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Elisabeth Mittelstädt

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© 2011 Elisabeth Mittelstädt

© der deutschen Ausgabe 2011 Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

Die Bibelzitate wurden den folgenden Bibelübersetzungen entnommen:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe

in neuer Rechtschreibung,

© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LU)

Revidierte Elberfelder Bibel, © 1985, 1992 R. Brockhaus Verlag, Witten (ELB)

Hoffnung für alle – Die Bibel, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,

© 1986, 1996, 2002 by International Bible Society, USA.

Übersetzt und herausgegeben durch: Brunnen Verlag Basel, Schweiz (Hfa)

Neues Leben. Die Bibel, © 2002 und 2006 SCM R. Brockhaus

im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten (NL)

Neue Genfer Übersetzung, © Genfer Bibelgesellschaft, CH-1204 Genf (NGÜ)

Bibelzitate, die mit „The Message“ gekennzeichnet sind, stammen aus

„The Message“, Übersetzung von Eugene H. Peterson, und wurden ins

Deutsche übertragen. Mit freundlicher Genehmigung von NavPress Publishing Group. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-96122-132-5

Umschlaggestaltung: Olaf Johannson

Umschlagfoto: Pete Rupert (Nr. 816583)

Janine Guldener (Nr. 16583)

Fotos im Bildteil: privat

Lektorat: Mirjam Kocherscheidt

Für alle Lydia-Leserinnen,

die den Segen ihrer persönlichen Geschichte

weitergegeben haben,

um Leben zu verändern

Dank

Alles begann im Jahr 1985 bei einer Tasse Kaffee. Ich erzählte eine Geschichte aus meinem Leben. Am selben Tag reichte mir meine Freundin ein leeres Tagebuch. „Elisabeth“, sagte sie lächelnd, „du musst unbedingt schreiben!“Zu meiner großen Überraschung schrieb ich bald wirklich, und zwar ein Editorial! Denn ein Jahr später wurde die Zeitschrift Lydia ins Leben gerufen. Die übrigen Seiten überließ ich jedoch anderen Frauen, und das tue ich bis heute, damit sie ihre bewegenden Geschichten voller Veränderungskraft erzählen. Doch in den letzten Jahren füllte ich so manches Notizbuch mit meinen persönlichen Erlebnissen.

Wer weiß, dachte ich, vielleicht werde ich eines Tages ein Buch schreiben.

Ich traf Ralf Markmeier, den Verleger von Gerth Medien. Er ermutigte mich, meine Geschichte zu veröffentlichen. Danke, Ralf, für deine Unterstützung!

Ein großer Dank geht an meine Freundin Ramona Tucker, die bei der Entstehung dieses Buches viel geholfen hat. Sie ist eine erfahrene Verlegerin (Oak Tara Publishing House).

Dankeschön auch an Ines Weber, Paula Gamble, Marita Wilczek und Mirjam Kocherscheidt. Ich schätze eure vielen Fragen und kreativen Vorschläge sehr.

An meine Schwestern herzlichsten Dank: Maria, Erika, Valeri, Rosi, Edit und Martha (die bereits im Himmel ist). Danke für eure aufrichtige Liebe.

Ganz besonders möchte ich mich bei meinem Mann Ditmar bedanken: Unsere gemeinsame Reise seit mehr als 40 Jahren – über Vancouver, Los Angeles, Chicago, Frankfurt und Berghausen – war wirklich ein Abenteuer! Ohne deine Hilfe wäre dieses Buch nie entstanden. Ich liebe dich so sehr.

Inhalt

Dank

Vorwort

Prolog: Flucht in die Freiheit

1 Barfuß auf staubigen Straßen

2 Neue Prinzessinnenschuhe

3 Verknotete Schnürbänder

4 Hausschuhe auf der Schwelle zum Himmel

5 Schuhe sind zum Laufen da

6 Tanzschuhe und Modedesign

7 Schmutzige Schuhe und falsche Freunde

8 Trauerschuhe und der Tod meines Traums

9 Schuhe, schwer wie Blei, und die Reise nach Hause

10 Riemchensandaletten und ein Schnitt in der Seele

11 Die Schuhe eines Dieners

12 Spazierschuhe

13 Geschenkte Schuhe und glanzvolle Zeiten

14 Kleine Schuhe, großer Glaube

15 Bequeme Schuhe und ein erobertes Herz

16 Weiße Schuhe im Schnee

17 Flipflops im Sand

18 Babyschuhe und Zerrissenheit

19 Sonntagsschuhe und eine offene Tür

20 High Heels im Mafiaviertel

21 Wanderschuhe und unvergessliche Weihnachten

22 In den Schuhen meines Vaters

23 Ohne Absätze im Tal des Schmerzes

24 Flache Schuhe und Fragen ohne Antworten

25 Alte Turnschuhe und eine neue Idee

26 Ein ungewöhnlicher Geburtstag

27 Beflügelte Füße

28 Friedensschuhe und Gottes Schutz

29 Glaubensschritte und Gottes gute Nachricht

30 Laufschuhe zu Weihnachten

31 Warme Stiefel für Russland

32 Fußfesseln in Kroatien

33 Große Schritte, große Träume

34 Wenn sich viele Wege kreuzen

35 Bühnenschuhe

36 Tanzen auf heiligem Boden

37 Offene Geheimnisse

Epilog: Jeder wird gebraucht!

Erforschen Sie Ihre eigene Geschichte

Über die Autorin

Quellenverzeichnis

Bildteil

Vorwort

Jeder von uns hat eine Geschichte – eine Geschichte aus kleinen und großen lebensverändernden Ereignissen –, die von Generation zu Generation fortleben sollte: in allen, die sie hören möchten. Manche Lebensgeschichten wirken dramatisch, sie sind wie die schroffen Zacken eines Liniendiagramms: voller Berge und Täler. Andere erscheinen wie eine schnurgerade Bahn, auf der sich wenig bewegt, wenig verändert.

Doch nur unser Gott kennt das Ende unserer Geschichte und weiß, wie sie andere auf ihrem Weg beeinflussen wird. Deshalb ist die folgende Frage entscheidend: Werden Sie es riskieren, Ihre Geschichte zu erzählen? Werden Sie Ihr Herz offenlegen und Ihre Erfahrungen mitteilen, sodass andere nachempfinden können, wie es ist, eine Wegstrecke in Ihren Schuhen zu laufen? Sodass sie durch Ihre Erfahrung Mut und Kraft gewinnen, in ihren eigenen Schuhen weiterzugehen?

Größer als meine Träume ist das Vermächtnis meines Lebens. Eine Geschichte, gezeichnet durch anfängliche Armut, traumatische Ereignisse und welterschütternde Veränderungen. Jahrzehnte der Geheimnisse. Schmerz und Freude. Verrat und Liebe. Leidenschaft und Bestimmung. Eine Geschichte, in der Gott mir buchstäblich das Leben rettet und ich mich frage: Warum? Aus welchem Grund? Was hat Gott mit mir vor? Ist mein Leben wirklich von Bedeutung?

Fragen Sie sich das auch manchmal? Ob Ihr Leben jemandem etwas bedeutet? Ob Sie von Bedeutung sind? Suchen Sie Ihre Rolle in Ihrer Familie, in Ihrer Nachbarschaft, in der Welt? Vielleicht zweifeln Sie daran, dass Sie irgendetwas Bedeutungsvolles tun könnten, selbst wenn Sie es versuchen würden. Oder Sie leben aufgrund Ihrer Lebensumstände tagtäglich in Angst. Sind Sie entmutigt durch Ihre persönlichen Grenzen? Gibt es Ereignisse in Ihrer Vergangenheit, die Sie lähmen?

Größer als meine Träume ist meine Lebensgeschichte. Doch auch viel mehr. Ich bete dafür, dass Sie beim Lesen Hoffnung finden in Bezug auf die Fragen, die Sie in Ihrem Leben beschäftigen … und Inspiration, Ihre Träume zu verfolgen – ganz neu oder weiterhin. Denn wie werden Sie je herausfinden, was Sie schaffen können, wenn Sie nichts wagen?

Ich weiß, was durch Gottes Gnade möglich ist, denn ich habe es erlebt. Mehr noch: Ich erlebe es noch immer, Tag für Tag, auf der Reise in meinen Schuhen – den unterschiedlichsten Schuhen, die ich in meinem Leben (im wörtlichen und übertragenen Sinn) getragen habe. Ja, manchmal ist das Leben schwer und ich bleibe im Schlamm stecken. Doch zu anderen Zeiten bin ich „überrascht von Freude“, wie der angesehene Autor C. S. Lewis es ausdrückt, und meine Füße scheinen so beflügelt, dass sie kaum noch den Erdboden berühren.

Größer als meine Träume ist die Geschichte über Zeiten, in denen Gott Türen öffnete, die fest verschlossen schienen. Über Zeiten, in denen ich tief verletzt war, unfassbare Schmerzen litt und nur noch Gott um Gnade und Erbarmen anflehen konnte. Es ist die Geschichte von Momenten, in denen Gott mir begegnet ist, mitten in meiner größten Not … und mir den Weg zeigte, auf dem meine kühnsten Träume wahr wurden und noch viel mehr.

Genau das kann er auch für Sie tun. Seine Gnade und Heilung erwarten Sie …

Elisabeth Mittelstädt

Prolog

Flucht in die Freiheit

Herbst 1963

Der kühle Abendnebel benetzte meine Wangen, als Tamas1, der mich in die Freiheit führen sollte, auf die dicht bewaldeten Hänge der österreichischen Alpen zustapfte. Solche Gebirge hatten wir im Nordosten Jugoslawiens nicht und in ihrem Schatten kam ich mir geradezu winzig vor. Bedrohlich ragten sie in den Himmel wie Riesen, die ein altes Schloss bewachten.

„Da müssen wir hin.“ Tamas deutete auf einen Gipfel oberhalb der Baumgrenze. „Sobald wir diesen Berg überquert haben, bist du frei!“

Ich konnte kaum glauben, dass wir dem Ziel so nah waren. Vor Angst und Aufregung klopfte mir das Herz bis zum Hals. Schwer atmend hasteten wir auf den Wald zu und duckten uns in seine Schatten. Hoffentlich hatte die Polizei uns nicht gesehen.

Je höher wir hinaufstiegen, desto kälter wurde es. Die leichte Jacke, die ich übergestreift hatte, konnte den Wind nicht abhalten; jede Böe schien meine bloße Haut zu peitschen. Nun klapperten auch noch meine Zähne. Während meine Füße sich durch das Dickicht kämpften, um nicht von dem engen Pfad abzuweichen, füllten sich meine Lungen mit der kalten, dünnen Luft – und dem muffigen Geruch von Moos, Pilzen und vermodernden Blättern. Das früher so herrlich lebendige, farbige Laub verbreitete nun einen Geruch des Todes.

Einige Augenblicke lang fragte ich mich, ob meine Reise auch so enden würde – mit meinem eigenen Tod bei dem fehlgeschlagenen Versuch, dem Kommunismus zu entfliehen. Doch die Strapazen unseres Marsches drängten solche Gedanken rasch in den Hintergrund; jetzt galt es, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um nur ja auf dem Pfad zu bleiben.

Nach einer Weile verdichtete sich der Nebel zu feinen Tropfen. Bestimmt würde ich bald genauso verschrumpeln und mich auflösen wie das Herbstlaub, das ich unter meinen Füßen zertrampelte. Meine Kleidung war völlig durchnässt und schien das Gewicht meines zarten 17-jährigen Körpers zu verdoppeln. Das Wasser tropfte von meinem hüftlangen braunen Haar. Mit schlammverkrusteten Schuhen schleppten wir uns zäh durch den Bergwald. Meine Füße schmerzten, bis schließlich ein Taubheitsgefühl einsetzte. Dennoch stapften wir weiter.

Irgendwann war ich überzeugt, dass meine Füße mich keinen Schritt weitertragen konnten. „Bitte, lass uns anhalten!“, flehte ich Tamas an.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir müssen weiter.“

Unbeirrt marschierte er vorwärts. Einen Augenblick lang blieb ich stehen, doch dann raffte ich meine letzten Kräfte zusammen und folgte ihm blind.

Die Sonne war fast völlig untergegangen und Dunkelheit legte sich auf den Wald. Bald darauf waren die Bäume nur noch als Silhouetten im Mondlicht zu erkennen. Die eingeschränkte Sicht schärfte meinen Hörsinn. Jedes Knistern im Unterholz schien eine drohende Gefahr anzukündigen. Bei jedem schrillen Vogelruf im Abenddunkel zog sich mein Magen zusammen. Daheim in Jugoslawien war mir die Dunkelheit immer willkommen gewesen, denn sie bedeutete Ruhe von der Arbeit. Doch heute würde es kein Ausruhen geben. Hier herrschte nur Ungewissheit ... und Angst.

Hatten sie uns entdeckt? Würden sie uns jetzt verhaften und verhören?

Es war die längste, einsamste Nacht, die ich je erlebt hatte. Ständig grübelte ich, ob meine Entscheidung richtig gewesen war. Doch jetzt war ich daran gebunden. Es gab kein Zurück, keine andere Wahl.

Beim Morgengrauen hatten wir den Berggipfel fast erreicht. Wir befanden uns noch immer im Wald, doch unmittelbar vor uns endete der Baumbestand. In einiger Entfernung auf der linken Seite erspähte ich einen Wachturm. Ein uniformierter Wächter mit einem Gewehr ging darauf zu.

„Siehst du den Wächter da drüben?“ Tamas deutete mit dem Finger auf ihn. „Dort ist die Grenze nach Österreich. Von hier an müssen wir kriechen, damit er uns nicht sieht. Wir werden zuerst zur Grenze robben und müssen dann die letzten Meter durch das Niemandsland.“

Ach ja, das müssen die 500 Meter sein, die weder zu Jugoslawien noch zu Österreich gehören, erinnerte ich mich. Mein Blick streifte Tamas – groß, schlaksig, dunkelhaarig, Mitte 20. Als unsere Blicke sich trafen, nahm ich ein leises Zögern in seiner Miene wahr, doch irgendwie blieb er ruhig.

Woher weiß er das alles?, fragte ich mich. Ob er das schon mal gemacht hat? Jedenfalls verhielt er sich so, als wüsste er genau Bescheid, wie man eine Grenze überquert. Er erklärte mir, dass wir vom Waldrand aus etwa 400 Meter kriechen mussten, um auf österreichischen Boden – und damit in die Freiheit – zu gelangen. Mein Herz klopfte schneller, als ich es für möglich gehalten hätte.

„Bist du bereit?“, flüsterte er.

Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte.

In diesem Moment tauchten plötzlich mehrere Wächter vor dem Wachturm auf und kamen in unsere Richtung.

Hatten sie uns entdeckt? Würden sie uns jetzt verhaften und ins Verhör nehmen?

Ich spürte, wie das Blut durch meine Adern jagte und meine Panik verstärkte. Auch Tamas zeigte erste Anzeichen von Panik. Ich bemerkte feine Schweißtröpfchen an seiner Braue. Abrupt drehte er sich zu mir um und flüsterte mit dunkel blitzenden Augen: „Du glaubst doch an Gott! Dann rede jetzt mit ihm. Bitte ihn, uns zu helfen, sodass die Soldaten uns nicht sehen!“

„Bitte, Gott“, flehte ich leise, aber inständig, „hilf uns, sicher über die Grenze zu kommen. Bitte lass die Soldaten uns nicht sehen.“

Als wir wieder aufschauten, trotteten die Wächter gerade wieder zum Turm zurück. Ein Zufall, fragte ich mich, oder Gottes Wunder?

Tamas ergriff die Gelegenheit. „Jetzt“, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Grenze. Den Körper so dicht wie möglich an der Erde, kroch er auf die Grenze zu.

Ich war ohnehin längst pitschnass, deshalb machte mir die matschige Erde an Händen und Knien weniger zu schaffen als meine unruhigen Gedanken: Liegen hier Landminen vergraben? Wie schmerzhaft mag es sein, von einer Kugel getroffen zu werden? Sind das die letzten Augenblicke meines Lebens?

Wieder fragte ich mich: Warum habe ich solchen Hunger nach Freiheit? Warum riskiere ich mein Leben, um über die Grenze zu kommen? Warum lasse ich meine Familie und alles, was ich kenne, hinter mir, um nach mehr zu suchen?

Doch der Hunger nach Freiheit nagte schon so lange an mir und wollte endlich gestillt werden. Es war eine Sehnsucht, die ich einfach nicht mehr übergehen konnte. Ich wusste, dass ich nicht länger unter der Daumenschraube des Kommunismus leben konnte. Zwar war ich nicht sicher, was Freiheit wirklich bedeutete, aber ich war überzeugt, dass ich frei sein musste, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich sehnte mich nach jenem „Mehr“ in meinem Leben und war entschlossen, alles daranzusetzen, um es zu erreichen.

Die leidenschaftliche Sehnsucht nach Lebenssinn und Erfüllung war in meinem Herzen so stark geworden und hatte so tiefe Wurzeln geschlagen, dass ich meine Entscheidung getroffen hatte: Ich würde aus Jugoslawien fliehen. Ich würde einen Weg in die Freiheit finden. Und Tamas war mir als die richtige Fahrkarte dorthin erschienen.

Doch nun hatte mich die Wirklichkeit des Aufbruchs eingeholt. Ich befand mich in Schussweite von Gewehren und kroch durch den Schlamm einer ungewissen Grenzlinie entgegen. Und ich hatte große Angst.

Ich wagte nicht aufzuschauen, sondern konzentrierte mich ganz auf das Erdreich vor mir. Der Anblick von Tamas’ schlammverdreckten Schuhen war meine einzige Rettungsleine. Atmete ich noch oder hielt ich den Atem an? Ich war mir nicht sicher. Mein Körper bewegte sich mechanisch weiter, doch jede andere Lebensregung schien außer Kraft gesetzt.

Ich weiß nicht genau, wann, denn politische Grenzen sind zwischen Schlamm und Grashalmen nicht zu erkennen, doch irgendwann hatten wir das kommunistische Jugoslawien verlassen und das freie Österreich erreicht.

Als wir weit entfernt von Wachturm und Gewehren dastanden, erschien der Himmel gleich viel blauer und die Luft frischer.

„Wir haben es geschafft!“, flüsterte ich und ließ den Blick über die weiten Wiesen schweifen, auf denen sich das Gras im Wind wiegte. Wir schienen auf dem Gipfel der Welt zu stehen. Zum ersten Mal seit Stunden fand mein Atem wieder zu einem halbwegs normalen Rhythmus zurück.

Nach einer Weile stapften wir weiter und kamen zu einer kleinen Hütte mit einem Schild, auf dem stand: Willkommen in Österreich!

Ich musste lächeln und staunte: Wer wohl daran gedacht hatte, hier eine kleine Hütte zu errichten, um Fremde wie mich zu begrüßen?

Wie viele wohl vor mir hierhergelangt waren? Ich betrachtete die Berge und dachte: Das ist der Ort, an dem die Freiheit lebt.

Mit Tamas´ Hilfe hatte ich gerade etwas geschafft, wovon Tausende meiner Landsleute nur träumen konnten: Ich hatte mein altes Leben des Kommunismus und der Unterdrückung hinter mir gelassen und gegen den Westen eingetauscht, gegen ein Land der Freiheit und der Möglichkeiten.

Tief atmete ich die frische Gebirgsluft ein. Hier würde ich meinen Traum von Bildung verwirklichen und all das wahr werden lassen, wonach mein Herz verlangte.

In der Euphorie dieses Augenblicks ahnte ich nicht, dass meine Freiheit nur von kurzer Dauer sein würde und dass mich schon bald ein Albtraum erwartete, der mir noch jahrelang zu schaffen machen würde ... etwas viel Schlimmeres als alles, was ich bisher zu ertragen gehabt hatte.

1

Barfuß auf staubigen Straßen

„Unsere Familie war nicht immer arm“, erklärte meine Mutter, als sie mir von unserem Leben vor dem Kommunismus erzählte. Wenn sie von der „guten alten Zeit“ sprach, Ihr Blick wurde traurig, als sie erklärte: „Unter dem Kommunismus sollten ja alle gleich sein.“lag ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht und ihre Augen glänzten vor Freude. „Früher hatten wir Bedienstete und eine herrliche Kutsche“, sagte sie. „Und ich trug schöne Kaschmirpullover und Satinkleider.“ Sie richtete sich unwillkürlich auf, als wäre sie tatsächlich elegant gekleidet und trüge nicht nur ein schlichtes Hauskleid.

„Warum haben wir das alles denn jetzt nicht mehr?“, fragte ich.

Ihr Blick wurde traurig, als sie erklärte: „Unter dem Kommunismus sollten ja alle gleich sein.“

Wir lebten in einem kleinen ungarischen Dorf namens Ludas in der Provinz Vojvodina. Diese Provinz war innerhalb von Serbien, das zum ehemaligen Jugoslawien gehörte, autonom geblieben. Sie lag im nordöstlichen Zipfel des Landes, eingebettet zwischen Ungarn und Rumänien. Im Laufe ihrer Geschichte wurde diese Provinz immer wieder von heftigen Stürmen unablässiger Umwälzungen zerrissen, und die Menschen lebten politisch, kulturell, wirtschaftlich und sozial in ständig wechselnden Verhältnissen.

1848 wurde die Autonomie der Provinz Vojvodina proklamiert, 1860 aber wieder aufgehoben, als die Region an Ungarn angegliedert und schließlich Teil des österreichisch-ungarischen Reiches wurde. Die kommunistische Partei Jugoslawiens wurde 1919 gegründet, aber schon im folgenden Jahr von König Alexander verboten, der eine monarchisch-faschistische Diktatur einführte. Es folgte ein Militärputsch, der Hitler veranlasste, seinen geplanten Angriff auf die Sowjetunion zu verschieben. Doch als er 1941 seine Truppen gegen Jugoslawien ins Feld schickte, brachte er damit Josip Broz Tito auf den Plan. Tito stand seit 1937 an der Spitze der kommunistischen Partei und unter seiner Führung hatte diese ihre Aktivitäten verstärkt und sehr an Einfluss gewonnen. 1945 wurde er eine Woche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Chef der Übergangsregierung Jugoslawiens. Als die kommunistische Partei an die Macht kam, verlor meine Familie – wie unzählige andere Familien in Jugoslawien – den größten Teil ihres Besitzes.

Trotz des einfachen Lebens liebte ich unser Dorf, das sich an einen idyllischen See schmiegte. Vögel, Frösche und Fische fühlten sich hier ebenso heimisch wie Großvater, der schon seit über einem halben Jahrhundert in dem Ort lebte. Ich lernte den Reichtum meiner Umgebung und der Natur zu schätzen.

Obwohl wir selbst nicht viel hatten, nahm Mutter oft Fremde auf, sogar umherziehende Zigeuner.

Unsere elfköpfige Familie bewohnte ein einfaches gelbes Haus mit neun Zimmern. Da wir kein fließend Wasser hatten, mussten wir ein Toilettenhäuschen im Hinterhof benutzen, und zum Baden, Kochen und Putzen holten wir mithilfe von Eimern Wasser aus unserem Brunnen. Auch ein Telefon hatten wir nicht – tatsächlich gab es im ganzen Dorf nur ein einziges Telefon! Unser Wohnzimmer hatte einen einfachen Holzboden, während wir in der Küche auf dem nackten Erdboden liefen. Aber meine Mutter fegte ihn dennoch immer blank.

Unter dem Dach unseres länglichen gelben Hauses wohnten auf der einen Seite Nagyapa (Großvater) und Nagyanya (Großmutter) und auf der anderen Seite Mutter, Vater und wir sieben Mädchen. Ich hatte zwei ältere und vier jüngere Schwestern. An Sommerabenden lauschten meine Schwestern und ich dem Froschkonzert. Die Frösche „sangen“ so laut, dass Gäste, die bei uns übernachteten (irgendwie schafften wir es immer, sie in einer Nische unterzubringen), sich beklagten: „Wir können nicht schlafen!“ Aber meine Schwestern und mich hielten die Froschgesänge nicht vom Schlafen ab. Wir liebten sie; für uns waren es abendliche Wiegenlieder.

Obwohl wir selbst nicht viel hatten, nahm Mutter oft Fremde auf, sogar umherziehende Zigeuner. Jeder wusste, dass sie ihre Gastgeber bestahlen, aber bei uns kam das nie vor; zumindest erinnere ich mich nicht daran, dass sie uns je etwas gestohlen hätten. Es war, als hätten sie aus dem Verhalten meiner Mutter die ungeschriebene Regel abgelesen: Wir geben euch zu essen und helfen euch auf eurer Reise, dafür werdet ihr uns nichts stehlen. Doch manchmal hinterließen sie uns Flöhe, und wir hatten alle Mühe, diese nervigen Viecher wieder loszuwerden.

In den Sommermonaten meiner Kindheit lief ich am liebsten barfuß auf den staubigen Straßen (erst später wurde mir bewusst, dass Mutter unsere nackten Füße recht waren, weil wir so unsere Schuhe nicht abnutzten), das heißt, wenn ich nicht gerade Aufgaben zu erledigen hatte. Jedes von uns Mädchen hatte seine eigenen Pflichten zu erledigen. Mir als einem Kind in der Mitte der Geschwisterschar kam die Aufgabe zu, die Gänse und Kühe auf unserem Land zu hüten. Außerdem pflückte ich Blumen, die wir verkauften. Die Kühe fraßen statt Gras am liebsten unseren heranwachsenden Mais, deshalb musste ich mit einem großen Stock in der Nähe bleiben und die Maisstängel mit ihrer kostbaren Frucht verteidigen. Manchmal hatte ich Angst, wenn die Kühe mich angreifen wollten.

„Stell dich nicht so an“, tadelte mich mein Vater dann. „Du bist doch ein großes Mädchen.“

Meine Mutter hatte eher mal ein ermutigendes Wort für mich. „Elisabeth, setz doch deinen großen Stock ein!“, rief sie mir zu. „Zeig ihnen, wer das Sagen hat!“

Wenn die Sonne am Mittag einen bestimmten Punkt erreicht hatte, wusste ich, dass es an der Zeit war, die Kühe zum Melken nach Hause zu treiben. Sobald ich die Tiere in die Scheune gebracht hatte, rannte ich ins Haus, wo Mutter mit einem frisch gekochten warmen Essen auf uns alle wartete. Zweimal in der Woche aßen wir Hähnchen. Mutter schlachtete es um zehn Uhr und um die Mittagszeit war es auf dem Tisch. Allerdings musste ein einziges Hähnchen für die ganze Familie reichen, sodass meine Portion gewöhnlich aus einem Hähnchenflügel bestand (interessanterweise liebe ich Hähnchenflügel noch heute!).

An diesem Abend dachte ich über ihre Worte nach, und ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages ihre wahre Bedeutung verstehen würde.

Etwa um fünf Uhr zog ich dann wieder mit den Kühen los und blieb auf den Feldern, bis der Sonnenuntergang nahte – er war meine Uhr, die mir zeigte, dass es an der Zeit war, die Kühe wieder nach Hause zu treiben.

Ich konnte es kaum abwarten, bis diese Tageszeit gekommen war und wir Kinder endlich spielen durften. Wir trafen uns mit den Nachbarskindern und spielten Verstecken – so lange, bis es ganz dunkel geworden war und Mutter uns zum Abendessen hereinrief. Dann saßen wir alle in der Küche um den großen Tisch und sprachen über den Tag.

Später am Abend schaute ich oft, warm in mein Bett gekuschelt und von meinen Schwestern umgeben, aus dem Fenster und betrachtete die Millionen Sterne, die so hell und herrlich funkelten, und fühlte mich buchstäblich wie im Wunderland. Da gab es ein Universum, das viel größer war, als ich es mir vorstellte ... und ich brannte darauf, es zu erforschen.

Zu den glücklichsten Momenten meiner Kindheit zählten die, in denen ich den Geschichten meiner Großmutter lauschte. Diese Geschichten weckten in mir die Ahnung von einer größeren Welt und einer anderen Identität, als ich sie von den Leuten in unserem kleinen Dorf kannte. Ich fand Schätze in den Erzählungen, die ich hörte, und nährte damit meinen Verstand und meine Seele. Ich war von Natur aus neugierig und wollte gerne wissen, wie denn die übrige Welt aussah. Und ich verbrachte besonders beim Hüten der Kühe oder vor dem Einschlafen viel Zeit damit, mir vorzustellen, welche Rolle ich in dieser weiten Welt wohl haben könnte.

An den Winterabenden saß unsere Familie beim schwachen Schein einer Petroleumlampe um den warmen Tonofen, während Großmutter Märchen erzählte. Wenn sie mit „Es war einmal ...“ begann, kuschelte ich mich dichter an sie heran und hörte aufmerksam zu. Sie machte mich mit der Welt von Aschenputtel, Schneewittchen und Dornröschen vertraut. Meine absolute Lieblingsgeschichte war die von Schneewittchen. Ein Bilderbuch brauchte ich nicht, und das war auch gut so, denn wir besaßen ohnehin keins. Ich nutzte einfach meine Fantasie, um mir vorzustellen, wie Schneewittchen ausgesehen haben musste. Vor meinem inneren Auge war sie eine wunderschöne Prinzessin.

Manche Seiten der Geschichte machten mich aber auch traurig. Warum musste Schneewittchens Mutter sterben? Und warum war ihre Stiefmutter nicht nett zu ihr? „Warum hat sie denn niemand beschützt?“, fragte ich Großmutter.

Großmutter seufzte. „So geht die Geschichte nun mal“, meinte sie. „Manchmal ist es auch im wahren Leben so. Auch guten Menschen passieren böse Dinge. Aber das heißt nicht, dass die Geschichte ein trauriges Ende haben muss.“

An diesem Abend dachte ich über ihre Worte nach, und ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages ihre wahre Bedeutung verstehen würde.

2

Neue Prinzessinnenschuhe

Drei Dinge, die ich als Kind besaß, waren mir besonders lieb: ein Paar Schuhe, ein Bleistift und zwei Küken. Diese kleinen Schätze schienen meinem sorglosen kindlichen Gemüt völlig zu genügen – zumindest für eine Weile. Heute erkenne ich, welche Symbolkraft sie für mein Leben haben sollten.

Als ich sieben Jahre alt war, bekam ich ein neues Paar Schuhe: einfache, schwarze Schlappen. Ich hütete diese Schuhe, als wären sie mein kostbarster Besitz. Wenn ich sie anhatte, fühlte ich mich wie eine der Prinzessinnen aus den Erzählungen meiner Großmutter. Auf dem ganzen Weg zur Schule trug ich sie in der Hand, um erst kurz vor dem Schulhof, wenn gerade niemand hinschaute, hineinzuschlüpfen. Nach der Schule, sobald ich außer Sichtweite der anderen Kinder war, zog ich sie wieder aus und trug sie nach Hause. Sie sollten auf keinen Fall abgenutzt werden!

Ich hatte allerdings nicht bedacht, wie rasch ich aus diesen Prinzessinnenschuhen herauswachsen würde. Da wir kein Geld für neue Schuhe hatten, schnitt Mutter einfach ein Loch in die Schuhspitzen, um meinen dicken Zehen Platz zu verschaffen. Trotzdem wollte ich die Schuhe unbedingt tragen, selbst an warmen Sommertagen, an denen die meisten Kinder barfuß herumliefen. Außerdem achtete ich darauf, dass mein Kleid sauber und bügelglatt blieb. Ich wollte ein hübsches Mädchen sein wie die Prinzessin im Märchen von Schneewittchen.

Einmal wurde ich tatsächlich für die Rolle der Prinzessin in unserer Schulaufführung ausgewählt. Mit meinen langen, damals noch blonden Haaren und den großen blauen Augen hielt meine Lehrerin mich für die passende Besetzung. Eifrig lernte ich meinen Text auswendig und half anderen dabei, ihre Rollen einzuüben. Ich konnte kaum den Tag abwarten, an dem wir das Stück endlich aufführen durften.

Ob Mutter wohl kommen würde, um die Aufführung zu sehen?

Üblicherweise sagte sie immer, dass sie zu viel zu tun hätte, um zu unseren Schulveranstaltungen zu kommen. Aber dieses Mal ist es etwas anderes, versuchte ich mir einzureden. Schließlich war ich die Prinzessin. Es war nicht bloß irgendeine gewöhnliche Rolle in einem Stück.

Während der Aufführung schweifte mein Blick immer wieder durch das Publikum auf der Suche nach dem einen Gesicht – dem meiner Mutter. Sie zu sehen wünschte ich mir mehr als alles andere. Aber sie war nicht da. Ich war so enttäuscht.

Kaum war das Stück aus, rannte ich nach Haus, platzte zur Tür herein und fragte: „Warum bist du denn nicht gekommen, Mutter?“

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann blickte Mutter gelassen zu mir herunter und erwiderte einfach: „Ich habe zu viel zu tun.“

Es versetzte mir einen Stich ins Herz.

Schon damals war mir bewusst, wie hart meine Mutter arbeiten musste, und ich verspürte Schuldgefühle, dass ich sie überhaupt gebeten hatte, zur Aufführung zu kommen. Aber tief in meinem Inneren brannte die Sehnsucht, von meiner Familie geliebt zu werden – doch alle waren einfach zu beschäftigt.

Im Rückblick erkenne ich in meinem kindlichen Wunsch, eine Prinzessin zu sein, die tief empfundene Sehnsucht, geliebt zu werden und gewollt zu sein. Meine Mutter war diejenige, die mir am nächsten stand und nach deren Aufmerksamkeit ich mich am meisten sehnte; als sie nicht gekommen war, um mich in dem Stück spielen zu sehen, war ich mehr als nur traurig. Es war niederschmetternd. An diesem Tag wurde mir klar – auch wenn ich es nicht in Worte hätte fassen können –, wie unbedeutend ich war.

Der zweite Schatz meiner Kindheit war mein Bleistift. Er musste immer für ein ganzes Jahr halten. Dieser abgegriffene Stift war mir deshalb so wertvoll, weil ich das Schreiben liebte. Schon früh, als wir in der Schule ein Gedicht von Sándor Petöfi auswendig lernen sollten, träumte ich davon, Schriftstellerin zu werden. Dieser begabte ungarische Dichter hatte im 19. Jahrhundert das gedruckte Wort genutzt, um für die Freiheit der Rede, der Presse und der Religion zu kämpfen. Seine Leidenschaft fesselte mich. Schon als Kind beeindruckte mich die Macht des gedruckten Wortes.

Da ich mich mit einem einzigen Bleistift begnügen musste und meine kreativen Ideen nach Ausdruck verlangten, musste ich andere Wege finden, meine Worte aufzuschreiben. Im Sommer kritzelte ich sie in den Staub – Gedichte und Geschichten und was mir sonst noch in den Sinn kam. Der große Vorteil dabei: Es gab immer reichlich Staub und meine Füße erwiesen sich als geschickte Radierer. Im Winter wurde der Schnee mein „Schreibpapier“. Die eisige Kälte verwandelte meine Finger schon bald in kleine Eiszapfen, doch selbst der Frost konnte mich nicht vom Schreiben abhalten. Ich träumte davon, eine Schriftstellerin zu werden, die andere beeinflussen und meine Welt verändern würde.

Schon als Kind beeindruckte mich die Macht des gedruckten Wortes.

Der geliebte Bleistift deutete bereits an, welcher Traum mich mein Leben lang begleiten sollte – er ist ein Symbol der Leidenschaft, die Gott in so jungen Jahren in mein Herz gelegt hatte. Doch als ich damals in Staub und Schnee schrieb, ahnte ich noch nichts davon, dass sich in meiner Begeisterung für diesen Bleistift schon meine zukünftige Bestimmung ankündigte.

Der dritte Schatz meiner Kindheit waren niedliche gelbe Küken – allerdings in einer anderen Art und Weise, als man vermuten könnte. Im Frühling hielten wir für gewöhnlich Hühner, Enten und Gänse auf unserem Hof. Als ich etwa fünf Jahre alt war, nahm ich einer Henne zwei Küken weg. Sie waren erst wenige Wochen alt, und ich dachte, ich könnte die kleinen Dinger genauso gut großziehen wie sie. Ich hockte mich hin, griff nach den putzigen, flauschigen Bällen und steckte sie unter meinen Pulli, um sie warmzuhalten. Ihre weichen Daunenfedern kitzelten auf meiner Haut und brachten mich zum Kichern.

Plötzlich merkte die Henne, dass einige ihrer Küken fehlten. Sie schoss auf mich zu und pickte energisch nach meinem Kopf. Ich erschrak so sehr, dass ich das Gleichgewicht verlor und flach auf den Bauch stürzte. Als ich wieder aufstand, merkte ich, dass ich aus Versehen die zwei Küken erdrückt hatte. Verzweifelt versuchte ich, sie wiederzubeleben, aber ihre Augen blieben verschlossen und ihre kleinen Füße regten sich nicht mehr. Sie waren tot.

Ich nahm die zwei kleinen Küken, buddelte ein Loch im Garten und begrub sie. Großmutter hatte oft über den Himmel gesprochen, in den wir kommen würden, wenn wir gestorben waren. Ob meine Küken jetzt im Himmel waren?

Einige quälende Tage später musste ich einfach wissen, ob die Küken noch in der Erde lagen oder ob Gott sie in den Himmel geholt hatte, also öffnete ich das Grab wieder. Die verwesenden Körper lagen noch da. Tot war tatsächlich tot, folgerte ich. Aber kümmerten die kleinen Küken Gott denn gar nicht?

Wenn ich heute über die geliebten Küken meiner Kindheit nachdenke, stelle ich fest, dass es in dieser Zeit in meinem Leben nur sehr wenig gab, an das ich mich halten konnte, um Trost oder Freude zu finden – nicht die wuscheligen, kleinen Küken und nicht einmal die Gewissheit, dass es einen Kükenhimmel gab. Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen: Wenn Gott sich um kleine Küken nicht kümmert, kümmert er sich dann eigentlich um mich? Und: Wenn es keinen Himmel für kleine Küken gibt, gibt es dann überhaupt einen Himmel?

Aber ich erkenne auch die innere Kraft in mir und meine Beharrlichkeit, das Geschehene wirklich zu verstehen, als ich die Küken ausgrub. Diese beiden Charaktereigenschaften sollten sich auf meinem Weg in die Zukunft als nützlich erweisen.

Denn in der folgenden Zeit sollte ich noch weitere Erfahrungen mit den Schwierigkeiten des Lebens machen – und lernen, wie wichtig es ist, meine innere Lebendigkeit und Leidenschaft zu bewahren.