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Jean-Baptiste Cousin de Grainville

Der letzte Mensch

[Le Dernier Homme]

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Jean-Baptiste Cousin de Grainville

Der letzte Mensch

Nach der Edition von Charles Nodier (1811), aus dem Französischen von Sylvia Schiewe.

Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg.

image Matthes & Seitz Berlin

Jean-Baptiste Cousin de Grainville Der letzte Mensch

Gerhard Poppenberg Figuren des Endes. Der letzte Mensch — ein Mythos der Moderne

Erster Gesang

Nahe den Ruinen von Palmyra liegt eine einsame Höhle, so gefürchtet von den Syrern, dass sie sie die Kaverne des Todes genannt haben. Niemals sind Menschen dort eingetreten, ohne sogleich die Strafe für ihre Kühnheit zu empfangen. Man erzählt, furchtlose Franzosen hätten es gewagt, mit gezückten Waffen dort einzudringen, darinnen seien ihre Kehlen durchschnitten worden, und bei Wiederkehr der Morgenröte habe man in den umliegenden Wüsten ihre verstreuten Gliedmaßen gefunden. Sind die Nächte friedlich und still, so hört man diese Kaverne ächzen; oftmals entsteigen ihr laute Klagerufe, die dem Geschrei einer großen Menge gleichen; zuweilen spuckt sie Flammenwirbel, die Erde bebt, und die Ruinen von Palmyra werden durchwogt wie die Fluten des Meeres.

Ich hatte Afrika durchmessen, die Ufer des Roten Meeres gekreuzt und Palästina durchquert. Ich weiß nicht, welche geheime Inspiration mich leitete; ich wollte jene prachtvolle Stadt sehen, in der einst Zenobia herrschte, und vor allem die furchterregende Höhle, die man vom Tode bewohnt glaubte. Dorthin begab ich mich in Begleitung einiger Syrer. Der Anblick dieser Kaverne bot nichts, was mich schreckte: das stets offene, von den Ranken einer Wilden Weinrebe beschattete Tor lud den Reisenden ein, sich unter seiner tiefen Wölbung auszuruhen; kein Ungeheuer verteidigte ihren Eingang, einzig der Schrecken, der zu ihrem Schutz über sie wachte, machte sie unzugänglich.

Während ich den Eingang wachsamen Auges betrachtete, sah ich in der Tiefe der Höhle einen mit einer Fackel bewehrten Mann auftauchen: seine Augen waren lebhaft und durchdringend, seine majestätische Stirn schien der Sitz des Friedens zu sein; man hätte meinen können, er erfreue sich einer vollkommenen Gelassenheit, so als habe er immer in der Gegenwart gelebt, ohne Furcht und Hoffnung zu kennen. Ich weiß nicht, auf welche Weise er mir seine Gedanken mitteilte; aber ich verstand, dass er mich in diesen Ort hineinrief. Ich fühlte mich von einer jähen, unwiderstehlichen Kraft dorthin gezogen. Und ungeachtet des Schreckens und der Schreie der Syrer, die mich aufhalten wollten, stürzte ich mich in die Kaverne.

Lange Zeit wanderte ich dort inmitten tiefer Finsternis, selbst erstaunt über meinen Wagemut, der in dem Maße wuchs, wie ich weiter in diesen schrecklichen Ort vordrang. Plötzlich verliere ich die Kontrolle über meinen Körper; meine Füße weigern sich, mir zu gehorchen; ich werde regungslos wie eine Statue; die Luft, die ich zuvor eingeatmet hatte, entweicht meinen Lungen; es kommt mir vor, als befinde ich mich in einer Leere, in der ich, lebendig und ohne handeln zu können, eine vollkommene Ruhe genieße. Ein dem Menschen unbekanntes Vergnügen, so köstlich, dass es die süßesten Wonnen übertrifft! mit einem Mal verflüchtigt sich die Nacht, in die ich gehüllt war; ein reiner Tag leuchtet mir, und ich sehe die Dinge, die mich umgeben.

Ich befinde mich in einem aus härtestem Felsgestein gefertigten Kessel, einem Thron aus Saphir gegenüber, der der Form nach dem berühmten Dreifuß der Priesterinnen des Apollon gleicht. Dieser Thron ist von goldenen und azurblauen Wolken gekrönt, die eine unsichtbare Macht in der Schwebe hält; eine unbewegliche, rauchfreie Flamme strahlt über einer Unzahl von Fackeln, die Wände des Felsenkessels sind mit magischen Spiegeln bedeckt, in denen das darin eintauchende Auge einen unendlichen Horizont wahrnimmt. Zu meiner Rechten, am Fuß einer diamantenen Säule, ist ein kräftiger alter Mann angekettet, dessen Schultern verstümmelt sind, und der voll Schmerz die Scherben einer zerbrochenen Uhr und zwei blutige, auf dem Boden ausgebreitete Flügel betrachtet.

Da sprach ohne Stimme und mit mir unbekannten Mitteln ein Geist, der in dem Dreifuß wohnte: »Mit dem Tode habe ich die Verwegenen bestraft, die die Furcht, welche meine Behausung einflößt, missachteten und glaubten, ihre Kühnheit könne den Eintritt bahnen; fürchte nicht das gleiche Schicksal, du, den ich soeben hereinrief: ich bin der himmlische Geist, dem die ewige Zukunft bekannt ist; alle Ereignisse sind für mich so, als wären sie bereits vergangen. Hier liegt die Zeit in Ketten, und ihre Macht ist zerstört. Ich bin der Vater der Vorahnungen und Träume; ich diktierte die Orakel, ich inspirierte die Handlungen berühmter Politiker. Sobald ein Sterblicher seine Hände durch eine Schandtat besudelt, lasse ich vor seinen Augen den ganzen Apparat an Strafen vorbeiziehen, die die menschliche Gerichtsbarkeit für ihn vorsieht, und um ihn zu peinigen, mache ich ihn zum Propheten seiner Qualen und seines Todes. Wenn ich deine Schritte in diese Kaverne gelenkt habe, so geschah es, weil ich für dich den Schleier, der den Sterblichen die düstere Zukunft verhüllt, lüften und dich zum Zuschauer der Szene machen wollte, die die Geschicke des Universums beschließen wird. In diesen magischen Spiegeln, die dich umgeben, wird vor deinen Augen der letzte Mensch erscheinen. Wie auf einer Bühne, wo die Schauspieler Helden darstellen, die nicht mehr sind, wirst du ihn sich dort mit den berühmtesten Personen des letzten Zeitalters der Erde unterhalten hören; du wirst in seiner Seele seine geheimsten Gedanken lesen, und du wirst der Zeuge und der Richter seiner Handlungen sein. Es ist mir nicht darum zu tun, mit diesem Schauspiel allein deine Neugier zu befriedigen; eine edlere Absicht treibt mich an; dem letzten Menschen wird eine Nachwelt fehlen, die ihn kennte und bewunderte. Ich will, dass er schon vor seiner Geburt in der Erinnerung lebendig ist. Verherrliche seine Kämpfe und seinen Sieg über sich selbst. Sage, welche Leiden er erdulden wird, um die Übel des Menschengeschlechts zu verkürzen, die Herrschaft der Zeit zu beenden und den Tag der ewigen Vergeltung schneller herbeizuführen, den die Gerechten erwarten; offenbare den Menschen diese Geschichte, die es wert ist, dass man sie ihnen erzähle; aber sei wachsam, dieses große Schauspiel wird rasch an dir vorüberziehen und dann auf immer entschwinden.«

Nachdem der himmlische Geist mir seine Absichten entdeckt hat, kehrt die Luft lärmend in den Saal zurück, in dem ich mich befinde; ich spüre sie, ich atme sie ein, sie strömt durch meine Adern und gibt mir die Bewegung zurück, die ich verloren hatte: ebenso verändert sich, belebt sich alles um mich herum; die Flamme der Fackeln flackert, die über dem Thron schwebenden Wolken wiegen sich anmutig hin und her, der angekettete Greis zerreißt seine Fesseln, streift seine Flügel wieder an und fliegt davon.

Sogleich erhebt sich in dem vor mir aufgestellten magischen Spiegel ein prachtvoller Palast, das Werk der mächtigsten Herrscher der Erde, das die Zeit jedoch zu zerstören begann. Unter einem seiner Peristyle sehe ich langsamen Schrittes eine Frau heraustreten, die ich aufgrund ihrer Anmut, des Zaubers ihres himmlischen Antlitzes nicht für eine Sterbliche hätte halten können, wenn ich nicht angesichts ihrer traurigen Blicke zu dem Urteil gekommen wäre, dass sie unglücklich sei. Ein junger Mann geht an ihrer Seite; er hält seine Augen gesenkt und scheint wie sie in tiefen Schmerz gehüllt. Da sagte mir eine Stimme, die aus dem Dreifuß zu kommen schien:

»Der junge Mann, den du erblickst, heißt Omégare; Sydérie ist der Name der Frau, deren anrührende Schönheit dir bereits zu Herzen geht. Dies sind die letzten Bewohner der Erde; es sind jene, die deine Stimme preisen soll. Dieses Unterfangen wird deinen Geist oft in Erstaunen versetzen, und in dem Glauben, dass es deine Kräfte übersteigt, wirst du versucht sein, es aufzugeben. Jedoch verzweifle nie an deinem Genie: ich werde deinen Mut unterstützen, und bedenke, dass es keine Hindernisse gibt, die die Beharrlichkeit nicht überwindet.«

Sobald die Stimme mich darüber belehrt hatte, dass ich in Omégare und Sydérie die kostbaren Hinterbliebenen des Menschengeschlechts erblickte, fühlte ich mich ergriffen wie ein Reisender, der unter dornigem Gestrüpp die letzten Überreste einer berühmten Stadt entdeckt: ich betrachtete sie abwechselnd mit begierigem Auge. Wenn Omégare meine Aufmerksamkeit völlig auf sich zog, bedauerte ich es, sie nicht Sydérie zu schenken, und ich hätte sie alle beide unter einem einzigen Blick vereinen mögen. Schon begann ich, sie zu lieben, ihre Traurigkeit ging mir nahe, und neugierig, deren Grund zu erfahren, rief ich den himmlischen Geist mit diesen Worten an:

»Dir, der du mich das letzte Zeitalter der Erde schauen lässt, danke ich dafür, mich auserwählt zu haben, damit ich Omégare und Sydérie preise, dieser Aufgabe will ich den Rest meines Lebens widmen! Gib mir deinen Geist und deine Gedanken ein, entfache in meiner Seele das Feuer der Propheten und verleihe meiner Stimme den mächtigen Klang der Posaune. Doch was sage ich? werde ich deine Hilfe benötigen, um mir bei den Menschen Gehör zu verschaffen, wenn ich sie lehre, welches Schicksal der Erde und ihren Abkömmlingen eines Tages bevorsteht? Ach! wenn das Los so teurer Gegenstände ihr empfindsames Herz zuweilen beunruhigt hat, wenn sie auf Erden die süße Heimat geliebt haben, die sie ernährt hat, wenn die Hoffnung, in ihrer Nachkommenschaft weiterzuleben, sie darüber hinweggetröstet hat, sterblich zu sein, werden sie mich um diese Geschichte bitten und ihre Tage damit zubringen, ihr zu lauschen, und ich werde es nicht müde werden, sie immer wieder zu erzählen. Indes du, den ich anrufe! nenne du mir den Grund für die Leiden von Omégare und Sydérie. In so jungen Jahren sollten sie das Unglück kennenlernen! also wird das Unheil die Menschen von Geschlecht zu Geschlecht bis zu ihren letzten Kindern verfolgen, und wie ihre Väter werden sie die Erde mit ihren Tränen tränken!«

Noch während ich den himmlischen Geist anrufe, der über die Zukunft wacht, verschwinden Omégare, Sydérie und der Palast, den sie bewohnen. Ich sehe eine Insel ihren Platz einnehmen; von schlammigem, stehendem Wasser umgeben, mit Pech und Schwefel bedeckt, lag sie den Toren der Hölle so nahe, dass das Auge sie von diesem traurigen Ort aus mühelos erkennen konnte: das Licht des Firmaments und der Sterne drang nicht zu ihr vor; sie wurde von dunklen Feuern erleuchtet, die unaufhörlich aus ihrem brennenden Schoß hervorloderten; kein zartes Grün wuchs je an diesem Ort; kein Lebewesen traf man dort an, selbst Eulen und Schlangen flohen ihn.

Diese einsame Insel wurde einzig von einem unglücklichen Alten bewohnt, dessen Gegenwart Ehrfurcht und Mitleid einflößte. Damit er eine Verfehlung sühne, die er begangen hatte, verdammte ihn der Himmel dazu, dort den Einzug aller schuldigen Menschen in die Hölle mit anzusehen — eine Qual, die er seit dem Anbeginn der Welt ertrug und die für ihn nichts von ihrer Heftigkeit verloren hatte. Wenn er hörte, wie die Höllentore sich in ihren Angeln drehten, bebte sein ganzer Körper, seine weißen Haare sträubten sich, er wurde unruhig, suchte zu fliehen und den Kopf abzuwenden; aber eine unsichtbare Kraft hielt ihn reglos, gekrümmt stand er da, die Augen auf das zitternde Opfer geheftet, bis zu dem Moment, da die Dämonen es in die verzehrenden Feuer warfen.

Dieser ehrwürdige Alte war Adam, der erste Vater der Menschen, von göttlicher Gerechtigkeit auf diese Insel verbannt; er war wegen seines Ungehorsams der Urheber der Verbrechen seines Geschlechts. Um ihn dafür zu bestrafen, wollte Gott, dass er die Züchtigung seiner schuldigen Nachkommenschaft, deren Unheil er verursacht hatte, mit ansah. In Unkenntnis der Dauer dieser Qual hatte er jahrhundertelang Tag für Tag auf seine Befreiung gewartet, die niemals kam. Er war es so müde, sie sich zu wünschen, dass er nicht mehr die Kraft hatte, Wünsche aufkommen zu lassen, und ertrug seine Leiden so, als müsse er sie auf ewig aushalten. In dem Moment, da die in seinem Herzen verglimmende Hoffnung aufgehört hat, diese Leiden zu mildern, sieht er in der Ferne eine leichte Wolke, die schneller als der Wind auf ihn zukommt, anhält, und der der Engel Ituriel entsteigt, derselbe, der ihm einst unter den blühenden Lauben von Eden die Anweisungen des Schöpfers überbracht hatte.

Bei diesem Anblick steht der Vater der Menschen betroffen, er ist außer sich, er will sprechen, doch sein Mund äußert nur unartikulierte Laute. Seine Seele befindet sich in einem Zustand umfassender Unruhe: je mehr er ihre Regungen mäßigen will, desto stärker wird seine Aufregung, und die Heftigkeit seiner Bemühungen schwächt ihn; eine Weile scheint es, als sei er stumpfsinnig geworden, seine Augen irren umher, sein ganzer Körper zittert und bebt, schließlich kommt er wieder zu sich, erholt sich wie nach einer lange erduldeten Strapaze, und sobald er sprechen kann, sagt er zu dem Engel:

»Mir scheint, Ihr seid jener himmlische Geist, der Ihr die Güte hattet, mich zuweilen im irdischen Garten aufzusuchen. Oh, was habe ich seit jenen glücklichen Tagen gelitten! die Ewigkeit ist abgelaufen. Kommt Ihr, um mir das Ende meiner Leiden zu verkünden?« Bei diesen Worten hält er jäh inne, damit der Engel rascher antworte, sein Mund steht offen, er wagt keine Bewegung, aus Angst, ihm könne eines der Worte entgehen.

»Ich werde dich«, sagt der Gesandte des Himmels zu ihm, »auf die Erde führen, wohin der Allerhöchste dich ruft, damit du Pläne ausführst, die er deinem Geist offenbaren wird, indem er ihn mit übernatürlichem Licht erfüllt. Vom Erfolg deiner Mission wird deine Befreiung abhängen, die noch am Tage der Zerstörung der Erde eintreten soll; mehr ist mir nicht bekannt. Ich werde dir nur sagen, dass sich eine große Revolution vorbereitet, dass verschiedene Bewegungen das Himmelreich in Unruhe versetzen, dass der Ewige seine Ruhestätte verlassen hat; über das Universum hat er Engelslegionen verteilt, die nur auf sein Zeichen warten, um seine Befehle auszuführen, und die in diesem Augenblick mit ihrer unermesslichen Zahl den gesamten Raum füllen, der von dem Heiligtum, in dem die Gottheit ihren Wohnsitz hat, bis zu den Pforten des Nichts geschaffen wurde.«

Ituriel hat zu sprechen aufgehört, und noch immer hängt der Vater der Menschen an seinen Lippen und hört ihm zu: jedes Wort des Engels hat seine Seele mit Hoffnung und Freude durchtränkt; er fühlt sich wie neugeboren. »O dreimal glücklicher Tag!«, ruft er, »gebenedeit sei derjenige, der mir im Namen des Allerhöchsten seine göttliche Befehle überbringt: soll ich Euren Versprechen Glauben schenken? Was! ich werde das Himmelsgewölbe wiedersehen! ich werde jenen Feuerstern wiedersehen, der das Licht, dessen Anblick meinen Augen seit Jahrhunderten versagt ist, weithin verströmt! ich werde das Nachtgestirn wiedersehen, das mir die Hochzeitsfackel war! ich werde meine Kinder wiedersehen, und auch das zarte Grün! ich werde die menschliche Rede vernehmen!«

Bei diesen Worten wirft sich Adam dem Engel zu Füßen, küsst sie, hält sie lange Zeit umschlungen; seine Seele kann die neuen Empfindungen kaum fassen, die er alle gleichzeitig verspürt; sie beklemmen ihn, bis Tränen sich wie üppiger Tau einen Weg bahnen und seine Freude freisetzen. Dann erhebt er sich und fährt also fort:

»Führt mich«, sagt er zu dem Engel, »wohin auch immer Ihr mich führen wollt; ich werde dort das Glück finden, solange ich nur weit weg von dieser grauenvollen Insel bin. Oh! möge ich nie mehr an diesen Ort zurückkehren! hier sah ich all die Schuldigen, zu ewig währenden Leiden verdammt, an mir vorbeiziehen und bei meinem Anblick ihren ersten Vater und den Tag ihrer Geburt verfluchen; hier sah ich die Tore der Hölle aufgehen, deren Lärm lange Zeit in meinen Ohren nachklang, und wenn sie offenstanden, hörte ich das Stöhnen und Schreien, das diesem Ort der Qualen entstieg; manchmal habe ich die Flamme in seinem Innern gesehen; oh! mögen diese grauenvollen Szenen sich nie mehr meinen Augen darbieten: ich beschwöre Euch, o mein Befreier, lasst uns diese Insel frühestmöglich verlassen, lasst uns den kürzesten Weg nehmen, den Luftweg.«

Seine Bitte wird erhört, der Engel Ituriel hüllt ihn in die dunkle Wolke, die ihn verbirgt, und führt ihn unverzüglich mit sich in die Lüfte; rasch durchqueren sie die ätherischen Gefilde und steigen auf der Höhe des französischen Reiches, unweit der Bleibe von Omégare, herab.

»Hier bist du nun«, sagt der Engel zum Vater der Menschen, »auf der Erde, auf der du geschaffen wurdest. Wenn du nicht erneut jahrhundertelange Martern beginnen und auf die Insel zurückkehren willst, von der du gekommen bist, vollende glücklich die Mission, die der Ewige dir anvertrauen wird.« Mit diesen Worten entschwindet der Engel seinen Blicken, und die Wolke, die den Vater der Menschen umschleierte, löst sich sogleich auf.

Kaum hat Adam die Erde wiedererkannt, als er sich auch schon im Freudentaumel in ihren Schoß wirft; er küsst sie, drückt sie an seine Brust, an seine Lippen, in seine Arme, die er über ihrer Oberfläche ausbreitet. »O mein Vaterland!«, ruft er, »o mein erster Aufenthalt! bist du es, berühre ich dich?« Sodann erhebt er sich in seiner Ungeduld, sie zu sehen, und wirft begierige Blicke um sich. Die Sonne begann gerade ihren Lauf. Wie sehr erstaunt der Vater der Menschen, da er die Ebenen und Berge sieht, des Grüns entkleidet, fruchtlos und nackt wie ein Fels; die verkümmerten und mit einer weißlichen Rinde bedeckten Bäume, die Sonne, deren ermattetes Licht einen blassen und düsteren Tag auf diese Gegenstände wirft. Es war nicht der Winter mit seinem Raureif, der dieses Grauen über der Natur ausbreitete. Gerade in dieser grausamen Jahreszeit bewahrte sie eine männliche Schönheit und jene Lebenskraft, die eine baldige Fruchtbarkeit verheißt — doch die Erde hatte das Schicksal aller erdulden müssen. Nach jahrhundertelangem Kampf gegen die Beanspruchung durch die Zeit und die Menschen, die sie ausgelaugt hatten, trug sie die traurigen Zeichen ihrer Hinfälligkeit.

Wie ein Sohn, der seine Mutter verließ, als sie noch jung war, fühlt, wie sein Herz sich vor Traurigkeit zusammenzieht, wenn er sie nach langer Abwesenheit, gekrümmt von der Last der Jahre, wiederfindet und sie umarmt, während er seine Tränen verbirgt, so kann der Vater der Menschen diesen Verfall der Erde nicht ohne Schmerz ansehen. »O Erde«, sagt er, »die ich so schön aus den Händen des Schöpfers hervorgehen sah! was ist aus deinen lachenden Anhöhen, deinen von Blumen glänzend übergossenen Wiesen, deinen grünenden Lauben geworden? du bist nur mehr eine riesige Ruine: das Alter hat die Stirn der Sonne selbst verblassen lassen, deren Glanz unsterblich schien; nun halte ich ihren Blicken stand.« Bei diesen Worten verstummt er, wie erschlagen von großen Gedanken, die ihn beschäftigen; bald hebt er seine Hände zum Himmel und ruft: »O Ihr, dessen Jugend seine Werke überdauert, Euer Ruhm überwältigt mich! Wie klein ist der Mensch, und wie groß erscheint ein Gott inmitten der Trümmer der Welt! Ihr seid das einzige Wesen, und nur noch Euch sehe ich im Universum!«

Während er dem Ewigen diese Ehrerbietung erweist, erlebt der Vater der Menschen einen plötzlichen Aufruhr; er fühlt, wie eine göttliche Flamme sein Herz durchglüht: er ist bewegt, begeistert; Gott ist es, der sich ihm mitteilt, um ihn im Gegenstand seiner Mission zu unterweisen. Nicht in einer sinnlich wahrnehmbaren Form bietet er sich seinen Augen dar; er kleidet seine Seele in ein inneres Licht und spricht zu ihm ohne die Zuhilfenahme der Sinne. Andächtig in gläubiges Schweigen versunken, vernimmt Adam ehrfurchtsvoll den höchsten Schiedsrichter seines Schicksals und verspricht, seinen hoheitlichen Befehlen zu gehorchen. Zu Omégare gesandt, soll er ihm im Namen des Allerhöchsten das schwierigste Opfer abverlangen, das man von einem menschlichen Herzen erhalten kann, ohne andere Mittel zu verwenden als Beredsamkeit und Überzeugungskraft.

Adam erschrickt vor der Größe des Unterfangens; seine umwölkte Stirn drückt die Unruhe aus, die ihn bewegt. »Ach!«, sagt er, »ich werde zu den Toren der Hölle zurückkehren; ich werde dort in einen neuen Kreislauf der Jahrhunderte und der Qualen eintreten! Wehe! ich, der ich von Gott unter den Augen seiner Engel erzogen wurde, verletzte das einfachste der Gebote und sollte nun von einem schwachen und unvollkommeneren Mann die Tugenden erhalten, an denen es mir gebrach!« Der betrübte Vater der Menschen erhebt seine flehenden Hände zum Himmel und bittet Gott, der die Herzen berührt, wann es ihm gefällt, dasjenige von Omégare auf den Gehorsam vorzubereiten.

Sodann schreitet er, von einer geheimen und göttlichen Inspiration geleitet, auf Erden fort, wo schon bald der von Omégare bewohnte Palast vor seinen Augen erscheint.

Der Augenblick naht, der den Vater der Menschen in den Himmel versetzen oder den Toren der Hölle zurückgeben wird: er wird unsicher, sein Herz zieht sich zusammen, nur mühsam kann er gehen.

Gerade traten Omégare und Sydérie, die seit einigen Tagen in düstere Melancholie versunken waren, aus ihrer Wohnstatt hervor. In dieser Nacht, in der sie von unheilverkündenden Vorzeichen in Angst und Schrecken versetzt worden waren, hatten sie sich nicht der Süße des Schlafes hingeben können: sie hatten blutüberströmte Gespenster gesehen, die in ihrem Palast umhergingen; sie hatten Flammen gesehen, die sie umzüngelten; sie hatten grauenvolle Klagerufe gehört, die aus der Erde hervortönten; sie traten den ersten Strahlen der Sonne entgegen, um ihren verängstigten Seelen die Sicherheit zurückzugeben und aus dem Schauspiel der erwachenden Natur die Ruhe zu schöpfen, derer sie bedurften.

Obwohl Adam, auf eine Insel vor den Toren der Hölle verbannt, viele Jahrhunderte hindurch ohne Unterlass gelitten hatte und noch immer fürchten musste, erneut eine solche Zeit der Qualen zu durchlaufen, sind allein beim Anblick eines Menschen seine Leiden vergessen. Er wird zu seinen Nachkommen sprechen, zu seinen Kindern, deren erster Vater er ist, zu einem Menschen seinesgleichen, den er nicht mehr lebend sah, seit er die Erde verlassen hat. Welch ein Augenblick für ihn, wenn dessen Süße nicht von dem grausamen Amt überschattet wäre, mit dem er betraut ist, wenn er seinen Namen nennen und seine Kinder umarmen könnte, wenn Gott, der ihn inspiriert, ihm nicht untersagte, sich zu erkennen zu geben!

Omégare ist erstaunt über das Auftauchen dieses Fremden in der Einsamkeit, die er allein mit Sydérie bewohnte und die nie ein Reisender besuchte. Die Ankunft des alten Mannes gilt ihnen als ein günstiges Vorzeichen; sie denken, dass Gott ihnen einen Trostspender sendet: ihr schwarzer Kummer verfliegt; sie gewinnen die Sicherheit zurück, die sie verlassen hatte: glücklicher Einfluss der Menschen auf ihresgleichen! zwei Unglückliche begegnen sich, und noch bevor sie miteinander sprechen, sind sie schon getröstet!

Adam grüßt Omégare und Sydérie und bricht als Erster das Schweigen, indem er zu ihnen spricht: »Der Frieden des Himmels sei mit euch und habe die Güte, euch mit seinen Segenswünschen zu überschütten, er gebe euch den Willen, seinen Geboten zu gehorchen, und den Mut, das Unglück zu ertragen: diese Wünsche hegt für euch ein unglücklicher Alter, dem ihr teuer seid und den ihr eurerseits lieben würdet, wenn er euch bekannt wäre.«

»Ehrwürdiger Fremder«, antwortet Omégare, »diese Liebe, die Ihr zu wünschen scheint, habt Ihr bereits gewonnen. Kaum habt Ihr Euch unseren Blicken gezeigt, da war uns, als habe der Himmel uns einen Vater geschickt; ein Freudenstrahl ist in unsere betrübten Herzen gelangt, und wir haben geglaubt, dass das Glück zurückgekommen sei, um unter uns zu wohnen.«

»Das Glück!«, versetzt der Vater der Menschen, »o weh! es ist selten auf Erden; im Himmel muss man es suchen, und eben dieses Glück kostet oft grausame Leiden und große Opfer: indes darf ich euch fragen, worin eure Kümmernisse bestehen? furchtbar sind sie, wenn sie meinem langewährenden Unglück gleichkommen.«

»Erst seit einigen Tagen«, sagt Omégare, »ist unser Los verändert. Ein unüberwindlicher Schrecken hat sich unserer Seelen bemächtigt; alles gibt ihn uns ein, unsere Arbeiten, unsere Vergnügen, unser Reden, unser Schweigen, der Anbruch der Nacht, die Wiederkehr der Sonne, ja selbst unsere Bemühungen, ihn zu zerstören. Wir haben Angst, weiterzuleben, so als müssten unsere Übel ohne Unterlass zunehmen. Schreckliche Vorzeichen entsetzen uns zutiefst. Heute Nacht sind uns blutüberströmte Gespenster erschienen; in der Luft haben wir bedrohliche Stimmen gehört, dieser Palast schien uns in Flammen zu stehen: ich glaube, der Himmel zürnt uns.«

»Ihr täuscht Euch nicht«, antwortet ihm Adam, »Ihr habt eine Verfehlung begangen, deren Bewusstsein Euch zerreißt, und ich weiß, dass Ihr von einem großen Unglück bedroht werdet; ich bin gekommen, um Euch zu lehren, mit welchen Mitteln Ihr Euch diesem Unglück entziehen könnt, aber Ihr müsst zu mir sprechen, ohne mich zu täuschen, und mir die Geschichte Eures Unheils erzählen.«

»Ihr kommt«, sagt Omégare zu ihm, »in einem Moment, da mein bedrücktes Herz einen Trostspender begehrte. Urteilt selbst, ob ich Euch mit Freuden mein Herz ausschütte: ich nehme jede Hilfe an, die Ihr mir versprecht. Ich habe eine Handlung begangen, die ich mir vorwerfe, die ich vor mir entschuldigen will, die sich mir immerzu darstellt, von der ich aber endlich glaube, dass sie es wert sei, verziehen zu werden. Tragt die Fackel in mein Gewissen, ich bin bereit, Euch das Geständnis meiner Verfehlungen zu machen; ich werde Euch, wenn nötig, die Geschichte meines Lebens erzählen, doch befürchte ich wohl, dass Ihr mich für schuldig befinden werdet.«

»Würdet Ihr mich kennen«, sagt Adam zu ihm, »so wüsstet Ihr, dass ich das Recht verloren habe, streng zu sein. Nachsicht, die bei den Gerechten eine Tugend ist, wird mir immer eine Pflicht sein. Möge Eure Seele sich vertrauensvoll öffnen: ich werde weniger Euer Richter als Euer Trostspender sein. Wenn ich Euch auch das Glück und den Frieden nicht zurückgeben kann, so werde ich Euch doch die Mittel lehren, die Güter, die Ihr verloren habt, wiederzuerlangen.«

Im Verlauf dieser Unterredung hatte der Vater der Menschen häufig einen Blick auf Sydérie geworfen. Der Liebreiz ihres Antlitzes, ihre sittsame Zurückhaltung, ihr blondes Haar, das über ihre Schultern floss, die Vornehmheit ihres zarten und würdevollen Körperwuchses riefen ihm eine teure Gemahlin in Erinnerung, deren Schicksal im Reich des Schattens er nicht kannte. Eva besaß wie Sydérie die frühlingshafte Frische ihres Alters und vor allem die gleiche liebenswürdige und anrührende Schamhaftigkeit, als Adam sie beim Erwachen zum ersten Mal an seiner Seite sah. Dieser glückliche Augenblick bringt sich ihm in lebhaften Farben ins Gedächtnis zurück. Er ist gerührt und vergießt Tränen.

Die ehrwürdige Miene des Alten, der das Geheimnis der Herzen genau zu kennen scheint, die Tränen, die seinen Augen entronnen sind, haben das Vertrauen von Omégare gewonnen, der ihm noch im selben Augenblick vom Gegenstand seiner Leiden erzählen will. Schon weit vom Palast entfernt, den sie nicht mehr sahen, waren sie in eine Grotte eingetreten, in der Stille zu herrschen schien. Omégare hält diesen Ort für geeignet, sein Geständnis zu empfangen; er setzt sich zwischen Sydérie und den Vater der Menschen und schickt sich an, ihm die Geheimnisse seines Lebens zu enthüllen, indes die anhaltende Windstille dazu einlud, dem Bericht Omégares ein aufmerksames Ohr zu leihen. Die Sonne ging gerade über dem Horizont auf, keine Wolke verschleierte den Azur des Firmaments, und schön war dieser Tag für den Niedergang der Welt.

Zweiter Gesang

»Mein Vater stammt aus dem erlauchtesten Haus des Universums, und nennen kann man es die Familie der Könige der Erde. Sie setzten sich auf alle hohen Throne in den beiden Welten und regierten so lange, dass die Geschichte die Erinnerung an diese lange Herrscherfolge nicht hat bewahren können. Mein Vater bewohnte diesen Palast, der die Wohnstatt seiner Ahnen war. Um die Mitte seiner Regentschaft blieb er König ohne Untertanen. Frankreich war, wie der Rest Europas, nur noch eine weite, menschenleere Einöde.

Als ich das Licht der Welt erblickte, hatte es bereits seit zwanzig Jahren keine fruchtbare Vermählung mehr gegeben. Die Menschen, die traurig auf das Ende ihres Weges zuschritten, ohne dass eine junge Nachwelt ihnen folgte, die dereinst ihren Platz einnehmen sollte, dachten, die Erde verliere mit ihnen ihre letzten Bewohner. Meine Geburt war ein Phänomen, das ihr Erstaunen und ihren Freudentaumel auslöste: sie begingen sie mit Festen. Man sagt, die Frauen seien von den äußersten Rändern Europas herbeigeströmt, um das Menschenkind zu sehen: so nannten sie mich. Mein Vater nahm mich in seine Arme und rief: ›Die menschliche Gattung lebt weiter! O Gott!‹, sprach er, indem er mich dem Ewigen darbot, ›ist es ein Irrtum, dem ich erliege? dieses Kind wird der Vater eines neuen Geschlechts sein. Nicht mir hast du ihn gegeben, sondern der Erde, der Welt, deren einzige Hoffnung er sein wird; erhalte sein Leben, er gehört dir, ich weihe dir meinen Sohn.‹

Diese ausgelassene Freude war von kurzer Dauer. Ich blieb der einzige Sohn der hochbetagten, einst so fruchtbaren Europäer; ich hatte noch nicht das Alter erreicht, in dem der Mensch beginnt, sich selbst zu erkennen, als ich die Eltern verlor, die mir das Leben geschenkt hatten. Allein an diesem Ort, erwies ich ihnen selbst die letzte Ehre und grub mit meinen eigenen Händen das Grab, darin ich die teuren Überreste verschloss. Nachdem ich diese Pflicht erfüllt hatte, verlebte ich nur noch sehnsuchtsvolle Tage; ich fühlte, dass ein großartiger und einsamer Palast, den keine lebendigen Wesen beseelen, die traurigste aller Wohnstätten ist. Der Ennui verzehrte mich nach und nach, und meine Jugend welkte dahin. Gequält von dem Bedürfnis, meinesgleichen meine Gefühle und Gedanken mitzuteilen, beschloss ich, diese Einsamkeit zu verlassen und in Europa nach Menschen zu suchen, falls es diese dort noch gäbe.

An dem Tag, an dem ich das Grab meiner Eltern aufsuchte, um ihnen den letzten Gruß zu entbieten, sah ich am Fuße des nächstgelegenen Hügels einen flammenden Rauchwirbel aus dem Schoß der Erde emporschnellen, der sich bis zur Höhe des Gebirges erhob. Trotz der tiefen Windstille wirbelte er ohne Unterlass und wurde zugleich mit einer Heftigkeit an die entlegensten Punkte des Horizonts gestoßen, als sei er der Spielball mehrerer ungestümer und widriger Winde; noch während ich dieses Phänomen betrachte, stürmt der Wirbel auf mich zu, ich will ihm ausweichen; er verfolgt mich auf meiner Flucht, er erreicht mich, und kurz, bevor er mich umhüllt, hält er an. O Schauspiel, noch immer erzittere ich vor dir! ich sehe im Innersten einen Mann selbst diesen Vulkan bilden mit Feuerströmen, die aus seinem Mund sprangen; er war in beständiger Bewegung, seine wogenden Haare wirkten wie brennende Schlangen, seine Augen, schwärzer als Ebenholz, erstrahlten in dunklem Glanz, und seine stark ausgeprägten Muskeln glichen glühenden Eisen, die man in loderndes Feuer getaucht hatte.

Bei diesem Anblick, obschon entsetzlich, war das Mitleid in mir stärker als der Schrecken; ich wollte mich in die Flammen stürzen, um das unglückliche Wesen, das ich dort leidend glaubte, zu befreien. ›Halt ein‹, sagte er zu mir, ›du würdest umkommen, ohne mir einen Dienst zu erweisen. Diese Feuer sind mein Element und meine Nahrung; in ihnen atme ich das Leben, wie du in der Luft.‹ Nach diesen Worten verstummte er; ich sah aus seinen Augen Tränen rinnen, die die glühende Hitze der Feuer, von denen er umgeben war, auf der Stelle verzehrte. Die Flammen, die seinem Mund entwichen, wurden schwächer; ich glaubte, sie würden versiegen, als er sich wieder belebte, um zu rufen: ›Omégare, was werde ich dich lehren! wie mutig du auch seist, auf welches grauenvolle Ereignis deine Seele auch vorbereitet sein mag, ich werde dich in Erstaunen versetzen und dich zudem mit Furcht erfüllen. Diese Erde, die dich trägt, diese Erde, auf der du stille Blicke ruhen lässt, wird unter deinen Schritten einstürzen: der Tag ihrer Zerstörung ist gekommen.‹

Bei dieser Nachricht wurde ich von Schrecken erfasst. Wie ein Mann, dem man gerade mitgeteilt hat, dass er über verborgenen Abgründen wandert, und der davor zittert, jeden Moment hineinzustürzen — er wagt keinen weiteren Schritt zu tun, noch an seinem Platz zu verbleiben —, so war auch ich verzweifelt, an die Erde gebunden zu sein. Ich hätte die Grenzen des Universums durchstoßen wollen, hätte gewollt, dass eine göttliche Hand mich mit einem Mal an die äußersten Ränder des Firmaments beförderte. Unnütze Wünsche, deren Wahnsinn ich einsah. Ich zog es vor, diese grauenvolle Wahrheit anzuzweifeln, ich wagte sogar, sie anzufechten, um meine von ihr gequälte Seele zu beruhigen, und sagte zu dem eigenartigen Wesen, das mir erschienen war: ›Wie kann es sein, dass die Zerstörung der Erde so nahe bevorsteht, so schnell hereinbricht! nichts scheint dieses Ereignis anzukündigen: die Lüfte sind friedlich. Fühlte die Natur nicht, bevor ihre letzte Stunde geschlagen hat, deren Nahen, und litte sie nicht die Schmerzen des Todeskampfes?!‹

›Ach! gebe der Himmel‹, sagte er zu mir, ›dass ich mich getäuscht hätte! aber diese schreckliche Wahrheit scheint in meinen Augen allenthalben auf. Nun! wie sollte ich nicht um die Geschicke der Erde wissen, ich, der ich der Genius bin, der ihre Bewegungen lenkt, der ich, mit ihr geboren, sah, wie sie sich unter die Himmelskörper einreihte und ihren ersten Lauf um die Sonne beschrieb, ich, den der Ewige umgehend auf den höchsten Berg Asiens rief, um diese Rede an mich zu richten:

›Du siehst‹, sagte der Schöpfer zu mir, ›diese Sterne, von denen das Firmament erfüllt ist; es sind ebenso viele Welten, und alle diese Sterne haben jeweils ihren eigenen Genius, der über ihre Erhaltung wacht. Dich habe ich zum Genius der Erde gemacht; du wirst mit den Gesetzen, die sie beherrschen, die Elemente kennenlernen, aus denen sie zusammengesetzt ist. Verlängere durch deine Sorgfalt ihre Jugend und ihre Tage: du sollst ebenso lange leben wie sie, und dein Leben ist beinahe eine Unsterblichkeit. Deinen Augen werden die Menschen nur Erscheinungen sein; doch während sie zu neuem Leben erwachen werden, um nicht mehr sterben zu müssen, werden dein Tod und der Tod der Erde ewig sein. Im Buch der Schicksale habe ich diese fatale Epoche für den Tag festgesetzt, an dem die menschliche Gattung nicht mehr die Kraft haben wird, sich fortzupflanzen.‹ Also sprach der Ewige.

Schon bald vergaß ich, dass meinem Leben eine Frist gesetzt war. Ich überlebte die Generationen, die immer wieder neu geboren wurden: die Fruchtbarkeit der menschlichen Gattung erschien mir unerschöpflich; ich glaubte, ich sei unsterblich. Schließlich kam der Moment, in dem sich diese Illusion zerschlagen sollte: heute gibt es nur noch eine einzige Frau und dich, die ihr das Menschengeschlecht fortbestehen lassen könnt. Wenn sie umkommen wird oder du stirbst, wird die Erde sich auflösen, ins Chaos zurückkehren, und ich bin auf immer vernichtet. Es herrscht äußerste Gefahr, seit die unfruchtbar gewordenen Menschen dem Tod nicht mehr stetige Opfer darbringen, seine Gier ist nicht allein ein grausamer Hunger, er stürzt sich auf alle Lebewesen. Wenn du jedoch seinen Hieben entkommen und dich, durch Hymenäus’ Bande, mit der einzigen Frau vereinigen könntest, die sie fruchtbar werden ließe, zögertest du den Moment meines Untergangs hinaus; nicht, dass ich ein paar Tagen meines Daseins einen großen Wert beimessen würde, ich wüsste mutig zu sterben; ich habe von den Menschen diese Lektion erhalten, die so schwierig zu erteilen ist. Doch bin ich darüber unterrichtet, dass der Stern, der die nahezu verlöschenden Sonnen neu entfachen soll, bald in unsere Sphäre hinabsteigen wird, um dem Taggestirn seine Wärme und seinen ersten Glanz zurückzugeben. Wenn also die Erde nicht zerstört würde, belebte sie sich an den neuen Feuern der Sonne, entledigte sich der Kleider ihres hohen Alters, um ihr glänzendes Frühlingskleid wieder anzulegen. Zahlreiche Kinder entsprängen der verjüngten menschlichen Gattung, und ich begänne ein zweites Leben. Es wären nicht nur einige Tage, die ich meinen langen Jahren hinzufügte, sondern eine unzählige Anzahl von Jahrhunderten. Ehe ich diese Hoffnung aufgebe, werde ich alle Elemente in Bewegung setzen, werde alle Geheimnisse ausloten und die Kräfte meiner Macht erschöpfen, die ebenso groß sind wie die der Natur.‹

Diese letzten Worte des Genius milderten den Schrecken, den er mir ob der Ankunft des letzten Tages eingeflößt hatte. Ich fühlte mit Freuden, dass ein mächtiges Interesse ihn dazu zwang, mich zu retten, und antwortete ihm:

›Wenn ich Euch nützlich sein kann, so fürchtet nicht, mir gefährliche Unternehmungen zu befehlen: ich werde den Versuch wagen. So jung ich auch sein mag, bin ich doch mutig, habe mehrmals wilde Tiere bekämpft, die der Hunger rasend gemacht; ganz allein habe ich sie zu Boden geworfen und meine Hände in ihr Blut getaucht.‹

›Keineswegs‹, entgegnete mir der Genius, ›ist es diese Art von Mut, die dir nötig ist, sondern jene Seelenkraft, die einen tiefgründigen Plan erfasst, und jene Langmut, die nichts ermüdet, und jene Glut, die sich an den Hindernissen erst richtig entzündet. Lass heute jene Tugenden großer Männer wieder aufscheinen. Der Weg wird sich vor dir auftun. Du kennst die Stadt, wo der Engländer die Heldin verbrannte, die Frankreich rettete; begib dich hinter diese Mauern, finde einen Mann namens Idamas; aus seinem Munde sollst du erfahren, welche Mittel der Himmel ausersieht, damit du die Erde wieder belebst. Fürchte nicht, sie anzuwenden: wenn auch für deine Augen unsichtbar, werde ich dein Führer sein und deine Stütze.‹ Ich wollte ihm antworten, doch er unterbrach mich, indem er zu mir sagte: ›Ich kann weder bleiben noch dich hören, ich kehre zum Mittelpunkt der Erde zurück, wo ich ununterbrochen damit beschäftigt bin, die Feuer am Leben zu erhalten, die sie fruchtbar machen.‹ Mit diesen Worten entschwand er.

Obwohl der Schrecken Spuren hinterlassen hatte, von denen ich nicht befreit war, tröstete mich der Stolz darüber, die Geschicke der Erde und der menschlichen Gattung auf meinen Schultern ruhen zu sehen. Ich beeilte mich, die Befehle des Genius auszuführen.

Ich breche auf. Kaum habe ich vier Stunden eines schnellen Marsches nach Westen gezählt, als eine gewaltige, mit Palästen und antiken Monumenten überzogene Stadt sich meinen Blicken darbietet. Die Stadt beherbergte einzig einen Mann und seine Frau, die Policlète und Céphise hießen. Sie wohnten vor den Toren der Stadt in einem bequemen, einfachen Haus, das die umliegenden Ebenen überragte. Sobald Céphise mich erspäht hat, ruft sie laut ihren Gemahl herbei: ›Policlète, ich sehe einen Mann, er kommt mir entgegen.‹ Policlète stellt mir tausend Fragen auf einmal. Er fragt, wer ich bin, wohin ich gehe, woher ich komme, was der Gegenstand meiner Reise ist. Vor allem meine Jugend scheint ihn zu erstaunen: er hatte geglaubt, einer der jüngsten Männer Europas zu sein.

›Meine Geburt‹, sagte ich zu ihm, ›erregte so viel Aufsehen, dass ich Euch nicht unbekannt sein dürfte. Ich bin das Menschenkind, dessen Wiege Europa besuchte.‹ Bei diesen Worten brechen Policlète und Céphise in helle Freude aus. ›Was!‹, sagt Céphise zu mir, ›Ihr wäret jenes Kind, das ich gesehen habe: ich war damals zwanzig Jahre alt. Glückliche Tage, die mir noch immer lebhaft in Erinnerung sind! Meine Mutter führte mich zu den Festen, die man anlässlich Eurer Geburt feierte. Ihr solltet, sagte man, der Retter der Welt sein, der Stammvater eines neuen Volkes. Der sanfte Frühling würde wieder auf den Feldern Einzug halten und sie fruchtbar machen, der Sommer würde die Ernten reifen lassen und vergolden. Es geschah im Glauben an diese Versprechen, dass Policlète mich heiratete. Wie schnell haben sich diese Hoffnungen verflüchtigt! anstelle des Wiedererwachens der Natur, das wir erwarteten, brachte jeder Tag ihren Verfall mit sich.‹