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Liebesromane von Tina Folsom

Über die Autorin

Copyright

Die Augenzeugin

 

Ein Thriller

 

von

 

T.R. Folsom

 

* * * * *

Copyright © 2022 T.R Folsom

* * * * *

Kurzbeschreibung

 

Es ist keine Paranoia, wenn sie wirklich hinter dir her sind …

Die blinde Musiklehrerin Emily Warner erlangt durch eine Transplantation ihr Augenlicht wieder. Doch ihre neue Sehkraft schickt sie auf einen Weg voller Gefahren. Als sie beginnt, den seltsamen Dingen, die sie sieht, auf den Grund zu gehen, stellt sie fest, dass die Visionen, die sie hat, ihrer Hornhautspenderin gehören … und dass deren Tod kein Unfall war.

Als Emily versucht zu beweisen, dass ihre Organspenderin ermordet wurde, lenkt sie die Aufmerksamkeit des Mörders auf sich. Aber ganz gleich, in welche Gefahr sie sich begibt, sie muss ihn entlarven, bevor noch ein junges Mädchen durch seine Hand stirbt … und bevor Emily sein nächstes Opfer wird.

Ein rasanter, spannender Thriller, der sich in der High Society von Washington D.C. abspielt.

1

 

Maryland – 15 Jahre zuvor

 

Emily hätte bei der Kollision sterben sollen, doch sie überlebte.

Eine Woche vor dem Unfall, der ihr Leben für immer veränderte, war Emily fünfzehn Jahre alt geworden und ihre Akne gerade abgeklungen. Das sah sie als gutes Zeichen. Sie schwärmte wie verrückt für Kevin, einen Jungen in ihrer Schule, und sie hatte ihn dabei ertappt, wie er sie während des Unterrichts beobachtete. Allerdings wurde ihr Traum, von ihm geküsst zu werden, nicht erfüllt. Sie sah ihn nie wieder. Tatsächlich sah sie keinen ihrer Mitschüler und Freunde je wieder. Und das alles nur, weil zwei Autos auf einer Kreuzung zusammenstießen. Eines raste bei Rot über die Ampel, das andere hielt sich an die Verkehrsregeln.

Die rote Ampel war das Letzte, was Emily sah, bevor der Gurt in ihre Brust schnitt und ihr den Atem raubte. Glas zersplitterte um sie herum. Das Geräusch des Zusammenstoßes hallte durch die Nacht. Der Seitenaufprall schlug sie bewusstlos. Als sie wieder zu sich kam, fragte sie sich einen Augenblick lang, ob sie tot war. Sie fühlte sich taub, als hätte sie keinen Körper mehr. Doch dann schalteten sich die Schmerzempfänger in ihrem Gehirn ein und ihr wurde bewusst, dass sie immer noch angeschnallt war und dass eine klebrige Flüssigkeit ihre Augen bedeckte. Stechender Schmerz durchfuhr sie schlimmer als jegliche Migräne, während ihr Körper zwischen Metall, Plastik und Polsterung eingequetscht war. Sie war gefangen und konnte sich nicht bewegen.

Emily konnte weder die Blinklichter der Krankenwagen und Polizeiwagen noch die Taschenlampen der Sanitäter sehen, die versuchten, die Situation einzuschätzen. Sie hörte nur die Sirenen und die Stimmen der Polizisten und Sanitäter, die sie beschwichtigten und ihr versprachen, dass sie sie herausholen würden. Dass alles gut sein würde.

Sie wollte ihnen glauben.

Emily spürte eine Bewegung und hörte, wie Metall verbogen oder geschnitten wurde. Dann stöhnte jemand und sie erkannte, dass sie nicht die Einzige war, die überlebt hatte. Bevor sie vor Erleichterung aufatmen konnte, flüsterte ein Sanitäter leise zu seinem Kollegen, als wollte er nicht, dass Emily ihn hörte: „Ich kann keinen Puls finden.“

Ihr Herz stand einen Moment lang still. Für eine Ewigkeit blieb die Zeit stehen. Doch dann reagierte ihr Körper auf die schreckliche Nachricht, die sie nicht wahrhaben wollte. Tränen vermischten sich mit der zähen Flüssigkeit in ihren Augen. Das Blut war so dick, dass kein Licht es durchdringen konnte. Sie wollte es wegwischen, doch ihr Arm steckte fest. Sie wusste noch nicht, dass es nichts gebracht hätte. Das Blut blieb, wo es war. Keine Menge an Tränen konnte es wegwaschen.

Tief drinnen wusste sie, was das bedeutete, selbst wenn sie es in dem Augenblick nicht wahrhaben wollte. Wie eine Stoffpuppe befreiten die Sanitäter sie aus dem Wrack. Das Morphium, das sie ihr in der Ambulanz gaben, lullte sie in einen unruhigen Traum und half ihr, die Erinnerung an den Unfall aus ihren Gedanken zu verdrängen.

Im Krankenhaus hörte Emily die Stimmen der Notfallärzte und Krankenschwestern, die sie behandelten. Sie sagten, es sei ein Wunder, dass sie am Leben war.

Sie wusste, dass sie dankbar sein sollte. Doch wie konnte sie dankbar sein für das Nichts, das sie begrüßte, als sie ihre Augen öffnete? Ihre Zukunft würde ganz anders sein als alles, wovon sie je geträumt hatte, seit sie sich erinnern konnte. Nichts würde je wieder sein wie vorher. Ihr altes Leben war vorbei. Ein neues, eines, das sie sich nicht gewünscht hatte, hatte begonnen. In ihrem neuen Leben gab es kein Licht mehr und diese Dunkelheit schien alles um sie herum wie ein schwarzes Loch zu verschlingen.

Ja, sie hatte überlebt.

Doch das Wunder hatte einen Preis.

Sie war blind.

 

2

 

Washington D.C. – Gegenwart

23. Mai

Eric Bolton bog mit seinem silbernen Mercedes in den Parkplatz, der dem Eingang der Notfallabteilung des Krankenhauses am nächsten lag. Er sprang aus dem Auto und lief hinein. Er sperrte das Auto nicht einmal ab. Sein Herz schlug wie ein Presslufthammer, doch er wusste, dass er keinen Herzinfarkt hatte. Für sein Alter – er war neunundsechzig – trug er kaum ein extra Pfund um seinen Bauch und er war so gesund, wie man es von einem einflussreichen Mann, der mehr Mahlzeiten in schicken Restaurants als zuhause zu sich nahm, erwarten konnte.

Im Krankenhaus orientierte er sich und fand schnell ein Stationszimmer. Er durfte keine Zeit verlieren.

„Wo ist meine Tochter? Madeline Bolton. Sie wurde mit einem Krankenwagen hier eingeliefert.“

Die Frau hinter dem Tresen sah ihn an. „Wie heißen Sie?“

„Eric Bolton. Ich bin ihr Vater. Wo ist meine Tochter?“, fragte er gehetzt, während er sich halb über den Tresen beugte, als würde die Frau ihm so schneller antworten.

„Bitte beruhigen Sie sich, Sir“, sagte sie und tippte etwas auf ihrer Tastatur.

Sich beruhigen? Wie konnte er sich denn beruhigen? Seine Tochter war verletzt, schwer verletzt nach dem, was er aus Lucias verzweifeltem Telefonat heraushören hatte können. Madelines Haushälterin hatte geweint und ihre Stimme war von vielerlei Gefühlen getränkt gewesen. Sie hatte betrübt, alarmiert und verängstigt geklungen. Es hatte ihn wie einen Schock durchfahren und das Adrenalin, das daraufhin durch seine Adern geflossen war, hatte ihm geholfen, ohne in einen Unfall verwickelt zu werden, zurück in die Stadt und ins Krankenhaus zu fahren.

„Miss Bolton wurde in den Traumaraum zwei gebracht“, sagte die Krankenschwester schließlich. „Bitte nehmen Sie dort drüben Platz.“ Sie deutete zum Wartezimmer.

Doch Bolton setzte sich nicht. Er konnte es nicht. Er musste wissen, was geschehen war und in welchem Zustand sich Maddie befand. Er musste an ihrer Seite sein, ihr sagen, dass alles wieder gutwerden würde, dass ihr Daddy hier war, um dafür zu sorgen, dass sie die beste Behandlung bekommen würde. Also ignorierte er die Anweisung der Krankenschwester und eilte auf die Doppeltüren zu, die zu den Schockräumen führten.

„Sir, Sir! Sie können dort nicht rein!“, rief sie ihm hinterher.

Doch er ignorierte sie, selbst als sie über die Lautsprecher den Sicherheitsdienst rief. „Sicherheitsdienst bitte sofort zum Traumazentrum, Korridor B.“

Auf der anderen Seite der Doppeltüren eilte Bolton den Korridor entlang, der von einer Vielzahl medizinischer Geräte gesäumt war, die Herzschlag, Blutdruck, Blut-Sauerstoff und viele andere lebenswichtige Funktionen überwachten, sowie von Defibrillatoren, die ein Herz wieder zum Schlagen bringen konnten, und Herz-Lungen-Maschinen, die für einen Patienten die Atmung übernehmen konnten. Er hörte verschiedene Pieptöne sowie hastig ausgetauschte Anordnungen zwischen Ärzten und Krankenschwestern. Der sterile Geruch von Desinfektionsmitteln schlug ihm entgegen und erinnerte ihn an das letzte Mal, als er in einem Krankenhaus gewesen war – als Rita Madeline zur Welt gebracht hatte. Damals hatten ihm die Gerüche und die vielen lebenserhaltenden Geräte nichts ausgemacht. Heute erweckten der Anblick und die Gerüche die schlimmstmöglichen Vorstellungen.

Mehrere Räume mit großen, deckenhohen Fenstern entlang des Korridors lagen rechts und links von ihm. Hinter einigen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, um Privatsphäre zu schaffen. Viele der Türen standen offen, andere waren geschlossen.

„Sie dürfen hier nicht rein“, sprach ihn ein Mann von hinten an.

Bolton ignorierte den Tadel und ging weiter, während er die Schilder an den Türen las. Trauma fünf, las er und ging weiter den Korridor hinunter. Doch er kam nicht weit. Der Sicherheitsbeamte legte seine Hand auf Boltons Schulter und zwang ihn, anzuhalten und sich umzudrehen.

„Sir, Sie müssen gehen oder ich lasse Sie von der Polizei verhaften“, warnte ihn der große, schwarze Mann in der dunkelblauen Uniform.

„Sie verstehen nicht“, flehte Bolton. „Meine Tochter ist hier. Sie ist verletzt. Ich muss zu ihr.“ Er versuchte, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Also erhob er seine Stimme. „Madeline, Madeline, Baby, dein Daddy ist hier.“

„Kommen Sie“, befahl der Sicherheitsbeamte und zerrte ihn in Richtung der Doppeltüren.

Bolton machte es ihm nicht einfach und setzte seine ganze Kraft gegen den Mann ein. „Verdammt nochmal! Lassen Sie mich los! Ich muss zu Madeline.“ Er sah über seine Schulter und rief in Richtung Schockraum zwei: „Madeline! Maddie!“

Plötzlich erschien eine schwarze Frau mittleren Alters im weißen Kittel in der Tür. Mit der Bestimmtheit einer Ärztin, die schon alles im Leben mitgemacht hatte, sah sie ihn direkt an. „Mr. Bolton?“ Dann richtete sie ihren Blick auf den Sicherheitsbeamten und gab ihm ein subtiles Zeichen, indem sie ihren Kopf zur Seite bewegte.

Der Sicherheitsbeamte ließ von Bolton ab. Bolton machte ein paar Schritte auf die Ärztin zu, dann stoppte er. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben – die Nachricht war nicht gut.

Sie kam ihm entgegen. „Es tut mir leid.“ Ihre Augen waren voller Mitgefühl. „Ihre Tochter hat es nicht geschafft.“

Jegliches Leben floss aus Boltons Körper und einen Moment lang stand die Welt still. Die Unfallchirurgin sprach immer noch. Worte wie Hirnblutung und Schwellung des Gehirns hallten im Korridor wider. Bolton hörte kaum etwas.

Madeline war nicht mehr da.

Jemand führte ihn zu einem Stuhl, wo er wie betäubt vor Trauer und Schmerz saß. Um ihn herum trat eine Stille ein. Und in der Stille des Trauerschmerzes wurde ihm bewusst, dass all das, was er in seinem Leben erreicht hatte, alles, wofür er gearbeitet hatte, nichts bedeutete. Er spürte, wie Tränen in seine Augen quollen und drängte sie zurück. Er durfte nicht zusammenbrechen, durfte sich nicht erlauben, schwach zu sein. Er musste stark bleiben, für seine Familie und sich selbst. Wenn er sich jetzt gehenließ, wenn er der Trauer erlaubte, ihn zu verschlingen, dann hätte Rita, seine Frau, mit der er seit vierzig Jahren verheiratet war, niemanden, der sie tröstete.

Doch wie konnte er Rita trösten, wenn er selbst mehr Leid verspürte als je zuvor?

Er wusste nicht, wie lange er schon dort irgendwo im Krankenhaus gesessen hatte, als sein Handy klingelte. Automatisch zog er es aus der Tasche und sah auf das Display. Er wusste nicht, warum er den Anruf annahm, wo er doch kaum sprechen konnte, doch er tat es trotzdem.

Die vertraute Stimme klang heiter. „Guten Morgen, Eric, wie weit bist du noch entfernt? Die Pferde sind schon gesattelt. Wir wollen den Morgen nicht verschwenden.“

„Mike“, sagte Bolton und seine Stimme versagte.

Mike Faulkner, der Stabschef des Präsidenten, war sein Freund, seit sie beide Mitglied derselben Studentenvereinigung gewesen waren. Obwohl ihre Karrierewahl sie zuerst in verschiedene Richtungen und Orte gezogen hatte, hatte dies ihre Freundschaft nur noch gestärkt, bis sie schließlich beide bei der Regierung gelandet waren, Faulkner in der Exekutive, Bolton als Unternehmer in der Rüstungsindustrie mit Verbindungen zu Lobbyisten und als wichtiger Parteispender.

„Hast du’s vergessen?“

„Mike …“ Bolton sammelte all seine Kraft, um die nächsten Worte über die Lippen zu bringen, ohne zusammenzubrechen. „Maddie … sie ist tot. Mein kleines Mädchen ist tot.“ Ein Schluchzer riss sich aus seiner Brust. Es spielte keine Rolle, dass Maddie zweiunddreißig Jahre alt war und in ihrem eigenen schicken Reihenhaus in Georgetown lebte. Sie würde immer sein kleines Mädchen sein. Und jetzt war sie weg. Ihr ansteckendes Lächeln weg. Ihr Lachen weg.

„Oh mein Gott, was ist passiert?“

Bolton drückte den nächsten aufkommenden Schluchzer zurück. „Ich weiß es nicht. Lucia hat mich angerufen. Sie hat Maddie gefunden, als sie heute morgen im Haus ankam. Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht, aber es war zu spät. Sie ist …“ Dieses Mal sank die Realität noch tiefer ein und er konnte das Wort nicht über die Lippen bringen. Das Bild war zu grausam, zu schmerzhaft.

„Eric, ich kann mir nicht einmal vorstellen, was du und Rita jetzt durchmacht.“

„Rita weiß es noch nicht. Sie ist zuhause.“ Seine Stimme versagte, doch er riss sich zusammen. Er holte Luft. „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

„Ich bin für dich da, Eric. Was auch immer du brauchst. Du musst es mich nur wissen lassen. Du musst jetzt für Rita stark sein und ich kann für dich stark sein.“

Ein Schluchzer entkam Boltons Brust. „Vielleicht kannst du etwas für mich tun. Die Polizei … Sie werden ermitteln wollen, was passiert ist. Und ich muss es auch wissen. Ich muss erfahren, was geschehen ist und warum. Aber ich will nicht, dass die Polizei ihren Namen durch den Dreck zieht.“

Obwohl er Maddie mehr als sein eigenes Leben liebte, war er nicht blind. Sie war in ihren Zwanzigern eine Wilde gewesen und hatte mit Drogen experimentiert. Ihre Liebhaber waren über die ganze Welt verstreut. Und nicht alle waren gute Männer. Er wollte nicht, dass das ihr Erbe war.

„Mach dir um nichts Gedanken. Lass mich das abwickeln. Ich sorge dafür, dass sie gut behandelt wird. Ich lasse meine eigenen Leute ermitteln“, versprach Faulkner.

„Den Secret Service? Kannst du das machen?“

„Normalerweise nicht. Aber ich kann ein paar Gefallen einlösen, damit die DC Police diese Ermittlung nicht leiten wird. Der Secret Service wird dafür sorgen, dass nichts herauskommt, von dem du nicht willst, dass es an die Öffentlichkeit gelangt. Und sie werden gründlich sein. Das verspreche ich dir. Das ist das Mindeste, was ich für meine Patentochter tun kann.“

„Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.“

„Du musst mir nicht danken“, sagte Faulkner. „Kümmere dich um Rita. Sie braucht dich jetzt mehr als je zuvor.“

Bevor Bolton sich nochmals bedanken konnte, legte Faulkner auf und schob sein Handy in die Hosentasche.

Faulkner blieb bei der Stalltür stehen. Er hatte sich darauf gefreut, mit Bolton auszureiten. Er bekam nicht oft die Gelegenheit, seine Pferde zu reiten, seit er vor über zwei Jahren Präsident Robert Langfords Stabschef geworden war. Tatsächlich konnte er nur ganz selten auf seinem Pferdegut im ländlichen Virginia Zeit verbringen. Stattdessen verbrachte er seine Tage und Nächte in seinem Haus in Washington D.C. Es lag nahe genug am Weißen Haus, sodass er – wenn es der Verkehr zuließ – innerhalb von fünfzehn Minuten im Oval Office sein konnte.

Manchmal fragte er sich, warum er den Job angenommen hatte. War es, weil er die Macht liebte, die ihm diese Position gewährte? Oder das Prestige? Oder hatte er das Angebot des Präsidenten angenommen, weil sie seit dem Studium miteinander befreundet waren? Genauso wie Bolton, hatte auch der Präsident sich derselben Studentenverbindung verbürgt wie Faulkner. Vielleicht war es auch keiner dieser Gründe. Vielleicht hatte er nach immer höheren Herausforderungen gestrebt, weil er nach dem unerwarteten Tod seiner Frau, als ihr Sohn noch ein Kind gewesen war, nicht wieder geheiratet hatte. Er war nicht dazu geeignet gewesen, einen rebellierenden und vom Kummer getroffenen Sohn im Teenageralter großzuziehen und hatte sich stattdessen lieber in die Arbeit vergraben.

„Morgen, Mr. Faulkner“, sagte der Stallknecht.

Robert Woolf sah aus wie ein barscher alter Seemann. Sein Gesicht war durch die Zeit, die er bei jedem Wetter draußen verbrachte, ledrig geworden und seine Hände waren von der schweren Arbeit, die er klaglos verrichtete, schwielig.

„Morgen, Robert.“

„Ist Ihr Gast hier?“, fragte Woolf.

„Leider musste er absagen. Es ist etwas dazwischengekommen. Und ich muss auch sofort nach Washington D.C. zurück.“

Woolf seufzte. „Hmm. Der Präsident lässt Sie wirklich schwer arbeiten, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Er erlaubt Ihnen nicht einmal, wenigstens Ihren freien Tag zu genießen.“

Faulkner stieß ein bitteres Lachen aus. „Normalerweise würde ich Ihnen zustimmen, doch dieses Mal muss ich einem alten Freund helfen.“ Er strich mit der Hand über das Pferd, das Woolf bereits gesattelt hatte. „Vielleicht können Sie mit Caleb ausreiten. Ich werde ihn anrufen und fragen, ob er vorhat, zum Gut zu kommen.“

Bevor er nach seinem Handy greifen konnte, winkte Woolf schon ab. „Glaube ich nicht. Er war gestern hier.“

„Caleb? Gut.“ Obwohl sein einziger Sohn nicht so verrückt nach Pferden war wie Faulkner und seine verstorbene Frau, zeigte er ab und zu doch Interesse.

„Er ist mit keinem der Pferde ausgeritten. Dafür war er nicht lange genug hier. Ich wollte ihm gerade Lucky satteln, aber er sagte, dass er keine Zeit hätte.“

Faulkner runzelte die Stirn. „Warum war er dann hier?“

Woolf zuckte mit den Schultern. „Er sagte, er hätte etwas vergessen, als er das letzte Mal hier war.“

„Tja, vielleicht sollten Sie dann Lucky ausreiten. Und vielleicht kann der Junge, der ab und zu hier aushilft, die Stute reiten. Das macht mir nichts aus. Er scheint verantwortungsvoll genug zu sein.“

„Machen wir, Sir.“

„Danke, Robert.“

Faulkner wandte sich um und verließ den Stall, zog sein Handy aus der Tasche und scrollte durch seine Kontaktliste.

 

3

 

Vor dem niedlichen zweistöckigen Reihenhaus in Georgetown gab es keinen Parkplatz, als Detective Adam Yang und sein Partner, Detective Simon Jefferson, ankamen. Das war zu erwarten gewesen. In diesem Stadtteil von Washington D.C. gab es nie einen Parkplatz. Und heute war es sogar noch schlimmer: Ein Auto war bereits in zweiter Reihe geparkt.

Yang wechselte einen Blick mit Jefferson, seinem schwarzen Partner, mit dem er schon seit zwei Jahren zusammenarbeitete. Sie waren beide mit Anfang zwanzig dem Washington Metropolitan Police Department beigetreten und zusammen die Karriereleiter hochgeklettert. Fast zeitgleich waren sie beide zum Detective befördert worden. Doch damit endeten auch schon die Gemeinsamkeiten. Jefferson war Teil der schwarzen Mehrheit der DC Police, in der etwa sechzig Prozent aller Polizisten schwarz waren und nur etwas über zwei Prozent asiatischer Herkunft.

Obwohl Yang sich in der multikulturellen Behörde wie zuhause fühlte, war er trotzdem eine Besonderheit. Genauso wie er in seiner chinesischen Großfamilie eine Besonderheit war. Seine Geschwister, zwei Schwestern und ein Bruder, sowie seine vielen Cousinen und Cousins waren Profis in ihrem Fach: Anwälte, Ärzte, Steuerberater. Seine Eltern hatten sich erhofft, dass er deren Beispiel folgte, doch er hatte kein Interesse an Medizin oder Buchhaltung. Das Rechtswesen hatte ihn interessiert, doch nicht in der Art und Weise, wie seine Eltern gehofft hatten. Ein Anwalt oder Richter in der Familie hätte ihre Ambitionen für ihn befriedigt, doch Yang hatte die Polizei gewählt.

„Park einfach hinter dem schwarzen Auto“, sagte Jefferson schulterzuckend.

Normalerweise hätte sich Yang etwas mehr bemüht, einen richtigen Parkplatz zu finden, doch nach einem frühmorgendlichen Telefongespräch mit seiner baldigen Ex-Frau, in der sie sich wegen des finanziellen Aspekts ihrer Scheidung – die sich für seinen Geschmack schon viel zu lange hinzog – gestritten hatten, hatte Yang keine Energie für eine weitere Auseinandersetzung.

Ohne ein Wort schaltete Yang den Motor ab und sprang aus dem Auto. Jefferson war bereits auf den Stufen, die zur Eingangstür führten. Diese stand offen und Jefferson ging hinein. In der gut eingerichteten Diele holte Yang ihn ein.

„Tolle Bude, was?“, meinte Jefferson leise.

„Es stinkt nach Geld.“ Genau wie die halbe Stadt. Doch für Yang war es sein Zuhause. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders als innerhalb des Beltways zu leben. Es hatte etwas für sich, im Nervenzentrum der Nation zu leben, obwohl er nicht Teil des politischen Gefüges war.

Als Yang Stimmen aus Richtung einer nur angelehnten Tür hörte, ging er darauf zu. Doch bevor er und Jefferson diese erreichten, trat ein schwarzer Mann in einem dunklen Anzug heraus und blockierte den Eingang zum Zimmer.

Yang und Jefferson zeigten ihre Ausweise vor. „Detectives Yang und Jefferson, DC Police. Und Sie sind?“

Als der Mann, schneller als ein Magier tricksen könnte, seinen Ausweis zückte, konnte Yang bereits den Ärger spüren, der in der Luft lag. Der dunkle Anzug und der gleichgültige Gesichtsausdruck des Mannes wiesen auf seine Stellung hin.

„Agent Banning, Secret Service.“ Banning deutete über seine Schulter und blockierte weiterhin den Eingang zum Wohnzimmer. „Mein Kollege Agent Mitchell und ich sind der Sache gewachsen. Sie werden nicht gebraucht. Bitte verlassen Sie das Haus.“

„Das können wir leider nicht. Laut unserer Information handelt es sich hier um einen verdächtigen Todesfall, und das liegt in unserer Gerichtsbarkeit“, sagte Yang, ohne eine Sekunde vergehen zu lassen. „Also, außer es handelt sich hier um einen Fall von Geldfälschung oder Bankbetrug, schlage ich vor, dass Sie das uns überlassen.“

Banning bewegte sich nicht. Hinter ihm kam Agent Mitchell ins Blickfeld. Er war das Ebenbild seines Kollegen, nur dass Mitchells Haare kürzer und seine Schultern breiter waren.

„Das ist ein Fall für das Metropolitan Police Department, nicht den Secret Service“, sagte Yang.

„Sieht so aus, als hätte er das Memorandum nicht erhalten“, meinte Agent Banning selbstzufrieden.

Yang öffnete den Mund für eine Erwiderung, als sein Handy klingelte.

Agent Mitchell deutete zu Yangs Jackentasche, aus der das Klingeln kam. „Ich würde rangehen, wenn ich Sie wäre. Könnte wichtig sein.“

Yang traf Mitchells Blick, dann tauschte er einen Blick mit Jefferson aus. Jefferson zuckte mit den Schultern.

Es war offensichtlich, dass der Secret Service Agent etwas wusste, was Yang nicht wusste. Er griff in seine Tasche und zog sein Handy heraus. Er drückte es ans Ohr und antwortete: „Detective Yang.“

„Yang, Lieutenant Arnold.“ Wann immer seine Vorgesetzte, Lieutenant Latochia Arnold, anrief, war es wichtig.

Jefferson trat näher, um mitzuhören.

„Lieutenant, Ma’am. Ich wollte Sie gerade anrufen, um –“ Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden.

„Sind die Secret Service Agents bereits vor Ort?“, unterbrach sie ihn.

„Ja, woher –?“

Wieder unterbrach sie ihn. „Gut. Überlassen Sie ihnen den Tatort. Ich ziehe Sie und Jefferson von dem Fall ab.“

„Bei allem Respekt, Ma’am, aber das ist unser Zuständigkeitsbereich“, sagte Yang so ruhig, wie er konnte, während er die zwei Secret Service Agents anstarrte. „Sie können doch nicht –“

„Das war nicht meine Entscheidung, Yang. Mir sind die Hände gebunden.“

Yang grunzte unmutig.

„Hören Sie zu, Yang“, sagte Arnold etwas sanfter. „Der Befehl kommt von jemandem weit über meiner Gehaltsklasse. Der Bürgermeister hat dem Polizeichef Druck gemacht. Es hat irgendetwas damit zu tun, dass das Opfer mit jemandem aus der Regierung eines anderen Landes in Kontakt war. Der Secret Service behauptet, dass die Nationale Sicherheit betroffen ist. Das ist eine absolute Ka– ähm, mir gefällt es auch nicht, aber so ist es eben. Also, tun Sie mir einen Gefallen und machen Sie keinen Aufstand. Gehen Sie einfach und überlassen Sie die Sache dem Secret Service.“

„Jawohl“, sagte Yang steif und legte auf.

Er versuchte, die selbstgefälligen Gesichtsausdrücke der zwei Agenten zu ignorieren und sagte: „Es ist Ihr Fall.“

Im Auto wandte sich Yang zu Jefferson. „Kannst du diesen Scheiß glauben? Um was zum Teufel geht es da?“

„Tja, wenn man bedenkt, wer das Opfer ist … oder war …“, sagte Jefferson.

„Was soll das heißen? Wer war sie?“

„Madeline Bolton. Sie gehört zur High Society von D.C.“ Jefferson zuckte mit den Schultern. „Ihr Vater ist ein großes Tier in der Politik oder so was Ähnliches. Er ist anscheinend mit dem Präsidenten befreundet.“

Yang traute seinen Ohren nicht. „Woher weißt du das?“

Jefferson schüttelte den Kopf. „Wie weißt du sowas nicht? Ich lese Zeitungen.“

„Zeitungen oder Klatschheftchen?“

„Egal, zumindest bin ich auf dem Laufenden, was in dieser Stadt vor sich geht. Es kann nicht schaden, zu wissen, wer wer ist.“

Yang seufzte und ließ den Motor an. „Lieutenant Arnold hat wirklich keinen Scherz gemacht, als sie sagte, dass das über ihre Gehaltsgruppe hinausgeht.“

„Arnold macht nie Spaß, außer sie ist nicht im Dienst. Abgesehen davon, willst du wirklich in einen Fall verwickelt sein, bei dem die Familie des Opfers dir ständig auf die Pelle rückt und nach Fehlern sucht, die du machst? Du weißt doch, wie reiche Leute sind.“

Yang murrte, immer noch verärgert.

„Es stinkt dir nur, dass der Secret Service auf unser Revier übergreift“, sagte Jefferson.

Yang warf ihm einen Seitenblick zu. „Ich nehme an, das ist der Unterschied zwischen uns zwei: Ich will Fälle lösen und du willst sie abschließen.“

Jefferson lachte leise. „Diese zwei Dinge schließen einander nicht aus. Das ist dir doch bewusst, oder nicht?“

 

4

 

26. Mai

Emily spürte, wie sie ihre Glieder wieder bewegen konnte, als ihr Körper das taube Gefühl der Betäubungsmittel, die die Infusion in ihre Venen transportiert hatte, abschüttelte. Während der Operation hatte sie geglaubt, Satzfragmente von Dr. Milton Harlands Stimme zu vernehmen, als dieser seinem kleinen Team Befehle erteilte. Vermutlich hatte sie das nur geträumt, um ihre eigene Realität zu erschaffen, während ihr Leben wieder in den Händen eines anderen lag. Der Gedanke spendete ihr Trost, doch auch Angst. Allerdings verspürte sie weder Schmerz noch das Gefühl, dass Zeit verstrichen wäre.

Irgendwann hörte sie das Geräusch eines Krankenbettes, das über den Linoleumboden gerollt wurde, und bemerkte, wie jemand ihr Bett in einen Raum schob. Das Setzen der Bremsen verursachte ein kratzendes Geräusch und Emily begriff, dass sie in einer Kabine angekommen war. Die Manschette um ihren rechten Oberarm wurde enger, als sie sich mit Luft füllte. Der Druck löste sich langsam, während ein Herzmonitor gleichmäßig piepte.

„Hundertdreiundvierzig zu fünfundachtzig“, sagte Tiffany, die Krankenschwester, die ihr geholfen hatte, sie für die Operation vorzubereiten, mit sanfter Stimme. Eine warme Hand berührte Emilys. „Immer noch etwas hoch, aber alles sieht gut aus, meine Liebe. Der Arzt kommt bald. Ruhen Sie sich in der Zwischenzeit aus.“

Emily öffnete ihren Mund, um ihr zu danken, aber ihre Kehle war wie ausgetrocknet und sie konnte kein Wort herausbringen. Stattdessen schluckte sie schwer.

„Ich bringe Ihnen etwas Wasser.“

Ihre Augenlider waren zu schwer, um sie anzuheben, und sie schrieb dieses Gefühl den Betäubungsmitteln zu, die sie erhalten hatte. Sie kam aus einem schlafähnlichen Zustand heraus und kam sich desorientiert vor. Selbst wenn sie ihre Augen hätte öffnen können, wagte sie es nicht, denn sie fürchtete sich vor dem, was sie begrüßen würde. Dunkelheit? Intensives Licht? Nichts? Sie wollte nicht nachgrübeln, denn das würde nur zu ihrer Besorgnis beitragen.

Emily spürte kühles Wasser ihren Mund benetzen und ihr wurde klar, dass die Krankenschwester zurückgekommen war, ihr einen Becher in die Hand gedrückt und den Strohhalm zu ihren Lippen geführt hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, den Becher entgegengenommen zu haben, genauso wenig, wie sie sich erinnern konnte, wie Tiffany ihr den Becher wieder abgenommen hatte, nur dass plötzlich eine andere Hand die ihre sanft berührte.

Wieviel Zeit war vergangen, seit sie einen Schluck Wasser genommen hatte, bis eine Hand die ihre drückte? Sie wusste es nicht.

„Es ist alles gut verlaufen.“ Die Stimme zog sie aus ihrer Benommenheit. Sie gehörte Dr. Milton Harland, dem Chirurgen, der die Operation ausgeführt hatte. „Obwohl es etwas länger gedauert hat, als wir angenommen hatten.“

Etwas in seiner Aussage sandte Unbehagen durch ihren Körper.

„Wie bitte?“, schaffte sie zu murmeln.

Wieder verspürte sie ein Drücken ihrer Hand, das sie beruhigen sollte. „Nichts, worüber Sie sich sorgen müssen. Die Stammzellen haben sich gut integriert und haben anscheinend die Atrophie des Sehnervs, die man vor einigen Jahren bei Ihnen diagnostiziert hatte, gut repariert. Noch vor fünf Jahren hätte man diese Art von Operation nicht durchführen können, doch die Medizin hat sich um einiges weiterentwickelt. Wie ich Ihnen in unserem Gespräch vor der Operation schon erklärte, ist diese Art von Therapie brandneu und noch experimentell, aber ich bin davon überzeugt, dass es funktioniert. Und durch die Hornhaut, die wir Ihnen heute implantiert haben, werden Sie letztendlich wieder hundertprozentiges Sehvermögen erlangen.“

Emily fokussierte sich auf das Wort, das der zuversichtlichen Aussage des Arztes widersprach. Das konnte sie gut: Worte aufschnappen, die nicht ganz passten, denn nach dem Unfall hatte sie sich mehr als je zuvor auf ihren Gehörsinn verlassen müssen. „Letztendlich?“

„Na, lassen Sie uns mal sehen.“

Sie spürte, wie sich die Luft zwischen ihnen bewegte und erkannte, dass Dr. Harland sich näherbeugte.

„Tiffany, dimmen Sie bitte das Licht.“

Eine warme Hand berührte ihr Gesicht und Finger strichen über ihre Schläfe. Dann hörte sie, wie ein Klebestreifen von ihrer Haut gerissen wurde, obwohl sie keinerlei Unbehagen verspürte. Bis jetzt hatte sie nicht einmal gewusst, dass ihre Augen mit etwas bedeckt waren, mit einer dünnen Schicht Mull.

Zu ihrer Linken nahm Emily plötzlich eine Helligkeit wahr, deren Existenz sie schon beinahe vergessen hatte. Ihr Herz begann voller Aufregung zu donnern, während gleichzeitig das Piepen aus dem Herzmonitor schneller wurde. Dann bemerkte sie dieselbe Helligkeit zu ihrer Rechten.

„Öffnen Sie jetzt ganz langsam die Augen“, forderte Dr. Harland.

Als sie ein paar Sekunden lang zögerte, fügte er hinzu: „Keine Sorge. Hier sind keine grellen Lichter, vor denen Sie sich fürchten müssten.“

Sie konnte die Sache nicht länger hinauszögern. Es war Zeit, sich der Realität zu stellen. Fünfzehn Jahre lang hatte sie im Dunkeln gelebt. Heute würde sie herausfinden, ob das Licht wieder Teil ihres Lebens sein würde.

Emily entkam ein zittriger Atemzug. „Also dann.“ Langsam hob sie ihre schweren Augenlider ein paar Millimeter. Etwas, das sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte, strömte herein, als hätten sich die Schleusen eines Dammes geöffnet: Licht. Mit einem Keuchen schloss sie die Augen vor Angst, das Licht könnte diese verbrennen.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte Dr. Harland.

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist so hell.“

Ein sanftes Lachen rollte über die Lippen des Arztes. „Das ist ein gutes Zeichen. Wir machen es langsam, okay?“

Sie zögerte. Sie wollte nicht enttäuscht werden. Das war schon einmal geschehen. Damals war die Operation gescheitert.

„Versuchen Sie’s nochmal“, ermutigte Dr. Harland sie geduldig.

Dieses Mal zwang Emily sich, ihre Augen weiter zu öffnen, und erlaubte mehr Licht hineinzuströmen. Anfangs war die Helligkeit überwältigend, doch dann sammelte sie all ihren Mut zusammen, um dieses Mal nicht der Angst zu erliegen, und ließ ihre Augen offen.

„Das ist gut.“ Die Stimme des Arztes war voller Lob. Oder vielleicht hörte sie nur das, was sie hören wollte? „Nur noch ein bisschen mehr.“

Emily erlaubte ihren Augenlidern ganz nach oben zu schwingen und stellte sich dem Licht, als wäre sie eine Surferin, die sich in die Bahn einer Welle stellte. Die Belohnung folgte nur ein paar Augenblicke später. Das Licht wurde klarer. Gestalten prägten sich, Schatten erschienen, und Farben sprangen wie aus dem Nichts heraus. Der Schattenriss einer Person zeichnete sich von dem hellen Hintergrund ab. Es war immer noch verschwommen, wurde jedoch mit jeder Sekunde deutlicher.

„Grün“, murmelte sie. „Ihr Kittel ist grün.“

Jemand, der rechts von dem Schatten stand, atmete erleichtert aus: die Krankenschwester, Tiffany. Emily wandte ihren Kopf zu ihr und fokussierte ihren Blick. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis das Bild scharf genug wurde, damit sie die Umrisse einer zierlichen, in Rosa gekleideten Frau ausmachen konnte. Emily richtete ihren Blick nach oben und konzentrierte sich auf den Kopf und die Haare, doch dort erschien alles wie ein schwarzes Loch, eine Stelle ohne jegliches Licht. Gab es ein Problem mit den Hornhäuten, die ihr implantiert worden waren? War da ein Riss, ein Fleck, ein Mangel, der verursachte, dass das Licht plötzlich verschwand?

„Nein“, murmelte sie, während Panik ihr die Luft zum Atmen abschnitt.

„Stimmt was nicht?“ Die Stimme des Arztes ließ sie ihren Kopf in seine Richtung drehen.

Erst jetzt erkannte sie ihren Fehler. Ihre Hornhäute zeigten keine Mängel auf: Dr. Harlands Silhouette erschien ohne Flecken oder Schatten. Um ihre Erkenntnis zu bestätigen, sah sie Tiffany wieder an. Mit jeder Sekunde gewöhnten sich ihre Augen mehr an das Licht, und die Schatten vor ihr wurden klarer und zeigten die Krankenschwester jetzt genauer. Ihre dunkle Haut setzte sich von dem rosa Kittel ab. Emily kam sich töricht vor, dass sie nicht sofort erkannt hatte, dass Tiffany schwarz war. Stattdessen hatte sie fälschlicherweise das Schlimmste angenommen.

„Nein …es ist alles in Ordnung.“ Das war die Wahrheit. „Ich kann sehen.“ Sie zögerte. Sie wollte sich nicht beschweren oder jemanden kritisieren, doch eine Sorge kam hoch. „Es ist nur …“

„Ihr Sehvermögen ist noch nicht scharf. Es ist immer noch verschwommen“, erriet Dr. Harland.

„Woher wissen Sie das?“

„Es war zu erwarten. Wenn wir heute nur die Hornhäute implantiert hätten, wäre Ihr Sehvermögen sofort wieder hundertprozentig. Doch da wir auch den Sehnerv reparieren mussten, dauert dieser Prozess etwas länger. Ihr Gehirn muss wieder neue Synapsen bilden, um die Signale, die von ihrem Sehnerv kommen, verarbeiten zu können.“

Erleichterung überkam sie. „Wie lange?“

„Das kommt darauf an. Bei manchen Patienten dauert es eine Woche, bei anderen mehrere. Doch auf jeden Fall wird Ihr Sehvermögen jeden Tag besser werden.“

„Danke.“ Emily wandte ihren Kopf Tiffany zu, um auch sie miteinzubeziehen. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen und Ihrem Team danken soll.“ Ihr kamen plötzlich die Tränen und ließen ihren Blick verschwimmen. „Und der Familie des Spenders oder der Spenderin auch. Ihnen will ich auch danken.“

„Wir sind froh, dass wir Ihnen helfen konnten“, sagte Dr. Harland. „Nicht wahr, Tiffany?“

„Sie waren eine Musterpatientin, Miss Emily“, erwiderte Tiffany. „Lassen Sie mich Ihre Begleitung anrufen, damit sie Sie heimfahren kann, wenn Sie soweit sind.“

„Danke.“ Doch Tiffany wandte sich bereits um und entfernte sich aus ihrem Sichtfeld.

„Und die Familie des Spenders?“, fragte Emily und sah wieder den Chirurgen an. Sie konnte jetzt sehen, dass er grau meliertes Haar hatte, doch andere Einzelheiten erkannte sie noch nicht. „Ich möchte sie anrufen.“

Dr. Harland öffnete eine Akte und seufzte. „Tut mir leid, Miss Warner, aber hier steht, dass die Familie des Spenders anonym bleiben will.“

„Oh.“

Diese Nachricht war enttäuschend, aber in gewisser Weise verstand sie sie. Vielleicht wollten sie nicht an ihren kürzlichen Verlust erinnert werden. Emily wusste, wie es sich anfühlte, an einen Verlust erinnert zu werden. Leider hatte sie nie die Wahl bekommen, ob sie sich erinnern wollte oder nicht. Jeden Tag der letzten fünfzehn Jahre wurde sie daran erinnert, was sie verloren hatte: nicht nur ihr Augenlicht, sondern auch die Person, die sie am meisten geliebt hatte. Ihr Herz hatte es nicht geschafft, der Person, die daran schuld war, Gnade zu gewähren. Stattdessen hatte sie mit der Wut eines fünfzehnjährigen Mädchens dafür gesorgt, dass er für seine Tat bezahlte.

 

5

 

„Ich kann gehen“, sagte Emily, doch Tiffany zwang sie, sanft und doch bestimmt, sich in den Rollstuhl zu setzen.

„Krankenhausregeln“, sagte sie. „Also, ich habe Ihnen bereits den Nachfolgetermin bei Dr. Harland gemacht. Ich habe das Datum und die Uhrzeit auf Ihren Entlassungspapieren notiert. Lassen Sie mich die schnell holen.“

Bevor Emily weitere Fragen bezüglich des Termins stellen konnte, hatte Tiffany auch schon den Rollstuhl gestoppt, die Bremsen gesetzt und war zum Stationszimmer marschiert, um nach der Akte zu suchen.

„Verdammt nochmal, Arleen, wo sind denn die Entlassungspapiere für meine Patientin hingekommen? Ich habe sie doch erst vorhin da hingelegt.“

„Name?“, fragte eine der Krankenschwestern, vermutlich Arleen.

„Emily Warner.“

„Hab ich nicht da. Susan hat gerade einen Stapel Akten mitgenommen. Vielleicht hat sie versehentlich deine erwischt. Sie ist ins Verwaltungsbüro gegangen.“

Verärgert schnaufend ging Tiffany weg.

Emily konnte nichts anderes tun, als wie eine Topfpflanze dazusitzen. Als das Plappern der Krankenschwestern verstummte, drang das Geräusch des Fernsehers, der an der gegenüberliegenden Wand hing, zu ihr.

„Eine Gedenkfeier mit Beisetzung ist in Planung, an der mit großer Wahrscheinlichkeit viele in- und ausländische Würdenträger sowie prominente Mitglieder der High Society von Washington D.C. teilnehmen werden. Die kürzlich bekanntgegebene Verlobung von Senator Pullers Tochter mit dem Sohn seines Gegenkandidaten Kurt Altman wirft die Frage in der Washingtoner Gesellschaft auf, ob die Hochzeit diese zwei bitteren Rivalen vereinigen kann. Bald mehr davon. Und nach der Werbung: Wer wurde kürzlich im brandneuen Nachtclub SWANK mit seiner Exfreundin gesehen? Das werden Sie nicht glauben.“

„Hier ist es“, sagte Tiffany hinter Emily.

Emily riss ihre Aufmerksamkeit weg vom Fernsehgerät und griff nach der Akte, die Tiffany in ihre Hand drückte.

„Also, der Termin steht für Ende nächster Woche.“

„Um wieviel Uhr? Ich unterrichte bis –“

„Keine Sorge, meine Liebe. Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden. Sie haben den Termin am späten Nachmittag.“

„Danke. Normalerweise würde es mir nichts ausmachen … aber ich habe in diesem Schuljahr schon ein paar Tage verloren, und ich will nicht, dass meine Schüler zu viel verpassen.“

Tiffany schnalzte mit der Zunge. „Sich ein paar Tage freizunehmen, ist nicht verkehrt. Eine Operation wie Ihre sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie müssen sich viel ausruhen.“

„Es ist ja ein langes Wochenende. Dr. Harland sagte, dass ich am Dienstag wieder arbeiten darf.“

„Meine Liebe, Dr. Harland ist ein Workaholic. Natürlich wird er Ihnen erlauben, nach drei Tagen Ruhe wieder zur Arbeit zu gehen, weil er genau dasselbe tun würde. Ich sage Ihnen nur, dass Sie sich, wenn Sie noch mehr Ruhe brauchen, einfach freinehmen sollen. Und vergessen Sie nicht, anfangs noch Ihre Sonnenbrille zu tragen, um Ihren Augen Zeit zu geben, sich an helles Licht zu gewöhnen. Es kann anfangs grell sein.“

„Das mache ich. Ich verspreche es Ihnen.“

Emily hatte nicht die Absicht, ihre Genesung aufs Spiel zu setzen. Außerdem fühlte sie sich hinter einer dunklen Brille wohl. Für den Großteil von zwei Jahrzehnten war diese ihre Verteidigungsmauer gewesen, ein Schutzschild, hinter dem sie sich verbergen konnte, wenn das Leben zu überwältigend war. Und zusammen mit ihrem Stock und ihrem Blindenhund Coffee signalisierte sie ihrer Umwelt, ihr aus dem Weg zu gehen. Jetzt würde sich all das ändern. Und diese Veränderung machte ihr Angst, obwohl sie mehr als alles, was sie sich vorstellen konnte, willkommen war.

„Hier sind wir“, sagte Tiffany plötzlich und schob den Rollstuhl durch die Automatiktüren am Haupteingang des Krankenhauses. „Bevor ich es vergesse: Die Apotheke liefert Ihnen heute Nachmittag noch Ihre Medikamente ins Haus. Nehmen Sie sie den Anleitungen entsprechend ein. Die werden dabei helfen, dass Ihr Körper die Hornhäute nicht abstößt.“

„Ich weiß. Dr. Harland hat mir das vor der Operation erklärt.“ Er hatte sie gewarnt, dass ihr Körper das Gewebe des Spenders als fremd ansehen und es abstoßen könnte, doch dass das bei Hornhäuten sehr selten vorkam.

Emily ließ ihren Blick schweifen. Ihr Sehvermögen war jetzt etwas klarer als direkt nach der Operation, doch sie kam sich immer noch vor, als blickte sie durch eine dicke Glasscheibe, die alles dahinter verzerrte.

„Wie sieht Ihre Freundin aus?“, fragte Tiffany.

„Sie ist Asiatin, mit dunklen Haaren und schlank.“

Der einzige Grund, warum Emily dies wusste, war, weil ihre Nachbarin Vicky Hong ihr Aussehen beschrieben hatte, als Emily in das niedliche Wohnhaus im Columbia-Heights-Viertel von Washington D.C. eingezogen war. Sie waren buchstäblich zusammengestoßen, als Vicky aus ihrer Wohnung im ersten Stock geeilt war, während Emily versucht hatte, die Tür ihrer Wohnung – oder was sie für ihre Wohnung hielt – aufzusperren. Leider hatte sie sich bei ihren Schritten verzählt und war stattdessen vor Vickys Wohnung stehengeblieben. Was immer auch der Grund war, Vicky hatte sich mit ihr befreundet und sie unter ihre Fittiche genommen. Emily wusste, dass Vickys Beweggrund, ihr zu helfen, aus einem Gefühl des Mitleids und vielleicht auch der Neuheit stammte, eine Freundin zu haben, die so ganz anders als sie war. Doch obwohl sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht waren – oder vielleicht gerade deswegen –, war die schrullige Computerspezialistin ihre beste Freundin geworden.

Ein Hund bellte und zog Emilys Aufmerksamkeit in seine Richtung. „Coffee!“ Sie spürte, wie sich ihre Lippen nach oben bogen. Vicky hatte Emilys Blindenhund mitgebracht. „Komm, mein Junge!“

Ein großer schokoladenbrauner Labrador rannte auf sie zu. Emily streckte ihre Hand nach Coffees Kopf aus, griff aber daneben. Ihre Tiefenwahrnehmung war eindeutig noch nicht sehr gut. Eine Sekunde später drückte Coffee seine nasse Nase in ihre Handfläche und schleckte sie mit seiner Zunge, bevor er seinen Kopf in ihren Schoß schmiegte.

„Mein braver Junge“, gurrte sie, streichelte seinen Kopf und kraulte ihn hinter den Ohren, während sie in seine Augen schaute. Er sah genauso gut aus, wie sie es sich immer vorgestellt hatte.

Als ein Schatten das Licht vor ihr verdunkelte, sah sie hoch. „Heh, Vicky.“ Ihre Freundin war kunterbunt gekleidet. Vicky hatte wahrlich nicht gescherzt, als sie gesagt hatte, dass sie sich gerne auffallend kleidete.

„Heh, Mädel.“ Ein Lächeln schwang in Vickys Worten mit. „Bist du soweit, dein neues Leben anzufangen?“

Emily hielt ihren Blick auf Vickys Gesicht gerichtet und lächelte ebenso. „Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten.“

Vicky machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe mir die Zeit damit vertrieben, mit meinen früheren Kollegen im dritten Stock zu quatschen.“

„Sie haben hier gearbeitet?“, fragte Tiffany von hinter dem Rollstuhl.

„Ja, etwa sieben Jahre lang. In der Verwaltung. Jetzt arbeite ich freiberuflich, medizinische Transkription und Computerarbeit“, antwortete Vicky. Was Vicky beiläufig Computerarbeit nannte, war eigentlich Programmierarbeit. Sie entwickelte raffinierte Computerprogramme für Apps und Webseiten. Vicky deutete zu Emilys Schoß. „Sind das deine Entlassungspapiere? Die nehme ich. Mein Auto steht dort im Parkverbot.“ Sie sah über ihre Schulter und grunzte verärgert.

„Heh, Mann“, rief sie in Richtung ihres geparkten Autos.

Emily fokussierte ihre Augen auf die Stelle und sah einen Mann in Uniform neben einem heruntergekommenen VW Käfer stehen.

„Hier dürfen nur Krankenwagen parken“, sagte der Polizist mit strenger, lauter Stimme.

„Ich hole eine Patientin ab, verdammt nochmal! Zeigen Sie doch etwas Mitgefühl. Sie können doch nicht eine Behinderte diskriminieren. Es gibt doch Gesetze.“ Sie deutete auf Emily. „Können Sie denn nicht sehen, dass die Frau blind ist?“

Emily unterdrückte ein Kichern. Sie war schon öfters Zeugin von Vickys Versuchen, sich aus einem Strafzettel herauszureden, geworden. Nicht alle ihrer Versuche waren erfolgreich gewesen. Tatsächlich hatten nur ein paar geklappt. „Ich bin nicht mehr blind“, flüsterte Emily.

Vicky wandte sich halbwegs zu ihr und flüsterte zurück: „Ja, aber er weiß das ja nicht. Du trägst deine Sonnenbrille und du hast einen Blindenhund mit einer Weste, auf der das auch steht, also spiel einfach mit. Vielleicht machst du ein bisschen auf Stevie Wonder, du weißt schon, so wie er seinen Kopf von einer Seite zur anderen bewegt.“

Emily riss sich zusammen, um nicht in Lachen auszubrechen, und selbst Tiffany konnte ein Kichern nicht unterdrücken.

„Das ist aber eine Freundin“, sagte Tiffany ganz leise.

„Tja, ich war wohl blind, als ich sie mir ausgesucht habe.“

„Sehr lustig. Okay, jetzt gehen wir aber“, sagte Vicky und ging Richtung Auto. „Wir kommen schon.“

„Coffee“, befahl Emily ihrem Hund. „Vorwärts.“ Der Hund drehte sich um und ging entlang des Rollstuhls, während Tiffany diesen in Richtung von Vickys Auto schob.

„Ich möchte mich für meine Freundin entschuldigen, Officer“, sagte Emily, als sie das Auto erreichten, wo der Polizist immer noch stand. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und bewegte diese von links nach rechts, um vorzugeben, dass sie nicht wusste, wo genau der Polizeibeamte stand. „Bitte geben Sie mir den Strafzettel. Ich bezahle ihn. Sie ist nur gekommen, um mich abzuholen. Es ist meine Schuld.“

Der Polizist schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung, Ma’am. Ich stelle dieses Mal keinen Strafzettel aus. Sorgen Sie nur dafür, dass Ihre Freundin das nicht nochmal tut. Ihr Auto ist kein Krankenwagen.“ Er warf Vicky einen Blick zu.

„Danke, Officer, das ist sehr nett von Ihnen“, sagte Emily.

Mit einem Nicken wandte er sich um.

In dem Moment, als er außer Hörweite war, kicherte Vicky. „Du schaffst es immer noch.“

Augenblicke später saß Emily auf dem Beifahrersitz und Coffee hatte sich auf der Rückbank ausgestreckt, während Vicky den Motor anließ und ihn aufheulen ließ. Auf der anderen Straßenseite wirbelte der Polizist herum.

Emily legte ihre Hand auf Vickys Arm. „Verärgere ihn jetzt nicht auch noch.“

Vicky steckte ihren Kopf aus dem Fenster. „Tut mir leid, Officer, altes Auto. Ich bin froh, dass es überhaupt noch läuft.“ Bevor er antworten kannte, fuhr sie aus dem illegalen Parkplatz und fädelte in den Verkehr ein.

„Eines Tages …“, begann Emily, doch ihre Freundin unterbrach sie: „Ich weiß, ich weiß, aber wenn ich jemanden sehe, der aussieht, als hätte er einen Besen verschluckt, dann kann ich einfach nicht anders. Gut, dass ich immer noch meine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-Karte habe.“

„Und was soll die sein?“

Einen Augenblick lang nahm Vicky ihre Augen vom Verkehr. „Eine blinde Freundin, die Sympathie erweckt. Das funktioniert immer wie am Schnürchen.“

„Ja, da wir gerade davon sprechen.“ Emily deutete zu ihrem Gesicht. „Nicht mehr blind.“

Ein unverfälschtes Lächeln leuchtete in Vickys Gesicht auf. „Ich weiß. Ich freue mich so für dich.“ Dann sah sie in den Rückspiegel und deutete über ihre Schulter. „Wirst du Coffee sagen, dass du ihn nicht mehr brauchst?“

Emily schüttelte den Kopf. „Ich brauche ihn noch. Mein Sehvermögen ist noch nicht hundertprozentig. Außerdem habe ich ihn schon seit sechs Jahren. Ich könnte ihn nie hergeben. Ich glaube, er muss einfach in Rente gehen und bei mir bleiben.“

„Blindenhunde gehen in Rente?“

„Natürlich. Und Coffee hat es verdient.“

Sie sah über ihre Schulter und blickte ihren Hund an. Er hatte ihr eine gewisse Unabhängigkeit verschafft, die ein Stock allein nicht hätte liefern können. Coffee war ihr zweiter Blindenhund. Der erste hatte sein Leben für sie gegeben und sie davor bewahrt, von einem Auto überfahren zu werden. Die Lehrer in der Blindenschule in Baltimore, wo sie mehrere Jahre verbracht hatte, hatten die Schüler regelmäßig gewarnt: Es geht nicht darum, ob du von einem Auto, Bus oder Rad überfahren wirst, sondern wann. Sie hatten absolut recht gehabt.

„Alles in Ordnung?“, fragte Vicky.

Emily nickte automatisch. „Es ist viel zu verarbeiten. Und ich bin immer noch etwas betäubt von den Medikamenten.“

„Mach einfach deine Augen zu und mach ein Nickerchen.“ Scheinbar mühelos navigierte Vicky das Auto durch den dichten Verkehr.