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MARTIN VON ARNDT

 

RATTENLINIEN

 

KRIMINALROMAN

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Oktober 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag, unter Verwendung eines Fotos von © Werner Schwab

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-748-3

 

Inhalt

Prolog

Teil 1

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Zwischenstück

7.

8.

9.

10.

Zwischenstück

Teil 2

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

Zwischenstück

18.

Teil 3

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

Ganz herzlichen Dank an …

Zitate, die ich verwendet habe

Glossar

Übersetzungen

Der Autor

 

 

Prolog

Hammel weinen, wenn sie ahnen, dass sie zur Schlachtbank geführt werden.

Ein jäher Schmerz an der linken Stirnseite. – Warum dachte er an weinende Hammel?

Weil ihm selbst eine Flüssigkeit aus den Augen rann. Weil seine Mutter ihm von den Hammeln erzählt hatte, und er immer an seine Mutter dachte, wenn er seinen Tod erwartete. Oder weil die Stille nach dem Schlag beruhigend war wie ein Wiegenlied.

Der Schmerz am Stirnknochen. Ansonsten fühlte er sich merkwürdig leicht, sah für einen Moment den Himmel über sich, der sich hell aus den Silhouetten der Häuserdächer herausschälte. Der Mond war eine bleiche Sichel aus Stanniol, Weihnachtsmond, trauriger, silberner Weihnachtsmond. Dann schloss sich eine Hand um seinen Mantelkragen, man hob seinen Oberkörper an. Aus dem Häusergeviert sah er eine Faust auf sein Gesicht zukommen. Zwei schwere Ringe, beide an einem Finger. Kein weiteres Geräusch.

 

Später war da zuerst die Zunge. Erwachte aus ihrer Taubheit, ein Geschmack nach Blut und Eisen. Tastete sich von innen an den Lippen entlang, die wund waren, aufgeplatzt.

Fehlte ein Zahn? Wühlen der Zungenspitze. – Nein.

Die Nase? Gebrochen? Er kräuselte sie sachte. – Nein.

Irgendwann hatte er all seine Sinne und Glieder wieder beisammen. Und mit ihnen die Ereignisse, die zu seinem Niederschlag geführt hatten.

Sein Kopf dröhnte, das tiefe Pulsieren verließ allmählich die Stirn, er hielt die Augen geschlossen, unterschied zwei Stimmen. Unverständliche Worte, nicht deutsch, nicht italienisch. Keine ihm bekannte Sprache, mit keiner ihm bekannten verwandt. Sie konnten nicht allzu weit entfernt sein, zehn Meter. Höchstens.

Vom Kopf bis zu den Füßen spürte er einen Widerstand, also lag er. Auf der linken Körperseite. Er fühlte die Fesseln in seine Handgelenke einschneiden, die Beine konnte er frei bewegen, die Hände waren hinter dem Körper zusammengebunden.

Er begann zu blinzeln, sah zwei Männer vor sich an einem Tisch sitzen. Lang und schlaksig, Wintermäntel, Atemwolken vor dem Gesicht. Vom Größeren nahm er einen Blick auf, der blickte den Kleineren an, dann schauten beide zu ihm, grinsten, zuckten mit den Schultern, fingen wieder an zu reden.

Sie spielten Karten.

Er sah sich um, soweit das seine Lage zuließ. Er befand sich in einem holzverkleideten Raum. Sehr grob behauenes Holz. Eine Hütte. Durch die Ritzen pfiff der Wind. Eine Tür, ihm gegenüber, hinter dem Tisch. Ein Fenster, halb verrammelt. Ein wenig Licht drang ein, schwer zu sagen, ob das der Mond oder die Morgendämmerung war.

Er machte eine Bewegung, um sich auf den Ellbogen abzustützen, doch die Schmerzen im Kopf ließen ihn zurückfallen. Die Männer lachten. Es verging einige Zeit, bis er sich, unter Zuhilfenahme von linkem Knie und rechtem Fußgelenk, abermals aufzurichten begann. Sein Gewicht ruhte jetzt auf dem linken Ellbogen.

»Wer seid ihr?«, fragte er auf Italienisch.

Keine Reaktion.

»Was wollt ihr?«

Die beiden spielten ungerührt weiter, aber sie sprachen nicht mehr.

»Geld? Wollt ihr Geld?«

Noch immer Schweigen. In der Ferne hörte er einen Hund anschlagen.

»Versteht ihr mich überhaupt?«

Er wiederholte seine Frage auf Deutsch, schließlich auf Englisch. Die Männer sahen einander an, der Größere stand auf, kam auf ihn zu und gab ihm eine Ohrfeige. Sie war so stark, dass er zurückprallte, mit dem Hinterkopf gegen eine Holzkante fiel und zum zweiten Mal das Bewusstsein verlor.

 

Er fand sich in einem Ertrinkungstraum wieder. Jemand hatte ihm den Kopf unter Wasser gestoßen. Er war ein kleiner Junge, konnte sich nicht wehren. Seine Finger griffen ins Leere. Plötzlich fuhr er hoch, schlug die Augen auf. Man hatte ihm Wasser ins Gesicht geschüttet, vier Hände zerrten ihn vom Boden auf einen Stuhl und setzten ihn ab. Einer, dessen Gesicht er noch nicht gesehen hatte, drehte den Stuhl zu sich. Pockennarben, dort, wo sein wild wachsender dunkler Bart nicht wucherte. Stämmig, noch größer als die anderen, und wie sie schätzte er ihn auf Mitte, Ende zwanzig. Der Pockennarbige hielt eine Schöpfkelle in der Hand, bediente sich aus einem breitrandigen Krug und sagte mit starkem Akzent auf Deutsch: »Wasser?«

Er sperrte mechanisch den Mund auf, doch die Schöpfkelle war zu hoch angesetzt, und der größte Teil der Flüssigkeit rann an seinen Wangen herab; immerhin konnte er so viel mit seiner Zunge retten, dass ihn dieser Rest erfrischte.

»Wer bist du?«

»Steiner, Andreas. 1885 in Berlin geboren. Ich arbeite für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.«

Kurz bevor die Handfläche auf seine Wange traf, sah er die Bewegung kommen, erkannte die Ringe wieder. Sie gehörten zu der Faust, die ihn gestern Abend niedergeschlagen hatte. Falls inzwischen nicht mehr Zeit vergangen war.

»Für wen arbeitest du?«

»Für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.«

Ein Faustschlag von hinten, in die Nieren.

»Wer bist du?«

»Andreas Steiner.«

Er wurde nicht müde, Name und Beruf, die der amerikanische Geheimdienst in seinen Ausweis geschrieben hatte, zu wiederholen. Jedes Mal erhielt er einen Schlag. Er spürte, wie ihm Blut aus den Mundwinkeln und der Nase rann. Die Lippen schmerzten am meisten, erste Heilungsprozesse hatten eingesetzt, jetzt platzten sie wieder auf.

Er atmete flach, gegen die Schmerzen in den Nieren an.

Sein Standvermögen war noch immer brauchbar. Vielleicht lag es schlicht daran, dass er zahlreiche Gestapoverhöre überlebt hatte. Gegen die nahm sich das hier aus wie eine harmlose Kneipenrauferei.

Irgendwann machte der Pockennarbige ein Zeichen in Richtung seiner Gehilfen, verließ die Hütte, der Kleinste folgte ihm. Der mit den zwei Ringen war direkt vor ihm stehen geblieben, starrte ihm wie hypnotisiert ins Gesicht.

»Nicht mitbekommen? Herrchen ist schon weg!«

Kurz bevor ihn die nächste Ohrfeige traf, hörte er von draußen den Ruf »Zdravko!«

Allein zurückgeblieben, zerrte er an dem Seil. Die Verschlingungen um die Handgelenke saßen fest, aber er spürte eine Bewegung zwischen dem Knoten rechts und dem links, dazwischen hatte er jetzt zehn, vielleicht fünfzehn Zentimeter Leine. Als die Tür wieder aufging, sah er, dass der Morgen noch nicht dämmerte. Es war der Mond, der durch das Fenster schimmerte.

Dann kehrten die Männer wieder, bauten sich vor ihm auf. Der Pockennarbige sagte etwas, Zdravko zog ein Messer und schnitt ihm Mantel- und Hemdärmel bis zur Armbeuge auf. Sein Chef klopfte die Venen am Unterarm ab. »Schau, schau, Opa ist kein Kostverächter«, sagte er in fehlerfreiem Deutsch, aus dem nur der Akzent hervorstach, »diese Schläuche haben guten Stoff gekostet. Länger nicht mehr drauf gewesen, hm? Sollen wir dir etwas Gutes tun, kleines Wahrheitsserum?«

»Nein, nein!«, schrie er, während ihn zwei Männer auf dem Stuhl bändigten und ihr Chef eine Spritze aufzog.

Das Opiat, das man ihm in die Blutbahn jagte, nahm umgehend seine wühlende Arbeit auf. Ihm brach der Schweiß aus, er warf sich hin und her. Doch entweder lag es am jahrelangen Entzug, oder sie hatten ihm zu viel gespritzt: Momente später – der Chef hatte kaum begonnen, die Fragen nach seinem Namen und Auftraggeber wieder aufzunehmen – wurde er ohnmächtig und erschlaffte in den Händen seiner Entführer.

 

Er kehrte mit einem Schrei in die Gegenwart zurück.

Der Kleinste war mit ihm allein in der Hütte, saß am Tisch, las in einer Zeitung. Dann sah er zu ihm her, spuckte einige Worte zwischen den Zähnen hervor und drehte den Stuhl um, sodass er ihm den Rücken wies.

Er konzentrierte sich darauf, dass es eine fließende Bewegung würde, ließ die Handfesseln übers Gesäß in die Kniekehlen gleiten, wälzte sich aufs Kreuz und schob die Hände unter den Stiefeln hindurch; winkelte das rechte Bein an, hievte sich in die Hocke, dann stürzte er nach vorn und schlang dem Überrumpelten das lose Zwischenstück seiner Handfessel um den Hals. Er zog zu. Der andere ruderte auf seinem Stuhl, griff nach dem Seil, konnte dessen Spannung nicht lockern. Eine heftig ausgeführte Drehbewegung riss beide zu Boden. Zwar kam er unter seinem Entführer zu liegen, doch zog er weiterhin mit aller Kraft an dem Seil. Ein Röcheln, eine Spannung, die den Leib vor ihm durchfloss, dann erlosch jede Bewegung, wurde das Gewicht, das auf ihm ruhte, schwer und immer schwerer.

Er löste die Fessel vom Hals seines Entführers, schob ihn von sich. Der Kopf schlug hart auf die Holzdielen auf. Er beugte sich über den anderen und stellte fest, dass er ihn bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hatte, stand auf, atmete mit rasselnden Lungen, ging zum Tisch und durchsuchte dessen Schublade nach dem Messer. Nachdem er fündig geworden war, schnitt er seine Fesseln mit einiger Mühe auf, griff nach dem Krug, trank und ließ etwas von dem Wasser über seine aufgeschürften Handgelenke fließen. Er tastete seinen Entführer nach Schusswaffen ab, fand keine, ging ans Fenster und hob eines der morschen Holzbretter an. Draußen war es taghell. Soweit er sehen konnte: niemand. Um ihn herum offenes Gelände.

Zurück am Tisch nahm er das Messer an sich und bewegte sich langsam auf die Tür zu. Sie war verschlossen, ließ sich aber über und unter dem Schloss leicht andrücken. Zwei Meter Anlauf – er rammte die Tür auf und begann zu rennen.

Herz und Blutkreislauf waren träge Tiere, kamen kaum hinterher, er hörte sich selbst japsen. Wenigstens hielt die Wirkung des Morphiums seine Schmerzen im Griff.

Er jagte fünfzig, sechzig Schritte über einen offenen, verschneiten Hügelkamm abwärts in die Deckung einer zweiten, kleineren Hütte. Dort versuchte er zu Atem zu kommen, umklammerte das Messer fester. Er drehte sich um eine Hausecke und hörte eine Stimme rufen: »Zdravko: nalijevo!«

Das Durchladen zweier Pistolen.

 

Teil 1

Genießt den Krieg, der Friede wird furchtbar sein.

(Deutsches Sprichwort)

 

1.

Zwei Wochen zuvor

 

Es war ein herrschaftliches Haus. Immer wenn er nach dem Spaziergang mit den Hunden an dessen Front entlangschlenderte und den Blick nach oben schweifen ließ, dachte er an die Villa im Grunewald, die sein Vater nach ihrer Rückkehr aus Italien gekauft hatte. Wäre er gebürtiger Amerikaner gewesen, hätte es ihn vermutlich an den Präsidentensitz vor seinem Umbau erinnert: ein Gebäude mit unzähligen Zierpfeilern und einer Rotunde am Haupteingang, zu der blank polierte Treppen hi­naufführten und deren Decke von vier riesenhaften weißen Säulen getragen wurde – eine durch und durch naiv anmutende Vereinigung von griechischem Tempel und britischem Gutshaus. Es verkörperte nahezu perfekt, was dieses Amerika war: eine Spielwiese für die Unbedarften, für die Glückssucher, und der große Rest, zu dem er sich selbst zählte, musste wenigstens keinen Eintritt für den Park berappen.

Diese Villa war seit fast zwölf Jahren seine Heimatadresse: Arlington County, USA, gleichsam in Rufweite zum Pentagon, dem Sitz des neuen Kriegsministeriums. Und seit zwölf Jahren war er Staatsbürger des Landes, das den Krieg gewonnen hatte, das mit einer intensiven, mehr oder weniger »cleanen« Kraftanstrengung das alte Europa, ja, die Welt gerettet hatte. »Clean« war das richtige Wort, in jeder Hinsicht: Die Villa, der Park um sie herum, die Vorstadt, die sich vor ihnen erstreckte, waren clean. Selbst das Wetter war clean, sommers warm, ohne aufdringlich zu sein, winters lau, mit genau ausreichendem Schneefall, um Kinder glücklich zu stimmen, und der Herbst sammelte Laub, das niemandem lästig war, vielmehr die Farbpalette des städtischen Horizonts bereicherte. All dies war ein Traum von säuglingshafter Hygiene und Geborgenheit, und hätte Andreas Eckart jemanden gehabt, dem er hätte schreiben, für den er seine ganze, tief empfundene Undankbarkeit hätte in Worte fassen können, wäre alles anders gekommen. So aber war er mehr oder weniger abgetaucht, um ein wenig nach sich und dem Rechten zu sehen. Das Rechte hatte er für gut, sich selbst für angezählt befunden. Regelmäßig wiederkehrende Phasen von nervösem Erbrechen hatten zu einem kaum ausgeheilten Magengeschwür geführt. Der nächste Schritt, darin war er sicher, würde den Krebs bringen, der das Morphium, und dann hätte er ohnehin alles hinter sich.

Eckart sah aus dem Fenster in den spätherbstlichen Park. Draußen war ein Hausangestellter mit dem Vertikutieren des Rasens beschäftigt, seine Bewegungen wirkten seltsam unflüssig, wie die eines Boxers, dessen Schläge auf der Hälfte des Weges in der Luft versackten. Dann zwang er seine Aufmerksamkeit zurück auf die vor ihm stehende Schreibmaschine und das Buch mit den vielen handschriftlichen Markierungen, das er an den Rand des Tisches gerückt hatte. Eckart war ein groß gewachsener und durch sein Magenleiden noch immer schlanker, beinahe ein wenig ausgemergelt wirkender Mann von sechzig Jahren. Er hatte, außer an den Schläfen, wo es vollständig silbergrau schimmerte, noch immer fast nachtschwarzes Haar, ein grünes und ein braunes Auge; eine eigentümlich fahle Gesichtsfarbe trug dazu bei, dass sich die Augenränder, die er auch dann hatte, wenn er einmal ausgeschlafen war, noch dunkler ausnahmen. Selbst wenn er frisch rasiert war, sah man einen blauen Bartschatten in seinem Gesicht. Man schätzte ihn gemeinhin jünger, weil seine ganze Körperspannung etwas Drahtiges hatte, den ehemaligen Polizisten verriet, der auf den Straßen Berlins unterwegs gewesen war und seinem Körper viel abverlangt hatte.

Nachdem er einige Zeilen des Buches überflogen hatte, begann Eckart zu tippen. Dabei hielt er immer wieder inne, weil er nur ein Drei-Finger-Suchsystem mit der linken Hand beherrschte. Außerdem hingen einige Typenhebel, die wichtigsten der englischen Sprache, fanden den Weg zu ihrem Ausgangspunkt nicht mehr, sodass sie sich, bei schnellerer Handhabung, mit ihren Nachbarbuchstaben verkeilten und er sie erst mühsam wieder aus der Konfrontation lösen und zu ihrem angestammten Platz zurückführen musste.

Solange er die Unzulänglichkeiten bei der Arbeit auf die Maschine schieben konnte, musste er sich wenigstens nicht über sein Englisch ärgern, das er erst nach seiner Auswanderung aus Deutschland erlernt und ihn, den Sohn einer Römerin und eines Berliners, der mit den weichen Lauten der italienischen Sprache aufgewachsen war, enorme Mühen gekostet hatte. Um einigermaßen überprüfbare Fortschritte zu machen, hatte er damit begonnen, deutsche Bücher ins Englische zu übersetzen. Nachdem Amerika Deutschland den Krieg erklärt hatte, war es zu seiner einzigen Beschäftigung geworden, die er auch nicht unterbrach, als dann der Krieg endete und die Riege derjenigen Deutschen, deretwegen er das Land verlassen hatte, zum Teufel gejagt wurde. Eckart war einmal ein politischer Mensch gewesen, doch diese Zeiten waren vorbei.

Er stutzte, lehnte sich nach vorn und versuchte, möglichst ohne Druckerschwärze abzubekommen, die Liebkosung von »W« und »S« zu lösen, als es an der Tür pochte. Eckart sah auf, zog seine Taschenuhr, ein Erbstück seines Vaters, und fand, dass es für den Tee doch etwas zu früh war. Noch bevor er »Herein« rufen konnte, trat Liam ein und hielt eine halb geschälte Orange in der Hand.

Liam Ciskey, ehemaliger amerikanischer Botschaftsangestellter in Berlin, war wenige Jahre jünger als Eckart, ebenso eingefleischter Junggeselle und wenig motiviert, an diesem komfortablen Zustand etwas zu ändern. Ein gemeinsamer Bekannter hatte ihn einmal das »Liebeskind von Errol Flynn und einer Schleiereule« genannt. Vom umschwärmten Schauspieler hatte er Bärtchen, Haare und Gesichtsschnitt, Mutter Eule steuerte Augen und Nase bei. Immerhin verlieh sie seinem Gesicht dadurch den nötigen Ernst, der seinem Charakter ansonsten vollkommen abzugehen schien. Er war klein und gedrungen, im Stehen nur um ein weniges größer als sein sitzender deutscher Freund.

Eckart hatte Liam 1932 im Rahmen eines Botschaftsempfangs kennengelernt, für dessen Sicherheit er zuständig gewesen war. Er hatte einen angespannten Abend hinter sich, als er den Amerikaner, dessen vorherige Stunden ungleich entspannter, da alkoholisierter, vergangen waren, bei seiner Schlusszigarette zufällig vor dem Botschaftsgebäude traf. Sie kamen eher beiläufig ins Gespräch über Sport in Europa und Amerika, aus der einen Zigarette wurde ein Dutzend, und die Herren vom Diplomatischen Corps hatten längst das Gebäude verlassen, als Liam und Eckart sich per Handschlag zu einem Boxkampf am nächsten Wochenende verabredeten, der einzigen Sportart, auf die sich die Männer aus der Alten und der Neuen Welt hatten einigen können. In einer Spelunke im Wedding sahen sie den »Zigeunerkönig« Rukeli Trollmann, der seinen Gegner im Ring nach allen Regeln der Kunst verdrosch und dabei noch das Publikum zum Lachen brachte, indem er in den Kampfpausen Liegestütze absolvierte, um einigermaßen warm zu bleiben. Die kompakte Bierdunstgemütlichkeit und das wie toxisch wirkende Testosteron ließen Liam und Eckart schon an ihrem ersten gemeinsamen Abend Bruderschaft trinken.

Als ein Jahr später Trollmann an einem denkwürdigen Abend der Deutsche Meistertitel, den er sich einwandfrei erboxt hatte, aus rassischen Gründen verweigert wurde, war die Stimmung zwischen den interkontinentalen Freunden schon an einem Punkt, an dem Liam erstmals erklärte: »Wenn’s hier hart auf hart kommt, hol ich dich raus, Andy!«

Es kam hart auf hart.

 

Der Orangenduft wehte ihm in leichten Brisen voraus, als Liam näher trat. Eckart winkte sofort ab, denn er wusste, dass er sonst genötigt würde, von der Frucht zu kosten (»An orange a day …«), und das hätte sein übersäuerter Magen nicht ausgehalten; er beugte sich, Geschäftigkeit vortäuschend, tief über sein Buch, über die Schreibmaschine, anschließend wieder übers Buch. Dann hörte er das Lachen des ehemaligen Botschaftsangehörigen:

»Die Polizei in Preußen von 1815 bis 1849? Jesus!, wer soll das denn lesen wollen, Andy?«

»Na ja, es ist nicht diese Art von Übersetzung«, antwortete Eckart. Er versuchte seine Stimme nicht eingeschnappt klingen zu lassen.

»Nicht diese Art? Was meinst du denn damit? Welchen Sinn haben Übersetzungen, wenn sie niemand liest? Dann können die Bücher doch gleich im Original bleiben.«

»Warum denkt ihr Amerikaner bei allem gleich ans Verkaufen?«

»Weil unsere europäischen Verwandten zu selten daran denken, und einer in der Familie muss die Finanzen im Auge haben. Das Leben hier ist teuer.«

»Wem sagst du das, Liam?!«

Teuer war eindeutig untertrieben. Als Eckart nach seiner Auswanderung mit den Resten seines väterlichen Erbes und dem, was er in seinen Zeiten bei der Berliner Kripo und der Politischen Polizei angespart hatte, in den USA ankam, hatte er keine Vorstellungen davon, wie er seinen Alltag finanzieren würde. Er war froh, aus dem Deutschen Reich entkommen zu sein, in dem man ihm nach dem Leben trachtete, ein Deutschland, für das er einmal, kaum war der erste dieser Weltkriege vorbei, den Kampf aufgenommen hatte, auf dass es ein demokratischer Staat in einem neuen, freien Europa werde. Dann waren alle siegesbesoffen mit ihren Hakenkreuzen in den Untergang gerast, und er saß in einem Vorort von Washington und wunderte sich, welchen materiellen Preis er für seine neue Existenz bezahlen musste. Natürlich wusste er, dass Amerika ein hoch industrialisiertes Land war, solche Länder waren nun einmal teuer, aber ihm schienen es schlicht Phantasiepreise, die man ihm für Miete und Essen abnahm. Nach einem Jahr in den USA hatte er mehr als die Hälfte seines aus Deutschland geretteten Geldes verloren – würde er nicht enden wollen wie viele seiner Landsleute, in einem Armenspital oder mit einem Sprung von der nächstgelegenen Brücke, musste er sich dringend etwas einfallen lassen. Er hätte versuchen können, wieder zu praktizieren, schließlich war er gelernter Nervenarzt, zudem ausgebildeter Psychoanalytiker; aber das war mehr als zwanzig Jahre her, vor dem Ersten Weltkrieg. In der Sprache seiner neuen Heimat würde er keine Analysestunden halten können, ohne die Hälfte der für die Behandlung entscheidenden Wörter, Sätze, Fehlleistungen und Ironien zu verpassen, und die Deutschen, die es hier gab, hatten weder das Geld, einen Analytiker zu bezahlen, noch verstanden sie, wofür diese Behandlung eigentlich gut war. Die meisten endeten einfach im Potomac.

Als Eckart gerade wieder am Anfang seiner Überlegungen stand, rettete ihn Liam, dessen Mutter eben gestorben war. Nach der Beerdigung trafen sie sich zum Leichentrunk in der elterlichen Villa. Liam hatte mit schwerer Schlagseite, die auf seinen geliebten Brandy zurückzuführen war, verkündet, er habe seinen Freund in die USA gelockt und viel zu lang alleingelassen. Damit sei nun endgültig Schluss; deshalb habe er kurzerhand beschlossen, dass Eckart bei ihm einziehen müsse, das Haus sei nach dem Tod der Mutter ohnehin viel zu groß, zu einsam und zu dunkel für ihn. Außerdem brauchte Liam jemanden, der ihm die Hunde abnahm. Die eigenwillige alte Dame hatte ein testamentarisches Bleiberecht für sie verfügt, und da Liam weder wagte, den Willen seiner Mutter anzufechten, noch mit den drei »Bestien« klarkam, die Eckart bei seinem Kondolenzbesuch wunderbarerweise lieb gewonnen zu haben schienen, war neben dem Aufenthalt der Tiere auch der des ehemaligen Kommissars geklärt. Liam hätte es als persönliche Beleidigung betrachtet, wenn dieser sich an den Haushaltskosten beteiligt hätte, und so schrumpfte der Rest von Eckarts Vermögen nicht weiter. Zumindest nicht in erheblichem Maße.

Sein Aufenthalt in Liams Haus sah Hitlers Einmarsch in Polen, einen Blitzkrieg im Westen, den Überfall auf die Sowjetunion, den Angriff auf Pearl Harbor, die Invasion der Normandie, den Untergang der Nazigoldfasanen, Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, und Eckart schickte die Deerhounds in den cleanen Regen, bastelte an seinen Übersetzungen und einem Magengeschwür und war unfähig, an seiner Lebenssituation irgendetwas zu ändern.

 

»Andy, hallo? Jemand zu Hause?«

Liams Worte verklangen. Er hatte sich auf einen freien Stuhl neben dem Schreibtisch gesetzt und biss in seine Orange.

»Hm?«

»Ob du in dieser Woche eigentlich mal draußen warst.«

»Nicht direkt.«

Eckart tat weiterhin beschäftigt – wenig überzeugend, wie er selbst fand. Er zurrte das vollkommen zerknitterte Farbband zurecht. Liam zog die Stirn in Falten und hob die Schultern, wartete sichtlich auf eine differenziertere Antwort.

»Na ja, ich hab die Hunde ein paarmal ums Haus gejagt.«

»Ich meinte eigentlich die Stadt.«

»Die Stadt.«

»Hier gibt’s eine Stadt, Andy, die Hauptstadt dieses Landes. Zugegeben, es ist nicht Berlin, aber es könnte schlimmer sein.«

»Schlimmer?«

»Kanada.«

Eckart hielt inne, Daumen und Zeigefinger der linken Hand waren farbverschmiert. Er sehnte sich plötzlich nach einem frostigen, dreckigen Winter in Kanada. Er war noch nie da gewesen, hatte überhaupt keine Vorstellung von kanadischem Frost und kanadischem Dreck, doch sehnte er sich danach.

»Komm schon, Andy, wie lange sollen wir hier noch College-Room-Mates spielen? Du übersetzt dieses Zeug, damit deine Schreibmaschine in Bewegung bleibt, führst meine drei Deerhounds Gassi –«

»Zwei, es sind leider nur noch Hazel und Buster. Du erinnerst dich? Shadow hatte Myokarditis.«

Liam starrte Eckart an, der starrte zurück, dann sagte der Deutsche langsam: »Ich wusste nicht, dass die Wohnsituation dich so sehr bedrückt. Morgen such ich mir ein Zimmer, dann –«

»Ach, Andy, das ist es nicht.« Liam stand auf und bewegte sich Richtung Wand, mit Gesten, die an alte Stummfilme erinnerten: zu viel Theatralik, zu wenig Effekt. Eckart verbiss sich ein Lachen, dann hörte er, wie aus dem Stummfilm- ein Tonfilmschauspieler wurde, mehr Schleiereule denn Errol Flynn:

»Siehst du das, Andy? Man nennt es Fenster. Hinter dem Fenster ist eine Welt«, eine raumgreifende Bewegung, die linke Hand musste Orangenschalen ausbalancieren, »diese Welt hat gerade einen Krieg hinter sich gebracht. Und wir sitzen hier und spielen 1936.«

»Jesse Owens bei den Olympischen Spielen, kein schlechtes Jahr. Nimmt man Hitler einmal aus.«

»Dein Stichwort, Andy.«

»Was?«

»Du vergräbst dich in deinen Übersetzungen, um das alles von dir fernzuhalten. Du weißt nicht, ob du noch Deutscher bist oder schon Amerikaner. Aber das ist alles Quatsch, ein endloser, endloser, endloser Quatsch!«

»Quatsch«, mit breit quakendem »Qu« am Wortbeginn ausgesprochen, war eines seiner Lieblingswörter, das Liam aus den Charlottenburger Neureichenspelunken mitgebracht hatte. Es verging kaum ein Gespräch, bei dem er nicht eine Gelegenheit fand, es unterzubringen.

»Andy, du brauchst endlich wieder etwas zu tun, etwas Richtiges, nicht diese Bücher und das Farbband dieser scheintoten Schreibmaschine, mit dem du Fingerabdrücke überall im Haus verteilst. Wir schreiben das Jahr 1946, die Zeit des Dr. Andreas Eckart hat gerade begonnen!«

»Du bist ein unverbesserlicher Optimist, Liam. Aber du weißt, was man bei uns über Optimisten sagt? Hoffnungsvolle Menschen – also hoffnungslose Idioten. Nicht persönlich gemeint.«

»Okay, kürzen wir es ab: Morgen kommt Howard.«

»Howard? Howard Swartz?«

»Er möchte etwas mit dir besprechen. Hör ihn an. Wenn du nicht hier sitzen und deinem Bart beim Wachsen zusehen möchtest, geh auf seinen Vorschlag ein.«

»Seit wann trage ich Bart? Und was sollte er mit mir besprechen wollen?«

»Versprich mir, dass du ihn anhörst.«

Liams linke Hand schnellte vor, mit ihr einige Fetzen Orangenhaut und Schale. Eckart ergriff sie mit seiner Linken und versprach was-auch-immer.

Als er wieder allein war, starrte er aus dem Fenster. Das Vertikutieren war beendet, der Rasen wieder so grün und clean wie jeden Tag.

 

2.

Er hatte Howard Swartz drei- oder viermal zuvor auf Sektpartys getroffen und einige Zeit mit ihm gesprochen – lange genug, dass sie sich, nach amerikanischer Manier, bereits mit Vornamen ansprachen, im Übrigen aber siezten. Swartz war einer von Liams Führungsoffizieren in Europa gewesen, Deutschamerikaner in fünfter Generation, der ausgezeichnet Deutsch sprach, wenn auch mit ölig klingendem amerikanischen Akzent. Außerdem trieben ihm aufeinanderfolgende harte Konsonanten regelmäßig den Schweiß auf die Stirn, als würden sie aus unverdaulichem germanischen Schweinebraten bestehen.

Swartz war ein athletischer Typ, Footballspieler in seiner Jugend. Zum Quarterback hatte es nicht gereicht, aber er hatte einen leidlich guten Linebacker abgegeben und mehrere Knochenbrüche davongetragen, die er mit nicht geringem Stolz vorzeigte, als wären es Kriegsverletzungen. Im selben Jahr wie Eckart geboren, wirkte Swartz wegen seines vollständig ergrauten Haares und der tiefen Falten in seinem Gesicht deutlich älter. Er war einen, höchstens zwei Zentimeter kleiner als der Deutsche, aber doppelt so breit, hatte eine schiefe Nase und weit auseinanderstehende Augen, die ihm das Aussehen eines altgriechischen Faustkämpfers verliehen. Er verabscheute Liams Zigaretten, hatte perfekt manikürte Fingernägel, und stets ging von ihm ein Geruch nach Kernseife und teurem Aftershave aus.

Im CIC galt er als lebende Legende, und das, obwohl das Counter Intelligence Corps, der Heeresnachrichtendienst der Vereinigten Staaten, kaum den Kinderschuhen entwachsen war. Im Gegensatz zu anderen Geheimdienstleuten trug Swartz auch in der Heimat regelmäßig Uniform, die ihn als Offizier im Rang eines Colonels auswies. Zwischen den Kriegen hatte er in Europa eine nachrichtendienstliche Kommando­einheit geleitet; dieses Detachment war so geheim gewesen, dass die Informanten, die für ihn arbeiteten, lange Zeit ohne Honorar blieben, weil auch Swartz selbst keine Zahlungen aus Washington erhielt. Ende der Zwanzigerjahre traf der Colonel, der damals noch Commander war, auf einer berüchtigten Neureichenparty im Berliner Westen den in seiner Botschaft frisch akkreditierten Liam Ciskey. Die beiden verstanden sich auf Anhieb, nicht zuletzt, weil Liam als Diplomat genau die Sorte Zuträger war, die Swartz am besten brauchen konnte, um seinen Nachrichtendienst in Deutschland ein wenig auf Vordermann zu bringen. Liam ließ sich anwerben, weil er sich ein Agentenleben in Berlin glamouröser vorstellte als das eines normalen Botschaftsangehörigen und weil er hoffte, mit mehr Geheimnis um seine Person auch mehr Chancen bei den schönen, verruchten Fräuleins zu haben. Spätestens nach zwei Jahren bemerkten beide, dass diese Anwerbung beruflich ein großer Reinfall war, weil Liam sich zu wenig auf diplomatischem, dafür umso mehr auf privatem Parkett bewegte, aber da waren die beiden CIC-Leute schon befreundet und sahen keine Notwendigkeit, diesen Zustand zu gefährden.

Für Eckart war ihre Verbindung jedenfalls ein Segen. Ohne Liams Kontakte wäre seine Auswanderung aus Deutschland und die Einbürgerung in die USA nie so rasch und komplikationslos verlaufen.

 

Eckart hörte das laute Lachen von Colonel Swartz aus dem Salon, ein Lachen, das wie ein Schaufelbagger alles zur Seite räumte, was ihm im Weg stand: Menschen, Möbel, Massivbauten. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen, die Räume im Erdgeschoss waren seit Wochen nicht mehr gelüftet worden. Er zog die Schultern hoch, atmete tief ein und nahm Haltung an, um den beiden zu begegnen. Zwar waren es nur Liam und Swartz, die sich nebenan unterhielten, aber das war für ihn zurzeit schon fast die Größe einer Gesellschaft. Als Hazel, der am meisten an ihm hing, auf ihn zustürmte und ihn freudig hechelnd begrüßte, nahm Eckart dies als Anlass, sich ein letztes Mal zu straffen und mit dem Hund als Verstärkung den Salon zu betreten.

Swartz grinste wie ein Honigkuchenpferd und drückte Eckarts dargereichte Linke mit der Vehemenz des Footballspielers. Die Beschaffenheit seiner Handballen: dick, kugelförmig. Eckart fühlte, wie sie sich an seinen eigenen Ballen muskulös aufbäumten. Liam zündete sich eine neue Zigarette an und blies den Rauch in Richtung seiner beiden Freunde.

»Christ’s sake!«, schimpfte Swartz, »hat dich das Kraut noch immer nicht unter die Erde gebracht?«

Der Colonel zwinkerte Eckart zu, während er mit hastigen Bewegungen den Qualm verwedelte, Liam auf eine Sitzgruppe zusteuerte, und Hazel, der zu dämmern schien, dass das Erscheinen ihres Hundesitters diesmal nicht baldigen Aufbruch bedeutete, sich seufzend vor den Kamin legte. Als alle Platz genommen und vom Englischen ins Deutsche gewechselt waren, steckte sich auch Eckart eine Zigarette an. Er bemühte sich, den Rauch von ihnen weg in die Luft zu blasen, wofür er ein anerkennendes Lächeln von Swartz erhielt.

»Okay, Andreas, wir wollen ein bisschen über Nazis sprechen«, sagte der unvermittelt.

»Wollen wir das, Howard?«, fragte Eckart mit möglichst naiver Miene.

»Wie Sie vermutlich wissen, haben wir direkt nach der Kapitulation mit Verhaftungen begonnen. Aber es ist einfach zu lächerlich! Uns sind fast nur ganz kleine Fische ins Netz gegangen. Da sind keine Nazibonzen mehr, keine – wie sagt man in Ihrer verflixten Sprache …?«

»Goldfasane«, sagte Eckart.

Swartz lachte sein Schaufelbaggerlachen.

»Goldfasane, ja, keine Goldfasane mehr. Auch SS-Männer scheint es nicht mehr zu geben. Natürlich auch niemand, der die Judenvernichtung organisiert hat, alle sind wie vom Erdboden verschwunden.«

»Abgetaucht.«

»Sicher, Andreas. Aber wie? Das ist die Frage. Und wo?«

»Ist das ein Preisrätsel? Wie oft darf ich raten, Howard? – Flensburg, Wilhelmshaven, von dort nach Übersee.«

»Oh, you lost big-time! Das dachten wir zuerst auch. Dann haben wir dort Razzien durchgeführt. Unsere alliierte Polizei hat die Häfen unter Kontrolle.«

»Also?«, fragte Eckart und drückte seine halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. Dabei fing er einen Blick von Liam auf, den er sich nicht ganz erklären konnte – er war wie der einer Mutter, die ihrem Sohn mit Wohlgefallen bei einer besonders anspruchsvollen Turnübung zusah.

Swartz bediente sich an dem Brandy, der auf dem Tisch stand. Er goss, ohne zuvor zu fragen, jedem ein Glas ein und reichte sie herum. Man stieß an, der Colonel hustete kurz aus angegriffener Kehle, und dann sagte er: »Übersee ist auf alle Fälle richtig. Aber wie ich schon sagte: Die deutschen Häfen sind unter unserer Kontrolle. Dänemark, Holland oder Frankreich fallen für Deutsche weg, in Jugoslawien riegeln die Tito-Kommunisten alles ab … nur: Die Deutschen hat es schon immer nach Italien gezogen. Und dieses Jahr hat auch noch die alliierte Militärregierung Italien verlassen. Das Land wird geflutet von Flüchtlingen aus ganz Europa, die Situation ist derart chaotisch, dass Kriegsverbrecher leicht in der Menschenmenge untertauchen können.«

Liam, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, schaltete sich unvermittelt ins Gespräch ein: »Haben wir dort noch CIC-Detachments, Howard?«

»Nicht wirklich. Italien ist souverän, wir müssen sehr vorsichtig vorgehen. Wir haben über unsere Botschaft einen Mitarbeiter in den Vatikan eingeschleust, schon vor Jahren, weil wir diesen Papst verstehen wollten. Wir waren schon so weit, unseren Mann wieder abzuziehen, weil dieser Papst einfach nicht zu verstehen ist, da kommt er vor einigen Wochen mit brisanten Informationen an. In Tirol und Südtirol, um den Brennerpass, geschehen nachts merkwürdige Dinge. Die Zollbeamten auf beiden Seiten drücken die Augen zu, weil sie gar nicht wissen möchten, was da passiert.«

»Und die alliierte Polizei?«, fragte Eckart und nippte an seinem Brandy. »Auf der österreichischen Seite gibt es die doch noch, oder?«

»Es gibt sie noch, ja.«

»Wer ist da zuständig, Howard?«

»Die Franzosen. Aber die interessieren sich nur für ihre eigenen Kollaborateure, die auf der Flucht sind. Und die Einheimischen – schweigen.«

Der Geheimdienstmann sah Eckart mit bohrendem Blick an. Der Deutsche nickte, dann sagte er: »Da komme ich ins Spiel?«

»Da kommen Sie ins Spiel, Andreas.«

»Und wie?«

»In diesem Sommer ging es los mit einer Massenflucht von SS-Männern aus unserem Gefangenenlager in Rimini. Jetzt hat sich rausgestellt, dass Anfang Herbst eine ganze Gruppe von Leuten, die die erste Phase der Judenvernichtung in Polen und Weißrussland organisiert haben, aus Bretzenheim geflohen ist. Das ist ein französisches Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Bad Kreuznach. Herrgott!«, Swartz schlug mit beiden Fäusten auf seine Stuhllehnen, »das finden wir nicht mehr lustig!«

»Wie ist das zugegangen, Howard? Sind die Lager so schlecht bewacht?«

»Keine Ahnung, aus den Franzosen ist wenig rauszukriegen. Eigentlich sollten die Männer zur Zwangsarbeit nach Frankreich, und wahrscheinlich fanden sie diese Aussicht wenig erhebend. Natürlich lebten sie unter falschen Identitäten, das alles ist erst nach ihrer Flucht rausgekommen, weil einer ihrer Lagergenossen den Frogs erzählte, wer ihnen da durch die Lappen gegangen ist. – Aber ich möchte nicht abschweifen, das CIC weiß, dass sie versuchen, sich nach Italien durchzuschlagen, um da unter- und später komplett abzutauchen.«

»Aber die sind doch garantiert schon über alle Berge, Howard.«

»Über die Berge sind sie eben noch nicht, Andreas. Eine Flucht ist teuer. Erst mussten sie Geld für falsche Pässe auftreiben, sonst würden sie nicht durch die alliierten Kontrollen kommen. Vier Grenzübertritte bis nach Österreich, das kostet Nerven! Jedenfalls sind sie noch nicht über den Brenner. Unser Informant hat Kontakt zu einem aus der Gruppe – sie stecken offenbar in Innsbruck fest, ihr Führer ist krank.«

»Der Bergführer?«

Swartz lachte so laut heraus, dass der Deerhound sich erschreckt umsah.

»Nein, der Führer, dem sie seit Jahren folgen, die alten Kameraden halten zusammen wie Pech und Schwefel. Der Führer, der die Flucht organisiert hat, der die Kontakte hält.«

»Um wen geht es, Howard?«

»Oh, um alle Schweinehunde, die wir lebend kriegen können. Aber wir sind nicht allzu wählerisch, wir nehmen sie auch tot.«

Das Gesicht des Colonel zuckte verräterisch. Auch ohne seine Fähigkeit, Körpersprache zu lesen, die er in seinen Jahren bei der Kripo und der Politischen Polizei perfektioniert hatte, hätte Eckart geahnt, dass das nicht die ganze Wahrheit war.

»Kommen Sie schon, Howard: Wer ist es?«

Swartz räusperte sich mit der Hand vor dem Mund, dann griff er nach seinem Brandy, leerte ihn auf einen Zug und stellte das Glas sorgsam und leise auf den Tisch zurück.

»Jemand, den Sie aus Ihrer Berliner Zeit kennen.«

Eckart zuckte mit den Schultern.

»SS-Obersturmbannführer Gerhard Wagner.«

Es war wie ein Schlag auf beide Ohren. So hatte Trollmann seinen Gegner vermöbelt, 1933, beim Meisterschaftskampf: erst einen Schwinger aufs rechte, dann eine harte Gerade aufs linke Ohr. Nur dass die Schläge bei Eckart gleichzeitig fielen. Er verschluckte sich, begann zu husten. Liam stand abrupt auf und wollte mit besorgtem Gesicht und einem Glas Wasser zu Hilfe eilen.

»Brandy wäre mir jetzt lieber. Doppelt. Nein, dreifach.«

Ja, Eckart kannte ihn. Nur zu gut: Wagner war der Hauptgrund für seine Flucht in die Vereinigten Staaten gewesen.

1919, als Eckarts Karriere bei der Berliner Kripo Konturen anzunehmen begann, hatte man ihm Wagner als Assistenten zugeteilt. Es war üblich, dass ein erfahrener Kriminaler mit einem Jüngeren zusammenarbeitete, davon konnten beide profitieren. Allerdings waren Eckart und Wagner von vornherein wie Hund und Katz: Während der Kommissar nach einem Verschüttungserlebnis an der Westfront zurückgekehrt war und den Dienst in der Kripo als Aufbauarbeit für das neue, freie Deutschland begriff, sehnte sich Wagner den Kaiser, die alte Zucht und Ordnung und die preußischen Kommissköppe herbei.

Schon Anfang der Zwanzigerjahre hatte Eckart einem alten Freund seines Vaters gesagt: »Wir sind Polizisten. Wagner und mir sollte es um Recht und Ordnung gehen, wir haben einen Eid auf die Demokratie geleistet. Aber ich habe das miese Gefühl, dass ich eines Tages gezwungen sein werde, sie gegen Leute von Wagners Schlag verteidigen zu müssen.« Und so kam es auch: Wagner trat einem Freikorps bei und fiel dem Kommissar bei seiner Arbeit immer häufiger in den Rücken, um die eigene Karriere voranzubringen. Als Eckart 1924 zur Politischen Polizei wechselte, nahm er nur seinen zweiten Assistenten mit, Ephraim Rosenberg, einen verlässlichen Weggefährten, und machte dadurch den Weg für Wagner innerhalb der Kripo frei. Der bedankte sich nach Hitlers Machtübernahme bei seinem verhassten ehemaligen Vorgesetzten und ließ Eckart, der längst als »unzuverlässiges Element« aus dem Polizeidienst entfernt worden war, immer und immer wieder von der Gestapo vorführen, in Schutzhaft nehmen, foltern. Über Monate hinweg – bis ihn Liam herausholte, als es hart auf hart kam – hatte Eckart keine ruhige Minute mehr. Kein anderer war für ihn in dieser Zeit so sehr zum Symbol dieses selbst ernannten Tausendjährigen Reichs geworden wie – Gerhard Wagner.

 

Eckart hatte seinen vierfachen Brandy gestürzt, war wieder zu Atem gekommen und schüttelte den Kopf.

»Wenn das CIC weiß, dass Wagners Gruppe in Innsbruck ist – weshalb schnappen Sie ihn dann nicht einfach?«

»Nachdem Wagner abgehauen war, konnten wir seine Spur bis München nachverfolgen, dann war er wieder wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich taucht er in Innsbruck auf, ein Informant will ihn erkannt haben. Aber jetzt ist der Informant selbst verschwunden. Und wir wissen nicht genau, ob es wirklich Wagner ist, der krank in Innsbruck liegt. Es gibt da nämlich ein klitzekleines Problem mit der Identifikation …«

»Ich verstehe noch immer nicht, was ich bei der ganzen Sache soll, Howard.«

»Wir brauchen jeden Mann, der Erfahrung mit Undercoverermittlungen hat. Seit das OSS aufgelöst wurde …«

»›OSS‹?«, unterbrach Eckart.

Rauchschwaden um sich verbreitend erklärte Liam: »Das Office of Strategic Services, der Nachrichtendienst des Kriegsministeriums. Auch ein US-Geheimdienst, aber das CIC und die Quatschköpfe vom OSS waren einander noch nie grün.«

»Danke, Liam«, sagte Swartz und wedelte unablässig den Qualm vor seinem Gesicht weg, »ich wünschte, du könntest Erklärungen abgeben, ohne dass dir dieser Nebel aus Nase, Mund und Ohren steigt. – Nachdem das OSS letztes Jahr aufgelöst worden ist, hat das CIC alle Geheimdienstaktivitäten übernommen, aber ohne die Manpower des OSS. Unsere eigenen Leute haben zu wenig Erfahrung in aktiver Spionage … im Gegensatz zu Ihnen, Andreas.«

»Aktive Spionage war nicht gerade mein Spezialgebiet bei der Politischen Polizei …«

Liam und Swartz lachten unisono.

»Nicht so bescheiden! Ihr Einsatz gegen die Nazis Ende der Zwanziger hat auch hier für Furore gesorgt, und das nicht nur, weil ein gewisser Informant keine Gelegenheit ausgelassen hat, davon zu erzählen. ›The Good German.‹«

Eckart sah zu Liam hinüber, der hob abwehrend die Hände.

Swartz setzte wieder an: »Andreas – wir müssen diese Schweine kriegen, Gestapo, SS. Und dafür brauchen wir zuverlässige Demokraten. Männer wie Sie, die akzentfrei Deutsch und Italienisch sprechen und eine Nase dafür haben, wenn jemand lügt. Und dann gibt es da noch dieses CIC-Dossier über Sie und Wagner – als ich das gelesen hatte, wusste ich, dass es keinen gibt, der geeigneter für diesen Job wäre.«

»Sie wissen, dass ich letztes Jahr sechzig geworden bin, Howard?«

»Sie sind vielleicht nicht mehr der Schnellste, aber das gleichen Sie mit Ihrer Erfahrung aus.«

»Warum schicken Sie nicht einen von Ihren eigenen Leuten?«

Swartz lachte, und der Deerhound zog es vor, nun doch den Raum zu wechseln. »Haben Sie in diesem Land schon einmal einen Demokraten getroffen, der Deutsch spricht? Und wenn er Deutsch spricht, ist er kein Demokrat.«

»Was ist mit den emigrierten deutschen Juden?«

»Na ja … was ist mit denen … come on, Andreas, wie zuverlässig sind die?! Die einen schmuggeln ihre Leute an der britischen Seeblockade vorbei nach Palästina. Und die anderen machen kurzen Prozess mit SS-Offizieren. Die interessieren sich nun wirklich nicht dafür, sie vor Gericht zu bringen. Keine Zusammenarbeit mit Juden, die nicht mit mir persönlich durch den Schlamm gerobbt sind!«

Swartz pausierte, dann sagte er: »Andreas, ich weiß, dass Sie diese Schweine ebenso kriegen wollen wie wir. Ich weiß, dass Sie versucht haben, Nazis aus dem Polizeidienst zu entfernen. Wagner hat Ihnen immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.«

»Rache? Sie meinen, mich könnte Rache motivieren?«

»Ich weiß nicht genau, was Sie motiviert, aber ich weiß, dass Ihre Spürnase Witterung aufgenommen hat, ich seh’s Ihnen doch an.«

»Ich soll Ihnen Wagner liefern. Ein Greifkommando. Ist es das, was Sie mir vorschlagen, Howard?«

»Natürlich nicht allein, Andreas. Sie werden im Team arbeiten.«

»Wie viele?«

»Zwei.«

Eckart fuhr sarkastisch lachend auf: »Wir wären zu dritt?«

»Äh, na ja, Sie und ein Special Agent des CIC. Macht insgesamt zwei.«

Eckart schüttelte den Kopf, bis sein Lachen in eine Grimasse zusammenfiel. Der Vorschlag war so idiotisch, dass er schon fast wieder interessant war.

»Und dann weiß ich natürlich auch aus Ihrem Dossier, dass Sie einmal gute Kontakte zur italienischen Polizei hatten …«

»Dann soll ich noch schön Wetter bei den Italienern machen, um Ihre Greifkommandos zu decken?«

»Wenn Sie es so nennen wollen.«

»Wie würden Sie es nennen?«

»Sagen wir: Sie könnten dem Land, das Sie vor Jahren mit offenen Armen empfangen hat, nun selbst unter die Arme greifen.«

»Egal, was es ist, Howard, ich höre immer greifen

»We’ll make it worth your while, Andreas.«

Swartz zückte einen Füllfederhalter und begann eine größere Zahl auf einen Zettel zu schreiben, gefolgt von einem etwas ungelenken Dollarzeichen. Er schob das Papier zu Eckart hinüber. Dann füllte er die drei Gläser mit dem Rest von Liams Brandy.

»Lassen Sie sich Zeit, unser großzügiges Angebot zu überdenken. Sagen wir bis morgen früh …?!«

»Aber …«

»Morgen früh, Andreas. Don’t leave us hanging. Cheerio!«