Wolfgang B. Haeggersen

Schnitzel
schmeckt doch
auch gut

Ein Sommerkrimi ohne Mord

Prolog

Die junge Frau schob den verschlissenen Kinderwagen an der Uferpromenade entlang und genoss das sanfte Licht der langsam im Meer versinkenden Abendsonne. Ihr kleiner Sohn war jetzt endlich friedlich eingeschlafen, nachdem er den halben Nachmittag mehr oder weniger vor Hunger durchgeweint hatte. Sie war dem einzigen Lebensmittelhändler im Ort sehr dankbar, dass wenigstens er Mitleid gezeigt hatte und sowohl dem Kleinen als auch ihr ein paar Kleinigkeiten in die Hand gedrückt hatte, womit sie beide ihren Hunger hatten stillen können. Mit einigen Münzen, die sie noch in der Hosentasche hatte, konnte sie noch Wasser und Saft besorgen, sodass sie für diese Nacht gegen aufkommenden Durst gerüstet war.

Morgen würde mit den ersten Sonnenstrahlen wieder ein neuer Tag beginnen und sie würde sich von neuem den Anforderungen stellen, für ihren Sohn zu sorgen.

Für Maria und ihrem fast einjährigen Sohn war das Leben in diesen Tagen kein Zuckerschlecken.

Seit sie kurz nach der Geburt von ihrem Lebensgefährten und Kindsvater verlassen worden war, hatte sie kein richtiges festes Zuhause mehr. Sie schlug sich so durch, übernachtete mal bei Freunden, mal bei Verwandten und manchmal auch - so wie heute - am Strand auf den Touristenliegen.

Der Vater war vor der Verantwortung geflüchtet, für die Familie aufkommen zu müssen. Er selbst war finanziell immer knapp gewesen, hatte sich mehr oder weniger mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten und war eines Tages Hals über Kopf einfach abgehauen. Ausgesprochen hatten sie sich nie. Jetzt war Maria auf sich alleine gestellt, aber mit dem Kleinstkind auf dem Arm, konnte sie auch keiner geregelten Arbeit nachgehen, um das Geld zu verdienen, das sie so dringend benötigt hätte.

Die Ämter in Kroatien, die offiziell für sie als Mittel- und Obdachlose zuständig waren, arbeiten oft nur auf Grund von Schmiergeldzahlungen und hatten ihr bisher kaum Unterstützung geleistet. Ende der Woche hatte sie nochmals einen Termin bei der Behörde. Sie würde sich wieder in die Warteschlange stellen, wieder die gleichen Fragen beantworten und dieselben Formulare ausfüllen. Schließlich hatte sie ja Zeit.

Aber sie hatte vor allem eins ….. den Willen zu überleben ….. für sich und für ihren Sohn!

 

 

 

 

 

 

© Erika S. 2018

Aufbruchstimmung

„Gäähn!“ Für Davids Geschmack konnte es jetzt endlich losgehen. Er saß in der mittleren Reihe des Renaultbusses, den sein Vater und Tina extra für die Urlaubsfahrt gemietet hatten und irgendwie war er noch ziemlich zerknittert. Das lag zweifelsfrei daran, dass er bis vor wenigen Minuten noch in seinem Bett im Tiefschlaf gelegen und sein Wecker ihn - zum letztmöglichen Zeitpunkt – aus den Träumen gerissen hatte. Das obligatorische Prozedere des üblichen morgendlichen Badbesuches hatte er notgedrungen aus Zeitmangel ausfallen lassen müssen. Seines Erachtens wurde diesen zeitraubenden Tätigkeiten wie „Gesicht waschen“ oder „Zähne putzen“ in der Erwachsenenwelt sowieso viel zu viel Bedeutung beigemessen. An einem Morgen wie heute hätte ihn zu viel kaltes Wasser auch zu unsanft zu wach gemacht und das Gefühl der Restgemütlichkeit seines Bettes, welches er sich möglichst lange bewahren wollte, viel zu schnell vertrieben.

Zwei Wochen Kroatien lagen vor ihnen. Zwei Wochen in einem gemieteten Haus in der Nähe von Rijeka, etwa 10 Minuten bis zum Mittelmeer. Sie hatten mehrere Schlafzimmer, mehrere Bäder und einen tollen Pool. So war es auf der Internetseite beschrieben worden, über die seine „Stiefmutter“ Tina die Unterkunft gebucht hatte, zumindest hatte man ihm das so gesagt. Viel mehr wusste er über das anvisierte Urlaubsziel nicht………wozu auch……es würde dort schon gut sein und wenn nicht, würde es reichen, sich dort vor Ort darüber zu ärgern.

Für ihn bedeutete das jetzt nach einem schier endlosen, stressigen, nervigen zehnten Schuljahr am Gymnasium endlich Ferien, endlich Sommer, Sonne, faulenzen, Computer daddeln, baden gehen oder einfach gar nichts machen. Also einfach alles das, was alle 15-jährigen pubertierenden Teenager cool finden, um einen Tag abzuchillen. Oder, wie sein Vater immer sagte: „Rumhängen und dummes Zeug babbeln und seine kleine Schwester ärgern.“

Vor allem bedeuteten diese zwei Wochen für David aber eines: Zeit mit seiner anderen Familie, bei der er nicht das ganze Jahr über wohnte, zu verbringen.

Diese andere Familie bestand aus seinem bereits erwähnten Vater Wolfgang, seiner ebenfalls schon erwähnten Stiefmutter Tina und seiner Schwester, genauer gesagt seiner Halbschwester, Charlotte.

Sein Schwesterchen, von den meisten Lotti gerufen, war sechs Jahre alt und eine Mischung aus süßem Mädchen und bedrohlichem Gewitter. David hatte sie gerne, eigentlich sehr gerne, auch wenn der Altersunterschied von achteinhalb Jahren durchaus manchmal zwischen ihnen stand. Er hatte sie gern, auch wenn Charlotte ihre Emotionen manchmal nicht im Griff hatte, was zu einer ihrer gefürchteten Kreischattacken führen konnte. Er hatte sie einfach gerne um sich, schließlich konnte er sich so als beschützender großer Bruder fühlen.

Jetzt saß sie schräg hinter ihm in der hinteren Sitzreihe, vor Reisefieber ganz aufgeregt und bepackt mit Kuscheltieren, Kopfkissen, Kuscheldecke und natürlich dem überlebenswichtigen „Heia-Tuch“. Ohne das könnte eine solche Urlaubsfahrt niemals starten, zumindest würde sich das wissentlich niemand der Verantwortlichen trauen.

David musste schmunzeln, wie er sie so in ihrem Kindersitz eingekuschelt sah. In diesem Moment hatte sie so etwas niedliches, verletzliches, dass er sie am liebsten fest an sich gedrückt hätte.

Neben ihr, nur durch eine rote Klappbox mit Spielen und Malutensilien getrennt, hatte der eine Grund, warum sie dieses Jahr mit einem Neunsitzer-Bus in Urlaub fuhren, Platz genommen: Rike!!!

Rike war nicht nur das Nachbarmädchen aus der Doppelhaushälfte nebenan, sondern sie war zufällig auch Charlottes beste Freundin. Rike gehörte im Übrigen zu den wenigen Personen, welche Lotti nicht Lotti nannten, sondern seit jeher Lotte. Bei Rike hörte sich das dann eher wie „Loddee“ an, aber das war egal. Rike durfte Charlotte so nennen, da gab es keine Beanstandungen. Unter besten Freundinnen war das korrekt.

Der andere Grund für das diesjährige Renault-Riesenschiff war Rikes Mutter Caro, die sich für den Start der Reise erst mal den Platz am Steuer gesichert hatte. Neben Caro, auf dem Beifahrersitz, sollte Tina Platz nehmen. Davids Vater würde dann erst mal neben ihm sitzen, also fast neben ihm. Lediglich die gemeinsame Verpflegungskühltasche, ein Kopfkissen für ihn selbst, seine Elektro-Equipmenttasche und ein kleiner Korb mit Reisemedikamenten, Notfall-Wechselklamotten für die Mädels und sonstigem Kleinkram, den Tina für die lange Fahrt als wichtig erachtete, trennten sie. Man war für die Reise eben gut vorbereitet!

Ja, wenn es nach David ginge , hätte es jetzt losgehen können, zumindest er war startklar und mit seinem Laptop auf den Knien gut gerüstet, um in den nächsten zehn bis vierzehn Stunden Autofahrt alle sechs Teile der Star-Wars-Filme anzuschauen, die sein Vater für ihn auf DVD gebrannt hatte.

Aber es ging ja nicht nach ihm, zumindest war das manchmal sein Eindruck. Tina stand noch an der Haustür, den Schlüssel in der Hand und rief ins Haus „Schatzi, wo bleibst du denn wieder, alle warten nur noch auf dich!“ Von drinnen konnten dann alle hören, warum es noch nicht losging und auf was bzw. auf wen alle noch warten durften.

„Das gibt‘s doch gar nicht!“ schimpfte sein Vater lautstark mit sich selbst. „Da könnt' ich echt verrückt werden, wo liegt denn meine verdammte Sonnenbrille jetzt wieder? Ich weiß genau, dass ich sie hier auf den Tisch gelegt hab'. Tina, hast du ‘ne Ahnung, wo die sein könnte?“

Nein, Tina hatte offensichtlich keine Ahnung, wo die Sonnenbrille ihres Mannes sein könnte. Sie wollte wohl auch gar keine Ahnung haben, sie machte deutlich, dass sie jetzt endlich losfahren wollte. Um drei Uhr hatten sie sich den Wecker gestellt, weil es sein Vater so wollte, spätestens um vier Uhr wollte er starten. Jetzt war es vier Uhr und es war eigentlich wie immer. Auf den letzten Drücker war ihm eingefallen, dass er noch etwas benötigte. David sah, dass sich Tina, obwohl sie das sicherlich gewohnt war, dennoch darüber ärgerte.

„Dann lege dir deine Sachen doch dort hin, wo du sie immer findest, dann musst du sie nicht ständig suchen.“ David war klar, dass Tinas Supertipp bei der jetzigen Suche weder besonders hilfreich war, noch die Situation wesentlich entschärfte. In dem Moment war sie eher vom erzieherischen Element begeistert, in der Hoffnung, dass sein Vater sich doch irgendwann etwas von ihrem eigenen Ordnungssystem antrainieren würde, was ihr selbst wohl in die Wiege gelegt worden war. David selbst bezweifelte das.

Sein Daddy selbst ärgerte sich hingegen über die Spitzen seiner Frau. Er wusste ja selbst, dass er zu gedankenverloren war, um sich solche Banalitäten wie die Liegeorte verschiedener Kleinigkeiten wie Handy, Portemonnaie, Schlüssel oder eben auch seiner Sonnenbrille zu merken. Er war dann am allermeisten sauer auf sich selbst und polterte herum wie ein Rohrspatz. David kannte das Gefühl nur zu gut.

„Mhmm, Scheißtipp, danke! Ohne meine Brille brauche ich gar nicht erst losfahren, ich hatte die doch auch eben gerade noch ……. ach, hier ist sie, hab' sie ……. ich hab' sie hier in die Tasche meines Kapuzenpullovers gesteckt.“

Tina verdrehte die Augen, zumindest innerlich. David schüttelte leicht den Kopf, wobei er froh war, nicht selbst in der Schusslinie zu stehen, denn in diesem Bereich war er seinem Vater doch sehr ähnlich und so eine Brillensuchaktion hätte auch ihm leicht passieren können.

Caro schmunzelte, sie kannte Davids Vater und die emotionalen Ausbrüche bei seinen Suchaktionen jetzt auch seit Jahren. Sie wusste, dass er seine Stärken eher in anderen Bereichen hatte.

Als Nachbarin und Freundin amüsierte sie sich über die beiden und ihre regelmäßigen Kappeleien, denn diese waren zumindest für Außenstehende sehr unterhaltsam, aber nie verletzend und im Regelfall schnell wieder verraucht und vergessen.

„Okay, kommst du dann endlich“ ermutigte Tina seinen Vater zur Eile. „Wir sind schon zu spät!“

„Ja, klar, jetzt bin ich wieder der Trottel, auf den alle warten müssen, oder was? Schließlich hab’ ich eben noch schnell unser Uno-Spiel eingepackt, das wir abends alle zusammen spielen können“, rechtfertigte er sich.

„Mhmm, ja, unbedingt!“, konnte es Tina auch nicht gut sein lassen.

„Wir haben auch ein Uno-Spiel dabei.“ quäkte Rike von der Rückbank.

„Ooch, ihr könnt mich alle mal gern' haben!“ rotzte Wolfgang noch raus, wuchtete sich auf den freien Platz der mittleren Sitzreihe neben David und rummste die Schiebetür auf seiner Seite endlich zu.

Tina kletterte vorne mit einem freundlichen „alter Motzkopf“ auf den Beifahrersitz und schloss ihre Tür.

David zwinkerte seinem Papa zu und der rollte mit einem Grinsen im Gesicht die Augen.

Für David war die Welt jetzt in Ordnung. Zu sechst saßen sie im Renaultbus und auch wenn es für Außenstehende schwer erkennbar war: Sein Vater und Tina hatten sich viel lieber, als sie es nach außen zeigten. Jetzt konnte er endlich mit der erste DVD beginnen.

Caro startete den Motor und manövrierte den Renault aus der Einfahrt.