Joaquim Amat-Piniella

K. L. REICH

Roman

Federschwert

Joaquim Amat-Piniella

K. L. REICH

Roman

Aus dem Katalanischen von KIRSTEN BRANDT

Mit einem Nachwort von MARTA MARÍN-DÒMINE

Czernin Verlag, Wien

Produziert mit Unterstützung der Stadt Wien / MA7 Wissenschafts- und Forschungsförderung, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus

Die Übersetzung dieses Titels wurde unterstützt durch eine Förderung des Institut Ramon Llull.

Titel der Originalausgabe: Joaquim Amat-Piniella, K. L. Reich
© Club Editor, 1963, © State of Joaquim Amat-Piniella, 2013
Diese Ausgabe mit Genehmigung von Club Editor und SalmaiaLit

Amat-Piniella, Joaquim: K. L. Reich / Joaquim Amat-Piniella
Wien: Czernin Verlag 2016
ISBN: 978-3-7076-0591-4

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

K. L. Reich

Wehe dem Mörder!
GOETHE

Für Pere Vives i Clavé, von den Nazis ermordet am 31. Oktober 1941, im Gedenken an eine brüderliche Freundschaft.

Für General Omar N. Bradley, Befehlshaber der amerikanischen Truppen, die mich am 5. Mai 1945 befreiten, in Dankbarkeit und Bewunderung.

Anmerkung des Autors

Erst der Untergang des Dritten Reichs brachte das ganze Ausmaß der vom Nazismus in den dreizehn Jahren seiner Herrschaft verübten Gräueltaten ans Licht. Nun erst wurden Informationen und gefundene Dokumente, Statistiken, Fotos und Filme, die Prozesse von Belsen, Dachau und Nürnberg sowie die Zeugenaussagen derer, die wir diese Gräueltaten erlebt und überlebt haben, zu unwiderlegbaren Beweisen des entsetzlichen Geschehens. Und heute, da nur die eingefleischtesten Rassisten es noch wagen, ihre Wahrhaftigkeit in Zweifel zu ziehen, müssen wir mit ansehen, wie die Zeit und neue weltweite Probleme diese Ereignisse in die Schublade der Geschichte verbannen.

Dass dieses Buch erst jetzt erscheint, ist nicht unser Versäumnis.1 Wenn wir es heute veröffentlichen, da das Thema längst an Aktualität eingebüßt hat, so deshalb, weil wir der Überzeugung sind, dass man eine Sache kennengelernt haben muss, bevor man sie vergessen kann. Und kaum jemand weiß, dass unter den Millionen Menschen aus aller Welt, die in Hitlers Lagern den Tod fanden, Hunderte, vielleicht Tausende Katalanen waren. Allein in den Lagern, die ich erlebt habe, in Mauthausen und seinen Außenlagern entlang der Donau, starben siebzig Prozent der 7500 dort internierten katalanischen und spanischen Exilanten an Hunger, Zwangsarbeit und Misshandlungen. Die nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs aus ihrer Heimat geflohenen Katalanen und Spanier waren in Frankreich größtenteils zur Befestigung von Militäranlagen eingesetzt worden und 1940 bei der Besetzung Frankreichs den Deutschen in die Hände gefallen. Waren sie anfangs noch gemeinsam mit den Franzosen in Kriegsgefangenenlagern interniert, so wurden sie später als unerwünschte Ausländer in die Vernichtungslager der SS verschleppt.

Die astronomische Zahl von Juden, Zigeunern, Russen, Polen, Franzosen, Tschechen und vielen anderen mehr, die in den Lagern der Nazis ums Leben kamen, sollte nicht vergessen lassen, dass auch eine große Anzahl Katalanen und Spanier Opfer dieses beispiellosen Gemetzels wurden. Bei der Bilanz des Beitrags der Iberischen Halbinsel zum Kampf um die Befreiung Europas dürfen unsere 5500 Toten in Mauthausen und zigtausend weitere nicht fehlen, die in anderen Lagern ums Leben gekommen sein mögen.

Mit diesem Buch will ich einen Eindruck vom Leben und Tod dieser Menschen aus aller Welt vermitteln, die dem Nationalsozialismus die internationale Gemeinschaft des Schmerzes entgegensetzten. Ich erzähle hier nicht die Geschichte eines bestimmten Lagers, sondern schildere eine Gesamtheit von Szenen, Situationen und Persönlichkeiten, die ich in den Lagern erlebt habe, in denen ich in den viereinhalb Jahren meiner Gefangenschaft interniert war, wobei ich mich hauptsächlich auf Mauthausen beziehe. Vier Lager von unzähligen, die es in Deutschland gab und die besonders für die katalanischsprachigen Leser interessant sind, weil ihnen die Unseren eine ganz eigene Prägung gaben. Es sind Geschichten von Leid, Terror und Tod; aber auch Geschichten der Hoffnung. Geschichten vom elenden, abenteuerlichen Dasein zahlloser Menschen, die auch inmitten tiefster Ohnmacht noch Mittel und Wege fanden, sich dem Bestreben ihrer Feinde nach ihrer vollständigen Vernichtung zu widersetzen. Anschauliche und zugleich dramatische Geschichten über die unterschiedlichsten Rassen, Nationalitäten und Individuen, die auf engstem Raum zusammengepfercht waren. Vom wechselnden Glück in einem mehr als vier Jahre währenden blutigen Zweikampf zwischen den zerstörerischen Kräften des Lagers und dem Menschen an sich, der begann, sich diesen Kräften zu widersetzen, bis er sie bezwang und zuletzt besiegte.

Ich habe mich für die Romanform entschieden, weil sie mir der inneren Wahrheit derer näher erscheint, die wir dieses Abenteuer bestanden haben. Nach allem, was mit der kalten Eloquenz von Zahlen und Presseberichten über die Lager geschrieben worden ist, glaube ich, mit der Schilderung des Schicksals meiner Figuren – ganz gleich, ob real oder nicht – einen treffenderen, lebendigeren Eindruck von ihnen vermitteln zu können, als es mir mit der Beschränkung auf eine objektive Darstellung möglich wäre.

Sollte mein Unterfangen von Erfolg gekrönt sein, wäre damit zweierlei erreicht: Zum einen hätte ich mit meiner Stimme zum Aufstand der gesamten Welt gegen den Nazismus beigetragen und gleichzeitig den gefallenen Kameraden die größte Ehrung und das mitleidvollste Gedenken erbracht. Millionen Menschen wurden ermordet, weil sie die Freiheit liebten: Sie alle haben mit ihrem Tod dazu beigetragen, dass sie zuletzt siegreich war.

Barcelona, Oktober 1963

I

Es war schneidend kalt. Man musste sich nicht erst zwicken, um sich zu vergewissern, dass man nicht träumte. Die Zehen, seit drei Tagen eingezwängt in eisenbeschlagene Schuhe und durchnässte, schmutzige Socken, waren der vom Boden aufsteigenden Eiseskälte hilflos ausgeliefert. Ohne diese bittere Kälte wäre die Morgendämmerung den Hunderten von jäh aus dem Schlaf gerissenen und noch völlig verwirrten Männern vielleicht unwirklich erschienen. In dem mit dem aufsteigenden Tag immer dichter werdenden Nebel waren nur die verschwommenen Umrisse der nächsten Umgebung zu erkennen. Die indirekte Helligkeit des Schnees durchdrang den Morgen. Das steil abfallende Bahnhofsdach lag unter einer dicken, glatten, leicht gewellten Schneedecke, unter der alle Ecken und Kanten verschwanden. Die reglos auf unsichtbaren Gleisen stehenden Waggons erinnerten, wie sie da so verloren unter dem Schnee standen, an gewaltige Kadaver. Auf der anderen Straßenseite, wo sich das elende Häuflein der Neuankömmlinge in einer Reihe aufstellte, fiel der Hang des verstümmelten Hügels beinahe senkrecht ab.

In ihren bunt gemischten »Uniformen« der französischen Armee – einige himmelblau (noch aus dem Ersten Weltkrieg), andere dunkelblau, viele khakifarben –, mit ihren weiten Mänteln und ihren von Kappen, Zweispitzen, Skimützen und hier und da sogar den roten Baretts der Senegalesen bedeckten Köpfen liefen die Männer in ihrer Panik wild und täppisch durcheinander, suchten zwischen Koffern, Bündeln und Tornistern einen Platz in der sich zögerlich bildenden Reihe. Der Schnee knirschte unter den eisenbeschlagenen Schuhen, und während das Weiß der Straße nach und nach seine Makellosigkeit einbüßte, wurde die Morgenstille einzig und allein vom Klappern des Militärgeschirrs, der Krüge und Proviantdosen unterbrochen, die an den Gepäckstücken baumelten. Inmitten dieser Stille klangen die befehlenden Stimmen der Soldaten in der grünen Uniform des deutschen Heeres, die, das Gewehr in der Hand und den Finger am Abzug, die Schar der Gefangenen zusammentrieben, noch schärfer, kehliger und furchteinflößender – neue, unbekannte Stimmen voller unergründlicher Drohungen für diejenigen, die der Sprache nicht mächtig waren.

»Was ist mit dem Koffer?«, fragte einer der Gefangenen seinen Kameraden.

»Hast du den nicht?«

Emili zuckte resigniert die Achseln und lächelte schicksalsergeben unter dem Schal, der seinen Mund bedeckte.

»Mach dich darauf gefasst, dir nie wieder das Gesicht zu waschen«, sagte er und hob einen vollgepackten Rucksack vom Boden auf.

»An Seife wird es ja wohl nicht mangeln. Mach dir keine Sorgen.«

»Ich habe Angst, dass wir gar keine Seife brauchen werden. Das alles gefällt mir ganz und gar nicht, Cisco.«

»Wir werden es ertragen müssen, ob es uns nun gefällt oder nicht. Wir werden ja sehen, was passiert.«

Francesc betrachtete die gerötete Nase seines Freundes, die selbst im schwachen Morgenlicht unübersehbar leuchtete, und suchte seinen Blick. Auch er lächelte. Emilis Neigung zur Schwarzseherei war ihm nichts Neues. Es stimmte schon: Beim Aussteigen aus dem Zug hatte man sie hart angefasst, ungewöhnlich hart, aber daraus wollte er keine voreiligen Schlüsse ziehen. Er schob es lieber auf die schlechte Laune der Wachmänner über das frühe Aufstehen, die Kälte oder die Bärbeißigkeit des Offiziers.

»Wir Deutschen sind keine Barbaren«, hatte ihm der Leutnant gesagt, der ihn gefangen nahm. »Wir können gute Kameraden sein, du wirst schon sehen.«

Tatsächlich waren die Spanier in dem Kriegsgefangenenlager, aus dem sie gerade kamen, menschlich, sogar mit Ehrfurcht behandelt worden, was sicher daran lag, dass sie bereits einen Krieg geführt hatten; einen zähen Krieg, dessen Führung den Deutschen malerisch erschien. Warum also waren die Deutschen, die sie nun nach einer dreitägigen Zugreise in Empfang nahmen, so ganz anders als die, die sie kannten? Warum diese Schläge mit den Gewehrkolben, diese Tritte ins Hinterteil, dieses Geschrei, diese übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen? Auch ohne angetrieben zu werden, wären alle aus dem Zug gestiegen, und vielleicht hätten sich die Reihen schneller gebildet, wären alle nicht so verschreckt gewesen.

»Wahrscheinlich beziehen sie an der Front ordentlich Dresche«, vermutete einer.

Emili stapelte sein Gepäck aufeinander und wartete geduldig darauf, dass das Abzählen ein Ende hatte. Er hatte den Nazis nie getraut, auch wenn sie sich in den besetzten Ländern noch so lammfromm gaben. Das war ihm immer verlogen erschienen. Und die Brutalität, mit der sie hier behandelt wurden, gab ihm recht.

Warum bin ich bloß nicht abgehauen?, fragte er sich, wütend auf sich selbst. Es war dumm gewesen, den Rat eines Kameraden in den Wind zu schlagen, der ihm angeboten hatte, gemeinsam zu fliehen, das sah er jetzt ganz deutlich. In gespielter Resignation zuckte er die Schultern, konnte aber nicht vermeiden, dass eine drückende Vorahnung ihn ergriff. Hinter dem Nebel erahnte er ein fürchterliches Geheimnis.

Die Aufstellung wollte und wollte kein Ende nehmen. Durch den immer dichter werdenden Nebel hindurch konnte man die schwarze, dichtgedrängte Raupe der Gefangenen und die graugrünen Flecken der Wachleute erahnen, die sorgsam entlang der Reihe standen, das Gewehr im Anschlag.

»Atención!«, schrie jemand. »Atención!«

Die Stille wurde noch drückender. Ein Dolmetscher, der schon im Kriegsgefangenenlager die Leitung übernommen hatte, erklärte: »Der Befehlshaber des Wachtrupps will, dass wir schnell eine ordentliche Reihe bilden. Je länger wir brauchen, desto mehr werden wir frieren. Also gehorcht gefälligst, ihr werdet schon sehen, die verstehen hier keinen Spaß.«

Bei den Appellen im Kriegsgefangenenlager hatten die Zahlen nie gestimmt. Dort schien es ohne Belang zu sein, ob der eine oder andere floh. Der diensthabende Offizier zeichnete den Bericht des verantwortlichen Gefangenen ab und drückte beide Augen zu. Hier lagen die Dinge anders, weiß der Teufel, warum. Jedenfalls gingen Offiziere, Unteroffiziere, Leutnants und sogar einfache Soldaten nacheinander die Reihe ab, um jeder für sich nachzuzählen und sicherzustellen, dass keiner sich verzählte. Am Ende der Kolonne angekommen, fingen sie in umgekehrter Reihenfolge von vorne an, und so ging das immer weiter, ohne dass sie jemals zum gleichen Ergebnis gelangten. Ob sie wohl jemals fertig würden?

Noch überraschender als dieses absurde Vorgehen war aber die »Sprache«, die die Wachleute für jene benutzten, die sie bei ihrer Aufgabe behinderten, weil sie sich nicht schnell genug einreihten oder unaufmerksam waren. Stießen sie auf ein solches Hindernis, so wiederholten sie mit lauter Stimme die Nummer, bei der sie angelangt waren, um sie nicht zu vergessen, anschließend hagelte es Backpfeifen.

Als das Abzählen endlich beendet war, setzte sich die Kolonne immer noch nicht in Marsch. Die Kälte kroch den Männern, die nun schon seit drei Tagen ohne Schlaf und warmes Essen waren, in die Beine. Viele traten von einem Fuß auf den anderen. Andere bliesen sich auf die Fingerspitzen oder holten mit beiden Armen aus und schlugen sich mit den flachen Händen auf den Rücken. Ein Junge, der unweit der beiden Freunde in der Reihe stand, wagte es, sich eine Zigarette anzuzünden. Ein Wachmann schrie von seinem Posten aus auf ihn ein.

»Mach die Zigarette aus«, sagte Emili zu ihm. »Pass doch auf, Idiot!«

Aber einer der Unteroffiziere war bei dem Raucher, bevor der noch Zeit hatte, unschuldig zu tun, und verpasste ihm einen Fausthieb auf die Nase, dass sie blutete. Emili konnte einen Blick auf den Uniformkragen erhaschen.

»Hast du das gesehen?«, sagte er, als der Unteroffizier weg war. »Wir sind der SS in die Hände gefallen.«

»Verdammt!«

Auch das Lager trieb ziellos im Morgennebel, der das helle Grün der Blocks schluckte. Die schmalen, langgestreckten einstöckigen Holzhäuser, die sich an der terrassierten Böschung entlangzogen, waren nicht mehr als Schemen. Aus den Kaminen – je zwei pro Block – stieg der schwarze Rauch frisch entzündeter Kohle und löste sich nach und nach im dichten Nebel auf.

Im Essraum von Block 13 half August, der Spanischdolmetscher, einer Gruppe von Jungen beim Putzdienst: Fenster wischen, Schränke und Tische abstauben, fegen, die Metalleimer blitzblank scheuern …

»Heute kommen neue Spanier«, verkündete August. »Eintausendfünfhundert.«

Der Stubendienst hielt einen Augenblick lang mit der Arbeit inne. Dass Spanier kamen, war nichts Neues, nur die Zahl war außergewöhnlich.

»Eintausendfünfhundert!«, rief ein mit einem Besen Bewaffneter aus. »Nachschub für die Öfen!«

»Halt den Mund. Vielleicht ist einer deiner Brüder darunter«, protestierte der, der gerade die Scheiben putzte.

»Was willst du? Soll ich weinen? Jeden Tag kommen Leute, und alle gehen sie den gleichen Weg. Außerdem habe ich gar keine Brüder.«

»Dann red keinen Unsinn.«

August ließ sie streiten. Er kehrte dem Spind den Rücken zu, den er sauber gewischt hatte, obwohl das gar nicht seine Aufgabe war, setzte sich auf den nächsten Tisch und baumelte mit den Beinen. In seinen Augen lag nichts von der resignierten, sorgenvollen Leere, die sich in den Blicken der anderen Gefangenen spiegelte. Seine Tätigkeit als Dolmetscher für Block 13 verlieh ihm relative Sicherheit; außerdem ging er mit der sorglosen Neugier des Abenteurers durchs Leben – eines Abenteurers, der Glück im Spiel hat. Mit seinem südländischen Temperament und seinem rebellischen Naturell, frei von den Vorurteilen seiner begüterten Familie, hatte er von frühester Jugend an ein unabhängiges Leben geführt und sich, des Rückhalts durch das väterliche Geld gewiss, den wildesten Ausschweifungen hingeben können. Das waren schöne Zeiten gewesen! Was für ein Spaß, sich Anarchist zu nennen, sich einen Bart stehen zu lassen, Sandalen zu tragen und eine Zeitlang Vegetarier zu sein; was für ein lustiger Streich, von zu Hause wegzulaufen und sich bei einer Varietétruppe als Pianist zu verdingen; wie aufregend, gleich in den ersten Tagen des Bürgerkriegs in die Schützengräben zu springen und sich in einer internationalen Brigade durch seinen Widerstand gegen die Kommunisten hervorzutun, ja, es sogar so weit zu bringen, dass er zum Tode verurteilt wurde! Und nun bestand das neueste Abenteuer eben darin, eine gewisse Zeit in einem Vernichtungslager der Nazis zu verbringen. Bisher war er immer davongekommen, warum sollte es diesmal anders sein? Was auch immer ihm widerfuhr, er nahm es als Gelegenheit zur persönlichen Entfaltung, und so waren soziale, politische und kriegerische Unruhen sein liebster Tummelplatz. Das Entscheidende war, Anschauungsmaterial zu sammeln.

Darum überlegte August nun, hier auf dem Tisch, wie es wohl im Lager zugehen würde, wenn in diesem Tempo immer neue Spanier eintrafen. Männer wie er, die des Deutschen mehr oder weniger mächtig waren, würden dadurch immer dringender benötigt werden, und seine Tätigkeit als Dolmetscher machte ihn zu einem einflussreichen Mann. Die Deutschen, die – ganz gleich, ob SS-Leute oder Gefangene – auf beiden Seiten des Stacheldrahts das Sagen hatten, übertrugen ihre Macht oft dem Dolmetscher, anstatt sich selbst mühsam in der fremden Sprache Gehorsam zu verschaffen. Man musste sich nur ganz allmählich bei den Deutschen einführen, ihr Vertrauen gewinnen, behutsam vorgehen und sich unentbehrlich machen, bis man schließlich als Vermittler eine direkte, entscheidende Rolle spielte. Dass das ein gefährliches Unterfangen war, wusste August schon lange, denn fiel man in Ungnade, erwartete einen der schlimmste aller Tode. Aber das Risiko machte das Unternehmen ja erst attraktiv. Sollte er es tatsächlich schaffen, in einem Lager der Nazis Befehlsgewalt zu erlangen und das unmenschlichste Strafsystem der Welt in ein Regime zu verwandeln, in dem er zumindest das Leben der unglücklichen Landsleute retten konnte, die es hierher verschlagen hatte, dann wäre dies ein einzigartiges Experiment in der Geschichte der Barbarei Hitlers, eine Heldentat, die eines wahrhaft großen Politikers würdig war.

Und während er so nachdenkt, blitzen Augusts mandelbraune Augen, und er schlenkert nervös mit den Beinen. Sein kräftiger Hals steckt tief zwischen den Schultern, weil er die Fäuste auf die Tischplatte stützt, und in dieser Haltung treten seine Nackenfalten noch deutlicher hervor. Unter der braunen Haut spannen sich die Muskeln seiner eingefallenen Wangen, und seine leicht semitischen Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen. Dieses Experiment ist ganz nach seinem Geschmack.

Nach getaner Arbeit wärmt sich der Putzdienst die Hände am Ofen. Der Blockälteste (ein deutscher Gefangener, der für die Baracke verantwortlich ist) schnarcht laut, er liegt quer über dem Tisch, den Kopf auf den Unterarm gebettet. Der Essraum wirkt nur auf den heimelig, der von draußen kommt, aus Nebel und Schnee. Aus dem verlassenen Schlafraum mit den aufgerissenen Fenstern weht ein kalter Luftzug den Geruch nach fauligem Stroh herüber. Durch den Rahmen der weit offen stehenden Tür sieht man ein gewaltiges Podest aus sorgfältig aufeinandergestapelten und mit Decken verhängten Strohsäcken. Seit gestern war der Block unbewohnt, nun wartet er auf die neuen Bewohner, die August gerade angekündigt hat.

»Mach die Tür zu, Miquel«, ruft er.

Obwohl es noch früh am Morgen ist, haben die Jungen den gesamten Block schon zweimal geputzt. Alles muss auf Hochglanz gewienert und blitzsauber sein; all das, was die Gefangenen nie berühren werden, die Tische, an denen zu essen verboten ist, die Schemel, auf denen man nicht sitzen darf, der Boden, den niemand betritt, die Spinde, in denen nichts ist, der Ofen, den einzig und allein der Blockälteste und seine Schützlinge benutzen dürfen. Ein Block ist nicht dazu da, darin zu leben, er soll nur etwas hermachen, wenn Besucher kommen, die von der vorbildlichen Ausstattung eines nationalsozialistischen Lagers überzeugt werden sollen.

Um die heutigen Ankömmlinge auch nur halbwegs anständig unterzubringen, wären neben diesem Block noch einige weitere vonnöten. Es gibt nicht genug Platz für so viele Menschen, aber wegen einer solchen Kleinigkeit werden die bestehenden Regeln noch lange nicht geändert. Der Essraum wird so bleiben, wie er jetzt ist; sauber, leer und bebend unter dem Schnarchen des Blockältesten. Die Gefangenen werden ihn durchqueren, um zum Schlafraum zu gelangen, wo sie zusammengepfercht werden wie Vieh, und um ins Freie zu gelangen, wo sie den Großteil des Tages verbringen werden. Sie werden ihn stets im Gänsemarsch durchqueren, über einen Gang aus leeren Säcken, die Stiefel in der Hand, barhäuptig und schweigend. Der Schmutz ist ungeheuerlich, aber die scheinbare Sauberkeit des Lagers ist eine raffinierte Steigerung der Grausamkeit.

Plötzlich wird die Stille des Lagers, das zu dieser Arbeitszeit eigentlich verlassen sein sollte, von einem ungewöhnlichen Lärm durchbrochen. Pfiffe, Glockenläuten, Geschrei, Türenknallen und rasche Schritte in den Gassen. Der Älteste von Block 13 springt vom Tisch auf wie von der Tarantel gestochen, stülpt sich die Kappe über und stürmt, noch bevor er richtig wach ist, durch den Essraum hinaus ins Freie.

»Sieht aus, als wären sie da«, sagt August zu niemand Bestimmtem. »Ich gehe mal nachsehen.«

Ohne sich von der Eile der anderen anstecken zu lassen, verlässt er gemächlich die Baracke und sucht sich im Schnee, der an machen Stellen unberührt, an anderen von Fuß­spuren völlig zerwühlt ist, seinen Weg über die vom ständigen Hin und Her entstandenen Trampelpfade. Der Rauch aus dem Krematorium legt sich über das Lager und vermischt sich mit dem Nebel. Schneidende Kälte rieselt in Form mikr­o­skopisch kleiner Eispartikel herab, eine Kälte, die einem die vom Ofen verursachte Schwerfälligkeit austreibt. Eintausendfünfhundert neue Opfer, eintausendfünfhundert Männer, die jetzt denselben Eindrücken ausgesetzt sind wie er am Tag seiner Ankunft. Eindrücke, die auf unterschiedliche Weise bei allen dasselbe bewirken: eine Mischung aus Angst, krankhafter Neugier und Lähmung.

Das Lager war auf der Spitze des höchsten Hügels einer Landschaft errichtet worden, die aussah wie eine aufgewühlte, plötzlich erstarrte See. Es waren keine Berge, sondern mehr oder weniger steile Wellenkämme, hier und da von dichten Flecken Wald überzogen, die sich um diese Jahreszeit scharf von den weiten weißen Schneeflächen abhoben. Nach vier oder fünf Wintermonaten kam unter dem Schnee Jahr für Jahr das grüne Gras ausgedehnter üppiger Weiden zum Vorschein; dazwischen standen verstreut zahlreiche Häuser mit roten Ziegeldächern.

An diesem Tag verschwammen die Umrisse all dessen, was im Hintergrund lag, im Nebel, und Himmel und Erde verschmolzen übergangslos zu Bleigrau, der Farbe der Kälte.

Es war ein langer, anstrengender Marsch gewesen, doch nun war der endlose Zug der Eintausendfünfhundert am Stacheldrahtverhau des Außengeländes angelangt. Der Aufstieg über die steile und eisglatte Böschung war den mit Gepäck und Angst beladenen Männern zur Qual geworden. Den ganzen Tag über hatten die Wachen unablässig geschrien und auf sie eingedroschen, sie hatten stramm marschieren müssen, und ein paar der Männer hatten heftige Prügel bezogen. Es war darum nicht verwunderlich, dass sich Erschöpfung und Angst in ihren Gesichtern, ihrem Gang und ihrem Schweigen spiegelten, als sie das Lager betraten.

»Endlich zu Hause«, spottete Francesc.

Die Mauer, die das Innengelände umgab, war erst halb fertig. Die gewaltigen Wände aus Steinquadern legten sich schwer auf das Gemüt der Neuankömmlinge; die bleiche Morgenstunde färbte sich zartblau. Die Gleichförmigkeit der Mauer wurde in regelmäßigen Abständen durch ebenso unvollendete Türme unterbrochen; von ihnen würden die Wachen eines Tages, nach ihrer Fertigstellung, sehr viel bequemer aufpassen können als jetzt von ihren wackeligen Holzgerüsten aus. Hinter den Mauern lugten die verschneiten Giebel einer Reihe von Pavillons oder Baracken hervor.

Am Fuß der im Bau befindlichen Mauer waren schon vom Durchgang im äußeren Stacheldraht aus die kleinen schwarzen Silhouetten der Arbeiter zu erkennen – sicher Häftlinge, deren Aufgabe es war, ihr eigenes Gefängnis noch gründlicher zu befestigen.

Der Schlagbaum hob sich, um sie einzulassen. Die Neuankömmlinge wussten nicht, wo sie zuerst hinsehen sollten. Vergessen waren Kälte, Erschöpfung, die schweren Lasten und die Schmerzen der erlittenen Schläge, jetzt verdrängte eine unbezähmbare Neugier alle anderen Empfindungen. Nach und nach erschloss sich den erregten Sinnen der Menge das Geheimnis. Ein Konzentrationslager – denn keiner von ihnen bezweifelte mehr, dass es sich um ein solches handelte – empfing sie mit dem ganzen Pomp seiner Schreckensherrschaft. In der antifaschistischen Propaganda war oft genug von den deutschen Konzentrationslagern die Rede gewesen, aber ganz gewiss hatte es sich keiner der Ankömmlinge wie diese gewaltige Festung vorgestellt.

Der Weg führte noch etwa hundert Meter bergauf und dann die gesamte Vorderseite der Anlage entlang bis hin zum Eingang des eigentlichen Lagers. Der Zug wand sich in Reih und Glied wie eine schwarze Schlange den verschneiten Pfad entlang. Ein beißender Gestank nach verbrannter Wolle saß einem hartnäckig in der Kehle. Emili und Francesc sprachen schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Hin und wieder hoben sie die Köpfe, die sie sonst gesenkt hielten, um die schwere Last auf dem Rücken leichter tragen zu können, und sahen, was sich an dem einzigartigen Anblick verändert hatte, der sich ihnen bot. Emili war der Erste, der das Grüppchen von drei oder vier Männern bemerkte – nur mit Mühe erkannte er, dass es tatsächlich Männer waren –, die an der Einmündung einer Nebenstraße standen und darauf warteten, dass die Kolonne vorüberzog.

»Sieh mal«, sagte er.

Das Beeindruckendste an diesen Männern in ihren blau gestreiften Lumpen und den ebenfalls gestreiften Kappen, die sie bis über beide Ohren gezogen hatten, mit den vom Schneewind verbrannten Gesichtern, den blau gefrorenen Lippen und Nasenspitzen und den gekrümmten, zitternden Leibern war ihre skelettartige Dürre. Die Knochen stachen nicht nur durch die Haut, sondern selbst durch die Lumpen, die sie bedeckten. Aus den zu kurzen Hosen ragten grotesk geschwollene Knöchel hervor und darunter Schuhe mit Holzsohlen, die ihnen fast von den Füßen fielen; die vereisten Schneeklumpen an den Sohlen ließen diese wandelnden Leichen immer wieder ausgleiten.

Francesc stieß einen unterdrückten Fluch aus.

Einer der lebenden Toten öffnete den Mund. »Seid ihr Spanier?«, fragte er auf Spanisch mit andalusischem Akzent. Seine Stimme kam mit Verzögerung aus dem Mund und war überraschend kräftig für die Vogelscheuche, der sie gehörte. Der Mann musste die Frage schon mehrmals wiederholt haben, bis er schließlich aufgab. Keiner wagte es, ihm zu antworten. Stimme und Aussehen dieses Mannes, der am Wegrand stand und die Kolonne vorüberziehen sah, machten den Neuankömmlingen schlagartig klar, welches Schicksal nun eintausendfünfhundert weitere Männer erwartete.

»Hast du das gesehen?«, fragte Emili schließlich.

»Diese Gesichter!«, rief Francesc, dem war, als hätte er Gespenster gesehen. »Und der Kerl hat Spanisch gesprochen …«

»Wir werden genauso enden wie die.«

»Das sind bestimmt nur die Kranken.«

»Was für ein Trost.«

Nachdem die Männer ihre erste Überraschung überwunden hatten, begannen sie in wachsendem Crescendo wild durcheinanderzureden. Raue Stimmen aus verengten Kehlen – die Stimmen von Kindern, die sich vor Dunkelheit und Einsamkeit fürchten. Sinnlose Wörter, mit denen sich die, die sie aussprachen, und die, die sie hörten, verzweifelt zu vergewissern versuchten, dass sie noch lebten, dass sie weder die senkrecht gestreifte Kleidung trugen noch diese gespenstischen Mienen hatten.

»Das ist das reinste Schlachthaus hier!«

»Dreckschweine!«

»Sollen uns lieber gleich umbringen!«

»Verbrecher!«

»Hier kommt nicht mal eine Ratte lebend raus.«

Allmählich tauchten immer öfter immer zahlreichere Gruppen weiterer Gefangener auf, die alle gleich aussahen. Und alle arbeiteten im langsamen, schleppenden Rhythmus, der für Strafgefangene typisch ist. Passiver Widerstand, der einzig mögliche angesichts einer erzwungenen Arbeit, von der man keinerlei Vorteil erwarten kann, nur allmähliche Auszehrung. Die einen schippten und fegten den Schnee weg, andere schleppten Materialien auf Tragen, und die dritten trugen unfassbar große Steine auf dem Rücken, zur Baustelle und wieder zurück, mit schlurfenden Schritten, vor Kälte zusammengekrümmt, den Blick getrübt vom tage-, wochen-, monatelangen Schmerz. Alle hielten angesichts der Kolonne inne und gönnten sich für einen Augenblick Ruhe und Erholung, der währte, bis die Männer vorbeigezogen waren. Hinter den erloschenen Blicken erahnte man einen unmenschlichen Ausdruck, eine Mischung aus Mitleid und merkwürdiger Freude. Jetzt kommt ihr, schienen sie zu denken. Ihr Unglückseligen! Ihr werdet schon noch erfahren, was für ein Brot man hier zu essen bekommt.

In jeder der Gruppen fiel ein Mann ohne Arbeitsgeräte auf, dessen Kleidung ebenfalls gestreift, aber neu war, und der auf dem Kopf eine jener blauen oder schwarzen Schirmmützen trug, wie sie die Deutschen offenbar liebten, und in der Hand häufig einen Stock oder ein Gummirohr. Diese Individuen gehörten einer anderen Kategorie von Gefangenen an, da sie allem Anschein nach das Sagen hatten. Ihre rauen, kehligen Rufe, die keiner der Neuankömmlinge verstand, konnten nichts anderes bedeuten, als dass sie die anderen zur Arbeit antrieben. Emili dachte: Das müssen die Kapos sein. Er hatte noch nie einen in Wirklichkeit gesehen, immer nur im Kino.

»Diese Hunde sehen überall gleich aus«, sagte er laut.

Die Straße war nun noch steiler und beiderseits von Baracken gesäumt, um die herum ameisenhaftes Gewimmel herrschte. Die grünen Uniformen der SS beherrschten das Bild. Wahrscheinlich handelte es sich um die Schreibstuben, Wohnräume und Küchenräume der Wachen. Oben am Hang stand die Mauer, die sie schon von Weitem gesehen hatten. Zwei große, verglaste Türme mit chinesisch anmutenden Dächern flankierten das Tor. Linker Hand endete die Mauer abrupt und wurde durch einen elektrischen Stacheldrahtzaun mit auffälligen weißen Porzellanisolierungen fortgesetzt. Nachdem sie das Tor durchquert hatten, fanden sich die Ankömmlinge in einem großen Hof oder vielmehr auf einem verbreiterten Stück Straße mit Bürgersteig wieder, die zwischen gleichförmigen, niedrigen Baracken auf der einen Seite und großen, von Schornsteinen gekrönten Pavillons auf der anderen Seite verlief. Aus einem dieser Schornsteine schien der scharfe, nach verbrannter Wolle riechende Rauch aufzusteigen, der sie zum Husten reizte. Ein merkwürdiger Lärm aus Glockenläuten, Pfiffen und Schreien überraschte die Ankömmlinge. Von allen Seiten strömten Männer herbei, die aussahen wie Kapos. Wenn sie bei den Offizieren und Unteroffizieren der SS angekommen waren, die das Ordnungsmanöver leiteten, standen sie stramm und nahmen das Käppi ab, sodass man ihre kahl rasierten Schädel sah, die so eckig waren wie ihre Haltung; mit mechanischen, übertriebenen Gesten nahmen sie die Befehle entgegen, schlugen die Hacken zusammen und antworteten alle mit demselben zweisilbigen Wort. Dann machten sie eine Kehrtwendung, flitzten den Hang hinauf und hinab und stießen schrille Rufe aus, die wie Gewehrschüsse klangen, nur um sich kurz darauf zurückzumelden. Dann begann das Marionettentheater von Neuem.

»Ob das hier eine Irrenanstalt ist?«, fragte Francesc.

»Dann ist es ja gut, dass sie eingesperrt sind.«

Es folgte das Abzählen, fünfzig Mal wiederholt, und die Befragungen, die reine Schikane waren, weil aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse keiner der Befragten antworten konnte, was üblicherweise Ohrfeigen zur Folge hatte. Die unermüdlich umherstreifenden Schäferhunde bellten lauter, wenn sich ihnen einer der Uniformierten näherte, die die Befehle gaben. Und plötzlich erhob sich über diesem wahnwitzigen Schauspiel die Stimme eines Solisten, eines deutschen Gefangenen, der ein effeminiert klingendes Spanisch sprach. Es war der offizielle Lagerdolmetscher.

»Soeben habt ihr ein deutsches Vernichtungslager betreten«, sagte er ruhig. »Ihr seid hier, um zu arbeiten und zu gehorchen, und es versteht sich von selbst, dass ihr hier nicht protestieren dürft, wie ihr es von zu Hause gewohnt seid. Ihr dürft keine Fragen stellen; alles ist verboten, und wer glaubt, aufmucken zu müssen, wird streng bestraft. Denkt daran, dass man hier die kleinste Nachlässigkeit mit dem Leben bezahlt. Hier wird euch die strengste Diszi­plin auferlegt, die ihr euch vorstellen könnt; euch wird das Lachen für immer vergehen …«

»Schwuchtel«, sagte Emili.

II

»Block 12« stand über der Tür. Die Neuankömmlinge betraten nach und nach in kleinen Gruppen die Baracke, um die Ankunftsformalitäten über sich ergehen zu lassen. Emili und Francesc warteten nun schon eine ganze Weile darauf, dass die Reihe an sie kam. Wie sie da so im Schnee strammstanden, mit trockenen Lippen und einem schalen Geschmack im Mund, weil sie seit Langem keine warme Mahlzeit mehr gehabt hatten, spürten sie nach all der Aufregung allmählich die Erschöpfung wie eine schwere Last. Noch immer war es schneidend kalt, der Schnee fiel in feinen, fortdauernd stärker werdenden Flocken, und aus den Füßen war die gesamte Wärme gewichen, die sie nach dem Gewaltdauerlauf vom Bahnhof bis hier herauf durchdrungen hatte, und eisige Nadelstiche bissen wieder in die Haut. Mehr als einmal konnten die beiden Freunde beobachten, dass ältere Gefangene das Lager unbehelligt betreten durften, wenn sie gut gekleidet waren; andernfalls hagelte es Backpfeifen. Ihnen fiel auf, dass einige unter den Glücklicheren Spanier waren; die fragten sie dann nach bestimmten Personen oder erkundigten sich, ob jemand aus diesem oder jenem Ort komme; auf die Fragen, die man ihnen stellte, antworteten die Männer herablassend – als kennten sie die Sitten und Gebräuche des Hauses. Jeder erzählte, was ihm gerade in den Sinn kam, aber alle berichteten völlig ungerührt von unvorstellbaren Gräueln. Die Neuen hatten das Gefühl, in einen bodenlosen Schacht gefallen zu sein.

»Und du sagst, sie werden uns alles abnehmen?«

»Die ziehen euch aus bis aufs Hemd. Hier ist alles verboten.«

»Das hat uns schon dieser warme Bruder gesagt.«

»Aber das macht nichts. Ihr dürft euch bloß nicht erwischen lassen.«

»Ihr müsst vorsichtig sein.«

»Und die Fotos?«

»Auch verboten.«

»Könntest du sie nicht für mich aufbewahren?«

»Vergiss es. Ich bin doch nicht blöd.«

»Und der Tabak?«

»Jetzt lassen sie ihn euch noch, aber der Blockälteste wird ihn euch wegnehmen, sobald ihr die Baracke betretet. Rechnet nicht damit, dass ihr irgendetwas behalten könnt.«

»Und warum sind keine Fotos erlaubt?«

»Frag Hitler.«

»Und das Geld«, fragte einer, der im Kriegsgefangenenlager gut verdient hatte.

»Was würdest du damit machen wollen?«

»Mir in der Kantine was besorgen.«

»Dort gibt es nichts als Schuhwichse und Kämme.«

»Kämme? Hier ist doch jeder kahl geschoren!«

Ohne eine einzige Frage gestellt zu haben, hatten die beiden Freunde die ersten Artikel des Lagergesetzes verstanden. Sie würden alles hergeben müssen, was sie mitgebracht hatten.

»Mit dem Pyjama, den sie uns hier geben, werden wir erfrieren«, bemerkte Emili.

Ihr Gepäck enthielt nichts von Wert. Alte, notdürftig gewaschene Armeekleidung aus grobem Stoff, Bücher, zusammengesammelt in den französischen Kasernen, die zu Gefangenenlagern umfunktioniert worden waren, Küchenutensilien, abgetretene Schuhe … Nichts und doch viel. Alles, was sie hatten.

»Meine Zeichensachen«, seufzte Emili.

»Bitte darum, sie behalten zu dürfen. Wer weiß!«

Ein deutscher Gefangener teilte zwei Reihen aus der Formation ab; die beiden Freunde waren dran. Sie gingen durch bis zum Schlafraum in einem Flügel des Blocks. Ein Schlafraum war es aber nur dem Namen nach; es gab kein einziges Möbelstück, nur ein gewaltiges Durcheinander von Kleidung, Rucksäcken, Päckchen, Koffern, Tellern und Feldflaschen, die ein Grüppchen von Gefangenen apathisch auf getrennte Haufen stapelte. Ein ekelerregender Schweißgestank, den selbst die weit aufgerissenen Fenster nicht vertreiben konnten, verpestete die Luft. Die kahl geschorenen deutschen Gefangenen brüllten sie unablässig an, sich gefälligst zu beeilen, und verteilten Fußtritte.

Emili und Francesc suchten sich ein Eckchen, um sich ungestört auszuziehen. Sie rafften zusammen, was sie auf den Armen tragen konnten, dann gingen sie splitternackt, mit Gänsehaut und klappernden Zähnen, in den angrenzenden Essraum. Die Tische waren für die bürokratischen Aufgaben belegt; Gefangene, die als Schreiber tätig waren, saßen daran und nahmen Daten auf. Ein weiterer Gefangener hielt eine Papiertüte auf, in die die Schätze aus jedem Gepäckstück erbarmungslos hineingeworfen wurden. Ein SS-Mann überwachte die Operation, warf einen kurzen Blick auf mögliche Wertsachen, und wenn sie ihm gefielen, sackte er sie ein. Emili zeigte ihm sein Zeichengerät und die Mappe mit einigen seiner Arbeiten. Durch Gesten versuchte er, ihm deutlich zu machen, dass er die Sachen gerne behalten würde. Der SS-Mann betrachtete die Zeichnungen.

»Gut, prima!«, gestand er zu, wohl in dem Glauben, es sei Lob, das von ihm erwartet werde.

Fast bewundernd musterte er den Mann, der – obwohl einer minderwertigen Rasse angehörig – das Geschick besaß, so etwas zu erschaffen. Dann wanderten Stifte, Papier und Mappe in den Sack.

Immer noch nackt, den Gürtel um den Hals gehängt und den wenigen Tabak, der ihnen noch blieb, in den Händen, gingen Emili und Francesc weiter in den nächsten Flügel des Blocks. Im dortigen Essraum sah es aus wie beim Friseur eines Nudistencamps. Ein SS-Mann, der sich in einem Sessel fläzte, tat, als würde er die Neuankömmlinge medizinisch untersuchen, und winkte sie alle nach einem einzigen Blick durch. Dann mussten die unfreiwilligen Adamssöhne sich wieder einreihen, um von mehreren Barbieren in Empfang genommen zu werden, die dafür zuständig waren, sie zu scheren; wer dran war, nahm auf einem Schemel Platz, bis der Kopf kahl war, dann stand man auf und bot den Rasierapparaten Brust und Achselhöhlen dar, und zu guter Letzt musste man auf den Schemel steigen, damit der Schambereich enthaart werden konnte. Da der Arzt fürchtete, sich zu erkälten, waren die Fenster geschlossen und verriegelt, und der Gestank der Körper war atemberaubend.

Emili geriet an einen spanischen Barbier, der mit einer für sein Metier typischen Geschwätzigkeit gesegnet war und nicht erwartete, dass man ihm antwortete.

»Heute ist ja ein ganz schöner Haufen von euch angekommen«, sagte er zu Emili, während er ihm mit dem Gerät über den Kopf fuhr. »Bald gibt es hier nur noch Spanier. Woher kommst du? Katalane, nicht wahr? Hier ist es nicht gerade angenehm, vor allem jetzt im Winter. Es ist sehr kalt. Ich kann mich nicht beschweren. Meine Arbeit erspart mir den Steinbruch. Du bist nicht zufällig Barbier? Nein? Schade. Uns Barbieren geht es nicht allzu schlecht.«

Die Maschine biss beinahe unerträglich in die Haut. Emili krümmte sich, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Aufstehen«, befahl der Barbier, als der erste Teil der Tortur vorüber war.

Der Zeichner fuhr sich mit der Hand über den juckenden Schädel. Er merkte, dass einige Haare länger waren als die anderen.

»Das liegt an den Geräten, weißt du«, entschuldigte sich der Mann, »aber das ist egal, hier ist Eitelkeit fehl am Platze.«

Emili stieg auf den Schemel und spreizte die Beine.

»Höher«, verlangte der Barbier. »So … Die Leute hungern fürchterlich. Sie sterben wie die Fliegen. Wenn die Spanier im Sterben liegen, werden sie in ein anderes Lager gebracht … – jetzt nach rechts. Sehr gut. Sie behaupten, es sei ein Erholungslager. Aber das ist der reine Hohn. Dort werden sie dann endgültig umgebracht. Ich bin gleich fertig. Die ersten Tage sind sehr hart, aber man gewöhnt sich daran. Oder man stirbt. Eine Frage des Glücks und der Moral. Ich schlage mich hier schon seit fünf Monaten durch. So, jetzt kannst du verschwinden.«

Emili stieg vom Schemel und rieb sich die malträtierte Körperstelle.

»Ah!«, rief der Barbier aus. »Du hast ja einen Schnurrbart. Verboten!«

Den Zeichner schüttelte es vor Widerwillen. Die Maschine, die sämtliche Winkel seines und Hunderter anderer Körper erfasst hatte, fuhr nun unerbittlich über seinen Mund.

»Zieh nicht so ein Gesicht«, riet ihm der Barbier lächelnd. »Ekel kannst du dir hier nicht leisten.«

Nachdem er die gestreifte Uniform angezogen hatte, musste Francesc wie die anderen durch ein Fenster springen, das auf die Gasse zum benachbarten Block hinausging, Block 13, dem er zugeteilt worden war, und wie bei den meisten seiner Vorgänger erwiesen sich die hölzernen Schuhsohlen als trügerisch: Als er den vereisten Schnee berührte, schlug er der Länge nach hin. Das schallende Gelächter der Genossen, die ihn erwarteten, zeigte ihm, dass er sich nun, da endlich ein wenig Ruhe eingekehrt war, entspannen konnte. Die Gruppen, die in der Gasse beieinanderstanden, kommentierten die Ereignisse des Morgens so humorvoll wie möglich. Eine schrille Heiterkeit, die nichts Gutes verhieß, aber die einzige, die ihnen gestattet war.

Er hörte Emilis Stimme nach ihm rufen und musste die Gesichter genau betrachten, um ihn zu erkennen, und als es ihm endlich gelungen war, musste er genauso lachen wie die anderen. Offenbar gab es keine Winteruniformen mehr, die, obgleich kaum dicker als die Sommeranzüge, doch durch ihre dunklere Farbe zumindest die Illusion erweckten, wärmer zu sein, und so hatte man sie in vielfach geflickte Anzüge gesteckt, die an gestreifte Pyjamas erinnerten und zu eng oder zu weit, zu kurz oder zu lang waren und in eindrucksvollem Kontrast zu dem immer stärker fallenden Schnee standen.

»Wie siehst du denn aus!«, schrie Emili.

»So wie du, so wie alle. Wie Zebras am Nordpol. Eine gute Verkleidung.«

Er drehte sich um die eigene Achse wie ein Mannequin. Die Gruppe lachte. Der Zeichner packte ihn am Arm und drehte ihn halb herum. Francescs Jacke wies am Rücken einen großen Fleck auf.

»Sieht aus wie schlecht ausgewaschenes Blut.«

»Wahrscheinlich«, mischte sich einer aus der Runde ein. »Wahrscheinlich ist es eher Blut als Tomatensaft.«

Die beiden Freunde entfernten sich von der Gruppe und gingen schweigend ein paar Schritte nebeneinander her.

»Das hier ist eine Massenrichtstätte«, sagte Emili.

»Das überrascht mich nicht. Einiges wussten wir ja schon.«

»Aber wir haben es nicht geglaubt.«

Sie waren ein paar Stufen hinaufgestiegen und befanden sich jetzt auf einer weiteren terrassierten Fläche. Der Zugang zu den vor ihnen liegenden Straßen war durch Stacheldraht versperrt. Dahinter sah man ein paar klapperdürre, halb nackte Gefangene, dem Anschein nach Slawen. Jeder betrachtete sie, keiner sprach sie an. Ein Stück weiter hinten dagegen, in der am weitesten entfernt gelegenen Straße, sah man eine große Zahl von Neuankömmlingen, die sich über den Stacheldraht beugten und ein großes Geschrei veranstalteten.

»Das muss die Baracke der Spanier sein«, sagte Emili. »Seit sechs Monaten gibt es Spanier hier, und ein Drittel von ihnen ist schon gestorben. Sie bringen sie in ein anderes Lager, ein Außenlager, und dort bringen sie sie massenweise um.«

»Das habe ich auch gehört. Wahrscheinlich stimmt es, aber ich will nicht darüber nachdenken. Ich will lieber abwarten, was kommt, wenn du verstehst, was ich meine. Irgendwo tut sich immer ein Loch auf, in das man sich verkriechen und abwarten kann, dass man Glück hat.«

Emili war skeptisch.

»Der Krieg wird nicht lange dauern«, beharrte Francesc. »Denk nur daran, was in der Zeitung über Graziani2 stand, darüber, wie machtlos er sich fühlt.« Er schwieg einen Moment, dann fügte er lächelnd hinzu: »Kopf hoch, Emili. Du weißt: Im August zum Dorffest sind wir wieder zurück in Sant Feliu.«

»Du spinnst ja.«

Als sie in der Straße angekommen waren, wo sich die Leute drängten, bot sich ihnen ein grässlicher Anblick. Keiner der Unglückseligen hier schien älter als fünfzig zu sein (das Höchstalter für die französischen Arbeitsbataillone, aus denen sie fast alle kamen). Doch unter den hiesigen Bedingungen sahen sie alle aus wie sterbende alte Leute, wie aus Pappmaschee, wie mumifiziert. Sie zitterten unablässig vor Kälte und schlugen sich mit den Armen auf den Rücken, um sich warm zu halten, während sie mit den Besuchern im gleichen beiläufigen Tonfall eifrig über Alltägliches wie über die Schrecken des Lagers plauderten, ja mit der Fröhlichkeit dessen, der sich wichtig fühlt. Die meisten von ihnen bettelten nicht um Essen, sondern um Zigarettenkippen.

»Lass uns gehen«, bat Emili. »Bitte lass uns gehen.«

Von Zeit zu Zeit fielen ein paar Schneeflocken. Die niedrigen Wolken bildeten eine kompakte Decke.

»Dieser teuflische Rauch!«, rief er jäh aus, den Blick auf den Schornstein des Krematoriums geheftet. »Wenn ich den noch lange einatmen muss, verliere ich den Verstand.«

Den neuen Bewohnern von Block 13 wurde gestattet, sich vor dem Mittagessen ein wenig im Schlafraum aufzuhalten. Der Blockälteste, »Popeye« genannt, hatte ihnen über den Dolmetscher August ausrichten lassen, sie dürften hinein, solange sie keinen Lärm machten; andernfalls würde er sie hinauswerfen, und sie müssten den Rest des Tages im Freien verbringen.

In einer endlosen Reihe zogen die Neuankömmlinge über die Säcke, die als Teppiche dienten, ihre Schuhe in der Hand, barhäuptig und schweigend, hinein in den eisigen Schlafraum, in dessen Mitte sich das Podest aus Strohsäcken und Decken erhob.

Der Atem der menschlichen Viehherde ließ die Fenster beschlagen, da der Raum zu klein war für die vielen Männer. Es dauerte nicht lange, da hatten sie sich von der Kälte erholt. Das anfängliche Schweigen wich gedämpften Gesprächen. Ihre fast hoffnungslose Lage weckte in den Männern eine falsche Fröhlichkeit, die vielleicht dem Bedürfnis entsprang, trotz allem zu leben, eine wachsende, ansteckende Hysterie, und die Stimmen wurden lauter. Nach einer Weile herrschte im Saal regelrechtes Geschrei. Der eine oder andere wagte es, sich eine Zigarette anzuzünden. Es dauerte nicht lange, da riss der Blockälteste die Tür auf:

»Ruhe, habe ich gesagt!«, brüllte er mit sich überschlagender Stimme und kam herein.

Mit seinen auf dem Rücken verschränkten Armen, dem vorgebeugten Oberkörper und den langsamen, langen Schritten bewirkte seine furchteinflößende Gestalt schlagartig jene Atmosphäre der Angst, die die Männer mit ihren Scherzen und ihrem Geplauder hatten vertreiben wollen – ein Kerl wie ein Affe, mit vorgeschobenem Unterkiefer, der Gosse irgendeiner Hafenstadt entstiegen. Hafenarbeiter oder Kneipengehilfe. Sein Deutsch war grob und mit Gassenjargon gespickt. Beim Sprechen sprühte Speichel aus seinen Mundwinkeln. Mit einem Mal waren nur noch die klappernden Holzsohlen der hastig aufspringenden Männer zu hören.

Hinter Popeye gab August den Männern durch Gesten zu verstehen, er habe sie ja gewarnt. Der Deutsche ging schweigend an den Männern vorbei wie ein Viehhändler, der die besten Tiere für den Markt auswählt. Erst als er an dem Podest angekommen war, blieb er stehen. Seine Augen blitzten auf.

»Dolmetscher! Dolmetscher!«, brüllte er wie besessen. »Wer hat das gemacht?«

Mit dem Zeigefinger der rechten Hand wies er auf eine Decke, an der eine Ecke fehlte.

»Wer war das? Hä? Wer? Wisst ihr nicht, dass das Sabotage ist?«

Dieses Wort war in Deutschland in letzter Zeit in Mode gekommen. Ein zerbrochener Teller, eine zugeschlagene Tür, der Verlust eines Helms – alles war Sabotage.

August übersetzte Popeyes Fragen, doch niemand ant­wortete.

»Diese Decke ist gerade erst kaputtgemacht worden«, tobte der Blockälteste. »Der Täter muss sich stellen, sonst …«

»Das waren sicher nicht die Männer«, sagte August auf Deutsch. »Sie sind halb tot vor Angst. Keiner würde es wagen …«

Als hätte er nur auf diese Worte gewartet, um in die Luft zu gehen, ließ Popeye nun ein Donnerwetter aus Geschrei, Drohungen und Beschimpfungen auf sie niederprasseln. Er drängte sich zwischen den Leuten hindurch, lief mit großen Schritten und theatralischen Gesten auf und ab, Beleidigungen ausstoßend. Die Männer sahen dem Schauspiel neugierig zu.

»Das werden wir bald wissen. Keiner verlässt den Raum!«

Die Jünger des Blockältesten – pro Block gab es je einen – schickten sich an, die mehreren Hundert Männer zu filzen.

»Das ist nur ein Vorwand, um euch endgültig auszuplündern«, erklärte August. »Es ist jedes Mal dasselbe, wenn Neue kommen.«