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MARBOD JAEGER

Mallorcas schönste Kurven

Rennradfahrer sucht Traumfrau

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DELIUS KLASING VERLAG

 

 

»Noch halb im Schlaf
rieb ich mir die Müdigkeit aus den Augen
und sah ein Hürzeler-Trikot über
einer Stuhllehne hängen.
Mein erster Gedanke war:
Was mache ich im Zimmer von Osenberg?«
Der Dachs

»Die Mallorca-Rundfahrt
fahre ich auf einer
Arschbacke ab.«
Osenberg

»Strebe nach Ruhe,
aber durch das Gleichgewicht,
nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit.«
Friedrich von Schiller

»Wird Zeit,
dass du ins Bett kommst, Kleiner!«
Maurice Garin

 

 

Wir wissen nicht, mit welcher Fluggesellschaft der Autor nach Mallorca geflogen ist. Ebenfalls ist uns nicht bekannt, über welchen Anbieter die Reise gebucht wurde. Auch kennen wir nicht den Namen des vom Autor ausgesuchten Hotels. Im Grunde genommen wissen wir nicht einmal, ob er überhaupt im Frühjahr auf Mallorca war. Fest steht nur, dass Osenberg wie jedes Jahr sein Trainingslager dort verbracht hat. Das Motto lautete angeblich Bergziege und Ballermann. Ansonsten ist davon auszugehen, dass sämtliche Personen und Handlungen in dieser Erzählung frei erfunden sind.
An dieser Stelle vielleicht noch ein kleiner Tipp direkt zu Beginn: Lesen Sie niemals Texte von oder über Osenberg! So ersparen Sie sich nämlich einen Haufen Ärger.

 

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Inhalt

Endspurt

Partytime

Ausflug

Trainingspause

Abflug

Petra

Puig Major

Randa

Cala Pi

San Salvador

Ruhetag am Meer

Coll de Sóller

Tankstelle

Alcúdia

Scharfe Kurve

Vino Tinto

Sa Calobra

Jorge

Cap Formentor

Mallorca 312

Erste Stimmen nach der Siegerehrung

Erfolgreich sein wie Osenberg

Letzte Meldung

Endspurt

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Noch sieben Kilometer bis zur Passhöhe. Genau der Sonne entgegen. Es ist heiß. Ich hasse Hitze. Mir läuft der Schweiß in die Augen. Die Luft steht. Ungefähr 200 Meter vor mir fährt sie, die absolute Traumfrau. Jetzt nichts überstürzen. Bis oben werde ich sie sicherlich eingeholt haben. Ihre unter dem grünen Helm hervorkommenden Haarspitzen glänzen hell im Sonnenlicht. Kurz geht sie aus dem Sattel und fährt einige Kurbelumdrehungen im Stehen. Es sieht federleicht aus, wie sie dabei den Abstand zwischen uns erhöht. Meine Beine brennen. Im Gegensatz zu ihr trete ich eine wesentlich höhere Übersetzung. Mit voller Kraft stampfe ich in die Pedale. Sie soll mir nicht entkommen. Ich zerre an meinem Rennlenker, meine Hände schmerzen. Ich ändere die Griffposition. Hat sich der Abstand zu ihr verringert? Eher nicht. Der Puls hämmert in meinen Schläfen. Mit der Schulter wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Helm und Sonnenbrille verrutschen. In dem Moment werde ich von einem anderen Radfahrer überholt. »Hey.« Er sieht sehr athletisch aus. Lange blonde Haare. So eine Schwuchtel! Team Sweden steht auf seinem Trikot. An dem werde ich jetzt dranbleiben. Seine Kette läuft gut geölt über das 17er-Ritzel. Ein leises Surren. Leicht übertönt vom schwungvollen Abrollgeräusch seiner Reifen. Meine heftige Atmung vermiest mir den Hörgenuss.

Ich kämpfe an seinem Hinterrad. Ja, so werde ich meine Traumfrau da vorne bald eingeholt haben. Wie von einem Motor angetrieben, bewegt sich der Schwede scheinbar mühelos den Berg hinauf. Kraftvoller Wiegetritt. Jetzt geht auch die Traumfrau wieder aus dem Sattel. Der Abstand zwischen uns hat sich verkleinert, aber er liegt immer noch bei gut 200 Metern. Meine Beine fühlen sich schwer und unwillig an. Meine Atmung übertönt alles. Wenn ich nicht gleich vom Rad kippen will, muss ich den blonden Mann mit den braun gebrannten Waden ziehen lassen. Besser ist es, wenn ich mein eigenes Tempo fahre. Ich hebe den Kopf, schiebe meine Brille zurecht und sehe nach oben. Die wundervolle Traumfrau fest im Blick. Die Straße macht weiter vorne einen Knick nach rechts, und ich kann sie nun von der Seite sehen. Topfigur!

Der Schwede ist jetzt fast bei ihr. Er fährt neben sie. Sie dreht ihren Kopf in seine Richtung. Er quatscht sie an. So ein Arschloch! Ich kann sie lachen hören. Mit Wut im Bauch kann ich etwas beschleunigen. Dann muss ich wieder kurz mit dem Treten aufhören und erst mal meine Sitzposition verändern. Ich falle mehr und mehr zurück. Der Typ da vorne verschwindet gerade mit meiner Traumfrau, und ich kann nichts dagegen tun. Als sie um die nächste Ecke biegen, sacke ich resigniert in mich zusammen. Aber aufgeben will ich noch nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Nach der nächsten Kurve sind sie in den Serpentinen über mir schon nicht mehr zu sehen. Ich bin allein. Aussichtslos abgehängt. Ich kann nicht mehr. Noch fünf Kilometer bis zum Coll dels Reis.

Partytime

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Neun Monate vorher. Die Turmuhr schlägt elf. Von draußen sind fröhliche Stimmen zu hören. Durch das Fenster lacht ein herrlicher Sommertag herein. Es ist warm. Ich liege noch im Bett. Nicht allein.

Normalerweise würde ich an so einem Sonntag längst auf dem Rad sitzen und um diese Uhrzeit schon über 100 Kilometer auf dem Tacho haben. Aber mein Lebensabschnitt ist momentan eher als etwas unruhig zu bezeichnen. Die Trennung von meiner Ex ist noch nicht allzu lange her. Ich dachte, es sei die große Liebe gewesen. Ihretwegen hatte ich damals mein vorheriges Leben völlig umgekrempelt. Es war die Reaktion auf eine Art Midlife-Crisis. Endlich schien ich von allen Zwängen frei zu sein.

Endlich schien ich die Traumfrau gefunden zu haben. Doch die größte Gemeinsamkeit, die wir hatten, war, dass wir beide gerne Rennrad fuhren. Jedenfalls zu Beginn. Bei anderen Paaren lässt mit der Zeit die sexuelle Leidenschaft nach. Bei uns wurden die gemeinsamen Radtouren immer seltener. Die meisten Kilometer musste ich alleine abspulen. Das war jedoch nicht das einzige Problem. Und schon gar nicht das größte. Ich hätte anfangs vielleicht auf mehr als nur auf ihre Beine achten müssen. Natürlich muss man die Fehler auch immer bei sich selber suchen. Aber irgendwann war ich dann aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen.

Obwohl mir in meiner neuen Wohnung vor Einsamkeit die Decke auf den Kopf fiel, fand ich auf dem Rad nicht mehr die gewohnte Ablenkung. So besuchte ich einen Freund in Köln. Ein Wochenende ohne Fahrrad. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich davor das letzte Mal so etwas gemacht hatte. Ich kann mich ebenso wenig daran erinnern, wann ich das letzte Mal zuvor mehr als ein Bier an einem Abend getrunken hatte. Aber ich kann mich noch daran erinnern, dass wir gegen Mitternacht ein Lokal betraten, im dem, obwohl es Mitte Juni war, alle Gäste außer uns kostümiert waren und ausgelassen Karnevalslieder sangen. Gefeiert wurde das »Bergfest«, die zeitliche Mitte zwischen Aschermittwoch und dem 11.11.

Die Luft in dem Laden war so schlecht, dass ich eigentlich auf dem Absatz kehrtmachen wollte. Doch bevor ich meine Absicht anmelden konnte, war mein Freund Tim schon in der dichten Menge verschwunden. Fasziniert staunte ich über die fröhlichen Menschen und ihre Gesänge in Stadionlautstärke. Nach einer Minute drückte mir eine blonde Piratin ein Glas Kölsch in die Hand. Ich war nicht mehr allein. Dachte ich. Aber die Piratin hatte zusätzlich noch an anderen Jecken Gefallen. Das nächste Bier bekam ich von einer Frau, deren Aufmachung wohl eine Indianerin darstellen sollte. Und ihr dritter Satz an mich war ihre Telefonnummer, die ich dienstbeflissen in mein Handy speicherte. Kurz darauf kam es trotz der Lautstärke in dem Lokal zu einer für alle unüberhörbaren Auseinandersetzung zwischen einer Piratin und einer Indianerin. Soviel ich verstehen konnte, ging es in dem Streit wohl darum, wessen Eroberung ich nun sei. Ich war mir keiner Schuld bewusst, stand aber plötzlich im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Auf Unterstützung von Tim brauchte ich nicht zu hoffen. Der war schon vor einer Weile mit einer gelb-schwarzen Hummel abgezogen, die ihm später das Bett vollkotzen sollte.

Als ich das Lokal, in dem diese unerträglich stickige Luft herrschte, mit der Indianerin im Arm verließ, war es draußen bereits wieder hell. »Wie heißt du eigentlich?«, wollte sie wissen. Ich musste kurz überlegen. Alkohol vertrage ich nur in kleinen Mengen. Anscheinend wollte sie mich zu sich nach Hause abschleppen. Ich bin aber nicht mitgegangen. Schließlich war ich ja drei Stunden später zu einer Radausfahrt verabredet. Tim hatte mir ein Leihrad von einem Kumpel besorgt.

Auf der für jenen Vormittag vereinbarten Mountainbiketour zum Altenberger Dom waren Tim und ich dann allerdings in absolut desolater Form.

Die folgenden Wochenenden liefen nach einem ähnlichen Muster ab. Party in schlecht belüfteten Diskotheken, Ausschlafen bis in die Puppen, verstärkter Alkoholkonsum, bestes Wetter, null Kilometer.

Und jetzt liege ich hier im Bett mit einer noch tief und fest schlafenden Frau neben mir, die dieser Indianerin verdammt ähnlich sieht. Mir fällt auf, wie doof sie atmet. Einer ihrer unsportlichen Unterschenkel guckt unter der Bettdecke hervor. Ich erinnere mich an unseren gestrigen Spaziergang, bei dem es nur quälend langsam vorwärtsging. Missmutig schiele ich auf die Unbekannte in meinem Bett und dann zum Sonnenlicht, welches durchs Fenster in eine Ecke des Zimmers scheint. Das Licht strahlt genau auf meine Radschuhe, die dadurch wie in einem Werbespot wirken. Ich fühle mich elendig. Während meine alten Radfahrfreunde sicher eine schöne lange Runde durch den Odenwald fahren, male ich mir mein heutiges Restprogramm aus. Schlendern im Schneckentempo durch die romantische, aber überlaufene Heidelberger Altstadt, Kaffee und Kuchen auf einer Burgterrasse, mehrgängiges Schlemmermenü zu exorbitanten Preisen. Vielleicht sogar eine Bootsfahrt auf einem dieser überbuchten Neckardampfer. Ist das jetzt mein neues Leben?

Als meine Begleiterin nach dem Frühstück ihre Lust auf eine große Portion Pommes anmeldet, beschließe ich, die Sache nicht mehr lange fortzuführen. Ganz so einfach ist das aber nicht. Ein weiteres Wochenende ohne einen einzigen Radkilometer geht zu Ende.

Zudem knabbere ich immer noch an der gescheiterten Beziehung zur Exfreundin.

Wollte ich nicht eigentlich etwas ganz anderes haben? Als ich im Frühsommer, noch vor meinem Auszug, aber bereits ohne meine Ex, das Jedermannrennen Les 3 Ballons durch die Vogesen gefahren war, wurde ich oben am Grand Ballon von zwei jungen hübschen am Straßenrand stehenden Frauen angefeuert. Was für eine tolle Unterstützung! So eine wunderbare Freundin hätte ich auch gerne gehabt. Und offenbar waren die Freunde der beiden lebenslustigen Ladies ja noch langsamer als ich unterwegs. Denn sonst hätten die zwei ja nicht mehr wartend auf der Passhöhe gestanden. Für mich nicht nur ein hoch motivierender Applaus, für den sich die ganzen Anstrengungen des Tages, das frühe Aufstehen und die weite Anreise mehr als gelohnt hatten. Ich kam zudem zu einer wichtigen Erkenntnis: Um die Frau meiner Träume zu finden, würde ich also nicht unbedingt schneller Radfahren können müssen.

Eine Woche später sitze ich mit meinem Radfahrfreund Cerny vor einer Pizzeria. Ein lauer Sommerabend. Auf der Straße flanieren Menschen in ausgelassen heiterer Stimmung. Wir trinken Johannisbeersaftschorle. »Was machst du eigentlich für eine Scheiße?«, resümiert Cerny mein Verhalten der letzten Wochen.

»Du brauchst deine Traumfrau nicht zu suchen. Sie wird von alleine kommen«, weiß Cerny. Und er rät: »Jetzt hast du endlich Zeit, das zu tun, was du am liebsten machst.«

»Am liebsten fahre ich Alpenpässe!«, antworte ich.

»Ja, mach das, was du am liebsten machst! Dort wirst du sie treffen.«

Endlich ist der Groschen bei mir gefallen. Aber in anderer Hinsicht. Von Cernys Aussage bin ich nämlich nicht im Geringsten überzeugt, springe aber dennoch sofort von meinem Stuhl auf. Denn eine Idee hat sich in mir festgesetzt. Ich muss sofort ins Bett! Es ist schon nach 22 Uhr. Und morgen früh um vier Uhr will ich aufstehen und mit dem Auto nach Andermatt in die Zentralschweiz, um dort mit dem Rennrad über die drei Alpenpässe Susten, Grimsel und Furka zu fahren. Endlich das tun, was ich am liebsten mache. Ich bin frei!

Als ich in Radklamotten in den dunklen Morgenstunden über das Kopfsteinpflaster der Altstadt auf den Carbonfelgen zu meinem Autoparkplatz rumpel, hat die Polizei gerade einen Großeinsatz, um besoffene Flaschenwerfer vor einem Partyklub einzufangen.

In der Altstadt herrscht zu dieser nächtlichen Stunde mehr Trubel als an einem verkaufsoffenen Sonntagmittag. Hoffentlich fange ich mir auf den rumliegenden Glasscherben keinen Platten ein.

Ich werfe mein Rennrad in den Kofferraum meines Autos. Das sonore Brummen des Fünfzylinders zaubert ein Lächeln in mein Gesicht. Ich bin ganz gewiss kein Autofreak. Aber heute wird der Kilometerstand meines irgendwann vor meiner Zeit als ambitionierter Radsportler mal neu gekauften Volvos die 390.000-Kilometer-Marke überschreiten. Euphorisch lasse ich die Stadt hinter mir.

An der Ausfallstraße zur Autobahn gerate ich in eine frühmorgendliche Alkoholkontrolle. Als die Beamten meinen Dress und das hinten im Auto liegende Rennrad erkennen, winken sie mich umgehend vorbei. Ich starte durch. Weg von den Stadtmenschen, rauf in die Berge!

Ausflug

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In Andermatt komme ich eine Stunde früher an als gedacht. Zeitplanung ist nicht meine Stärke. Es ist ziemlich kühl. Das Hochtal liegt noch im Schatten. Aber langsam schiebt sich das Sonnenlicht die gegenüberliegenden Hänge hinab. Darüber strahlt tiefblau ein weiter Himmel. Wahrlich ein Tag zum Bäume ausreißen.

Als Erstes suche ich mir ein Zimmer in einer einfachen Pension. Im Haus Edelweiß bekomme ich ein günstiges Einzelzimmer, dessen schmales Bett mich an mein Kinderzimmer erinnert. Fließend Wasser gibt es in dem Zimmer ebenfalls. Schnell sind meine beiden Trinkflaschen mit köstlichem Bergquellwasser gefüllt. Die Radklamotten habe ich ja schon an. An den Füßen trage ich jetzt Radschuhe. So brauche ich nur noch mein Rennrad aus dem Volvo zu ziehen und kann in einen herrlichen Sommertag starten.

Die Tour von Andermatt über die Pässe Susten, Grimsel und Furka führt erst einmal hinab durch die Schlucht von Göschenen bis in den Talort Wassen. Mit schnellen, kraftvollen Pedaltritten verlasse ich Andermatt talwärts. Aber in der schattigen Abfahrt beginne ich schon bald mit den Zähnen zu klappern. Ich friere und frage mich, ob das wirklich so eine gute Idee war. Wäre es jetzt nicht schöner mit einer Indianerin im warmen Bett zu liegen, als hier die durch das dünne Lycra beißende Kälte zu ertragen? Doch der blaue Himmel über mir hält die Gewissheit aufrecht, dass der Tag sein Versprechen halten wird.

Als ich in Wassen links in den Anstieg zum Sustenpass abbiege, werde ich bereits nach wenigen Minuten hinter zwei kurzen Tunneldurchfahrten vom warmen Sonnenlicht erfasst. Gerettet. Die ersten Meter fahre ich noch verhalten. Ich muss erst die Kälte aus meinem Körper bekommen. Allzu tief ist sie mir aber nicht in die Knochen gekrochen. Schon bald kann ich mein Tempo erhöhen. Ich sehe nach oben. Blau. Was für ein genialer Tag! Der Himmel scheint mich regelrecht anzuziehen. Das Fahren fällt mir trotz der Steigung spielerisch leicht. Nur einige wenige Autos haben mich bisher überholt.

Da erkenne ich in den Kurven vor mir ein rotes Trikot. Ein anderer Radfahrer! Der scheint langsamer unterwegs zu sein als ich. Sofort gehe ich in den Wiegetritt und schalte zwei Ritzel herunter. Ich werde ihn bald einholen. Was für ein herrlicher Tag! Wieso habe ich das nicht schon letztes Wochenende gemacht? Und über welche Pässe werde ich am kommenden Wochenende fahren?

Meine Carbonlaufräder schwirren. Am roten Trikot fliege ich regelrecht vorbei. Natürlich nicht, ohne einen kurzen Gruß zu räuspern. Mein hohes Tempo behalte ich bei. Aber werde ich es bis oben durchziehen können? Wohl kaum, es sind ja noch mehr als 15 Kilometer. Ich setze mich wieder zurück in den Sattel. Hoffentlich hat mir das rote Trikot nicht nachgesetzt. Dann würde aus einem gemütlichen Ausflug ganz schnell ein unerbittliches Rennen werden, das sich eventuell über den ganzen Tag ziehen könnte, falls das rote Trikot zufällig die gleiche Runde wie ich geplant hat.

Irgendwann drehe ich mich vorsichtig nach hinten um. Weit unter mir schleicht ein roter Mann durch die grünen Wiesen. Der Typ ist abgehängt. Erleichtert kann ich wieder meinen Gedanken nachgehen.

Die saubere Bergluft inhaliere ich tief in meine Lungen. Mein Blick haftet an den in der Sonne glänzenden Bergspitzen. Die Straße gehört mir ganz allein. Pfiffe von Murmeltieren durchbrechen ab und zu die Stille. Der Geruch der Almkühe dringt in meine Nase. Und der Duft von sämtlichen Kräutern der bekannten Schweizer Hustenbonbons. So einen Tag muss man sich gut merken. Im Winter werde ich bei meinen Trainingsfahrten wieder monatelang durch Schnee und Matsch fahren müssen. Von der Sonne wird wochenlang nichts zu sehen sein.

Von vorne kommt ein Surren auf mich zu. Zwei Rennradfahrer rasen mir in schneller Fahrt entgegen. Im Windschatten des vorderen Mannes saust eine Frau an mir vorbei abwärts. Die Glücklichen! Ich beneide den Mann. Mit so einer Partnerin würde ich diesen grandiosen Tag jetzt auch gerne teilen.

Schließlich erreiche ich in den Sustenpass, ziehe mir meine Windweste an und stürze mich in die Abfahrt nach Innertkirchen. Die vor mir liegende Strecke ist noch weit. Zudem warten noch etliche Höhenmeter auf mich. Bei nächster Gelegenheit will ich meine Verpflegung auffüllen. In rasanter Fahrt geht es in Serpentinen talwärts. Gegenüber strahlt das Weiß des beeindruckenden Steingletschers. Eigentlich müsste ich hier für ein Foto anhalten. Aber der Rausch der Abfahrt hat mich erfasst.

In Innertkirchen muss ich an der Kreuzung links zum Grimselpass abbiegen. Zeit für einen kleinen Imbiss. An der Ecke befindet sich ein kleiner Platz, an dessen linkem Rand ein Supermarkt geöffnet hat. Ich kaufe mir ein Trinkjoghurt und zwei süße Gipfeli, die ich auf dem sonnigen Plätzchen konsumieren will. Als ich mir das Trinkjoghurt in den Hals kippe, höre ich hinter mir Stimmen. An den Sitzbänken am anderen Ende des kleinen Platzes haben drei Rennradfahrer zu einer Pause angehalten. Ich kann nicht verstehen, worüber sie reden. Einige Wortfetzen Schweizerdeutsch dringen zu mir herüber. Aber weder wohin sie weiterfahren noch wann sie wieder aufbrechen wollen, erschließt sich mir. Ich möchte die drei gut trainiert aussehenden Fahrer gleich nicht im Nacken haben, deshalb will ich sie lieber vor mir starten lassen. Entspannt kaue ich den letzten Bissen meines Snacks. Noch mal mit einem Schluck Joghurt nachspülen. Ich sehe mich wieder nach den drei Schweizern um. Was ist jetzt los mit euch? Sie machen überhaupt keine Anstalten, in Kürze weiterfahren zu wollen. Ich will aber nicht länger warten, sonst verliere ich zu viel Zeit.

Also steige ich schnell wieder auf mein Rennrad und verlasse zügig das Dorf in Richtung Grimsel. Ich will mir einen guten Vorsprung rausfahren, damit mich die drei Kollegen nicht allzu früh einholen können. Im Vorbeifahren erkenne ich rechts auf einem Parkplatz eine Frau im grünen Radtrikot, die gerade ihr Rennrad aus ihrem Auto auslädt. Oder einlädt? Es ist schließlich schon fast Mittag. Vielleicht hat sie ihre Ausfahrt bereits hinter sich.

Nach ein paar Kilometern schneller Fahrt werfe ich einen Blick zurück. Bevor die Straße hier um eine Felsnase nach links verschwindet, kann ich noch mal einen längeren Abschnitt hinter mir überblicken. Niemand ist zu sehen. Vorerst wird mich kein anderer Radfahrer einholen. Ich kann es etwas ruhiger angehen lassen.

Vor mir ein Tunnelportal. Die Durchfahrt ist für Radfahrer gesperrt. Die Ausschilderung führt mich auf ein schmales Sträßchen, auf dem ich den Tunnel außenherum durch eine enge Klamm umfahre. Eine wilde Szenerie. Von diesem schönen Tag habe ich heute noch gar kein Erinnerungsfoto gemacht. Hier ist eine geeignete Stelle, um von mir ein Selfie zu machen. Ich baue die Kamera auf, starte die Automatik, drehe eine kleine Schleife und fahre, einen kraftvollen Bergsprint simulierend, durchs Bild. Klick.

Zufrieden mit dem gelungenen Foto, packe ich meine Utensilien wieder in die Trikottaschen. »Hallo«, säuselt eine freundliche Frauenstimme. Hinter meinem Rücken huscht die Radfahrerin in dem grünen Trikot an mir vorbei. Also hat sie ihr Rad eben doch aus- und nicht eingeladen! Sofort nehme ich die Verfolgung auf. Schon bald habe ich sie eingeholt. Ich bleibe hinter ihrem Hinterrad. Sie ist schnell unterwegs. Ich versuche erst mal, meinen Puls zu beruhigen. Das will mir aber nicht gelingen. Meine Beine sind vom ersten Pass schon angezählt. Und die Beine der Frau vor mir sehen nicht so aus, als ob ich locker an ihnen dranbleiben könnte. Dennoch genieße ich es, hinter dieser sportlichen Frau den Berg hinaufzufahren. Ja, im Grunde fahren wir doch zusammen. Genau das, was ich mir heute Morgen noch gewünscht hatte. Aber verdammt noch mal, sie ist ziemlich schnell. Bestimmt eine routinierte Rennfahrerin. Ob das überhaupt meine Kragenweite ist? Sie hat eine Topfigur, und so, wie sie die bisherigen Höhenmeter bewältigt hat, scheint sie federleicht zu sein. Bei dem Tempo werde ich ihr unmöglich bis oben folgen können. Wieso bin ich ihr so leichtfertig hinterhergesprintet? Jetzt habe ich das Problem. Wie komme ich nun, ohne das Gesicht zu verlieren, wieder aus der Nummer raus? Bestimmt hat sie schon längst registriert, dass ich hinter ihr bin. Wenn ich mich nun einfach zurückfallen lasse, wird sie sich in der nächsten Kurve nach mir umsehen. Und mich als Versager abstempeln. Oder sogar auslachen. Lange halte ich die von ihr angeschlagene Geschwindigkeit aber nicht mehr durch. Bestimmt trainiert sie nach Puls. Bestimmt folgt sie einem anspruchsvollen Trainingsplan. Bestimmt ist sie ein Profi.

Schon dreimal hatte ich mich damit motiviert, wenigstens bis zur folgenden Kurve an ihr dranzubleiben. Aber jetzt diese lange Gerade, die werde ich nicht überstehen. Meine Fresse, ist die Straße steil. Ich muss mir schnell etwas einfallen lassen.

Ja, das ist die Idee! Bestimmt fühlt sich die professionelle Fahrerin vor mir durch mein kaum noch zu überhörendes Keuchen an ihrem Hinterrad in ihrem Training beeinträchtigt.

»Störe ich dich?«, frage ich von hinten.

Sie dreht sich zu mir um. Wow! Diese Ausstrahlung. Meine Traumfrau lächelt mich an und antwortet: »Nein, du störst überhaupt nicht.« Was? Damit hatte ich jetzt aber nicht gerechnet. Eigentlich wollte ich mich doch als vermeintlicher Störenfried generös zurückziehen. Aber kein Gedanke mehr an ein Zurückfallenlassen. Sie nimmt sogar ein wenig Tempo raus. Sodass wir nun nebeneinander fahren und uns unterhalten können.

In allen europäischen Ländern außer der Schweiz gibt es eine Regel, was den Sicherheitsabstand beim Überholen von Zweirädern betrifft. Da die Schweizer für alles im Leben eine Regel brauchen, an die sie sich halten können, gelingt es ihnen deshalb als Autofahrer leider nicht, Radfahrer in einem gebührenden Abstand zu überholen. Immer wieder werden wir äußerst knapp von dem allmählich zunehmenden Autoverkehr überholt. Aber das stört mich nicht. Ich werde dieser Traumfrau nicht mehr von der Seite weichen.

Schon bald ist klar, dass wir beide die gleiche Runde fahren wollen. Nach wenigen Kilometern haben wir uns schon gegenseitig unsere jeweiligen Lebensgeschichten erzählt und dabei viele Parallelen entdeckt. Natürlich gibt es auch Momente des gemeinsamen Schweigens. Einträchtig kurbeln wir nebeneinander den Grimselpass hinauf. Ich will ihr gerade berichten, dass ich neulich einen Alpenmarathon zusammen mit dem Exprofi Marcel Wüst absolviert habe, als sie mich fragt: »Wie heißt du eigentlich?«

Meinen Namen muss ich neuen Bekanntschaften in der Regel erst mal buchstabieren. Mir fehlt immer noch die Luft für ausführliche Sätze, und aus irgendeinem blödsinnigen Grund antworte ich deswegen mit »Marcel Wüst«.

»Aha, sehr interessant.«

Dann sagt sie mir ihren Namen. Der geht allerdings ebenso im dem Röhren eines uns gerade mit Vollgas überholenden Lamborghini LP560 unter wie mein Versuch, ihr meinen wirklichen Namen zu erklären. Als der Verkehrslärm die Fortsetzung des Gesprächs erlaubt, wechseln wir schließlich das Thema. Egal, es wird sich heute bestimmt erneut die Gelegenheit ergeben, sich noch mal nach ihrem Namen zu erkundigen.

Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich jemals im Leben solch einen Wunsch haben würde. Aber jetzt wünsche ich mir tatsächlich, dass dieser Anstieg niemals zu Ende gehen möge. Vorhin am Sustenpass hatte ich das Radfahrerpärchen noch beneidet. Jetzt gleite ich selber mit einer wahren Traumfrau zusammen am Ufer des Grimselsees entlang. Bei optimalem Wetter rollen wir gemeinsam durch eine herrliche Bergkulisse. Es ist wie im Traum. Die Zeit verfliegt nur so. Nur noch wenige Kehren bis zur Passhöhe.

Erlebe ich gerade ein Wunder? Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man ungefähr 40.000 Kilometer auf dem Fahrrad abspulen muss, bis es statistisch gesehen mal wieder zu einer vielversprechenden Begegnung mit einer Rad fahrenden Frau kommt.

Auf dem folgenden Abschnitt hinunter nach Gletsch führt mir meine Traumfrau ihre Abfahrtskünste vor. Rasant, aber souverän und sicher steuert sie ihr Rennrad durch die sieben Haarnadelkuven. Sie ist keine Spur langsamer als ich. So, als wäre ich mit meinem Schatten unterwegs. Mein Herz geht regelrecht auf. Habe ich sie wirklich gefunden, meine Traumfrau?

Schon geht es wieder bergauf. Es folgt der Anstieg zum Furkapass. Toll, wie dynamisch sie in den Wiegetritt geht. Wunderschön, wie sich ihre Muskeln bewegen. Betörend der Duft des Pflegeöls auf ihren Beinen. Ich bin ganz begeistert von diesen Sinneseindrücken. Doch spüre ich leider auch deutlich meine Beine, denen allmählich der Saft auszugehen droht. Immerhin habe ich ja heute schon einen ganzen Pass mehr auf der Uhr als meine Traumfrau, die voller Begeisterung in diesen nächsten Anstieg geht. So ganz sicher scheint es doch nicht zu sein, dass wir den ganzen Tag zusammenbleiben werden. Ich muss mich gehörig anstrengen, um ihr zu folgen.

Wohl oder übel lasse ich mir nichts anmerken. Ich will ja nicht den Anschluss verlieren oder gar eine Schwäche zu erkennen geben. Aber ich werde bereits ein wenig einsilbiger, während die Traumfrau quasselt und quasselt. Weil Frauen aber täglich viermal so viele Wörter wie Männer sprechen, fällt erst mal niemandem außer mir auf, dass meine Wortbeiträge immer kürzer ausfallen. Ich muss mich vollkommen aufs Treten konzentrieren. Auch spüre ich inzwischen deutlich, dass es vielleicht doch nicht so schlau war, ohne Frühstück zu dieser Runde zu starten. Erste Anzeichen einer aufkommenden Unterzuckerung machen sich bemerkbar.

Sie erzählt mir ausführlich von ihrem Berufsalltag. Ich höre gar nicht mehr richtig zu und beginne nun auch an Stellen zu lachen, die eigentlich gar nicht lustig sind. Mein Lachen wird mitunter sogar regelrecht hysterisch. Damit will ich kaschieren, wenn ich wegen stärker werdender Defizite einen oder bereits mehrere Tritte auslassen muss. Das kann kein gutes Ende nehmen.

Wie lange kann ich den Schein noch aufrechterhalten, dass ich ein guter Rennradfahrer sei? Vorne bin ich nun schon seit Beginn des Anstiegs zum Furkapass nicht mehr gefahren. Dabei weht uns ein ordentlicher Gegenwind ins Gesicht. Ich müsste ihr eigentlich ein bisschen Windschatten bieten, wenn ich bei ihr irgendwie Eindruck hinterlassen wollte. Will ich das überhaupt noch? Will ich denn eine Partnerin haben, die mich locker aus den Schuhen fahren kann? Sie scheint allerdings keinerlei negative Gedanken zu haben. Und so erzählt sie fröhlich weiter, und wir fahren lachend Höhenmeter um Höhenmeter. Muss ich erwähnen, dass wir bisher von niemandem überholt wurden? Darf ich sagen, dass wir es sind, die zusammen im Team schon etliche andere Rennradfahrer am Berg haben stehen lassen wie alte Eimer? Vielleicht ist es dieser Teamgedanke, der mich weiterhin über meine Verhältnisse hinaus mit ausreichend Kraft in die Pedale treten lässt. Doch fürchte ich, dieser Bluff wird bald aufgedeckt werden.

Wir erreichen das Hotel Belvedere, von wo aus man früher mal einen schönen Blick auf den Rhonegletscher hatte. Inzwischen sind die Eismassen so weit abgeschmolzen, dass nicht mal mehr ein kühler Hauch zum Kiosk auf der Aussichtsplattform herüberweht. Ich pfeife hingegen so ziemlich aus dem letzten Loch. Wie soll ich ihr meinen Leistungseinbruch glaubhaft als völlig normal für mich erläutern?

»Ich brauche dringend eine Cola«, sage ich mit Bestimmtheit. Wenngleich ein leises Flehen in meiner Stimme mitschwingt.

»Du willst anhalten?«, fragt sie etwas verwundert.

»Äh, ja.«

»Normalerweise hält man auf dieser Runde aber nicht an«, stellt sie mit Überzeugung fest.

Aber da bin ich schon links zum Kiosk abgebogen. Für mich ist klar, was ich sofort brauche. Eine Cola und einen Schokoriegel. Erst jetzt fallen mir die in meinen Trikottaschen mitgeschleppten Powergels ein. Aber daran habe ich nun keinerlei Interesse.

»Was willst du haben?«, frage ich meine Traumfrau.

»Du trinkst Cola? Ich nehme lieber ein stilles Wasser.«

Als ich bei der Bedienung unsere Bestellung aufgebe, betone ich ganz besonders stolz das Wort WIR in dem Satz: »Wir hätten gern …«

Habe ich das gerade wirklich gesagt? Es ist diese unbeschreibliche Vertrautheit. Ich spüre von Anfang an eine tiefe Verbundenheit zu dieser Frau. Längst schwebe ich auf einer himmlischen Wolke. Die Aussichtsplattform am Hotel Belvedere möchte ich am liebsten nie wieder verlassen. Wir unterhalten uns über unsere jeweiligen Pläne für die nächste Saison. Bei ihr steht unter anderem die Alpenchallenge auf dem Programm. Als Höhepunkt will sie die Platintour des Alpenbrevet fahren. »Oh, das wird hart. Davon habe ich schon gehört«, sage ich. Bisher hielt ich die 270 Kilometer lange Strecke mit ihren 7000 Höhenmetern für zu anspruchsvoll. Ich kenne niemanden, der die lange Runde des Alpenbrevets schon absolviert hat. Den den Zahlen nach einfacheren Ötztaler Radmarathon hielt ich bisher für das maximal Machbare, wenn ich noch in einem einigermaßen manierlichen Zustand das Ziel erreichen wollte. Aber warum nicht? Mir wird klar, dass wir in dieser Hinsicht beide gleich verrückt zu sein scheinen. »Und natürlich geht es im Frühjahr ins Trainingslager nach Mallorca«, beendet sie ihre Aufzählung. Unauffällig rücke ich etwas näher an sie heran. Während des Radfahrens geht das ja nicht. Also muss ich die Gelegenheit in der Pause nutzen. Natürlich ganz vorsichtig. Aber sie drängt bereits zum Aufbruch. Denn im Gegensatz zu mir ist für sie in Andermatt noch nicht Endstation. Um zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren, muss sie noch über den Sustenpass fahren. Dass das kein Spaziergang ist, habe ich heute Morgen erfahren und bin froh, dies bereits hinter mir zu haben.

Aber jetzt stehen erst noch die letzten Meter auf den Furkapass an. Die Zuckerzufuhr zeigt ihre Wirkung. Oder sind es die immer stärker werdenden Liebeshormone? Mit der Leichtigkeit vom Anfang des Tages sprinten wir zusammen der Passhöhe entgegen. Ein zusätzliches Glücksgefühl beschert mir das Überholen von mehreren anderen Rennradfahrern. Oben am Passschild halten wir noch mal an. Bevor wir uns die Windwesten überziehen, bitte ich einen Touristen, mit meiner Kamera ein Foto von uns zu machen. Ich lege meinen Arm um ihre Schulter. Es fühlt sich verdammt gut an.

Auf der folgenden Abfahrt die kurvenreiche schmale Straße hinab nach Realp demonstriert sie mir, wie sehr sie es versteht, jede Kurve sauber anzufahren, die Ideallinie zu halten und den Schwung mit auf die folgende Gerade zu nehmen. Wir überholen einige Fahrzeugkolonnen, die sich hinter langsamer fahrenden Wohnmobilen und Bussen stauen. Nichts kann uns aufhalten. Was für ein geiles Gefühl. So eine Abfahrt möchte man am liebsten gleich noch einmal fahren.

Doch jetzt sind wir auf dem Flachstück Richtung Andermatt. Nur noch wenige Kilometer, bis ich meine Runde vollendet habe. Was soll ich tun? Am liebsten würde ich meine Traumfrau noch über den Sustenpass begleiten. Aber dafür fehlt mir inzwischen ganz einfach die Kraft. Es reicht gerade noch, um vorne im Wind ein bisschen Tempo zu machen, um einen guten Eindruck bei ihr zu hinterlassen.

Am Ortseingang von Andermatt muss ich mich schweren Herzens von ihr verabschieden. Ab hier wird sie ohne mich weiterfahren. Wir geben uns die Hand. Ich blicke tief in ihre leuchtend blauen Augen. Sie lächelt mich an. Da kommt von ihr die schönste Frage, die ich je in meinem Leben gehört habe: »Und was machen wir morgen?«

Eigentlich hatte ich vor, morgen über die Pässe Furka, Nufenen und Gotthard zu fahren. Eine ähnliche Runde wie heute, die ebenfalls von Andermatt aus gestartet werden kann. Meine Traumfrau hat aber ihre eigenen Vorstellungen. Sie bestellt mich für zehn Uhr an die Tankstelle von Willisau. »Willi wer?« Von dem Ort habe ich noch nie etwas gehört. »Ich werde da sein!«, rufe ich ihr hinterher.

Emotional ziemlich aufgewühlt und mit einem breiten Dauergrinsen im Gesicht, bleibe ich noch länger an der Kreuzung stehen und gucke ihr hinterher, obwohl sie schon lange nicht mehr zu sehen ist. Der ganze Tag rast mir noch einmal durch den Kopf. Da wird es mir schlagartig bewusst. Jetzt habe ich doch glatt vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen. Im Grunde weiß ich überhaupt nichts von ihr. Aber egal, das kann ich ja alles morgen nachholen.

Weil die Sonne noch hoch steht, will ich ein paar Meter in Richtung Oberalppass ausrollen. Direkt aus Andermatt heraus beginnt der Anstieg. Die Kurbel bekomme ich nur noch mit Mühe herum. Dafür genieße ich umso mehr die warmen Sonnenstrahlen dieses herrlichen Sommertages. Bei dem genialen Licht könnte ich ewig weiterfahren. Allerdings schleiche ich nun mehr, als dass ich fahre. Nur gut, dass meine Traumfrau mich in diesem Zustand nicht mehr sieht. Meine Gedanken drehen sich ständig um sie. Bis ich schließlich doch oben am Oberalppass angekommen bin.

Zurück im Hotel, liege ich auf meinem Kinderbett und schreibe eine SMS an Cerny: »Du wirst es nicht glauben. Habe heute meine Traumfrau getroffen. Morgen sehe ich sie wieder!«

Eine Minute später erhalte ich Cernys Antwort: »Perfekt.«

Wie ich herausfinde, liegt Willisau anderthalb Stunden Autofahrt entfernt. Ich muss also zeitig aufstehen. Das Frühstück fällt mal wieder kurz aus. Mein Gepäck ist im Auto verstaut. Auf der Windschutzscheibe hat sich in der kalten Nacht etwas Frost gebildet, den ich abkratze. Schnell einsteigen, bevor ich zu sehr friere. Ich drehe den Zündschlüssel rum. Was ist denn jetzt los? Normalerweise springt der Volvo zuverlässig an. Auch wenn ich ihn oft wochenlang nicht bewegt habe. Ich versuche es also noch mal. Und noch mal. Und noch einmal. Mir wird im Wechsel heiß und kalt. Ich spüre die neugierig aus dem Frühstücksraum kommenden Blicke. Schweiß läuft mir über die Stirn. Ich war ohnehin schon spät dran. Irgendwelche Verzögerungen waren nicht vorgesehen. Zeitplanung ist wirklich nicht mein Ding.

Bald hat die Autobatterie keinen Saft mehr. Es ist schon Viertel vor neun Uhr. Ich werde es nicht mehr rechtzeitig nach Willisau schaffen. Mit der flachen Hand schlage ich auf das Lenkrad ein. Der Motor will partout nicht anspringen. Ich trommel mit beiden Fäusten auf das Armaturenbrett. Vielleicht sollte ich warten, bis der Wagen in der Sonne steht und dadurch etwas aufwärmt? Aber es dauert noch mindestens eine Stunde, bis die ersten Sonnenstrahlen den Parkplatz erreichen. Ich muss sie anrufen, um sie über meine Verspätung zu informieren. O Gott, nein! Ich habe ihre Nummer ja gar nicht! Längst ist klar, dass ich unsere Verabredung nicht mehr werde einhalten können. Totale Verzweiflung macht sich in mir breit. Sie wird denken, dass ich unseren Termin vergessen habe. Oder schlimmer noch, dass ich kein weiteres Interesse an ihr hatte. Dass ich doch lieber allein meine Gotthard-Runde fahren wollte. Worauf es nun ja auch hinauszulaufen scheint. Sie wird denken, dass ich einer von den Typen bin, die jede Rad fahrende Frau anquatschen. Natürlich wird sie höchstens 15 Minuten am Treffpunkt auf mich warten. Vermutlich hat sie Erfahrung, wie das mit fremden Radfahrern oft so ist, mit denen man am Ende einer netten gemeinsamen Ausfahrt einen weiteren Termin ausmachen möchte. So was bleibt in der Regel völlig unverbindlich. Selten, dass man sich bald wieder begegnet. Aber so einer bin ich doch nicht!

Inzwischen ist es schon zehn nach neun. Das darf doch alles nicht wahr sein! Was für ein verdammter Scheißtag. Werde ich meine Traumfrau je wiedersehen? Resigniert hole ich mein Rennrad aus dem Kofferraum. Meine Zuversicht beschränkt sich auf die Hoffnung, dass der Volvo später doch noch anspringen wird. Meine Verabredung ist jedenfalls geplatzt. Der knallblaue Himmel kann mir keinen herrlichen Tag mehr versprechen. Selten bin ich so lustlos zu einer Rennradtour durch die Alpen aufgebrochen. Als ich schon eine Weile unterwegs bin, sehe ich auf meinen Tacho. Es ist genau zehn Uhr. Mein Herz zieht sich zusammen, und ich spüre einen stechenden Schmerz in der Brust. Tränen treten mir in die Augen. Meine Sonnenbrille beschlägt von innen. Mein Hinterrad schleudert mir vom gerade durchfahrenen Kuhfladen Scheiße auf den Rücken. Ich fluche. Ein paar Almkühe glotzen blöd zu mir herüber.

Trainingspause

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Letzte Woche wurde die Uhr wieder auf Winterzeit umgestellt. Seit meinem spätsommerlichen Ausflug nach Andermatt ist noch kein Tag vergangen, an dem ich nicht an meine Traumfrau gedacht habe. Und weiterhin sitze ich jeden Tag zu Trainingszwecken auf meinem Rennrad. Irgendwie muss ich die Zeit ja rumkriegen. Weil ich keine andere Idee habe, wie und wo ich meine Traumfrau wiedertreffen könnte, habe ich mich bereits für die Alpenchallenge im nächsten Sommer angemeldet. Ich weiß ja von ihrem Vorhaben, an diesem Rennen teilzunehmen. Aber was, wenn es an dem Tag wie blöd regnet und sie deshalb auf einen Start dort verzichtet? An mir soll es nicht liegen. Ich werde die Alpenchallenge auch bei Regen fahren! Um diese Gelegenheit auf ein Wiedersehen mit meiner Traumfrau nicht zu verpassen, übe ich Regenfahrten bereits auf meinen täglichen Runden durch feuchtes, kaltes, nebliges Herbstwetter. Na ja, ehrlich gesagt beschränkt sich meine sportliche Aktivität seit der Zeitumstellung eher auf die Wochenenden.

Neuerdings trainiere ich in einer Radgruppe mit Marc, Martin und Elena. Die sind alle nicht nur wesentlich sympathischer als Osenberg, sondern auch fitter und um einiges jünger. Ich selbst fühle mich in diesem Kreis wie vor 20 Jahren. Osenbergs graue Haare erinnern mich nämlich viel zu sehr an meinen eigenen körperlichen Verfall. Und den jüngeren Mitfahrern lasse ich am Berg oder beim Sprint gerne generös den Vortritt. Ein Verhalten, welches es zwischen Osenberg und mir niemals geben wird.

Manchmal gehe ich das Winterhalbjahr über aber auch zum Spinning-Kurs im Fitnessstudio. Neulich kam ich zehn Minuten vor Beginn in den Raum. Osenberg saß bereits im Sattel. Er trug sein grünes Transalp-Finisher-Trikot. Sein Gesicht sah blass aus. Von der guten Form, die er in der Vorwoche noch an den Tag gelegt hatte, war nichts mehr zu sehen. Ob der Winter an ihm nagte?

Als ich mich umsah, musste ich erkennen, dass bereits alle Ergobikes besetzt waren. Manche waren verbotenerweise mit einem Handtuch reserviert. Ich hätte das Handtuch einfach auf den Boden geworfen, wenn nicht noch jemand seinen Pulsmesser an den Lenker montiert gehabt hätte.

Mir blieb nichts anderes übrig, als das Feld Osenberg und einem Haufen unsportlicher Mädchen in weiten Jogginghosen zu überlassen. Gut möglich, dass Osenberg mich insgeheim beneidet hat. Denn er wusste, dass ich nun die an diesem Abend trockene Straße hoch auf meinen Hausberg, den Weißen Stein, fahren würde. Während er in einem stickigen Raum voller Spinning-Hühner und mit einem Trainer saß, den wir draußen am kleinsten Hügel sofort abhängen würden. Osenberg hatte damit aber kein Problem, solange er sich seine blöde Fresse und die Muskeln seiner sich auf- und abwärts bewegenden Beine im Spiegel begaffen konnte.

Für mich ist es immer wieder erstaunlich. Während ich nach einer Stunde Spinning mein klatschnasses Trikot kaum vom Körper kriege, ist bei den mittrainierenden Damen oft nicht eine einzige Schweißperle zu sehen. Vielleicht haben sie an der Einstellschraube weniger Widerstand eingestellt. Das lässt sich ja schwer kontrollieren. Osenberg tut auch oft so, als würde er die Schraube fester ziehen. Doch ist mir dabei schon aufgefallen, dass er mit den Fingern gar nicht richtig zufasst und nur das Handgelenk über der Einstellschraube dreht. Dennoch halte ich es immer noch für anstrengend, selbst wenn man ohne nennenswerten Widerstand längere Zeit auf dem Ergobike im Stehen fährt. Immerhin sind diese Schnecken ja in der Lage, eine Stunde lang mit ihren Beinen die Kurbel zu drehen. Vielleicht handelt es sich ja um ausgezeichnete Langstreckenathletinnen? Kann ein außenstehender Beobachter überhaupt einen Unterschied zu meinen Bemühungen erkennen? Kann er sehen, dass ich schneller spinne als Osenberg? Im Grunde machen ja alle Teilnehmer eine Stunde lang dasselbe. Außer Osenberg ist noch niemals jemand ein Ausreißversuch geglückt. Alle sind sie im Studio eingesperrt.

Aber ich war frei. Über dreißig Minuten Kraft am Berg an der frischen Luft lagen vor mir. Zwar war ich dabei nicht so schweißgebadet wie Osenberg in seinem überfüllten Hühnerstall, aber ich habe dabei bestimmt mehr Energie verbrannt als 20 dieser Spinnerinnen zusammen. Allein war ich nicht. Ich hörte Käuzchen rufen, und mitten im dunklen Wald stand ein grün gekleideter komischer Kauz mit einem Gewehr über der Schulter. Ab diesem Zeitpunkt fuhr ich den letzten Kilometer noch mal deutlich schneller.

Solche trockenen Abende sind im Winter leider sehr rar. Die frische klare Luft. Die geile Abfahrt. Der kernige Gegenanstieg kurz vor dem Ende. Das Wiedereintauchen in die Stadt über unsere Einflugschneise fiel nicht ganz so schnell aus, wie wenn ich in Begleitung meiner Trainingsgruppe bin, aber ich sprintete wie üblich mit vollem Einsatz bis zum Ortseingangsschild. Kurz darauf roch es in meiner Küche köstlich nach von mir angebratenem Hühnchenfleisch. Absolut kein Vergleich zu dem Pumakäfig, in dessen Gestank Osenberg trainiert hatte.

Aber am nächsten Tag traf ich Osenberg im Einkaufscenter. Ich musste mir anhören, wie effizient er gestern wieder trainiert hätte. Und dass dies alles der Vorbereitung für sein nächstes Trainingslager diene.

Ich bin es echt leid. Nein, es geht nicht um den Winter. Der ist ja jedes Jahr ähnlich. Es geht um das ewige Hadern und Reklamieren. Vergessen die Leute, wie der Winter im Vorjahr war? Was haben die Menschen für Erwartungen an die kalte Jahreszeit? Es ist doch klar, dass der Frühling irgendwann kommen wird. Und dann geht das Gejammer über die Hitze wieder los. Beim Training ist manchmal einer dabei, der immer einen Grund zum Meckern hat. Wie der heißt, weiß ich nicht. Wir nennen ihn Nörgelpeter.

Aber es hilft ja nichts. Am besten macht man einfach mal eine Pause. Aber wie lange? Letzten Winter hatte ich Mitte März noch Schnee in den Helmschlitzen sitzen. Es gab auch schon Jahre, in denen kam der Frühling erst am 24. April. All die anderen Winter habe ich erfolgreich verdrängt. Ich glaube, zu Weihnachten kaufe ich mir so eine Rolle mit Computersimulation von Alpenpässen, virtuellen Gegnern und Osenberg als Windschattengeber in Level zwei.

Ach, besser kaufe ich so ein Gerät erst im kommenden Sommer. Dann ist es günstiger.