Erich von Mendelssohn: Phantasten

 

 

Erich von Mendelssohn

Phantasten

Roman

 

 

 

Erich von Mendelssohn: Phantasten. Roman

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

John Ruskin, Ausbruch des Vesuv, 1875

 

ISBN 978-3-7437-1004-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0921-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0922-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Geschrieben im Sommer 1911. Erstdruck: Berlin, Oesterheld und Co., 1912, mit der Widmung »Alexandra Jegorowna zugeeignet«.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

Vor neun Tagen hatte der Lloyddampfer »Prinzessin Irene« Sidney verlassen, und deshalb übte der Anblick des grenzenlosen Wassers keinen Reiz mehr auf die Passagiere aus. Am wenigsten an einem Tage wie heute, wo ein feiner Staubregen durch alle Kleider drang und einen frösteln machte. Für solche Tage hatte man ja in den Salons alle die Annehmlichkeiten, die ein moderner Luxusdampfer bietet.

Als Paul Seebeck auf das Deck hinaus trat, schlug er den Kragen seines langen, englischen Überziehers hoch und schaute sich um. Ein Augenblick genügte ihm, um festzustellen, daß er ganz allein war. Wohl hatte ihm der Kapitän ein für allemal die Erlaubnis gegeben, so oft es ihm gefiele zu ihm auf die Kommandobrücke zu kommen – denn Seebeck störte nie, am wenigsten durch unnötige Fragen, seine Anwesenheit verkürzte dagegen die lange Wacht – doch Paul Seebeck scheute sich, die anderen Passagiere auf seine bevorzugte Stellung aufmerksam zu machen, um dem Kapitän keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.

Jetzt stand der große, starke, doch etwas fette Mann neben dem kleinen Kapitän auf der Kommandobrücke.

»Schade, daß das Wetter heute so trübe ist«, sagte der Kapitän, »sonst könnten wir dort im Nordosten die Santa-Cruz-Inseln sehen.« Er rollte die Seekarte auf und wies mit dem zusammengeklappten Zirkel auf den Punkt, wo das Schiff sich im Augenblicke befand. »Aber ich glaube, daß es bald etwas aufhellen wird.«

Paul Seebeck nahm ein Fernglas, sah erst nach Nordosten und folgte dann weiter dem Horizonte.

Der Kapitän fuhr fort:

»Morgen kommen wir sozusagen aus den englischen Gewässern heraus und in deutsche hinein.«

Paul Seebeck ließ das Glas sinken:

»Deutsche Gewässer, Herr Kapitän?«

»Nun ja, die des Bismarckarchipels.«

Paul Seebeck hob wieder das Glas und schaute unverwandt nach Norden, dann reichte er es dem Kapitän und sah auf den Himmel:

»Sie haben natürlich wieder Recht, es wird wirklich heller. Aber gerade dort vor uns liegen dicke Wolken. Sehen Sie mal hin.«

Der Kapitän sah erst durch das Glas in der angegebenen Richtung, dann mit bloßen Augen und dann wieder durch das Glas. Schließlich sagte er kopfschüttelnd:

»Merkwürdig.«

»Befürchten Sie ein Gewitter, Herr Kapitän?« fragte Paul Seebeck gleichmütig.

»Ich weiß gar nicht, was ich aus dem Ding machen soll. Nein, eine Gewitterwolke ist es nicht.«

Jetzt wandte sich der Matrose, der das Steuerrad bediente, grinzend herum und sagte breit:

»Herr Kapitän, die ist ja von einem Vulkane!«

Der Kapitän war so interessiert, daß er gar nicht daran dachte, den Matrosen zurechtzuweisen. Er rollte die Seekarte wieder auf, bestimmte die augenblickliche Lage des Schiffes ganz genau, prüfte den Kompaß und sagte dann:

»Unmöglich, dort liegt kein Land.«

Eine halbe Stunde verging, und alle schwiegen; der Kapitän und Paul Seebeck schauten aber abwechselnd durch das Fernglas auf die schwere, dunkelgraue Wolke. Endlich sagte Paul Seebeck:

»Das ist und bleibt ein Vulkan mit der berühmten, pinienartigen Rauchsäule, und wenn er nicht auf der Karte steht, ist es ein Fehler der Karte, und nicht des Vulkans.«

Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf:

»Es kann nur eine sonderbar geformte Wolke sein; es ist ganz undenkbar, hier mitten auf einer so befahrenen Route eine neue Insel zu entdecken.«

»Aber wenn es eine neu entstandene wäre, Herr Kapitän?« warf Paul Seebeck ein. »Denken Sie doch an die große Flutwelle vor zwei Monaten, die die ganze nördliche und östliche Küste Australiens überschwemmt hat.«

»Donnerwetter!« rief der Kapitän. »Das wäre ja –«

Er wollte das Glas heben, aber jetzt kam von der Seite her ein feiner, durchdringender Staubregen, der in wenigen Augenblicken die Aussicht verschleierte. Die Herren hüllten sich fester in ihre Mäntel.

Der Regen wurde stärker und stärker, und außerdem brach schnell die Nacht herein.

»Kommen Sie in meine Kabine«, sagte endlich der Kapitän. »Ich möchte die Sache gern mit dem Ersten Offizier besprechen, und außerdem wird uns jetzt ein warmer Punsch ganz gesund sein.«

»Danke, gern.«

Wie der Kapitän dem Ersten Offizier die Möglichkeit andeutete, in der Nähe einer neu entstandenen Insel zu sein, eilte dieser sofort auf die Kommandobrücke, um selbst Umschau zu halten, kehrte aber bald enttäuscht zurück, da er des Dunkels und des Regens wegen nichts hatte wahrnehmen können.

Als die drei Herren in der Kajüte bei einem Glase Punsch zusammensaßen und der Kapitän mit dem Ersten Offizier alle Eventualitäten und die vorzunehmenden Maßnahmen besprach, zog sich Paul Seebeck in eine Ecke zurück und schwieg, wobei er doch aufmerksam dem Gespräch lauschte, das immer mehr an Fluß verlor und zuletzt ganz aufhörte. Schließlich saßen die Drei schweigend da, und jeder hing seinen Gedanken nach.

Endlich sah der Kapitän nach der Uhr:

»Meine Herren, jetzt sind wir schon drei Stunden hier unten. Wie wäre es, wenn wir wieder hinaufgingen und nach unserer Wolkeninsel sähen?«

Paul Seebeck lachte laut auf:

»Bravo, Herr Kapitän. Vielleicht hat sie sich schon längst aufgelöst, während wir sie hier in aller Ruhe erobern.«

Als sie auf Deck hinaustraten, sahen sie, daß Nebel und Regen völlig verschwunden waren, und daß klar der Mond schien. Passagiere gingen plaudernd und rauchend auf und ab, oder saßen, in Plaids gehüllt, auf Feldstühlen. Paul Seebeck hatte aber seine gewohnte Zurückhaltung völlig aufgegeben und folgte zusammen mit dem Ersten Offizier dem Kapitän auf die Kommandobrücke.

Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: vor ihnen lag, steil dem Meere entsteigend, ein Vulkan, über dessen kegelförmiger Spitze – aber ohne diese zu berühren – eine ungeheure, blauschwarze Wolke schwebte. Durch das Fernglas sah man in einigen Rissen am Krater die Lava glühend herabsinken.

Als Erster brach Paul Seebeck das Schweigen:

»Wie weit, Herr Kapitän –?« fragte er. Der Kapitän drehte sich schnell herum und betrachtete Paul Seebeck ganz fremd, als ob er seine Gedanken erst sammeln müßte. Dann schaute er wieder auf den Vulkan und sagte:

»Sechzig Seemeilen schätze ich.«

»Dann sind wir also in vier Stunden dort?«

»Ja, wenn die Lotungen uns nicht zu lange aufhalten.«

»Ach, Sie glauben, daß sich der ganze Meeresboden gehoben hat?«

»Ich muß wenigstens mit der Möglichkeit rechnen.«

Der Erste Offizier hatte inzwischen unausgesetzt den Vulkan durch das Nachtglas angesehen. Jetzt sagte er:

»Herr Kapitän, der Vulkan liegt auf einem ziemlich breiten Hochlande. Wir scheinen eine Insel von ganz achtbarer Größe da vor uns zu haben.«

Paul Seebeck senkte den Kopf und sah vor sich hin. Dann ging gleichsam ein Ruck durch ihn; er strammte sich auf, sah dem Kapitän fest in die Augen und sagte langsam:

»Herr Kapitän, jetzt ist es zehn Uhr; Sie sagten selbst, daß wir vor vier Stunden nicht dort sein können, also nicht vor zwei Uhr nachts. Um Zwölf wird aber alles elektrische Licht ausgelöscht, so daß dann kein Passagier mehr auf sein kann. Sie, der Herr Erste Offizier und ich sind die Einzigen, die wissen, daß wir dort eine neu entstandene Insel vor uns haben. Die anderen haben nichts gesehen, oder wenn sie die Insel gesehen haben, ist sie ihnen nicht weiter aufgefallen. Wollen Sie mich um zwei Uhr an Land setzen und Schweigen bewahren?«

Der Kapitän sah ihn überrascht an: »Herr Seebeck – überlegen Sie sich's – eine neuentstandene, vulkanische Insel! Heißer Boden! Ich habe doch die Verantwortung, auch für Sie. Und dann – in das Schiffsbuch muß ich die Sache doch eintragen.«

Paul Seebeck preßte die Lippen zusammen: »Gewiß, gewiß –«

Nach kurzem Schweigen fuhr er auf. »Herr Kapitän, ich habe nichts Unrechtes vor. Ich will die Insel für das Deutsche Reich in Besitz nehmen. Machen Sie Ihre Eintragungen in das Schiffsbuch, es wird sie ja niemand anders als die Rhederei sehen. Wollen Sie Beide mir aber versprechen, das heißt, können Sie mir versprechen, absolutes Schweigen zu bewahren, Sie und die Herren in Bremen, die das Schiffsbuch eventuell lesen? Absolutes Schweigen nur drei Tage lang zu bewahren? Wenn im Laufe dieser drei Tage nicht telegraphisch eine Bitte vom Reichskolonialamt eingelaufen ist, länger zu schweigen, sind Sie völlig frei.«

Der Kapitän sah Paul Seebeck an.

»Einem andern würde ich ein solches Versprechen nicht geben, das mir meine Stellung kosten kann. Ihnen gebe ich es.«

»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, Sie werden es nicht zu bereuen haben.«

»Auch ich gebe Ihnen das Versprechen«, fügte der Erste Offizier hinzu.

Paul Seebeck senkte dankend den Kopf.

Nach einer Weile wandte sich der Kapitän wieder Paul Seebeck zu:

»Verstehe ich Sie recht, wollen Sie sofort von Bremen nach Berlin fahren?«

Paul Seebeck schaute auf:

»Nein, ich bleibe dort und gebe Ihnen einen Brief an einen Freund mit, der alles für mich ordnen wird.«

Der Kapitän schüttelte den Kopf:

»Ich kann Sie nicht an Land setzen lassen, Herr Seebeck. Die Verantwortung übernehme ich nicht.«

»Ich werde in meinem eigenen Motorboot hinüberfahren.«

»Ich werde Sie leider daran verhindern müssen.«

»Herr Kapitän! Glauben Sie das verantworten zu können?«

Der Kapitän stutzte einen Augenblick. Dann schlug er Seebeck lachend auf die Schulter und sagte:

»Ich kann Sie ja nicht mit Gewalt festhalten, dazu wissen Sie zu genau, was Sie wollen. Aber erklären Sie mir doch, wie Sie sich alles denken.«

Wieder sah Paul Seebeck dem Kapitän fest ins Gesicht und sagte ganz langsam:

»Ich habe mein Motorboot, mein Zelt und Konserven für zwei Monate. Ich werde Sie bitten, mir drei gewöhnliche Feuerwerksraketen zu geben. Sie haben sie ja an Bord zur Unterhaltung Ihres Publikums. Wir machen das Motorboot mit allem Inhalt klar, so daß wir es in einigen Minuten ins Wasser setzen können. Wir kommen ja dicht an der Insel vorbei. Sobald wir vom Schiffe aus einen Landungsplatz sehen, setzen Sie mich ins Wasser. Sie sind dann so liebenswürdig, mit halber Kraft weiterzufahren. Komme ich glücklich ans Land, lasse ich alle drei Raketen aufsteigen, und Sie dampfen ruhig weiter. Ich verspreche Ihnen, es erst dann zu tun, wenn ich heil und gesund am Lande bin. Lasse ich nur zwei Raketen steigen, bedeutet das, daß ich nicht landen kann und Sie auf mich warten müssen. Eine Rakete allein heißt, daß ich in Gefahr bin, und Sie mir ein Boot zu Hilfe schicken müssen. Einverstanden?«

»Ja, unter der Bedingung, daß Sie sich vom Schiff noch so viele Konserven mitnehmen, daß Sie für ein halbes Jahr versorgt sind. Nach drei Monaten bin ich zwar wieder hier –«

»Und mein Freund, Jakob Silberland, ist dann mit Ihnen.«

»Der Herr, der zum Kolonialamt gehen soll?«

»Derselbe. Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.«

»Sie haben mir nichts zu danken. Ich bitte Sie nur, in meine Kabine zu gehen und sich alles noch einmal in Ruhe zu überlegen. Dort können Sie auch Ihren Brief schreiben. Lassen Sie sich auch Ihr Abendessen dorthin bringen, damit Sie ganz ungestört sind. In einer Stunde komme ich zu Ihnen hinunter, und wir können dann alles bis ins Kleinste besprechen.«

Paul Seebeck verließ mit einer leichten Verbeugung die Kommandobrücke.

– – – Drei Stunden nach Mitternacht lag der Dampfer eine Seemeile vor dem steil abfallenden, zerrissenen Ufer entfernt, das vom Mondlichte schwarz und groß auf das Wasser gezeichnet wurde.

Leise Kommandorufe ertönen – ein Krahn dreht sich, und unter Kettengerassel sinkt ein Motorboot auf die kaum gekräuselte Wasserfläche. Halblaute Abschiedsrufe, ein Winken und Grüßen, der Motor wird eingestellt, und das Boot saust davon. Langsam und schwer brodelt es unter der Schraube des Dampfers, und jetzt setzt sich der Koloß in Bewegung.

Der Kapitän steht auf der Kommandobrücke und verfolgt mit dem Nachtglase das Motorboot. Jetzt verschwindet es hinter einer Klippe, taucht dann tief in den Mondschatten, biegt um einen Felsen und ist fort. Eine Viertelstunde später steigen drei Raketen fast gleichzeitig in die Luft. Aufatmend stellt der Kapitän den Telegraphen auf »Volldampf«.

 

Als Dr. phil. et jur. Jakob Silberland unter dem Schutze seines übermäßig großen Schirmes dem Café Stephanie zueilte, gab es nicht Wenige, die trotz des strömenden Regens stehen blieben und ihm wohlwollend lächelnd nachblickten. Das war auch nicht wunderlich, denn Jakob Silberland bildete eine sonderbare Figur. Auf kurzen Beinchen saß ein dicker Leib mit viel zu langen Armen, und im Gesichte bildeten die heiteren, offenen Augen einen seltsamen Gegensatz zu der scharfgekrümmten Nase und der hohen, ausdrucksvollen Stirn, über die das blauschwarze Haar in einigen glänzenden, langen Strähnen fiel.

Sobald Jakob Silberland das Café betreten hatte, holte er sich vom Ständer sechs oder acht Zeitungen und legte sie auf einen Tisch am Fenster. Dann erst hängte er Schirm und Hut an einen Haken, wobei er doch ständig seine Zeitungen im Auge behielt. Als er seinen Mantel auszog, wobei ein abgetragener und etwas fleckiger Gehrock sichtbar wurde, eilte der Kellner hilfsbereit herbei und sagte:

»Guten Tag, Herr Doktor. Heute früh war der Briefträger mit einem eingeschriebenen Brief für den Herrn Doktor da. Ich sagte ihm, er solle am Nachmittage wiederkommen, dann wäre der Herr Doktor bestimmt hier.«

Dr. Silberland sagte nur: »Danke« und eilte auf seinen kurzen Beinchen zu seinen Zeitungen, in denen eben ein anderer Gast zu blättern begann. Als er sich richtig zurechtgesetzt und seine Zeitungen sortiert hatte, bestellte er einen Kaffee und begann, die Brust an den Tischrand gedrückt, eifrig zu lesen. Gerade als er die Kreuzzeitung mit gerunzelter Stirn fortlegte und aufatmend nach dem »Vorwärts« griff, erschien, vom Kellner geführt, der Briefträger an seinem Tische und übergab ihm einen eingeschriebenen Brief. Silberland erkannte sofort die Handschrift seines Freundes Paul Seebeck, schob mit einer energischen Armbewegung die Zeitungen zur Seite, quittierte, gab dem Briefträger zwanzig Pfennige und öffnete den Brief. Hierbei fiel ein zusammengefaltetes Checkformular heraus, das Silberland sofort in seine Brieftasche steckte. Der Brief lautete:

 

An Bord des Lloyddampfers »Prinzessin Irene«

Lieber Jakob!

Von dem wenig befriedigenden Ausfall meiner australischen Expedition wirst du durch die Zeitungen erfahren haben. Übrigens war der Verlauf viel kläglicher, als die Zeitungsberichte erkennen ließen.

Ich freue mich aber jetzt, daß ich so mißgestimmt und so unzufrieden mit mir selbst die Rückreise antrat, denn dadurch hatte ich gerade die richtige Disposition zu neuen Dingen, die ernsthafter sind.

Paß mal auf: wir haben eine neuentstandene, vulkanische Insel entdeckt, und zwar bin ich der erste, der sie sah. Ich bin dort geblieben und habe sie für das Deutsche Reich in Besitz genommen. Die Sache ist Geheimnis, nur der Kapitän und der Erste Offizier von der »Prinzessin Irene« wissen davon, und die schweigen.

Wo die Insel liegt, usw., kannst du von diesen beiden Herren erfahren.

Bitte geh sofort nach Berlin, zum Reichskolonialamt, und laß mir eine unbeschränkte Vollmacht als Reichskommissar ausstellen, so daß ich bis auf weiteres mit der Insel machen kann, was ich will. Die Leute sollen aber schweigen, bis erst feststeht, ob die Insel bewohnbar ist oder nicht. Sonst ist die Blamage nachher zu groß. Du gibst natürlich sofort deine alberne Stellung bei den »Neuesten« auf und kommst mit der »Prinzessin Irene« hierher. Ein Scheck auf zehntausend Mark liegt bei: bezahl alle deine Schulden, daß du vollständig unabhängig bist. Mach sonst aber nicht zu viele Ausgaben, denn ich werde hier mein Geld wohl sehr nötig brauchen. Eine Tropenausrüstung mußt du aber haben.

Du verstehst, was ich will: ich denke an unsere Gespräche über den absolut korrekten Staat, der durch keinerlei Traditionen und Rücksichten gehemmt ist. Wir haben ja oft darüber debattiert, wie ein solcher moderner Staat auszugestalten sei – hier können wir ihn gründen, wenn auch nur in einem kleinen Maßstabe.

Alle Einzelheiten überlasse ich dir, nur besorge mir die Vollmacht und komm her. Setz dich aber auch mit dem Kapitän in Verbindung. Der Mann ist praktisch und wird dich über Einzelheiten informieren.

Entschuldige die Kürze. Ich kann dir aber in dieser Eile nicht alle meine Gedanken auseinandersetzen; es ist wohl auch unnötig, eigentlich ergibt sich ja alles von selbst.

Überlege dir aber jeden Schritt, den du tust.

Gruß

dein Paul S.

 

Als Jakob Silberland diesen Brief zu Ende gelesen hatte, fuhr er sich mehrmals mit der Hand durch das lange, schwarze Haar. Dann rührte er bedächtig seinen Kaffee um, der längst kalt geworden war. Gerade, wie er ihn trinken wollte, kam der Kellner und sagte:

»Herr Doktor, die Redaktion fragt am Telephon, ob Sie noch hier wären.«

»Sagen Sie, ich wäre gegangen«, gab Silberland zur Antwort, »und bringen Sie mir eine Zigarre.«

»Wie gewöhnlich eine zu Zehn?«

»Ja – nein, eine zu Fünfzig!« sagte Jakob Silberland würdevoll. »Und besorgen Sie mir ein Auto.«

»Sehr wohl, Herr Doktor«, sagte der Kellner mit der solchen ungewohnten Aufwendungen zukommenden Ehrerbietung.

Jakob Silberland aber fuhr, die feine Zigarre in der Hand, im Auto zur Dresdener Bank, wo er den Scheck einlöste, und unternahm dann eine längere Rundfahrt durch die Stadt, um alle seine kleinen und größeren Schulden zu bezahlen, die zusammen kaum zweitausend Mark betrugen. Zuletzt begab er sich auf seine Redaktion, wo er gegen Stellung eines Vertreters leicht entlassen wurde, da er kein angenehmer Kollege gewesen war.

Mit dem Abendschnellzuge fuhr er nach Berlin.

 

Drei Monate später saßen Paul Seebeck und Jakob Silberland in ihren blendend weißen Flanellanzügen auf einem Steinblock am Strande, rauchten ihre kurzen, englischen Pfeifen und sahen der langsam verschwindenden »Prinzessin Irene« nach. Endlich sagte Jakob Silberland:

»Etwas Urweltliches liegt über der ganzen Insel: der Vulkan, die nackten Felsen, der Mangel jeglichen tierischen Lautes – es kommt mir fast vor, als ob ich um viele Millionen von Jahren in der Zeit zurückversetzt sei. Es würde mich gar nicht wundern, wenn plötzlich ein Ichthyosaurus oder sonst irgend ein Ungeheuer aus dem Wasser auftauchte.«

Paul Seebeck hatte nachdenklich seine Pfeife ausklopfend ihm zugehört. Jetzt hob er den Kopf und sagte lächelnd:

»Die Ungeheuer wirst du schon noch zu sehen bekommen. Nur etwas Geduld.«

Jakob Silberland lachte:

»Hast du hier eine Ichthyosauren-Farm angelegt? Das Geschäft dürfte doch kaum lohnend sein. Sobald die Zoologischen Gärten versorgt sind, würde der Weltbedarf gedeckt sein, und was dann?«

Es zuckte um Seebecks Mundwinkel, als ob er mit Mühe ein Lächeln unterdrückte.

»Aber wovon wollen wir hier sonst leben, wenn nicht von Ichthyosauren? Es gibt ja keinen Grashalm auf der ganzen Insel, keinen Vogel, keinen Floh, nichts. Soweit ich als gebildeter geologischer Laie urteilen kann, ist auch das Vorkommen von wertvollen Mineralien zum mindesten höchst unwahrscheinlich. Da bleiben doch nur die Ichthyosauren übrig. Außerdem finde ich den Gedanken sehr ansprechend, daß der modernste aller Staaten von urweltlichen Tieren lebt. Damit schließt sich zurückgreifend der Ring und löscht die Zeit aus. Anfang und Ende berühren sich.«

Jakob Silberland sprang auf:

»Ist das dein Ernst?«

Seebeck blieb sitzen und sagte gemütlich:

»Du sollst etwas Geduld haben. Ich werde dir meine Saurierfarm schon zeigen. Die größte Ichthyomuttersau habe ich übrigens voll Dankbarkeit gegen das gütige Schicksal »Prinzessin Irene« getauft.«

Damit stand er auf und ging zu seinem Zelt, das einige Schritte rückwärts im Schutze einer schrägen Felswand stand. Er kam mit einigen Papierrollen zurück.

»Sieh mal her«, sagte er, indem er die Blätter entfaltete und jedes an den vier Ecken mit Steinchen beschwerte, »hier habe ich, so gut ich es allein machen konnte, die Insel aufgenommen. Die Küste und diese Bucht habe ich recht genau, im Inneren bin ich flüchtiger gewesen und außerdem habe ich größere Strecken der heißen Lava wegen nicht betreten können. Hier hast du die ganze Insel mit den Schären eins zu dreihunderttausend«, fuhr er fort, wobei er sich über das betreffende Blatt beugte, »der Flächeninhalt beträgt ungefähr zwölfhundert Quadratkilometer, wovon der Vulkan allein fast vierzig bedeckt. Hier ist unsere Bucht eins zu zehntausend. Sie ist mit der Nebenbucht dort rechts von uns überhaupt die einzige Bucht der ganzen Insel. Ich habe sie bei Tiefebbe aufgenommen. Die rote Küstenlinie und die rot gezeichneten Schären beziehen sich auf Tiefebbe, die entsprechenden blauen Linien auf Hochflut. Du siehst, daß unzählige Schären und Klippen nur bei Tiefebbe über die Wasserfläche emporragen. Bei Tiefebbe ist überhaupt nur eine einzige, schmale und dabei stark gewundene Rinne selbst für mein kleines, flaches Motorboot passierbar. Ich kam glücklicherweise bei Hochflut, sonst wäre ich überhaupt nie lebendig hier ans Land gekommen.« Mit der Hand aufs Meer weisend, sagte er: »Die äußerste Felsenspitze dort links ist etwa siebenhundert Meter hoch und fünf Kilometer von uns entfernt, die dort rechts dreihundert Meter hoch und vier Kilometer entfernt. Die Entfernung zwischen beiden beträgt drei Kilometer. Diese Bucht stellt den einzigen Hafen, überhaupt die einzige Landungsmöglichkeit dar. Zwischen der Spitze rechts und dem Kap, das ein wenig darüber hervorragt, liegt eine zweite, breite, aber sehr flache Bucht mit unzähligen Felsen und Klippen. Dahin kann man zu Wasser, aus Gründen, die dir später klar werden, nicht kommen, und vom Lande aus nur mit Hilfe eines Seiles. Sogar ich als Bergsteiger habe dort nur schwer hinunterklettern können. Diese zweite Bucht habe ich Irenenbucht getauft, der einzige Name, den ich bisher hier einer Örtlichkeit gegeben habe.« Lächelnd setzte er hinzu: »Dort liegt also meine Ichthyosaurenfarm.«

Bevor der überraschte Silberland sich zu einem Worte sammeln konnte, fuhr Paul Seebeck fort:

»Denk dir unsern Standort hier als Mittelpunkt eines Kreises mit dem Radius von fünf Kilometern, also der Entfernung des Kap dort links. Dann bezeichnet der Kreisbogen ziemlich genau die Grenze eines submarinen Plateaus, auf dem alle diese Schären liegen. Wie tief der Meeresboden außerhalb dieses Plateaus ist, weiß ich nicht; mein Lot ist hundert Meter lang und mit ihm habe ich draußen nirgendwo Grund gefunden. Sehr tief kann er aber doch nicht sein, denn auch da draußen liegen ja, wie du siehst, einige vereinzelte Klippen. Das Plateau bricht aber steil ab; ich vermute, der Schären da draußen wegen und auch aus anderen Gründen, aber ein zweites, allerdings viel tiefer liegendes, submarines Plateau. Der größte Teil der Insel ist eine im großen Ganzen wagerechte Hochebene, vier- bis siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel, die überall fast senkrecht abbricht. Dann – ja, der große Vulkan – neunzehnhundert Meter hoch, diese Mulde, mit ihren sechs Quadratkilometern Fläche, die stufenweise, amphitheatralisch, wenn du willst, bis zur Plateauhöhe emporsteigt – damit ist wohl die Topographie der Insel erschöpft. Ich habe sonst nicht viel Bemerkenswertes auf meinen Streifzügen entdeckt, höchstens wäre ein seltsames Durcheinander von Schluchten erwähnenswert, das am Fußpunkte des Vulkanes liegt und mich da am Weiterkommen hinderte.«

»Und wie denkst du dir die Entstehung der Insel?« fragte Jakob Silberland.

»Ich bin kein Geologe. Daß die Insel erst jetzt entstanden ist, glaube ich nicht. Sie wird schon einmal dagewesen sein, und zwar viel größer als jetzt, ist dann unter die Oberfläche des Meeres gesunken und hat sich jetzt wieder darüber gehoben, doch nicht bis zu ihrer ursprünglichen Höhe. Und zwar glaube ich nicht, daß sie sehr lange unten gewesen ist, einige hundert Jahre höchstens.«

»Woher kannst du das wissen?«

»Die Steine sehen mir nicht aus, als ob sie lange Meeresboden gebildet hätten.«

Damit stand Paul Seebeck auf, rollte seine Kartenskizzen zusammen und brachte sie in sein Zelt. Als er zurückkam, sagte er, vor Jakob Silberland stehen bleibend:

»Ist das nicht ein ganz idealer Grund für eine Stadt? Alle Straßenzüge, sogar die Plätze der einzelnen Häuser sind von der Natur vorausbestimmt. Ich kann mir die ganze Stadt so lebendig vorstellen, wie sie sich den Felsen anschmiegt, wie sie in ihrer Struktur den Stufen folgt. Aber wir müssen einen Architekten haben, der einen ganz neuen Stil schaffen kann. Einen großzügigen Künstler wie Edgar Allan. Dort oben –« und er wies mit der Hand auf einen vorspringenden Felsen – »soll mein Haus stehen. Von dort aus kann ich alles übersehen.«

»Du fühlst dich schon jetzt als König?«

»König? Nein, nein!« wehrte Paul Seebeck erschrocken ab. Er sah still vor sich hin. Dann sagte er, lächelnd wieder aufblickend:

»Komm jetzt. Wir wollen etwas zu Abend essen. Dann werde ich dir meine Ichthyosaurenfarm zeigen.«

Da es fast Windstille war, beschlossen sie, vor dem Zelte ihre Mahlzeit einzunehmen. Als Jakob Silberland sah, daß Paul Seebeck seinen Destillationsapparat aufstellte, und Wasser vom Meere holte, fragte er besorgt: