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Band 96

 

Kampf um Derogwanien

 

von Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Im Juni 2036 stößt der Astronaut Perry Rhodan bei seiner Mondlandung auf ein havariertes Raumschiff der Arkoniden. Damit verändert er die Weltgeschichte. Die Terranische Union wird gegründet, sie beendet die Spaltung der Menschheit in einzelne Nationen. Ferne Welten rücken in greifbare Nähe. Eine Ära des Friedens und Wohlstands scheint bevorzustehen.

Doch dann bringt das Große Imperium das irdische Sonnensystem unter seine Kontrolle. Die Erde wird zu einem Protektorat Arkons. Die Terranische Union beugt sich zum Schein den neuen Herrschern, während der Widerstand wächst.

Perry Rhodan wird bewusst, dass die Erde verloren ist, wenn es nicht bald gelingt, die arkonidische Herrschaft zu brechen. Die Menschheit braucht Hilfe – und auf Derogwanien, so Rhodans verzweifelte Hoffnung, kann er sie finden ...

Selbst der stärkste Sturm

kann den Himmel nicht gefährden.

Callibso, Derogwanien

 

Seelensplitter

Seilspringen

 

Das Seil klatschte auf den Boden. Sannasu sprang. Sie war eins mit dem Seil, folgte dem Rhythmus. Ihr kleiner, kräftiger Körper hob vom Boden ab, schien eine endlose Sekunde zu fliegen wie die schwarzen Vögel, die im Himmelsblau Kreise zogen.

Sie roch Gras, herbe Schmiedblätter und pfeffrige Kräuter. Hinter den unfertigen Gesichtern der Geschwister stiegen Häuser und Türme bei jedem Sprung auf und ab.

Auf und ab.

Auf und ab.

Sannasu spürte die kühle Luft in der Lunge. Es fühlte sich gut an.

Um sie herum riefen die Kinder im Takt des aufschlagenden Seils:

»Der Meister naht, seid alle froh!

Mein Dada ist er sowieso!

Schaut ihn an, schaut, wie er lacht!

Die Ersten haben ihn gemacht!

Eins und zwei, kommt schnell herbei!

Drei und vier, denn er ist hier!

Bei fünf und sechs und sieben,

ist er dageblieben.

Bei acht und neun und zehn,

muss er wieder gehn.«

Beim Singen bildeten sich Lippen, Nasen und Augen aus, bis sich Sannasus Geschwister deutlich voneinander unterschieden. Sie erkannte Tankin und Wikar am Rand des Pulks. Die Nähe Callibsos machte ihre Züge lebendig und brachte ihre Augen zum Strahlen.

Mit jedem Sprung fühlte Sannasu, wie Dada näherkam, wie das Gefäß ihrer Seele durch seine Anwesenheit mehr und mehr gefüllt wurde gleich einem Kristallkrug mit erlesenem Honigsaft. Sie wusste, dass er auf dem Weg war.

Er näherte sich von der Gegenseite der Stadt, vom Hügel, hinter dem der Zeitbrunnen lag.

Während die anderen sich umdrehten und ungläubig murmelten, hüpfte Sannasu zur Seite. Das peitschende Seil zischte an ihrem Ohr vorbei. Sie rannte los, auf Callibso zu, streckte die Arme aus. »Dada!«

Er fing sie auf, hob sie hoch, dass Sonnenlicht auf ihr Gesicht fiel. »Sannasu! Ich bin wieder da. Euer Lied hat mich angelockt.«

»Ehrlich?«

Dada hielt sie noch ein Stück höher. »So wahr ich hier stehe. Es ist Magie.«

»Wirst du uns wieder Geschichten erzählen?«

Er lächelte. Es war schön, wenn er das tat. Es machte Sannasu glücklich.

»So viele ihr wollt.«

1.

Zukunftslied

 

Perry Rhodan stand in einem engen Raum mit hoher Decke. Er und seine Gefährten waren auf der sterbenden Welt Tramp, verfolgt von den Soldaten der Allianz. In der Mitte des Raums gähnte ein Loch im Boden. Es anzusehen bereitete Rhodan Unbehagen. »Was ist das?«

»Ein Zeitbrunnen«, sagte Ernst Ellert, der aus dem Nichts erschienen war und ihre einzige Rettung darstellte. Er hatte Rhodan, Ras Tschubai, die Puppe Sannasu und Charron da Gonozal an diesen Ort geführt. »Lasst euch einfach hineinfallen!«

Rhodan wechselte einen schnellen Blick mit Ras Tschubai. Der Mutant zuckte unschlüssig mit den Schultern.

Charron da Gonozal saß auf dem Boden. Sein massiger Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Sannasu half ihm, sitzen zu bleiben und sich zu beruhigen.

»Hören Sie zu, Ernst«, sagte Rhodan. »Sie wissen, dass wir Ihnen vertrauen, aber ...«

»Ich werde euch begleiten. Aber wir müssen jetzt los. Sofort!«

»Ich fürchte, uns bleibt keine Wahl«, sagte Tschubai. Obwohl er tiefschwarze Haut hatte, meinte Rhodan, Schatten unter den braunen Augen zu sehen. Wie sie alle war Tschubai erschöpft.

Rhodan nickte. »Na schön. Gehen wir!«

Er trat auf den Zeitbrunnen zu. Mit jedem Schritt, den er machte, wurde Rhodans Geist größer. Es war ein verrücktes Gefühl. Während die Welt um ihn in Stille versank, wuchs er über Tramp hinaus, wurde zur Galaxis, zum Kosmos.

Es war, als würde das Sein selbst in ihn gezogen. Plötzlich hatte Rhodan keine Zweifel mehr, im Gegenteil. Er wollte zu diesem Brunnen, sich hineinstürzen, eins mit ihm werden und die Universen – wie viele auch immer es sein mochten – in sich pulsieren lassen.

»Rhodan?«, fragte Ernst Ellert alarmiert. Den Teletemporarier schien etwas zu erschrecken. »Ihr Gesicht ...«

Rhodan ignorierte ihn. Er folgte dem Sog und ließ sich fallen. Tauchte in allschwarze Dunkelheit, die gasförmig und flüssig zugleich war. Ein Fluidum, das keines sein konnte, und an das Abstrahlfeld eines Transmitters erinnerte.

Unglaublich.

Rhodan war, als könne er in der dunkelsilbrigen Masse schwimmen. Als wäre da etwas, das ihn trüge wie eine Mutter ihr Kind. Er fühlte sich behütet wie lange nicht mehr.

Instinktiv kraulte er los. Dabei war Rhodan unsicher, ob er sich überhaupt bewegte. Er spürte einen Sog, der ihn mit sich riss. Der einen Duft hatte, als wäre er eigens für ihn geschaffen worden: für Perry Rhodan, den Menschen von der Erde, der auf der Suche nach Callibso war, dem Schmied der Zeit, um Antworten zu erhalten.

»Rhodan, nicht!«, rief Ellert hinter ihm.

Doch Rhodan war schon fort. Während seine Arme in die unsichtbare Masse tauchten, verwandelte sich die Dunkelheit. Er sah silberne Funken, helle Flecken, graue Strömungen. Er spürte, wie die Essenz des Brunnens sich veränderte. Wärme und Kälte, wechselnde Widerstände und Fließrichtungen umgaben Rhodan, doch nichts konnte ihn von seinem Weg abbringen.

Rhodan tauchte auf und starrte in das Gesicht eines Mannes. Der Fremde leuchtete in purem Gold, das aus seiner Haut drang wie aus einer Glühbirne. Sein Körper war eine Handbreit kleiner als Rhodans, die Gestalt muskulös. Die Gesichtszüge waren scharfkantig und von einer Strenge, dass Rhodan sich unwillkürlich ertappt vorkam.

Ein Goldener! Das musste einer der Diener der Allianz sein!

»Rhodan, tun Sie das nicht! Sie könnten sich verirren!«

Das war Ellert.

Rhodan drehte sich um, und der Goldene verschwand. Einen Moment kam Rhodan zur Besinnung.

Er war mit Ras Tschubai, Sannasu und Charron da Gonozal auf der Flucht von Tramp. Sie wollten nach Derogwanien, zu Callibso. Er musste die Welt des Mannes erreichen, der sich immer wieder in Rhodans Leben eingemischt und versucht hatte, seinen Mondflug zu verhindern.

Es ging um das Ringen.

Ernüchtert wollte Rhodan auf Ellert zuschwimmen, doch dieses Mal riss ihn die Strömung fort. Es war, als wäre er zu weit gegangen, als gäbe es keine Umkehr.

Eine Vision drängte sich ihm auf.

Unvermittelt stand Rhodan auf dem Mond. Er blickte einem Raumschiff entgegen, einem Berg aus Arkonstahl, der vor ihm aufragte und sein Sichtfeld füllte – die AETRON. In den Ohren hörte Rhodan die eigene Stimme: »Mein Freund und ich, wir sind Träumer. Wir glauben an das Gute im Menschen. Wir glauben, dass es ein anderes Leben für uns geben muss, befreit von den Fesseln der Erde und der Last unserer Geschichte. Für uns selbst, für die Menschheit. Wir glauben, dass die Erde unsere Wiege, doch das Universum unsere Heimat ist. Ich bitte Sie, enttäuschen Sie unseren Glauben nicht!«

Rhodan fühlte sich federleicht. Gleichzeitig lastete ein Druck auf seinem Brustkorb.

Irgendetwas zischte leise. Grelles Licht blendete ihn, zeichnete in der fehlenden Atmosphäre rasiermesserscharfe Schatten in die Landschaft aus Fels, Geröll und Staub.

Rhodan erinnerte sich und spürte zugleich, dass er wieder dort war: Er stand in einem Krater auf dem Mond, vor der AETRON, dem Forschungskreuzer, mit dem Thora und Crest auf dem Erdtrabanten gestrandet waren. Es war im Juni 2036, als sein eigenes Schicksal und das seines besten Freundes – und damit auch das der Menschheit – entschieden wurde. Er und Reg hatten den Kontakt zu den Arkoniden hergestellt. Damit hatte alles begonnen.

Aber etwas stimmte nicht. Er hatte seine Rede gehalten, die ihn und seinen besten Freund Reginald Bull hätte retten sollen. Doch Crest nahm sie nicht in die AETRON auf.

Langsam drehte Rhodan sich um, versuchte es wenigstens. In der geringen Schwerkraft wirbelte er einmal um die eigene Achse.

Im zweiten Anlauf gelang die Bewegung, und er schaute auf einen Haufen nachglühenden Metalls und verschmorten Plastiks. Dieser Haufen war einmal ein Bodenfahrzeug der STARDUST gewesen.

Einige Meter weiter lag der Rak-Werfer im Mondstaub, mit dem Rhodan das Fahrzeug vernichtet hatte.

Wir können nicht zurück, erinnerte er sich.

Er und Reg waren auf Crest angewiesen, doch noch immer ließ der alte Arkonide sie nicht ein. Reg stand breitbeinig einige Meter weiter.

Seitdem die STARDUST auf dem Mond gelandet war, hatte Reg alles getan, um Rhodan zu helfen. Als Rhodan ihr Fahrzeug vernichtet hatte, hatte Reg keinen Einspruch erhoben, doch nun sah er wütend aus. Er stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich vor.

»Verdammt!«, rief Reg über Funk. »Verdammt, verdammt, verdammt, Perry, was soll das?«

Rhodan zuckte zusammen. Das hatte Reg nie zu ihm gesagt. Nicht in der Vergangenheit. Er presste die Lippen aufeinander.

Es war eine Vision, die Rhodan erlebte, das wusste er. Aber was genau zeigte sie ihm?

Wie unter Zwang handelte er, als sei die erlebte Szene real. Rhodan versuchte, Reg zu beruhigen. Er hoffte auf Crest.

Doch Crest half ihnen nicht.

Das leise Zischen, das Rhodan zuvor bereits bemerkt hatte, stotterte beängstigend.

Entsetzt erkannt er, dass der Sauerstoffvorrat erschöpft war. Dabei stand Rhodan kurz vor dem Ziel. Crest würde sie retten.

Reg sagte etwas, doch Rhodan wurde von silbernen Schlieren abgelenkt, die durch das Bild wischten. Sie verschwanden schlagartig.

Sein Blick fiel auf Regs Versorgungspack. Da war Sauerstoff. Zum Greifen nah, wenn er den Sauerstofftank aus dem Pack löste. Er konnte eine zweite Rede halten und eine dritte, bis Crest ein Einsehen hatte.

Und er wäre ein Mörder.

Wieder erzitterte das Bild. Funken blitzten und etwas veränderte sich.

Rhodan lag auf dem Rücken. Er spürte, dass er starb. Die Luft ging ihm aus. Über ihm, im pechschwarzen Himmel, glitzerten helle Punkte. Sterne. Seine Lunge schmerzte, brannte, als stünde sie in Flammen. Er keuchte, schaute hinauf und fuhr zusammen.

Ein grün blinkender Umriss zog wie ein Meteor in schräger Bahn über den Himmel und verschwand in einer geöffneten Schleuse der AETRON.

Was ist das?, dachte Rhodan und spürte, dass es womöglich sein letzter bewusster Gedanke war. Er schnappte nach Luft. Die Qual war unerträglich. Jede Zelle schrie nach Sauerstoff.

Ich sterbe. Wie kann das sein? Es ist unmöglich.

»Rhodan! Kommen Sie!«

Die besorgte Stimme sprengte die Vision.

Rhodan blinzelte. Er war nicht auf dem Erdtrabanten, sondern in einem Zeitbrunnen. Ganz in seiner Nähe bewegte sich Ernst Ellert, der ihn nach Derogwanien bringen würde. Ellerts Körper flackerte auf wie eine Fackel.

Widerstrebend ließ Rhodan die Vision los, folgte Ellert und tauchte mit dem Kopf aus einer quecksilbrigen Masse. Vor ihm ragte eine Umrandung aus Mauersteinen auf. Schwere Quader, nach denen Rhodan griff, sich in den Ritzen festkrallte und hochzog. Er wuchtete sich über die Einfassung, glitt auf der anderen Seite auf weiches Gras und blieb erschöpft liegen.

Was sollte diese Vision bedeuten? Was war ihm eben passiert?

Über Rhodan erstreckte sich ein makellos indigoblauer Himmel, durchbrochen von Ernst Ellerts Gesicht, das seinen verträumten Ausdruck verloren hatte.

»Ich hätte es wissen müssen!« Ellert wirkte erschrocken. Er fuhr sich durch die kurzen, braunen Haare, als könne er nicht fassen, was geschehen war. Seine Gestalt leuchtete unstet. »Die meisten Wesen, die versuchen, Zeitbrunnen für Visionen zu nutzen, scheitern. Sie sind anders, Rhodan. Vielleicht hatten Sie auch einfach Glück. Sie hätten sterben können!«

Rhodan wollte nachfragen, was Ellert damit meinte, doch ein Schluchzen hielt ihn davon ab. Es kam von Sannasu, die vor ihm aus dem Zeitbrunnen geklettert war und neben Ras Tschubai und Charron da Gonozal stand.

Ihr Gesicht hatte sich dramatisch verändert. Die Augen, die sonst starr und wie abwesend gewirkt hatten, waren lebendig geworden. Die Puppe erschien menschlicher denn je. Nun sah sie wirklich aus wie Jenny Whitman, deren Menschenkörper Sannasu übernommen hatte und noch immer trug wie ein lieb gewonnenes Kleidungsstück.

»Dada«, sagte Sannasu erstickt. Sie stand ganz still. Ein Tier, das in den Lichtkegel eines landenden Arkonidenraumers geraten war.

Rhodan folgte ihrem Blick.

Ein zwergenhafter Mann näherte sich der Anhöhe. Er ging überraschend schnell, wie von innerer Kraft getrieben.

»Callibso«, murmelte Ellert. »Er weiß von unserer Ankunft.«

Rhodan kam auf die Füße, trat dem kleinen Mann entgegen, dem er großes Leid zu verdanken hatte.

Callibso blieb zwei Meter vor ihm stehen. »Perry Rhodan, wenn ich mich nicht irre«, sagte er auf Englisch. »Willkommen auf Derogwanien!«

Seelensplitter

Albtraum

 

»Vater! Nicht!«

Plofre stand in Flammen, verging wie die Welt, auf der Gucky gelebt hatte. Das Feuer zerstörte den Planeten, vernichtete die Städte. Blaue Flammen züngelten über Stein, tanzten über Gebäude und Leiber. Kristallsplitter regneten aus zerberstenden Fenstern, Hitze zerfraß, was sie fand, zerschmolz Straßen, Häuser, unterirdische Anlagen.

Da waren Ilts, so viele Ilts, die nach ihm riefen, seine Hilfe brauchten. Brennende Fackeln aus zuckenden Körpern.

Eine davon war sein Vater.

Gucky wollte Plofre zu Boden werfen, um die Flammen zu löschen, doch er konnte sich nicht regen. Er war schuld daran, dass sein Vater litt, schuld, dass die Stadt brannte, schuld an einfach allem.

Er streckte die Hand aus, Zentimeter für Zentimeter gegen einen unsichtbaren Widerstand. Plofre hob den Kopf. Sein verbranntes Fell stank, Gucky würgte. Sein Vater hätte tot sein müssen, doch er war ganz ruhig; stand einfach da, als würde er das tanzende Feuer auf seinem Leib nicht fühlen. Wohlwollend blickte er Gucky mit der Gelassenheit eines Asketen an.

»Gucky«, sagte er freundlich, mit viel zu heller Stimme. Sein Gesicht verwandelte sich, die Flammen erloschen. Vor Gucky ragte ein junger Mann auf, der einmal dick gewesen war, nun aber schlank war, mit dunkler Haut und ölig schwarzem Haar: Sid González. Sein Freund von der Erde. »Es ist gut. Ich vergebe dir.«

Gucky wurde ruhig. Die Flammen verschwanden. Noch im Traum begriff er, dass er träumte und das, was er sah, nie auf diese Art und Weise stattgefunden hatte. Realität und Phantasie vermengten sich wie zwei gleich dicke Flüssigkeiten.

Er wusste, warum das so war – so sein musste. Auf Neu-Tramp hatte es keine Stadt gegeben, keine splitternden Scheiben, und auch brennende Ilts hatte Gucky nie gesehen. Doch sich an die wahren Bilder zu erinnern, war zu schmerzhaft.

An die verstümmelte Leiche Grirs, die ihn anklagend anstarrte, an den verblutenden Mokk, den er nicht hatte retten können und an den verkohlten Stumpf, der von dem Wohnbaum übrig gewesen war, in dem Sidi und ihr Baby verbrannt waren.

In Wirklichkeit war die Welt, auf der er einst gelebt hatte und auf der die Ilts mehrere Jahrtausende im Tiefschlaf verbracht hatten, viele Lichtjahre entfernt. Die Katastrophe, die sie vernichtet hatte, lag Jahre zurück.

Doch die Gegenwart war kaum besser als der Schrecken der Phantombilder.

Eine Röhre aus Kristall schloss Gucky ein. Er lagerte in einer Art Tank auf der WELTENSAAT. Gefangen von Pranav Ketar, dem Goldenen, einem Diener der Allianz, die alle Ilts tot sehen wollte. Pranav Ketar hatte seine Freunde verschleppt. Warum, blieb ein Rätsel.

Die Ilts hätten längst getilgt sein müssen. Stattdessen waren sie eingesperrt, harrten in Labors aus, um Pranav Ketar als Spielzeuge zu dienen.

Nun befand sich auch Gucky in Ketars Gewalt.

Noch.

Gucky zwang sich, entspannt liegen zu bleiben, stellte sich schlafend.

Er lebte und atmete.

Also würde er fliehen.

2.

Diener und Herren

 

Pranav Ketar betrachtete das pelzige Geschöpf mit den flauschigen runden Ohren und dem einen Zahn, das kaum einen Meter groß war und für so viel Aufregung gesorgt hatte. Ein Ilt. Ausgerechnet.

Wie war der kleine Mistkerl an Bord gekommen? Etwa mit dem Schrotthaufen, den der Fantan Set-Yandar sein Schiff genannt hatte? Das Spindelschiff, ein altersschwacher Frachter arkonidischen Ursprungs, hatte den Eindruck erweckt, als fiele es jeden Augenblick auseinander.

Der Goldene sah auf das vierbeinige, echsenartige Wesen hinab, das neben ihm stand und den langen Schwanz auf dem Boden an der Spitze eingerollt hatte. Sein Diener Worat. Der Wotok züngelte aufgeregt, legte den Kopf schief und fixierte dabei den Ilt in der transparenten Röhre, die in der Luft schwebte.

Der Raum lag abseits der Habitate in Pranav Ketars Privatbereich. In ihm fühlte Ketar sich geschützt und wohler als an anderen Orten der WELTENSAAT. Er verstand, warum die Ramani, Wotok und wie sie sich alle nannten, ihre Habitate schätzten, in denen sie in einer urwüchsigen Umgebung lebten, die ihnen angepasst war – doch er war keiner von ihnen.

Ein Lächeln spielte um Ketars Lippen. Tatsächlich war er ihnen so fern wie ein Planet seinem Mond. Sie schwebten in seinem Bannkreis, gehalten von seiner Kraft und er mochte sie brauchen – doch er war es, der sie hielt.

»Worat«, sprach er seinen Diener an. Allein, dass er dessen Namen kannte, war eine Auszeichnung, und manchmal fragte sich Pranav Ketar, warum er ausgerechnet einen Wotok in seine gefährlichsten Geheimnisse einweihte. Die Antwort gefiel ihm nicht. Ein Stück weit fand er sich in Worat gespiegelt, in einem Geschöpf, das ihm diente, wie er seinen Herren unterstand. Ein Soldat, der für eine gerechte Sache kämpfte und sich Anerkennung wünschte, so wie sich Ketar nach der Anerkennung der Allianz verzehrt hatte.

Worat war ein Abziehbild seiner selbst, wenn er auch ungleich tiefer stand und Pranav Ketar jedem anderen diesen Vergleich bei Androhung der Todesstrafe verboten hätte.

Die Herren knechteten ihn, Pranav Ketar, den Goldenen. Sie missachteten ihn, nicht anders als er Worat. Ihre Undankbarkeit ging Ketar schon lange gegen den Strich.

Doch die Zeit des Dienens neigte sich dem Ende zu, und die Ilts waren der Schlüssel, mit dem Pranav Ketar dieses ungerechte Schloss aus Missachtung und Untergebenheit sprengen würde.

Worat hob den Kopf, wobei er dem direkten Blick Pranav Ketars auswich. Der Wotok war loyal. Andernfalls hätte er gezögert, als er Rico in die Falle hatte locken sollen. Nun war der Androide tot, der zweite Rico. Seine Überreste verschwunden. Vermutlich hatten die Fantan, diese hirnlosen Schwabbelfledderer, den zerstörten Körper des Androiden als Besun mitgenommen. Sollten sie mit ihrer Beute glücklich werden. Hauptsache, sie waren fort.

Pranav Ketar verstärkte den Glanz seines Körpers. Das goldene Leuchten hüllte ihn ein, während er ein Stück über dem Boden schwebte. Zufrieden bemerkte er den Schauer, der über Worats Schuppenhaut lief. Wie einfach es war, simple Gemüter zu beeindrucken.

Absichtlich ließ Pranav Ketar Worat noch ein paar Sekunden länger warten, ehe er ihm die Gnade gewährte, seinen Namen erneut auszusprechen und ihm eine Frage zu stellen. »Worat, hast du auf dem Schrotthaufen dieses Fantan irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?«

Worat zögerte. »Ja, Wohltäter. Eine Ungenauigkeit. Ich habe einen Container gefunden, der erst vor Kurzem geöffnet worden war. Doch als ich ihn überprüft habe, war er leer.«

»Teleportation.« Pranav Ketar berührte nachdenklich den Ring an seiner Hand. »Wir haben gesehen, dass der Ilt dazu fähig ist. Auch wenn es ein Rätsel bleibt, warum wir nicht darauf aufmerksam geworden sind. Dass der Ilt bis zu den Laboren vorgedrungen ist, zeichnet ihn aus. Er ist ein ganz besonderes Prunkstück. Was würdest du an meiner Stelle tun?«

»Ich?« Der Echsenartige schien in Starre zu fallen. »Niemals würde ich mir anmaßen, mich mit Ihnen ...«

»Beantworte einfach die Frage!«

Worat züngelte hektisch. Ketar roch die Angst, die er ausdünstete. Er wollte seinen Herrn um keinen Preis enttäuschen. »Nun ... Ich würde mich fragen, woher der Ilt von seinen gefangenen Artgenossen gewusst hat, und ich würde ...« Der Wotok verstummte nervös.

»Ja?«

»Ich würde die WELTENSAAT auf den Kopf stellen, um herauszufinden, ob noch mehr Ilts mit ihm gekommen sind.«

»Worauf würdest du dabei achten?«

»Behutsam vorzugehen. Damit keine Unruhe ausbricht. Es muss nicht jeder wissen, dass möglicherweise weitere Eindringlinge an Bord sind.«

»Aha. Und warum stehst du dann noch hier? Organisier deine Soldaten. Sag der Schwertmutter, dass ich dich autorisiert habe, falls sie dir Schwierigkeiten macht. Ich will jeden Winkel der WELTENSAAT durchgekämmt haben.«

»Ja, Herr!« Der Wotok verließ den Raum fluchtartig, aber mit einer Ausdünstung, die für seinesgleichen typisch war: leicht nussig. Nach Stolz. Er war ganz offensichtlich froh, den Test einmal mehr bestanden zu haben.

Pranav Ketar trat auf eine Kristallscheibe und schwebte ein Stück an der Röhre entlang, in die er den Ilt eingesperrt hatte. Die Holoanzeige verriet, dass das pelzige Wesen träumte. Es stand kurz vor dem Aufwachen.

Der Goldene nahm eine Schaltung vor, dann tippte er gegen das transparente Material, das wie Kristall klirrte. »Ich weiß, dass du gerade zu dir kommst, kleiner Ilt. Mach die Augen auf!«

Der Ilt in der zwei Meter langen Röhre tat ihm den Gefallen nicht. Stattdessen verschwand er.

Pranav Ketar öffnete den Mund und wollte einen Befehl brüllen, doch schon war der pelzige Kerl wieder da. Er wimmerte und krümmte sich, soweit es die Fesselfelder zuließen. Aus seinem Maul floss ein dünnes Rinnsal Speichel, das ins Fell sickerte. Nach und nach kam er zur Ruhe, wischte die Spucke fort.

»Teleportation ist zwecklos«, sagte Ketar leidenschaftslos. Er empfand weder Mitleid noch Ärger. Lediglich einen Funken Respekt, dass der kleine Mistkerl es sofort nach dem Aufwachen versucht hatte, ungeachtet der Risiken.

Der Gefangene war in einen Schirm gesprungen, der innerhalb der Röhre dicht um ihn herum lag. Hätte Ketar diesen Schirm nicht zusätzlich mit einem speziell auf Teleporter zugeschnittenen Schutzfeld verbunden, der Ilt hätte sich schwerste Verletzungen an der energetischen Barriere zuziehen können.

»Fahr zur Hölle!«, zischte der Ilt.

»Diesen Ort kenne ich nicht. Ist er dem ähnlich, von dem du kommst?«

Der Ilt schwieg. Ein ganz schön harter Brocken. Er hörte auf, sich zu winden. Sein Fell war aufgeplustert und stand in alle Richtungen ab. Das Gesicht wirkte eingefallen, die dunklen Augen müde. Trotzdem lag in ihnen ein Funkeln, das Pranav Ketar missfiel.

In dieser mickrigen Kreatur steckte jede Menge Widerstand, der gebrochen werden wollte.

Ein zweiter Plofre.

Ketar überlege, seinen Ring einzusetzen, doch die Wirkung blieb unberechenbar. Wenn er den Ilt damit tötete, verlor er das wertvollste Prachtstück seiner Sammlung. Es musste ihm anders gelingen, den Mistkerl zum Reden zu bringen.

»Mein Name ist Pranav Ketar. Hast du auch einen?«

»Gucky.«

»Gucky. Sehr nett. Wie bist du auf mein Schiff gekommen?«

Der Ilt schwieg.

Ketar ließ es ihm durchgehen. Er hätte Gucky foltern können, doch der Ilt war noch zu schwach. Vielleicht später, wenn er mehr bei Kräften war. Gucky war zu wertvoll, um sein Leben zu gefährden.

Das melodische Zirpen eines Wotkäfers schwebte im Raum. Eine Nachricht erreichte Pranav Ketar. Er aktivierte ein Holo, überflog sie und ließ den goldenen Schein seiner Haut einige Nuancen heller werden. Eine Botschaft und Bitte von Matrim-21. Der Orgh wünschte, ihm persönlich etwas zu zeigen.

»Dann beeil dich!«, meldete Ketar zurück. Seine Stimme wurde automatisch in den Korridor vor seinem Privatbereich übertragen. Dem Orgh würde es vorkommen, als käme sie von überall zugleich.

Ketar war gespannt, was die kleine Untersuchung ergeben hatte, mit der er Matrim-21 beauftragt hatte.

Der Insektoide betrat den Raum noch unsicherer als der Wotok. Man sah ihm an, dass er lieber woanders gewesen wäre. Die Antenne war unterwürfig abgeknickt, die Mandibeln rieben unstet aneinander, während der tropfenförmige Kopf von links nach rechts pendelte wie in einem starken Wind. »Herr, hier ist das, was Sie haben wollten.«

Ein Translator übersetzte, was Matrim-21 sagte, obwohl der Orgh sich der an Bord gängigen Sprache bediente. Doch seine Satzstellung war derart verdreht und von zahlreichen »kkksss« und »zzzhhhs« durchsetzt, dass es Mühe gemacht hätte, ihm zuzuhören.

Matrim-21 zeigte Ketar einen winzigen Kristall, der sich aus der mit Chitin bespannten Handfläche löste und auf das Gerät am Handgelenk des Goldenen zuflog. Als der Kristall in das Gerät eindrang, verzog Ketar das Gesicht. Er fühlte sich beschmutzt von der niederen Kreatur, die ganz in seiner Gewalt war, auch wenn kein sichtbares Gitter sie hielt. Gleichzeitig war er mehr als neugierig auf das Ergebnis.

Ketar studierte, was der Orgh ihm geschickt hatte, und unterdrückte eine anerkennende Reaktion. »Es ist gut, Matrim-21. Du kannst gehen.«

Der Orgh verließ den Raum rückwärts. Ketar beachtete ihn nicht weiter. Er wandte sich dem Gefangenen zu. »Gucky. Sag mir, bist du allein an Bord der WELTENSAAT gekommen oder hast du vielleicht Freunde mitgebracht? Kleine, freche, pelzige Freunde?«

Wieder schwieg der Ilt.

»Aber bitte, Gucky. So kommen wir nicht weiter. Rede mit mir!« Ketar widerstand der Versuchung, das Röhreninnere unter Strom zu setzen.

Im Gesicht des Ilts arbeitete es, doch er sagte kein Wort.

»Woher weißt du, dass Ilts an Bord sind? Kennst du sie?«, führte Ketar das einseitige Verhör fort.

Die Barthaare an Guckys Schnauze zitterten, so fest presste er die Lippen zusammen.

Ketar lehnte sich vor. Ihre Augen waren auf einer Höhe, der Körper des Ilts lag leicht gedreht in der Röhre. »Komm schon! Gib dir einen Ruck! Früher oder später erfahre ich es ohnehin. Auf die ein oder andere Weise. Es könnte von Vorteil sein, gleich zu gehorchen.«

»Ich sag's mit den Worten eines Freundes: Steck dir deinen Gehorsam dahin, wo die Sonne nicht hinscheint.«

»Wieder sprichst du in Rätseln. Das ist unhöflich. Und dass du meinst, mich vertraulich ansprechen zu dürfen, wirst du bereuen.« In Ketar sammelte sich kalter Zorn, der seine Haut intensiver zum Leuchten brachte. Er hasste es, gedemütigt zu werden. In seiner Erinnerung sah er sich halb nackt vor seiner Mannschaft stehen, entblößt von einem Ilt namens Plofre, der genauso stur und dumm gewesen war wie der Kerl vor ihm.

Es war kein Zufall, dass die beiden so viel gemeinsam hatten. Plofre und Gucky.

»Auch wenn du nicht redest, ein Geheimnis hast du mir schon verraten. Hast du den Orgh bemerkt, der eben bei uns war? Matrim-21? Er hat eine Gewebeprobe von dir genommen und sie untersucht. Ich weiß also, wer du bist und warum du zur WELTENSAAT zurückgekommen bist. Ein mutiges Unternehmen. Und dumm. Du wolltest die Ilts befreien – vor allem deinen Vater. Plofre. Ist es nicht so?«

Gucky wirkte steifer, als ihn die Fesselfelder machten. Er schien in der Röhre erstarrt.

Ob er an seine Mutter dachte, diese unselige Sata, die gestorben war, damit Plofre und Gucky hatten fliehen können?

Ketar drehte seinen Ring. »Nun, wenn du willst, dass dein Vater lebt, wirst du lernen müssen, dich mir zu unterwerfen. Ob es dir gefällt oder nicht.« Er wandte sich abrupt ab und überließ den Ilt seinen Gedanken.

Früher oder später musste das bockige Geschöpf zur Vernunft kommen. Vielleicht, wenn er Plofre vor Guckys Augen folterte. Aber das konnte warten. Ilts waren hartnäckig. Es schadete nicht, Guckys Ängste gegen ihn zu richten. Gefangen in der Röhre würden seine Gedanken Folter genug sein und ihn weichkochen.

Bis dahin hatte Ketar anderes zu tun. Die Herren hatten ihn beauftragt, Callibsos Welt zu vernichten: Derogwanien. Sie wollten Callibso töten, an ihm ein Exempel statuieren, weil der Zwerg sich ins Ringen eingemischt hatte.

Das war höchst interessant.

Pranav Ketar hatte seine eigenen Pläne. Er wusste zu wenig über Callibso, doch er wollte mehr erfahren. Möglicherweise lieferte dieser Auftrag ihm unverhofft weitere Machtmittel, die ihm auf dem Weg, sein eigener Herr zu werden, wertvolle Dienste leisten würden. Erst wenn Derogwanien vernichtet und Callibso sein Gefangener war, konnte Ketar sich voll und ganz Gucky und dessen Geheimnissen widmen.

Seelensplitter

Märchenstunde (1)

 

Sannasu plumpste auf eins der bunten Kissen, die überall im Ratssaal auf dem Boden verteilt lagen. Die Stühle und Tische waren zur Seite gerückt, die Energiemembran in den Fenstern abgeschaltet, sodass kalte Luft ins Rathaus strömte und aus Sannasus Atem eine lustige weiße Wolke machte.

Neben ihr schubste Tankin Dorinna, die beinahe von ihrem safrangelben Kissen auf die Holzdielen flog.

»Hey!«