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Theobald O. J. Fuchs

 

Niemand ruht ewig

 

Kriminalroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juli 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © plainpicture / Frank Herfort

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-703-2

 

Inhalt

Personenregister

Vorbemerkung

Kapitel 1: Einmal Friedhof quer durch

Kapitel 2: Steinschlag

Kapitel 3: Rumänienfahrt

Kapitel 4: Tutenchamun

Kapitel 5: Jedem Dorf seine Dramaqueen

Kapitel 6: Auf der schiefen Ebene

Kapitel 7: Irgendwie zurück

Kapitel 8: Ringkämpfe

Kapitel 9: Keith Richards

Kapitel 10: Katzentod

Kapitel 11: Dolce Vita

Kapitel 12: Rohr- und Leistenbruch

Kapitel 13: Frauenbegegnungen

Kapitel 14: Unterleibsangelegenheiten

Kapitel 15: Jemand hatte die Absicht, ein Gartenmäuerchen zu errichten

Kapitel 16: Zur Grauen Gans

Kapitel 17: P. A. M.

Kapitel 18: Ein schlagartiges Geständnis

Kapitel 19: Die Vor- und Nachteile eines Getreidesilos

Kapitel 20: Die Dosis macht das Gift

Kapitel 21: Zahnarzttermin

Kapitel 22: Niemand ruht ewig

Zeitgeschichtliche Tatsachen

Der Autor

 

Personenregister

Georg und Almuth Degenhardt (geb. Bär); zwei Söhne: Christian und Ferdinand; Großmutter Bär

 

Familie Steigner; drei Söhne: Klaus, Stefan, Ralf; der Großvater Gemeindediener

 

Richard und Elke Müller, geb. Seibold, genannt »Seibold-Müller«; Vater Wilhelm Seibold

 

Hermann Proppenstädter, Großbauer, Ehefrau Monika (geb. Flechsner) und fünf Kinder

 

Dr. Alfred Winkler, Zahnarzt mit Praxis in Velden, und seine Frau Babette

 

Bernd Rammelkammer und seine getrennt lebende Ehefrau

 

Dr. Ludwig Eißenpacher, Richter im Ruhestand

 

Dr. Egon Reichinger, Arzt in Vorra, und Dr. Matjewitz, Tierarzt vom Raitenberg

 

Johann »Hannes« und Gerlinde Deißner, Letztere mit einem Sohn aus erster Ehe

 

Hans Demleitner, seine Frau und Schwiegersohn Werner

 

Die Brüder Fritz und Karlheinz Bayerlein, Letzterer Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr

Georg Schramm, Landwirt, und sein Cousin Thomas Schramm, Bestatter in Hersbruck

 

Ingrid Wörner, ihr Mann (Betreiber des örtlichen Einkaufsladens), Sohn und Tochter

 

Harry Brunner, Gastwirt im Pechwirt, Tochter Petra

 

Eiwei, Bauhilfsarbeiter, und Friedrich Brunn, genannt »Brunzfritz«, Maurer

 

Anton Haußner, Baustoffhändler in Alfalter, und Willi Kragel, Baumaschinenhändler in Happurg

 

Dr. Bukowski, eigentlich Hugo Gabsteiger, Nürnberger Unterweltgröße

 

Diverse Einheimische: Hans Dotzauer und Klaus Prütting (Landwirte), Martin Zepfer (Maschinenschlosser), Helmut Schmidt (bildender Künstler aus Hersbruck), Crohnberger (Wirt in der Juraschanze), Gumpsch aus Eschenbach, Wolfgang Haiger (FÜW-Arbeiter), Frau Österreicher (ehem. Wirtin der Juraschanze), Gisela Fichtner, Alfons Schreiter, Herr und Frau Mehl (Tankstellenbesitzer in Vorra), Martin Habermann (Leiter der Bank in Vorra)

 

Vorbemerkung

Alle Personen und deren Handlungen, die in dieser Geschichte beschrieben werden, sind vollkommen frei erfunden und besitzen höchstens rein zufällig Ähnlichkeit mit realen Ereignissen.

Insbesondere für Leser, bei denen während der Lektüre eventuell der Eindruck entsteht, Artelshofen sei ein Nest, in dem es nur so von Drogenhändlern, Psychopathen, Pros­tituierten und Mördern wimmelt, sei ausdrücklich angemerkt, dass dieses Dorf in Wahrheit einer der friedlichsten und sichersten Orte auf der ganzen Welt ist und noch nie einen nennenswerten Kriminellen hervorbrachte.

Und das ist die Wahrheit: Wenn ein oder zwei Mal im Jahrhundert ein Fall schwerwiegenden Verbrechens auftritt, dann kommen die Täter stets von außerhalb, mit Vorliebe aus der vormals Freien Reichsstadt Nürnberg. So auch in der folgenden Geschichte, in deren Verlauf das Thema der Großstadt als Sündenpfuhl mehrmals thematisiert wird.

Und um wirklich jedem Missverständnis vorzubeugen, muss unbedingt betont werden, dass die abfälligen Meinungen verschiedener Protagonisten ganz und gar nicht denen des Autors entsprechen – manchmal ist der Autor selbst darüber verblüfft, welch krude Ansichten sein Personal zum Besten gibt.

 

Kapitel 1: Einmal Friedhof quer durch

Minutenlang starrte Georg Degenhardt den Schädel mit dem goldenen Backenzahn an, der auf seinem rechten Handteller ruhte. Er dachte an die Kühle des zurückliegenden Morgens. An eine halbdunkle Kühle, die er sich jetzt sehnlich herbeiwünschte, um besser nachdenken zu können. Genauer: um trotz der mörderischen Hitze glauben zu können, was er da sah.

Sie arbeiteten zu dritt auf dem Friedhof, der das Pech hatte, auf der Strecke zu liegen, entlang derer die Abwasserleitung laufen sollte, die das Kuhdorf an die neu errichtete Kläranlage unten an der Pegnitz anschließen würde. Zwar hatte der Bauingenieur der Nürnberger Firma alles Erdenkliche getan, um so wenig Gräber wie möglich zu tangieren – der längste Teil des Rohres würde unter dem Hauptweg verlaufen –, doch ganz in der entferntesten Ecke, dort, wo seit Jahrhunderten die ungetauften Kinder und die Selbstmörder beigesetzt wurden, besagte der Plan, dass es durch die Grabstelle des Friedrich Bayerlein gehen musste, der sich seinerzeit erschossen hatte. Wegen der Winklerin nämlich, und das wusste jeder im Dorf, auch wenn es nie amtlich gemacht worden war, damals vor sieben Jahren. Der Bayerlein war ein armer Schlucker gewesen, eher ein Künstlertyp, schwärmerisch und melodramatisch, ganz anders als sein Bruder, der inzwischen erster Kommandant der Vorracher Feuerwehr war. Und deswegen hätte auch jeder im Dorf beschwören können, dass der Bayerlein keinen Goldzahn besessen hatte.

Alleine das hätte ausgereicht, um selbst Eiwei, der im Tal nicht gerade als Intelligenzbestie verschrien war, stutzig zu machen. Der hatte nun schon zum dritten Mal Georgs Namen gerufen, ob alles in Ordnung sei und dass er, Eiwei, langsam frischen Aushub in seiner Schubkarre brauchte, zum Wegfahren. Was dem kochenden Hirn des Bauunternehmers jedoch unmöglich eingehen wollte, war die Tatsache, dass der Schädel in seiner Hand vollkommen unversehrt war, kein Kratzer, kein noch so winziges Loch in der knöchernen Stirn war zu erkennen, was man wohl bei einem, der sich eine Pistole an die Schläfe gesetzt hat, hätte erwarten können.

Georg brannte die unbarmherzige Julisonne auf den nackten Kopf, während er reglos dastand und sich mit der linken Hand, in der er zugleich die ausgeblichene Bundeswehrmütze hielt, das kahler werdende Haupt kratzte. Und nicht begreifen konnte, wie leicht so ein Menschenschädel wog, wenn der erst einmal sein Kleid aus Fleisch und Haut abgestreift hatte und sein stummes Memento mori sprach.

Als dann Stefan, der Ferienarbeiter, zu Georg in die Grube sprang, um zu sehen, was los war, erwachte dieser aus seiner Erstarrung und befahl: »Bleibt hier! Fasst nichts an und lasst niemanden in das Loch! Ich bin mal unten im Grünen Baum und telefoniere nach der Polizei.«

Stefan, der mittlere der drei Steigner-Söhne, arbeitete in den Ferien als Handlanger, nicht so sehr aus eigenem Wunsche – obwohl er sich selbstverständlich über das Geld freute, das jeden Freitag in seiner Lohntüte steckte –, als vielmehr, weil der Steigner-Vater der Meinung war, der Bub müsse etwas Gescheites lernen, und wenn schon nicht auf dem Gymnasium in Hersbruck, wo sie ihn bloß mit Latein versauten, dann eben in den Ferien bei der Bauunternehmung Gg. Degenhardt.

Stefan würde etwas zu erzählen haben, wenn die Schule wieder anfing, so viel stand fest, auch wenn er nach Hause geschickt wurde, als sein Chef von der Wirtschaft, wo er telefoniert hatte, zurückkehrte. Ein paar alte Herren, die beim täglichen Frühschoppen gesessen waren, begleiteten den Baumeister, und als der Pfarrer den Auflauf auf seinem Kirchhof bemerkte, gesellte auch er sich hinzu und offerierte geistlichen Beistand, wenngleich dieser nicht wirklich nachgefragt wurde. Alle rätselten, wem der unversehrte Schädel, der zwischen den Schienbeinknochen des Bayerlein gelegen hatte, wohl gehören mochte. Aber obwohl alle ihr Gedächtnis nach Erinnerungen an den Selbstmord durchsuchten, fand sich doch nicht ein noch so unauffälliger Hinweis auf eine zweite Leiche, die damals etwa neben dem Bayerlein im Dreck gelegen hätte. Die Winklerin war bei bester Gesundheit und führte immer noch ein fröhliches Leben. Und so groß war die Gemeinde beileibe nicht, dass jemand heimlich verschwinden und sich so viele Jahre unbemerkt in einem Grab hätte verstecken können.

Die Polizei kam dann auch schon nach einer guten Stunde und brauchte nicht lange nachzuforschen, um zur Überzeugung zu gelangen, dass hier etwas faul war. Unterstützt von Georg und dem Hilfsarbeiter förderten sie einen großen Haufen Knochen an den Tag, viel mehr Knochen, als man bei einer einzelnen Person erwarten durfte. Gewissheit da­rüber, dass es sich hier um einen unerhörten Fund handelte, herrschte vollends, als die Überreste eines Damenschuhs ans Licht kamen. Freilich war nur die geschwungene Plastiksohle, die in einem mindestens fünfzehn Zentimeter hohen Absatz endete, übrig geblieben, doch auch ohne Schaft, Kappe oder Oberstoff war sofort klar, dass keine Frau in der Gemeinde jemals ein solches Modell besessen hatte. Ein Nuttenschuh war das, darin waren sich alle Anwesenden, einschließlich des Pfarrers und der Polizisten, einig.

Der Pfarrer war – vielleicht, weil er sich als moralische Instanz dazu verpflichtet fühlte – der Erste, der den einen Gedanken, den alle Zuschauer zugleich dachten, in Worte fasste. »Vor allem: Was hat eine Frau in diesem Grab zu suchen?«, fragte er mit erkennbar ehrlich empfundener Empörung. Doch bekam er freilich keine Antwort, im Gegenteil. Nur die Hitze prügelte stumm auf ihre gebeugten Rücken ein, kein Vogel wagte sich hinaus aus dem Schutzschirm der Friedhofsgewächse in die flirrende Luft, und am Boden der Grube bildeten sich kleine Flecken feuchter Erde, vom Schweiß, der Georg und Eiwei von den Stirnen tropfte, während sie sich immer tiefer in den sandigen Grund wühlten. Der Pfarrer tupfte sich Hals und Nacken mit einem rosaroten Taschentuch, und die Polizisten lüfteten alle Augenblicke die Uniformmützen, um ihre Diensttauglichkeit nicht zu gefährden.

Als die zwei Totenköpfe nebeneinander auf eine blaue Plastikplane gelegt und fotografiert wurden, hatte auch Eiwei endgültig begriffen, dass hier etwas nicht stimmte. Er stand mit hängenden Armen daneben, kriegte den Mund nicht mehr zu und bemerkte nicht, wie die Sonne durch seine großen abstehenden Ohren schien, als trüge er zwei Signallaternen links und rechts am Kopf. Derweil hatten zwei Beamte von der Spurensicherung auf Knien den Boden der Grube abgesucht, hatten die allerkleinsten Knochen, Zähne, Holzsplitter und alle Stofffetzen eingepackt, die noch nicht endgültig zerfallen waren. Das, was vom zweiten Stöckelschuh übrig geblieben war, hatten sie schnell gefunden, und auch eine Gürtelschnalle, Knöpfe, den verrosteten Reißverschluss einer Jeans und eine Haarspange aus Plastik brachten sie in Sicherheit, ehe das Unwetter eintraf.

Einen weiteren interessanten Fund allerdings konnten sie nicht machen, trotz Lupe, Sieb und Pinzette. Denn den auffälligen Ring aus drei ineinander verschlungenen silbernen Schlangen hatte der Steigner-Junge, während er das Grab bewachte, entdeckt und eingesteckt. Leicht war ihm das nicht gefallen, denn er wusste natürlich, dass er etwas Verbotenes tat. Stefan hatte nicht die geringste Ahnung, was er mit dem Ring anstellen sollte, den er fest mit der in die Hosentasche gesteckten Faust umklammerte, als er vom Friedhof fort in Richtung Elternhaus radelte, nachdem jemand gesagt hatte, der Anblick von Stöckelschuhen in einem Männergrab sei nichts für das Kind. Natürlich wäre Stefan liebend gerne geblieben, vor allem, weil ihn der Schädel des Selbstmörders interessiert hätte, der ja das Einschussloch einer echten Pistolenkugel aufweisen musste. Andererseits konnte er es aber auch kaum erwarten, mit dem Fund vor seinem kleinen Bruder zu prahlen.

Gegen fünf Uhr sammelten Degenhardt und Eiwei die Werkzeuge ein und beluden den Transporter. Sie hatten die komplette Grabstelle des Bayerlein ausgehoben, bis in eins siebzig Tiefe, wie es die Düsselbacher Friedhofsordnung für Einzelgräber vorschreibt. Nur ein Trupp von drei oder vier Kriminalern beschäftigte sich noch mit Erdkrümeln und Steinchen, die sie am Boden der Grube auflasen, sodass schon aus drei Schritt Entfernung kein Mensch mehr ihre Anwesenheit bemerkte. Doch das gaffende Volk hatte sich sowieso schon vor dem Angriff des thermonuklearen Höllenfeuers am Himmel ins Wirtshaus zurückgezogen.

Die beiden Bauarbeiter waren erschöpft und vollständig verdreckt. Georg dachte mit Schauern des Wohlbehagens an die kühle Dusche, die er sich zu Hause gönnen würde, während Eiwei noch damit beschäftigt war, das Erlebte zu verarbeiten. Auf dem Rückweg fing Eiwei dann auch sofort an, laut über das Schuhwerk der vermutlich weiblichen Leiche nachzudenken, was bedeutete, dass der Eiwei redete und redete und redete. »Eiwei«, begann er mindestens jeden zweiten Satz, und er hatte viel zu sagen, vor allem, wenn er betrunken war, und er war häufig betrunken, sehr häufig sogar. Die ganze Gemeinde rief ihn ausschließlich Eiwei, und sein Taufname, den er aus Schleswig-Holstein mitgebracht hatte, war darüber komplett in Vergessenheit geraten. Und er konnte definitiv nicht dreißig Jahre in die Zukunft blicken, dass da einst ein aufmerksamkeitssüchtiger chinesischer Dickwanst unter einem sehr ähnlichen Namen berühmt werden sollte, indem er sich als Regimegegner hochstilisierte, obwohl er nicht lange zuvor noch den Bonzen den Hintern ausgeleckt hatte, um das Olympiastadion in Peking bauen zu dürfen, wobei er genau betrachtet nichts weiter als maximal konforme Mittelstufenkunst ablieferte, so fade und ausgelaugt wie ein vergammelter Spülschwamm, der Inhalt so flach, dass sich schon ein Vierzehnjähriger daran den Kopf aufschlagen könnte … aber halt! Wir schweifen ab. Darüber muss ein anderes Mal geredet werden.

Der Eiwei also saß auf dem Beifahrersitz und kramte seine Erinnerung an eine andere Gelegenheit zusammen, bei der er ebensolche Schuhe gesehen hatte, wie sie den Bayerlein auf der Reise durch die Ewigkeit begleiteten – oder bis vor wenigen Stunden begleitet hatten.

»Beim Kütt, eiwei, jeden Tach saßen wir darinne, eiwei …«, legte er hastig los, stolperte über die Buchstaben, nahm einen tiefen Schluck aus der Bierflasche und fuhr dann fort zu erzählen: von einer Frau, die jeden Tag »auch da« gewesen sei, in der Pintekneipe seiner nordfriesischen Heimat, die Stöckelschuhe trug und gewaltig riesige Titten hatte, also die Frau freilich, nicht die Pintekneipe, betonte Eiwei. Das Fünfmarkspiel hätten sie immer mit ihr gespielt, weil es dabei so schön klatschte. Wenn Meike, die gut bestückte Dame nämlich, zu später Stunde ihre monströsen Melonen aus dem Ausschnitt hervorzog und die Jungs aufforderte, mit einer Münze zu werfen. Wenn es der Meike gelang, die Münze in der Luft zwischen ihren Brüsten zu fangen, behielt sie das Geld.

»Und wenn sie es nicht fing?«, fragte Georg.

»Na dann kam das Geld, eiwei, in so n Sparfisch, eiwei, davon bezahlten wir reihum die Meike, wenn sie uns mit, eiwei, in ihre Kammer nahm, nach oben, näch?«

Georg kannte Eiwei schon so lange, dass er meinte, wirklich alles bereits dreimal gehört zu haben, was dieser zu sagen hatte. Doch die Geschichte von der käuflichen Ostfriesin war neu für ihn, und er hörte aufmerksam zu, welches Hintergrundwissen seines Hilfsarbeiters da zum Vorschein kam. Eiwei wiederum erwartete keine Antwort. Er leerte die Flasche und öffnete mit einem kräftigen Ruck am Fensterrahmen des Mercedes die nächste. Dann begann er laut nachzudenken.

»Ich frach mich, eiwei, wie zum Deubel schließen wir jetzt den Kanal an, eiwei?«

»Wie meinst du das?«

»Die Polizei, eiwei, der gehört doch nu das Grab, nich wahr?«

Auch jetzt enthielt sich Georg jedes Kommentars. Jedoch nicht aus dem gleichen Grund wie zuvor, als ihm das Thema einfach zu blöd geworden war. Laut Plan sollte nun die ­große auswärtige Spezialfirma, welche die Kläranlage errichtete, das eigentliche Abwasserrohr verlegen. Danach käme erneut die ortsansässige Bauunternehmung an die Reihe, den Graben aufzufüllen und den Friedhof wiederherzurichten, so gut es eben ging. Georg fürchtete zwar, dass der Ablauf nun durch den Fund ins Stocken gekommen war, doch würde er den August über sowieso sämtliche Baustellen ruhen lassen, insbesondere auf dem Kirchhof in Düsselbach. Nicht wegen der überzähligen Gebeine, sondern weil sich inzwischen die Familie Degenhardt zu einem abenteuerlichen Ausflug aufmachen würde, nämlich hinter den Eisernen Vorhang nach Rumänien, um dort einen Friedhof zu besuchen. Einen Friedhof der ganz anderen Art allerdings.

Am Abend veranstalteten die Schwalben ein mörderisches Spektakel bei der Jagd nach Insektenvieh, sie zischten so tief über die Dorfstraße, dass die Mücken nicht einmal unter den Fensterbrettern in Sicherheit waren. Und als wollte der Regen ganz bewusst die alte Bauernregel bekräftigen, dass er von tieffliegenden Vögeln angekündigt werde, grollte im letzten Licht des Tages ein blauschwarzes Gewölk aus Westen heran, kippte mit Blitz und Donner und allem, was dazugehört, über den Berg ins Tal und entlud einen Sturzbach über die Felder und Wiesen, die gierig die dicken Tropfen aufsogen, während in den Wohnzimmern das Licht flackerte, wenn der Blitz in einen der Strommasten des Fränkischen Überlandwerks* fuhr.

Die Baustelle soff ab, Graben und offene Gräber liefen voll, sodass schließlich eine braune Brühe auf dem Düsselbacher Friedhof schwappte, auf der Blumenkadaver und modrige Stofffetzen schwammen. Natürlich hatten die Fachleute von der Mordkommission alle Überreste der unbekannten Frau sowie des Bayerlein geborgen. Und auf die Gerichtsmediziner wartete die schöne Aufgabe, einen Haufen Knochen aller Größen und Formen auseinanderzusortieren und anschließend auf zwei tote Personen aufzuteilen.

Der durchlöcherte Schädel des Bayerlein war dabei nichts weiter als das einfachste unter all den Hunderten Teilen des Puzzles.

 

Kapitel 2: Steinschlag

In den Tagen, die auf das mächtige Gewitter folgten, machten sich natürlich noch weit mehr, wenn nicht alle Einwohner der Gemeinde Gedanken, wie es wohl die Frau in das Grab des unglücklichen Friedrich Bayerlein geschafft haben mochte.

Am Stammtisch im Gasthof Juraschanze wurde jeden Tag vom ersten Bier an, also etwa ab zehn Uhr vormittags, diskutiert, und da es zwei Wochen dauerte, bis die Polizei mit ersten Erkenntnissen herausrückte, schossen die Spekulationen ins Kraut. Niemand wusste etwas, aber jeder hatte eine Meinung. Vor allem am Sonntag, bei Frühschoppen und Schafkopf, ging es hoch her in der Wirtsstube.

Die eine der Gruppen, die sich allmählich herausbildeten, stellte die Hypothese auf, dass die Knochen und Kleidungsreste schlicht und einfach schon längst im Boden gelegen hätten, als man den Bayerlein vergrub. Oder, was ja gemäß neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen jederzeit vorkommen könne, durch unterirdische Bodenverschiebungen hinübergewandert seien. Vor allem der Zahnarzt Winkler, der in Artelshofen wohnte und in Velden praktizierte, und der Rammelkammer, der einen Autohandel in Hersbruck betrieb, vertraten diese These.

Dieser schlugen natürlich tausenderlei Einwände und Widersprüche entgegen. Wieso niemand gewusst haben sollte, dass dort, wo der Bayerlein zur Ruhe gebettet wurde, bereits eine Frau begraben lag? Wer es denn auch überhaupt gewesen sein sollte, da doch seit unzähligen Jahrzehnten über alle Frauen, die in der Gemeinde gestorben seien, genaue Kenntnis herrschte – zumindest darüber, wo ihr Grabstein aufgestellt worden war?

Friedrich Brunn, der für die Bauunternehmung Gg. Degenhardt als Maurer arbeitete und den alle nur den »Brunzfritz« nannten, Klaus Prütting aus dem unteren Dorf und auch Georg selbst, der die Entdeckung ja gemacht hatte, sahen die Sache ganz nüchtern und forderten eine andere Erklärung. Eine, die mit so wenigen Zusatzannahmen wie möglich auskam. Demnach, so verkündete der Prütting mit großer Selbstgewissheit der gesamten Wirtsstube, müsse der Bayerlein mit dieser Frau in einer Beziehung gestanden haben, wie auch immer es sich im Detail verhalten habe. Kurz, die Frau sei zeitgleich mit dem Bayerlein gestorben und direkt mit ihm oder, wenn’s nach dem Prütting ging, auch auf ihm in derselben Grube bestattet worden.

»Humbug!«, hieß es da, und da könne man ja gleich behaupten, dass sich die Frau freiwillig in den Sarg vom Bayerlein gelegt habe, weil sie bis in alle Ewigkeit an seiner Seite habe liegen wollen, am Ende käme man noch auf die Idee, sie sei lebendig neben der Leiche ihres Liebhabers begraben worden.

Woher man sicher sein könne, dass diese Möglichkeit auszuschließen sei, erwiderten darauf prompt die Anhänger einer Doppelbeerdigungstheorie. Umgekehrt könne die Fraktion, die behaupte, die Frau sei schon von Anbeginn der Zeit dort unten an- bzw. verwesend gewesen und gelegen, nicht leugnen, dass die Schuhe aus der jüngsten Vergangenheit stammten. Jedwede Spekulation über eine hastige Beisetzung einer Unbekannten während der letzten Kriegstage oder in dem Chaos, als später die Flüchtlingstrecks aus dem Sudetenland durchs Tal zogen, entbehre somit jeder Grundlage.

Aus dem Widerstreit der beiden am heftigsten diskutierten Erklärungen entsprang eine dritte Hypothese, die zuallererst vom Winkler vertreten und dann vom Dotzauer und vom Prütting übernommen wurde. Dass nämlich die Knochen der Frau schon lange vor dem Bayerlein unter der Erde geruht hätten, die Schuhe jedoch von einer heimlichen Liebschaft des Bayerlein diesem quasi als Abschiedsgeschenk hinterhergeschmissen worden seien. Winkler stand leidenschaftlich für diese These ein. Wieso man nicht unterscheide zwischen den Gebeinen und den Schuhen?, fragte er herausfordernd. Gebeine auf einem Friedhof seien nun wirklich nichts Ungewöhnliches, während es für die Schuhe bestimmt eine einfache Erklärung gebe. Vielleicht habe er sie anstelle seiner heruntergelatschten Halbschuhe am Ende selbst im Sarg angehabt, der Bayerlein, den Winkler wegen seiner engen Jeanshosen schon immer für »eine verkappte Schwuchtel« gehalten hätte, wie er gehässig in die Runde warf. Da stimmte der Deißner, der ebenfalls eifrig mitdebattierte, plötzlich nachdrücklich zu, das sei die Lösung, so musste es gewesen sein.

Dass die Schuhe exakt Größe sechsunddreißig hatten, gab die Polizei erst später bekannt. Dass sie definitiv nix für den plattfüßigen Stenz Bayerlein gewesen waren, hatte jedoch schon jeder, der bei der Bergung am Friedhof dabei gewesen war, auf den ersten Blick sehen können. Nur konnte das zu jenem Zeitpunkt kaum jemanden beirren. Denn daran, was die Kriminaltechnik mit all ihrer Wissenschaft und Gründlichkeit bald herausgebracht haben würde, etwa auch aus welcher Zeit Schuhe und Knochen stammten, ja dass sie sogar einen möglichen Namen der zweiten Person im Grab hervorzaubern würde, dachte im Eifer des Wortgefechts keiner der Spekulanten.

Die Meinung des Johann Deißner besaß ein gewisses Gewicht, egal, was die Logik dazu sagte. Denn der Deißner war einer der beiden Menschen gewesen, die den unglücklichen Selbstmörder in den Schubkarren geladen und vor zur Hauptstraße verfrachtet hatten, wo das Leichenauto mit dem Sarg gewartet hatte. War doch der Fritz Bayerlein in ebendemselben Pflanzgärtchen, das er vom Deißner gepachtet hatte, aufgefunden worden.

Am 15. August 1979 feierte dann Hans Demleitner seinen sechzigsten Geburtstag, und eine gut gelaunte Runde versammelte sich auf der Terrasse des Jubilars, die zwischen das Haus und eine Stützmauer, gleich unterhalb des Wachtfelsens an der Wirtsleite, hineingequetscht war. Da war der alte Steigner, Stefans Großvater, der sich mit weit über neunzig Jahren immer noch als Gemeindebote verdingte und einmal im Monat durchs Dorf zog, mit einer Handglocke durch die Luft wedelnd, um die Anwohner auf die sich anschließende Verlesung des letzten Gemeinderatsbeschlusses aufmerksam zu machen. Er eröffnete sozusagen offiziell die Geburtstagsfeier, indem er eine nicht enden wollende Gratulation in Reimform vortrug, die unter dem Strich allerdings nicht viel mehr verkündete, als dass das Geburtstagskind seit mindestens vierzig Jahren beim Fränkischen Überlandwerk an der Instandhaltung der Strommasten arbeitete und sich in seiner Freizeit leidenschaftlich mit dem Trinken von bierartigen Getränken beschäftigte. Jede Strophe verursachte großes Gejohle unter den Gästen, zumeist Arbeitskollegen Demleitners, die in ihren Arbeitsblaumännern erschienen waren und dem gleichen Hobby frönten.

Auch das Nachbarsehepaar, die Seibold-Müllerin und ihr Mann Richard, war herübergekommen und hatte eine Flasche Schlehengeist mitgebracht, der großen Zuspruch fand. Er, der Seibold-Müller, war ein langweiliger Glatzkopf. Er arbeitete in der Zulassungsstelle in Lauf, wo seit 1972 auch die Hersbrucker hinfahren mussten, um sich eines der verhassten LAU-Kennzeichen aushändigen zu lassen. Er ging alle Werktage um halb sieben Uhr früh aus dem Haus, kehrte um vier zurück und hockte dann auf dem Sofa vor dem Fernsehapparat, bis er einschlief. Seine Frau hingegen, die war aus einem anderen Holz geschnitzt. Die lachte schallend laut, wenn jemand einen deftigen Scherz machte, und stieß mit einem nach dem anderen an, indem sie die Männer hartnäckig aufforderte, ihr Schnaps nachzuschenken. Man darf jetzt nicht meinen, dass die Seibold-Müllerin eine Schnapsdrossel war. Nein, da gab es ganz andere Vögelchen im Dorf. Die Trunkenheit der Seibold-Müllerin hatte etwas Verzweifeltes an sich. Sie war weder die Zigaretten gewohnt, die sie in einer Tour schnorrte und anzündete, noch den harten Alkohol, der sie erhitzte. Man wusste im Dorf, dass ihr Mann seine ehelichen Pflichten seit Jahren vernachlässigte, sodass es ihr kaum jemand übel nahm, wenn sie sich hin und wieder an den einen oder anderen Kerl ranschmiss. Zumal nur an Junggesellen oder Auswärtige, darüber hi­naus in der Regel ohne Erfolg. Und umgekehrt sagten gerade die verheirateten Frauen, dass ein Kerl aus Stein gehauen sein müsste, wenn er die Seibold-Müllerin nicht appetitlich fände mit ihren schwarz glänzenden Augen, schulterlangen braunen Haaren und dem gut gerundeten Hintern in den engen Jeans. Wiewohl ihr jugendliches Daherkommen so manchem gefiel, war sie so jung nun auch nicht mehr. »Von hinten Lyzeum, von vorne Museum«, hatte der Winkler einmal im Scherz zu Georg gesagt, während der unter ihm im Behandlungsstuhl lag und seine Zunge nicht bewegen konnte. Aber der Zahnarzt ging davon aus, dass sein Patient das Fremdwort kannte, sodass er nicht mit einer Nachfrage rechnete. Georg galt nämlich im Kreise der Dorfhonoratioren als gebildet, im Wesentlichen, weil seine Frau eine echte Akademikerin war und an der Grundschule unterrichtete.

Einer der Junggesellen, bei denen die Seibold-Müllerin schon mehrfach abgeblitzt war, war der Feuerwehrkommandant Karlheinz Bayerlein, der ebenfalls beim Demleitner auf der Terrasse saß. Karlheinz war der ältere Bruder des unglücklichen Selbstmörders, dem die irregeleitete Liebe zur Winklerin das Genick gebrochen hatte, welche wiederum eine gute Freundin der Seibold-Müllerin war – derzeit jedoch mit ihrem Mann, dem Zahnarzt, im Sommerurlaub.

Der alte Steigner war nach Hause gegangen, nachdem er seine Bratwurst gegessen hatte. Die schattige Terrasse war mit dem rötlichen Flackern eines Dutzends Windlichter besprenkelt, auf einem Plastiktischchen neben dem vorderen Treppenaufgang dudelte Musik aus einem Transistorradio. Demleitner und seine Gäste saßen um den Tisch, dessen rohgezimmerte Platte sich unter braunen und grünen Flaschen förmlich durchbog. Weil der Bruder des einen Skeletts anwesend war, sprach man zum ersten Mal seit über drei Wochen nicht mehr ausschließlich über den kuriosen Fund in Düsselbach. Doch hatte es auch andere Ereignisse gegeben, die die Leute beschäftigten. Die RAF hatte erst kürzlich wieder einen Bombenanschlag verübt, und zwar auf den NATO-Oberbefehlshaber in Europa*. Der Anschlag war misslungen, aber jeder erinnerte sich unwillkürlich an den Herbst 1977, in dem es für ein paar Wochen so ausgesehen hatte, als würde ein Bürgerkrieg ausbrechen in der Bundesrepublik. Die Bilder der mit Maschinenpistolen bewaffneten Verkehrspolizisten, die sogar drunten in Hohenstadt Autos kontrolliert hatten, standen allen wieder vor Augen. Die amerikanische Weltraumstation Skylab war beim Absturz nicht komplett verglüht, einige Bruchstücke waren in Australien eingeschlagen, was zu wilden Spekulationen führte, ob nicht auch in Artelshofen Trümmer des Raumschiffs niedergegangen sein könnten*. Zwei Kinder fanden auch prompt das Bruchstück eines elektronischen Geräts im Wald oberhalb vom alten Steinbruch, das sich allerdings rasch als zerschellter Wetterballon herausstellte. In der Karibik waren zwei Öltanker zusammengestoßen, in Indien war ein kompletter Staudamm gebrochen, und das nagelneue Auto vom Prütting, ein roter Simca 1100, hatte wie aus dem Nichts seinen Geist aufgegeben, Kolbenfresser, Kühlerschlauch gerissen, irreparabel. Die Technik, so die vorherrschende Meinung, tat, was sie am besten konnte: versagen.

Alfons Schreiter, ein Schlesier, der 1946 in Artelshofen seine zweite Heimat gefunden hatte, mischte ein Schnapsgetränk, das er in seiner Jugend in einer Bar in Krakau kennengelernt hatte. »Tollwütiger Hund« nannte er es, und nach dem dritten Glas hockte die Seibold-Müllerin auf dem Schoß vom Kommandanten Bayerlein, während ihr Mann drinnen im Haus schlafend vor dem Fernseher der Demleitners saß und eine Sondersendung über den Bildschirm flimmerte, die rauchende Blechfetzen zeigte, welche früher einmal ein Auto gewesen waren.

Der Witz beim »Tollwütigen Hund« ist ja, dass er, wenn er richtig eingeschenkt ist, die Nationalflagge Polens darstellt, unten rot, oben weiß, indem das Glas erst halb mit Himbeersirup aufgefüllt und dieser mit einer Schicht Tabasco versiegelt wird. Schließlich wird alles behutsam mit Wodka aufgegossen. Keine Sache für Grobmotoriker, und jeder merkte sofort, dass der alte Schreiter das nicht zum ersten Mal machte. Während sie alle die Kunstfertigkeit des Schlesiers lobten und sich überhaupt nicht darum scherten, dass kein einziger Pole zugegen war, der die nationale Bedeutung des Drinks wirklich hätte schätzen können, tischte die Demleitnerin pausenlos gegrillte Rippchen auf, Brat- und Krautwürste und zum Schluss eine riesige Vorlegeplatte mit Schweinskopfsülze.

Die Gäste verteilten sich auf die beiden Enden der Terrasse. Die einen vorne beim Radio, wo der Demleitner nicht müde wurde, auf seine eigene Gesundheit anzustoßen, begannen zu singen. Am anderen Ende, wo dem »Tollwütigen Hund« zugesprochen wurde, entspann sich eine Diskussion über die RAF. Wer diese Leute überhaupt seien, wurde gerätselt, und festgestellt, dass doch die Polizei alle erschossen hätte, vor ein, zwei Jahren, nach der Sache mit dem Schleyer. Und natürlich stimmten alle darin überein, dass es so recht gewesen sei, denn diese linksradikalen Verbrecher und Mörder würden ja sowieso aus dem Osten gesteuert und gehörten nicht anders behandelt als eben tollwütige Füchse. Oder Hunde.

Dass er sich schon immer gewundert habe, wieso die RAF sich genauso nennt wie die englische Luftwaffe, sagte der Bayerlein und war schon sehr betrunken. Viel bemerkenswerter finde er, setzte Haiger, einer der FÜWler, einen drauf, dass die deutsche Luftwaffe überhaupt keine Abkürzung gehabt habe, kein Wunder, dass man so den Krieg habe verlieren müssen.

Man könne das gar nicht wissen, konterte der Bayerlein, vielleicht sei ja »DLW« schon vergeben gewesen, von den »Dicken Landweibern«?

Da könne man den Schramm fragen, rief die Seibold-Müllerin, der sei bei der Luftwaffe gewesen!

»Wie –?«, kam es postwendend vom Demleitner. Der versoffene Schramm, der morgens um sechs vor seinem Stall stünde, die zerfetzte Hose bis zum Knie heruntergerutscht und das dritte Fläschchen Bier halb ausgetrunken in der Hand?

Ja, genau der, beharrte die Seibold-Müllerin, und zwar zusammen mit dem Dr. Winkler, und, aber absolut sicher sei sie sich da nicht, dem verrückten Autohändler Rammelkammer aus Hersbruck.

»Aha!«, rief der Demleitner, das seien ja wirklich einmal interessante Neuigkeiten – ob die Seibold-Müllerin vielleicht auch noch wisse, ob …

»Nur ganz kurz dazwischengefragt«, meldete sich der Haiger da, ob die anderen auch dieses Rumpeln hörten?

Ausnahmslos alle, die damals dabei waren, hatten bereits tief ins Glas geschaut, da war keiner, der nicht mindestens so angetrunken war, dass er das Auto hätte stehen lassen müssen, wenngleich alle nicht weit nach Hause hatten und notfalls auf allen vieren kriechen konnten. Der Zepfer Martin, der im alten Schulhaus im Unterdorf wohnte, schlummerte bereits selig mit dem Kopf auf dem Biertisch.

Trotzdem stimmten alle Augenzeugen, die man hinterher befragte, absolut überein: Das Unglück geschah so schnell, dass niemand, selbst im nüchternen Zustand, eine Chance gehabt hätte, rechtzeitig aufzustehen und aus dem Weg zu gehen.

Der Steinbrocken, der sich vom Wachtfelsen gelöst hatte, schoss aus dem lichten Unterholz oberhalb der Stützmauer herab und flog schräg über die Köpfe der Gäste hinweg gegen den Stamm der altehrwürdigen Eiche an der Grundstücksgrenze, da, wo Herr Demleitner regelmäßig der Gewohnheit frönte, ein junges Schwein an den stärksten Ast zu hängen und auszuweiden.

»Die Err-Ah-Eff!«, kreischte die Seibold-Müllerin.

»Der Schnaps!«, schrie der Haiger, aber da war schon alles vorbei. Der Stein war vom Baumstamm abgeprallt und hatte den Tisch komplett abgeräumt, die Petroleumlampe war zerbrochen, und auf dem Waschbeton der Terrasse verbrannte der Hochprozentige inmitten einer großen Lache aus Lampenöl und Glassplittern.

Ein paar Sekunden lang herrschte absolutes Schweigen, in das ein Schlager aus dem Transistorradio plätscherte, dann sprangen alle auf und brüllten hektisch durcheinander. Die Demleitners beeilten sich, die große Taschenlampe aus dem Haus zu holen, die stets an einem bestimmten Platz im Flur bereitlag, falls der elektrische Strom ausfiel. Was ja damals, dem selbstlosen Einsatz von Demleitner und seinen Kollegen zum Trotz, noch regelmäßig vorkam. Beinahe stießen sie mit dem Seibold-Müller zusammen, der vom Krach aufgewacht war und nun schlaftrunken auf die Terrasse stolperte, wo seine Frau sich mit dem Rücken an einen der angetüdelten FÜW-Arbeiter lehnte, der seinen Arm um ihre Hüfte geschlungen hatte.

Die Aufregung legte sich erst langsam wieder, während der Felsbrocken, der schließlich an die Stützmauer gekracht und in zwei Teile zerbrochen war, gründlich und ausführlich bestaunt wurde. Der Stein war mit solcher Wucht vom Wachtfelsen herabgedonnert, dass die Stützmauer gerissen war. Ein fingerbreiter Sprung verlief von unten schräg hoch nach oben bis zum rechten Rand. Was es für das Haus der Demleitners bedeutet hätte, wenn die Fahrt des Geschosses nur geringfügig steiler verlaufen wäre, wollte sich keiner so richtig ausmalen. Niemand war verletzt worden, ein ­Wunder geradezu, als hätte eine unsichtbare Hand sie beschützt, so der Haiger, der diese seine Erkenntnis wieder und wieder laut hinausrief und dabei aus lauter Dankbarkeit jedes Mal einen großen Schluck vom Himbeerlikör nahm. Die Stützmauer, darin waren sich alle einig, würde freilich ausgebessert werden müssen, ehe sie sich auch noch aus dem Berg löste und umfiel.

Die Demleitners bemühten sich, Ordnung in den Tumult zu bekommen. Neue Windlichter wurden entzündet, das zerbrochene Glas war bald zusammengekehrt, der Tisch von den Überlandwerkern wieder aufgerichtet, deren tägliches Geschäft es war, anzupacken. Selbstverständlich waren alle noch aufgewühlt, und einige merkten erst jetzt, als sich die schlimmste Aufregung legte, wie tief der Schrecken in sie hineingefahren war, weil sie sich hinsetzen und erst einmal eine frische Flasche Bier aufmachen mussten.

Demleitner klopfte an eine Bierflasche und verkündete, dass er die Feier fortsetzen wolle, man könne in der Dunkelheit sowieso nichts anderes machen, um den Stein und die Mauer kümmere er sich morgen, einstweilen liege das Trumm gut und verhalte sich ruhig. Und seine Frau meinte, der Schreck habe sicherlich alle hungrig gemacht und zum Glück sei der halbe Saukopf, den sie frisch gesülzt habe, unbeschädigt geblieben, jetzt sollten alle zulangen. Der Demleitner machte sich daran, die Stimmung mit einem Scherz wieder aufzuheizen. Er fischte die Zunge, die er mitsamt dem Saukopf auf der Kreissäge der Länge nach halbiert hatte, aus der Sülze und steckte sie sich in den Mund. Dann tat er so, als würde das Schwein zu den Anwesenden sprechen. So ungeschickt die Darbietung war, so sehr erfüllte sie den Zweck und belustigte die Gäste. Alle lachten aus vollem Hals, als die Sau sprach: »… und dann kummt der Hans in Stall und sacht zu mir, heit is dei groußer Dooch, blous wos dou gehm sollert, drauf ward i immer nou.«

Die Seibold-Müllerin hätte gar nicht anders gekonnt, selbst wenn sie gewollt hätte, sie musste beim Anblick der dunkelroten halben Zunge an den Penis vom Eißenpacher denken, und sobald sie sich an den Anblick erinnerte, wurde ihr übel. Sie überlegte kurz, die Übelkeit mit noch mehr Johannisbeerlikör zu betäuben, doch der Gedanke half nicht wirklich, eher im Gegenteil. Ihr wurde immer flauer und blümeranter in der Magengegend, und als sie es nicht mehr aushielt, verabschiedete sie sich hastig und stolperte zum hinteren Ende der Terrasse, wo jenseits der abschüssigen Wiese das Licht über der Tür ihres Hauses leuchtete. Werner, der Schwiegersohn der Demleitners, erbarmte sich ihrer, packte die malade Nachbarin unter der Schulter und schleppte sie quer über den Hang hinüber zu ihrem Haus. Bis vor die Tür schafften sie es nahezu problemlos, wenngleich es sie zwei- oder dreimal der Länge nach hinstreckte auf der schiefen Wiese. Doch als die Seibold-Müllerin auf ihrer eigenen Türschwelle stand, konnte sie nicht mehr. Werner schnappte sich gerade noch rechtzeitig einen Eimer, den er unter dem Blauregen am Schuppen hervorzog.

Und während sie sich übergab, fiel ihr wieder das Gespräch über die Luftwaffe ein, das vom Einschlag des Felsbrockens rechtzeitig unterbrochen worden war, ehe es ihr die Laune hatte verderben können, weil da ja auch der pensionierte Richter Eißenpacher zur Sprache gekommen wäre. Und in ihrer Benebelung hoffte sie inständig, dass sie ihre ganze Erinnerung einfach ausspucken könnte, in den Eimer mit Brennnesselsud vor ihrer Nase, aus dem es so grauenhaft nach Jauche roch. Werner, der neben ihr hockte und sie an den Schultern festhielt, war ziemlich beeindruckt von der Menge an schleimig-roter Brühe, die seine Nachbarin da ausspie und dazu so hemmungslos würgte, als wollte sie allen Schmerz und Kummer der Welt ein für alle Mal aus ihrem Inneren entfernen. Und er, der Zweite Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr und Vorsitzende des Schützenvereins, hatte beileibe schon einer regelrechten Armee von Betrunkenen beim Übergeben zugeschaut.