenigen, die mit ihm auf Augenhöhe sprachen, dem Regimentskommandeur von Reuter, dem Kommandierenden General von Deimling und anderen, deren Namen verschwunden sind, aber diese waren kaisertreu in jeglicher Hinsicht. Sie glaubten, einer großen Sache zu dienen, und es kam ihnen gelegen, sich Karl von Wedel, der ihre möglicherweise schwelenden eigenen Gewissensbisse inkarnierte, vom Hals zu schaffen.

Friedrich war ein aufgeschlossener Mensch, er gab gerne Auskunft über das, was er dachte, was er für richtig hielt oder falsch. Seine Meinung richtete er aus nach derjenigen seines von ihm sehr verehrten und wertgeschätzten Dienstherrn. So ergab sich eins zum anderen und als Karl von Wedel seinen Posten abgeben musste, war Friedrich, sein Schatten und Sprachrohr, mit ihm eine Unperson geworden. Da kam die Rettung durch Mine, seine ihm angetraute Ehefrau seit sieben Jahren. Sie brachte ihn unter in dem Hotel, wo sie lange schon als Mädchen für alles ein stilles kleines Regiment in den Wäsche- und Abstellkammern führte, schmerzlich vermisst an jedem ihrer freien Tage. Friedrich begann im Bristol als Hausdiener, nur wenige Monate bevor Georg dort seinen Dienst antrat.

Wenn man nun noch wusste, dass Wilhelmine Frei, geborene Ponard, aus La Petite-Pierre stammte, einer Verbindung des ortsansässigen Schreiners Ponard mit einer jungen schönen Frau aus Meersburg am Bodensee entsprossen, die das Schicksal als Kind einer Ferienfamilie in das idyllische Burgstädtchen gelockt und so dem jungen Ponard ans Herz gelegt hatte, dann kannte man auch Mines Herkunft. Ihre Tante Monique väterlicherseits hatte sie als Dreizehnjährige in die Hauptstadt des Reichslandes mitgenommen und im Bristol untergebracht, zuerst nur um Gemüse zu schälen.

So trafen sie also in Straßburg zusammen, die vier Menschen, die für die ersten Jahre des kleinen Willi die wichtigsten waren. Wie einen Kieselstein rieben sie ihn sanft zwischen sich, schliffen ihn zu einer noch groben und unklaren Form, deren Unverwechselbarkeit jedoch mit jedem seiner Lebenstage deutlicher wurde.

Sie waren sich in vielem einig. In ihrer Achtung vor anderen Menschen, wie gering oder auch wie hoch oben sie angesiedelt sein mochten auf der gesellschaftlichen Pyramide. Sie hassten den Krieg, das Hurra-Schreien der Soldaten und Offiziere. Sie liebten den geschmeidigen Ablauf der vielen ineinander greifenden täglichen Verrichtungen des Hotelpersonals. Die große Halle, die glänzend gewienerten Gänge, die flutenden vorderen Treppenaufgänge und die gewundenen engen Stiegen im Hinterhaus, das ausgelegte Silber, die steif gestärkten Servietten, den Tischdamast, die Kerzen, oh ja, die vielen schönen herrlich duftenden Kerzen in den Leuchtern; das ganze Räderwerk des Hotels, das war ihre Welt. Das war die Luft, die sie brauchten zum Leben, alle vier.

Sie liebten äußere Ordnung, ein gutes Essen zur Mittagszeit. Sie liebten es, Pläne zu schmieden, und sie konnten dabei leicht ihren Horizont beliebig dehnen über das augenblicklich Sichtbare hinaus. Nun hatten sie noch ein viel größeres gemeinsames Interesse: das Kind. Sie liebten den kleinen Willi, jeder auf seine Weise. Genug Liebe umfing ihn also, genug Pflege bekam er auch. Deshalb hob er bald schon sein Köpfchen, auf dem ihm ein weißblonder Flaum wuchs, der zu Kringeln und Wellen neigte so wie die goldbraunen Haare seiner Mutter; auch seine Augen nahmen die melancholische Ernsthaftigkeit des mütterlichen Blickes an, seine Gliedmaßen blieben zart. Er kam zum Sitzen, zog sich an Stühlen hoch und stellte sich auf seine Beinchen, und dann eines Tages ließ er den Halt los, drehte sich um und stolperte schwankend in Mines Arme, die vor Glück aufjauchzte.

Alle vier waren aufgeschlossen, kontaktfreudig, liefen mit offenen Augen und Ohren durch die Welt, nie verlegen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und Lösungen zu sehen, wo andere nur Probleme vermuteten.