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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich

POLITIKWISSENSCHAFT

Europäische Integration

Von Prof. Dr. Dr. h. c. Werner Weidenfeld

Die vielen Gesichter Europas

Europa zeigt mehrere Gesichter. Es ist widersprüchlich, ambivalent, aber alles gibt ein Stück weit die Wirklichkeit wieder. Zum Beispiel: es gibt das große Gesicht der Erfolgsgeschichte Europas. Über Jahrhunderte haben sich die Europäer auf den Schlachtfeldern getroffen, haben Kriege gegen einander geführt. Haben sich wechselseitig vertrieben. Europa kennt die großen Ruinen.

Aber nach dem zweiten Weltkrieg hat man dann den Kompass der politischen Kultur total umgekehrt. Man hat das Koordinatensystem neu gewendet und statt mit Armeen gegen einander los zu gehen, hat man sich auf eine Rechtsordnung geeinigt. Also nicht mehr die rohe Gewalt sollte in Europa entscheiden, sondern es sollte geregelte Formen der Konfliktaustragung geben. Eine große historische Erfolgsgeschichte, weltweit bewundert. Viele haben damals von einer Art „Wunder der europäischen Integration“ gesprochen.

Dann gibt es das Europa der kleinen, pragmatischen Fortschritte. Schritt für Schritt den Binnenmarkt vollendet. Eine gemeinsame Währung eingerichtet. Wettbewerbskontrolle eingeführt. Den Binnenmarkt weitergebracht. Die Frage der Wettbewerbskontrolle intensiviert. Irgendwann mit der Koordinierung der Außenpolitiken begonnen.

Und dann gibt es das Europa der Krise. Ineffizient, stagnierend, intransparent und das in einer Situation, wo dieses politische System Europäische Union unglaublich mächtig geworden ist Wir haben ja über Jahrzehnte Kompetenzen vom Nationalstaat auf diese Europäischen Union übertragen. Unser Leben wird heute von 6.000 Bundesgesetzen geregelt, aber von 12.000 europäischen Gesetzen. Also hier, wenn wir über Europa sprechen, sprechen wir über ein riesiges Machtkonglomerat, das sich dort gefunden hat.

Konzeptionelle Spaltung Europas

In dieser Situation von Fortschritt und Krise gleichzeitig, bleibt es nicht aus, dass dadurch Grundsatzdebatten aller Art geführt werden. Worauf soll diese Integration überhaupt hinaus laufen? Hat die Erweiterung irgendwo einmal eine Grenze? Wie kann man eine zuverlässige Grundordnung herbeiführen für diesen großen Kontinent? Alles das steht heute auf der Tagesordnung und wir führen diese Diskussion auch kontrovers. Man kann geradezu von einer konzeptionellen Spaltung Europas sprechen. Auf der einen Seite diejenigen, die sagen: „Das geht nur, wenn wir so etwas wie die ‚Vereinigen Staaten von Europa’ bilden“. Der Hauptfürsprecher einer solchen These ist zurzeit der belgische Ministerpräsident.

Auf der anderen Seite die Gegenthese: „Wir sind doch nur einem gemeinsamen Markt beigetreten“, wie der britische Premierminister sagt. Also zwei ganz unterschiedliche Bilder von der Zukunft Europas, die miteinander ringen.

Dann müssen wir hinzuziehen, dass wir in den letzten 15 Jahren Geschichte im Zeitraffer erlebt haben. Praktisch in einem Wimpernschlag der Historie haben wir das Ende der Teilung Deutschlands, das Ende der Teilung Europas erlebt. Den Untergang einer Weltmacht, der Sowjetunion, das Ende einer Ideologie, des Kommunismus mit seinem universalen Herrschaftsanspruch. Dann die Erweiterung der Europäischen Union, die Schaffung einer gemeinsamen Währung. Alles das in einem kurzen Augenblick der Geschichte. Dann ist es ganz klar, dass wir so etwas wie ein „Ermüdungssyndrom“, eine leichte Abschlaffung der europäischen Kräfte durchaus einmal in solch einer Zeit der Hektik und der Veränderungen erleben können. Gleichzeitig kann man beobachten, dass wir schwache Mitgliedsstaaten haben. Wie soll dieses Europa stark sein, wenn seine Mitgliedsstaaten nach innen schwach sind?

Also: wir haben einen sehr komplizierten Gegenstand, den wir erklären müssen. Denn wie soll man das Ganze denn verstehen? Wir haben an keinem Punkt so etwas wie eine Art Masterplan. Also nicht eine einfache Formel, die ich Ihnen jetzt nennen könnte und damit wäre in Europa alles erklärt. Nein, das gibt es nicht, vielfach reiner Wildwuchs. Da ist Zentimeter an Zentimeter angedockt worden. Man sieht nicht wirklich ein großes Erklärungsschema dafür und nichts von dem, was sich dort entwickel hat, hat sich parallel zu den nationalen Traditionen entwickelt. Wir könnten es uns sonst ja leicht machen. Schauen Sie auf Ihr Heimatland und Sie wissen, wie Europa funktioniert. Nein, dieser Weg ist uns verstellt.

Man muss die komplizierten Interessenlagen kennen, die Motive muss man sehen. Die verschiedenen Zentimeter Entwicklungsformen genau wissen. Die Schichten der Zeitgeschichte Europas. All das zusammen erst lässt uns dieses große, bedeutende, aber komplizierte Gebilde verstehen.