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Alexander Pschera

Vom Schweben

Alexander Pschera

VOM SCHWEBEN

Romantik im Digitalen

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INHALT

Homo homini piscis oder Schweben als digitale Realität

Entfremdungen

I

Idioten

II

Exkarnationen

III

Kill Bin!

IV

Sich selbst gehören

V

Stil und Diskurs

VI

Ballett des Scheiterns

VII

Horizontale Welt

VIII

Kirche des Nichts

IX

Der eigene Tod

Verfremdungen

I

Koreanischer Supermarkt

II

Das Fleisch der Bücher

III

Erinnern des Vergessens

IV

Aquatischer Streichelzoo

V

Ironische Selbstbeherrschung

Das Schweben ist der Quell, die Mater aller Realität, die Realität selbst.

Novalis

HOMO HOMINI PISCIS ODER SCHWEBEN ALS DIGITALE REALITÄT

Schwärme schweben. Sie schweben im Wasser oder in der Luft. Sie sind von der Schwerkraft befreit. Der Zustand des Schwebens ist Voraussetzung für den Verbund des Schwarms, er ist Voraussetzung für seine Beweglichkeit. Schwärme sind Sozialverbände von Fischen oder Vögeln, nicht von Säugetieren. Schwärme sind bewegliche Kollektive ohne Zentrum, in der jedes Individuum spontan dem anderen folgt.

Auf der Erde gibt es keine Schwärme. Säugetiere leben in Herden, Rudeln, Rotten. Sie haben Bodenhaftung. Sie ziehen Spuren. Ihre Nase folgt Fährten auf dem Boden. Ihre Intelligenz beruht auf der Erfahrung von Individuen. Säugetiere haben einen Anführer: den Leitwolf oder den Leithammel. Sie haben Hierarchien. Deshalb wurde früher menschliches Sozialverhalten richtigerweise im Bild eines Wolfsrudels beschrieben. Homo homini lupus aber meint genau das Gegenteil von homo homini piscis.

Der Mensch wird dem Menschen immer ein Wolf bleiben. Daran ändert das Internet nichts. Aber was sich im Digitalen tatsächlich ändert, ist das Raumgefühl, das Gefühl für den existenziellen Ort. Im Digitalen streichen Menschen nicht mehr wie Wolfsrudel durch den Wald, sondern sie schweben wie Fische durch den Ozean oder wie Vögel durch die Wolke, die cloud, des Netzes. Das Leben im digitalen Schwarm ist markiert von diesem Gefühl des Schwebens, des Überall und Nirgends, des Alles und des Nichts. Es ist ein Schweben zwischen dem »Nicht mehr« und dem »Noch nicht«.

Dieses Schweben macht süchtig, weil es eine Form der Befreiung von Raum, Zeit und Verantwortung ist. Digitales Schweben ist eine Form der Ortlosigkeit. Das Medium verleiht Auftrieb. Es befreit, aber zugleich entwurzelt es auch. Schweben ist der Verlust der Unterlage, der Sohle. Schweben bedeutet immer »schweben über«. Schweben eröffnet einen Abgrund, über dem sich dieses Schweben ereignet. Schweben ist Befreiung und Gefährdung zugleich: Befreiung von Geschichte, Riten, Fakten, Verbindlichkeiten, aber auch Gefährdung durch Identitätslosigkeit und Zufall.

Das spezifische Lebensgefühl im Digitalen ist nicht nur negativ. Es hat auch etwas rauschhaft Belebendes an sich. Der digitale Mensch sieht mehr und hört mehr als der analoge. Er denkt schneller, assoziativer. Seine Sinne sind geschärfter, seine Motorik ist nervöser. Das Überraschende gehört zur Lebenswirklichkeit des homo digitalis. Das digitale Lebensgefühl ist daher auch weniger eine Form der Müdigkeit als vielmehr ein Zustand jenseits der Müdigkeit. Müdigkeit ist ein Gefühl der geerdeten Existenz. Müde wird man vom Gehen, nicht vom Schweben. Säugetiere sind müde, Fische schlafen nicht. Schweben erzeugt eher ein Gefühl der Bewusstlosigkeit und der Trance. Diese Trance kann erschöpfend sein, sie kann aber auch hellsichtig machen.

Zweifelsohne besteht ein negatives Potenzial des Lebens im Netz. Es ist der Selbstverlust, die Selbstvernichtung, in die das Netz führt, wenn man sich ihm unbeschränkt ausliefert. Aber das positive Potenzial des Netzes ist genauso wenig übersehbar. Es ist die Möglichkeit zur Selbsterfindung, zur Ausweitung des eigenen Radius’. Digitales Existieren als Schweben im Schwarm ist ein ständiges Fluktuieren zwischen diesen beiden Polen: Selbstzerstörung und Selbstsetzung. Dieses Fluktuieren ist anspruchsvoll, weil es eine Form der Kontrolle von uns fordert: Selbstbeherrschung.

Die Doppeldeutigkeit des Zustands des Schwebens ironisiert unsere Existenz auf eine Art und Weise, die sich romantisch nennen lässt – im Sinne der ironischen Tradition Schlegels. Ironie ist demnach der beständige Wechsel zwischen Setzung und Aufhebung, zwischen Poesie und Kritik, zwischen Schöpfung und Zerstörung, der sich in der Selbstbeschränkung aufhebt. Diese Form von Ironie ist nichts weniger als eine Gebrauchsanweisung für den digitalen Raum. Wenn wir uns auf die digitale Fluktuation einlassen, gewinnen wir einen Zugang zur Wirklichkeit, in der wir leben. Wir vermeiden dadurch einerseits die Position des Ressentiments, das die Welt des Digitalen insgesamt ablehnt und ihr die Welt des »Wirklichen« vorzieht, ohne freilich zu bemerken, dass diese »Wirklichkeit« schon längst nicht mehr autonom zu existierten vermag, weil sie durch und durch von digitalen Prozessen durchdrungen ist, andererseits aber auch die Position der kritiklosen Begeisterung, die das Digitale für die einzige wahre Wirklichkeit nimmt. Das Digitale ist eine Brille der Ironie, die uns hilft, den Wahnsinn des Wirklichen in seiner zeitgenössischen Brechung auszuhalten. Das lässt sich zeigen an der Welt der Waren (XI), an den Veränderungen der Lektüre und des Wissens (XII), an den neuen Formen des Erinnerns (XIII) und an den sozialen Beziehungen (XIV).

Selbstbewusstes Schweben ist der Modus der Existenz in der digitalen Welt. Dieser Modus macht beides möglich: in der realen Welt und in der digitalen Welt zu leben und zwischen beiden ein ständiges Wechselspiel zu vollziehen. Dieses Wechselspiel schafft eine neue Form der erweiterten Realität, die zur Versöhnung des schwarmhaft orientierungslosen Ich mit sich selbst führt (XV).

ENTFREMDUNGEN

I – IDIOTEN

Nennt uns Ismael. Wir sind Idioten im Bildungsroman des Internets, diesem Epos der Reise über den Ozean des Wahnsinns und der Entgrenzung.

Natürlich wird man im Internet nicht dümmer. Im Gegenteil. Das Netz ist die Ressource der Allwissenheit. Noch nie war so viel Wissen verfügbar wie heute. Doch wem gehört dieses Wissen? Die Diskrepanz zwischen Verfügbarkeit und Aneignung ist offensichtlich. Was sich heute beobachten lässt, ist eine Akkumulation von Wissen jenseits der Person. Wissen wird nicht abgearbeitet und angeeignet, es wird auch nicht angesammelt, sondern es sammelt sich an. Es wird angeschwemmt. Wissen ist zu Treibgut der Zivilisation geworden.

Der Bildungsmoment hat den Bildungsroman abgelöst, das Prinzip der Reihung das der Entwicklung. In Quizshows werden zusammenhanglose Daten abgefragt. Wahllos streift der Leser durch die Wissenslandschaften der Populärwissenschaften. Von der Gehirnforschung bis zur Unterwasserarchäologie wird alles erklärt, was interessant sein könnte. Welt der Wunder ist das Format der prinzipiellen Verstehbarkeit von allem für alle, des prinzipiellen Interesses aller für alles.

Den Rückschluss auf das, was man wird, durch das, was man weiß, gibt es nicht mehr. Ziellos reihen sich Ausbildungen aneinander: heute Reisebegleiter, morgen Medienberater, dann Logopäde, und schließlich Coach. Der Coach ist die Endstufe des Wissens, weil er ein durchlässiges Medium ist. Er ist transparent für alles, er kann alles und jeden verstehen. Er ist total affin. Der Coach ist Verkörperung situativ-momentanen Wissens. Als Coach erklärt jeder dem anderen, wie sein Leben funktionieren könnte. Die Universalisierung des Coachings rüstet optimal für die Diktatur des Allgemeinen.

Die Reise über den Ozean des Wissens ist keine Charakterreise. Sie gibt nur noch das Gefühl, als würde sich im Roman des Lebens Entwicklung ereignen. Life long learning bedeutet etwas anderes als Entwicklung. Es bedeutet, sich lebenslang immer aufnahmefähiger zu machen für den Wissensstrom der Welt. Fertig ist man, wenn man zu einem Mollusken des Wissens geworden ist, zu einem schwammförmigen Gebilde, das alles aufsaugt.

Mollusken-Wissen erzeugt ein vages Gefühl, eine Atmosphäre des Ahnens, des Informiertseins, des Verweisenkönnens. Wissen ist verfügbar und fremd. Es ist durch seine Verfügbarkeit fremd. Wissen entfremdet uns von uns selbst. Das Wissen des Netzes erzeugt das gleiche Gefühl wie das Erben einer Bibliothek. Die Bücher einer ererbten Bibliothek bleiben immer Fremde, sie werden nie zu Freunden. Sie ordnen sich nie ein in die eigene Lese- und Sammelgeschichte.

Das ist die Idiotie des digitalen Wissens: Sie macht den Menschen zu einem Fremden im Eigenen. Die Technik – und alles, was heute technisch genannt wird, ist digital – macht idiotisch, weil sie Wissen verflüssigt, sodass es uns gestaltlos umgibt. Dieses Wissen ist ungreifbar. Digitalität ist nicht Verblödung, auch wenn man ihr das vorwirft. Ihr Eingriff in die Struktur des Lebens ist radikaler. Die Idiotie des Digitalen besteht darin, als Mensch allein zu bleiben in einer fremd werdenden Umgebung. Das verweist auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes idios: »eigen«, von dem sich der Begriff idiotes ableitet: »Idioten« in diesem Sinne waren in der Antike Privatpersonen, die für sich sind und die kein öffentliches Amt bekleiden. Der Idiot ist jemand, der nicht zum Raum des Öffentlichen, der ihn umgibt, gehört und der so bleibt, wie er ist. Idioten des Internets sind menschlich in einem Universum der perfektionierten Technik, sie sind fehlerhaft in einem Kosmos hochaufgelöster Bilder, orientierungslos in einem Netz aus GPS-Daten, ambivalent in einer radikal logischen Konstruktion, schuldig in einem System ohne Moral.

Die digitalisierte Realität schließt die eigene Welt aus sich selbst aus. Die digitale Welt ist wie ein schwarzes Loch Antimaterie, in dem jeden Tag ein weiteres Stück der Eigenwelt verschwindet: in mobilen Applikationen, in 3D-Filmen, in Social Games, in digitalisierten Prozessketten, in Patientenkarten und biometrischen Ausweisen. Immer dann, wenn eine neue digitale Kopie der Wirklichkeit erscheint, verschiebt sich das Kriterium der Wirklichkeit. Soziale Netze formulieren ein neues Paradigma der Gruppe, Computertomographen ein neues Paradigma des Gesunden, High Definition-Bilder ein neues Paradigma des Sehens und Erlebens, Business-Software eine neues Paradigma der Arbeit.

Diese Entfremdung macht auch vor den Gefühlen nicht halt. Die »eigene Welt«, der Innenraum der Gefühle, ist zu einem skurrilen Kosmos geworden, weil der Pol verloren ging, an dem er sich ausrichtet: zu einem Gewebe aus Ahnungen, Berührungen, Träumen, Zwischentönen, Blicken, Gerüchen und Stimmungen, die keinen eindeutigen Wert mehr haben, weil sie nicht ins binäre digitale Raster passen. Mehrdeutigkeit überfordert, wo das Ziel der Arbeit darin besteht, für alles eindeutige Lösungen zu finden. Gefühle werden dadurch zunehmend unlesbar. Man besichtigt nach einem Arbeitstag vor dem Rechner schließlich seine eigene romantische Mitte wie ein verstaubtes Rokokoschlösschen und kann sich kaum noch vorstellen, wie es war, als dort einmal Menschen lebten.