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Leopold Federmair

Die lange Nacht der Illusion

Roman

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www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1276-4

© 2020 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Hoffnung des Verfassers

Buchstaben wie Tropfen,

die als Luftblasen platzen

Wörter wie Schnüre, grau,

und Sätze wie Wellen,

zum Suhlen geschaffen

Kapitel: stellbare Wände

kein Ende am Ende

Ach, Texte wie Meere …

… und Leere, genau

Inhalt

Affektenlehre

Okarina

Kinkakuji

Kein Traum

Affektenlehre

1

„Eine Doktorarbeit zu schreiben bedeutet vor allem, sich zu vergnügen. So eine Dissertation ist wie ein Schwein: Man wirft auf keinen Fall etwas weg.“ Ratschläge dieser Art erteilte Umberto Eco den italienischen Studenten in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts; es waren andere Zeiten. Wie weit ich sie befolgt habe, kann ich selber schwer sagen. Ich habe mir Mühe gegeben, aber durch das Alles-Aufheben, Alles-Hinschreiben ging meine akademische Arbeit in die Breite, ich kam vom Hundertsten ins Tausendste, so daß ich Gefahr lief, ein ewiger Student zu werden, was ich nur in Augenblicken der Koketterie zu wollen vorgab. Nach zwei oder drei Jahren bekam ich solche Rückenschmerzen, wie sie in Ecos Vergnügungskonzept nicht vorgesehen waren.

Ich entsinne mich, daß ich mich eines Morgens nur mit größter Mühe aufrappeln konnte (ich dachte unweigerlich an Gregor Samsa). Zum Glück wohnte ich in Untermiete bei einem praktischen Arzt, der im Erdgeschoß ordinierte und im ersten Stock mit seiner Familie lebte, in einer der beiden Mansarden des Hauses. Die Miete „bezahlte“ ich, indem ich mich eine bestimmte Anzahl von Wochenstunden um die beiden Kleinkinder kümmerte, was ich ohnehin gern tat. Schon als junger Mann mochte ich Kinder, ihre Frische und Eigenwilligkeit, das rasche Hin und Her der Affekte, zwischen Weinen und Lachen. An die Möglichkeit, selbst welche in die Welt zu setzen, habe ich erst viel später gedacht.

An jenem schmerzhaften Morgen schleppte ich mich durch das enge Treppenhaus hinunter in die Ordination des befreundeten Arztes. Gregor verabreichte mir eine Spritze, die mir etwas Erleichterung verschaffte, doch die Lähmungserscheinungen kehrten über mehrere Wochen hinweg immer wieder zurück. Meine Lage wurde durch die Angst verschärft, ich könnte so sehr erstarren, daß ich nicht mehr imstande sei, die Mansarde zu verlassen, so daß ich verhungern müßte (damit ich gehört werden konnte, ließ ich die Tür immer, auch nachts, einen Spaltweit offen). Erst die Beendigung meiner Doktorarbeit brachte mir Heilung; die Ewigkeit, man erlaube mir den kleinen Scherz, hätte mich ins zeitliche Verderben geführt. Ich entzog mich sogar der Aufforderung meines Doktorvaters, das Geschriebene noch einmal zu überarbeiten. Literarischer Perfektionismus paßte noch weniger zu Vergnügen und Leichtigkeit als geistiges Sauschlachten. Noch vor der Promotion sah ich mich nach einem Posten in Frankreich um.

2

Ein anderes Tier, das mir, ebenso metaphorisch, bei meinen Forschungen unterkam, war das Pferd. Ich ließ mich in meinen Lektüren treiben und stieß unverhofft auf einen Autor, der sich auf seinen Reisen in Frankreich und Italien auf dem Pferd fortbewegte und in den Essais, die er Jahre später schrieb, oftmals darauf zu sprechen kam, zum Beispiel in dem berühmten Kapitel, das seinen Reitunfall beschreibt. Ohne den Gefahren viel Beachtung zu schenken, schilderte er das Reiten als ein Schweifen und Balancieren, das dem Schreiben als Sinnbild gelten konnte, insofern es ein ständiges leichtes Auf und Ab, ein ausdauerndes Hin und Her beschrieb, ein angenehmes Wogen, eine geschickte Gleichgewichtsübung, dabei trotzdem ein Ziel vor Augen, dem der Reiter zustrebt. Rock ’n’ Roll avant la lettre, im französischen Renaissancezeitalter! An einem einzigen Tag konnte Montaigne acht bis zehn Stunden im Sattel verbringen, ohne daß sein Reisevergnügen darunter litt. Ähnlich bewegen sich seine Essays, großzügig ausschwingend und doch immer wieder auf seine besonderen Anliegen zurückkommend, ohne diese zu Obsessionen ausarten zu lassen.

Pferd oder Schwein, zu meinen neuen Interessensgebieten, die mit meinem Forschungsthema, dem Petrarkismus Ronsards, nur indirekt zu tun hatten (wie alles mit allem indirekt zu tun hat), zählte die sogenannte „Affektenlehre“. Ich hatte davon gelesen, weil ich in jenen Jahren gern eine Radiosendung mit alter Musik hörte und mir von meinem spärlichen Einkommen aus dem Ferialjob drei Schallplatten mit ebensolcher Musik zulegte, die ich während meiner Studien hörte (ansonsten bevorzugte ich Rockmusik). Ob sich Affekte tatsächlich anhand feststehender Regeln ausdrücken lassen, ist mir nie klar geworden; im Grunde genommen war es mir egal. Was mich aber verblüffte und sozusagen bei Atem hielt, war die Entdeckung, daß sämtliche Affekte zusammen ein dualistisches System bildeten. Es gab keine Ausnahmen, so viel ich auch darüber nachdachte, jeder Affekt deutete unweigerlich auf sein Gegenteil, und in diesem vielfachen, vieltausendfachen Gegensatzverhältnis bewegte sich die Musik ebenso wie die Literatur, die Sprache, das Leben. Unter „Affektenlehre“ begann ich im Wortsinn die Lehre von den Affekten zu verstehen, die große, sachlich beschreibbare, vernünftig beherrschbare Architektur der Leidenschaften der Seele. Beherrschbar durch den Gebrauch der Vernunft, so sah es zumindest Descartes in dem Werk, auf das ich hier anspiele und das ich damals, so seltsam, gar lächerlich es heute klingen mag, auf dem Nachtkästchen liegen hatte, um vor dem Einschlafen noch eine Weile darin zu blättern.

Der Gedanke, dieses System könnte trivial sein, kam mir erst viel später; offenbar war es für diese Erkenntnis notwendig, noch eine Reihe von Lebenserfahrungen zu machen. Ob wir wollen oder nicht, wir entkommen dem binären Gefängnis nicht, in dem sich unser Leben – zumeist entlang der Illusion freier, singulärer Entscheidung – entspinnt. Viele haben die Flucht versucht, ganze Philosophien wurden auf die Ablehnung der Binarität gegründet – alles umsonst. Es ist ein Weltgefängnis, das nicht nur die Leidenschaften, die Passionen (im mehrfachen Schriftsinn) festsetzt, sondern auch unsere Wertungen, Gut und Böse, Schön und Häßlich, Nützlich und Nutzlos, Reich und Arm, Herr und Knecht; ja, auch die Gesellschaft ist, Hegel hat das nur allzu klar gesehen, binär strukturiert. Nur daß Hegel und seine Nachfolger sich mit der Zweizahl nicht begnügen wollten und eine dritte Ebene hinzusetzen zu müssen glaubten, die sie für höher hielten: Überwindung der angeblichen Widersprüche, die ebendiese Überwindung angeblich in ihrem Schoß tragen, so daß die Zukunft der höheren Dimension unvermeidlich ist und dem Philosophen nichts anderes bleibt, als sie herbeizusehnen, also herbeizudenken und zu sanktionieren. Vielleicht kann man jede Art von Dynamik, also auch die Menschen- und sogar die Naturgeschichte, nur durch solche Dreischritte erkennen beziehungsweise darstellen. Eine ganz andere Sichtweise kultivierte Borges, wenn er auf den Spuren Schopenhauers dafürhielt, daß die ganze Geschichte nur eine lange Abfolge von unterschiedlich akzentuierten (oder interpretierten) Metaphern sei. Und diese Metaphern, erlaube ich mir hinzuzufügen, haben stets ihren unerbittlichen Widerpart. Es läßt sich, so betrachtet, überhaupt nichts überwinden. Das Leiden ist ewig, und das Vergnügen auch. Anders gesagt: Das Gleiche kehrt in unterschiedlichen, stets binären Gestaltungen wider.

Feinere Geister werden zustimmen, daß das eigentlich Spannende – dieses Epitheton kam während meiner Doktoratszeit in Mode – in der Differenzierung liegt, also in der Zerlegung der großen Gegensätze in kleinere. Es ist dies eine Bewegung, die sich als infinitesimale Unendlichkeit denken läßt, von der Art jener unabschließbaren Zergliederung der Zeit und überhaupt jeder Wegstrecke, mit deren Paradoxie sich Borges so gern die Zeit vertrieb. Nichts ist rein gut oder ausschließlich schlecht! Nichts von dem, was ich hasse, ist mir nicht wenigstens in gewissen Aspekten ähnlich und sogar liebenswert… Die erwähnte Abhandlung Descartes‘ ist erstaunlich grobschlächtig; an Differenzierungen scheint der gottgläubige Mann kein Interesse gehabt zu haben. Und was mich betrifft, den, nun ja, nicht nur vergeistigten, mitunter durchaus sinnenfreudigen und sogar sportlichen Studenten, so habe ich immer nur das System als Ganzes angestarrt, verblüfft über meine Entdeckung des Binären, einige Jahre bevor die Personalcomputer, diese unermüdlichen Kompositoren und Ordinatoren von Plus und Minus, ihren weltweiten Siegeszug antraten. Das ganze Raffinement, die Entfaltung der zahllosen Möglichkeiten des Vergnügens und der geistigen wie auch körperlichen Lust, liegt nicht in unendlichen Weiten, vielmehr führt es nach innen, zur Mikrostruktur.

Descartes vertritt die Auffassung, sämtliche Affekte, die fast ausschließlich paarweise oder in Kontrast auftreten, seien auf einen Grundgegensatz zurückzuführen, nämlich den von – wenig überraschend – Liebe und Haß. Wobei wir, nach Descartes‘ Definition, dasjenige lieben, was gut für uns ist, und hassen, was uns in irgendeiner Weise schadet. (Ich will diese Annahme hier nicht diskutieren, kann aber nicht umhin, mich an Frauen, die ich kannte, zu erinnern, die einen Mann eben deshalb liebten, weil er ihnen schadete. Natürlich ist der Masochismus als eine Form des Lustgewinns zu begreifen, die nicht ohne Liebesfähigkeit auskommen kann.) Descartes zufolge gibt es alles in allem nur sechs „primitive“, das heißt einfache, nicht zusammengesetzte Affekte: Bewunderung, Liebe, Haß, Begehren, Freude und Trauer. Die Bewunderung zeigt als einziger Affekt keinen Gegensatz, weil das Empfinden im Fall, daß es kein Objekt der Bewunderung hat, auf Gleichgültigkeit gestellt ist, eine Art Stand-by, Null-Affekt. Auf solche Weise gehen wir, wenn wir in die Jahre kommen, die meiste Zeit durch die Welt, leidenschaftslos – was dem stoischen Ideal entspricht, aber nicht den Stimmungen eines passionierten Dualisten.

Im Original ist von „admiration“ die Rede. Freilich, die Übersetzung hat ihre Tücken, der Philosoph des 17. Jahrhunderts meinte womöglich etwas anderes als heute ein junger Franzose, der irgendein Popsternchen anhimmelt. Im Wörterbuch der Académie française von 1694 werden jene Gefühle als admiration definiert, die die Wahrnehmung von etwas Außergewöhnlichem in uns erzeugt. Die Beispiele sind überwiegend positiv, sie können aber auch negativ sein, so wird uns etwa, sagt das Wörterbuch, die folie des hommes, der Wahn der Menschen, in Staunen setzen. (Descartes gegenüber möchte man die Frage einwenden, ob die positive Bewunderung nicht ein Komplement im Schrecken hat.) Man kann auch zuviel bewundern, sagt Descartes, und ebenso kann man zu neugierig sein – obwohl er zugesteht, daß ohne Neugier keine Wissenschaft gedeiht. Die völlige Affektlosigkeit erklärt er nicht zum Ziel der Weisheit, wohl aber die Mäßigung der Leidenschaften. So ähnlich hat das auch Montaigne gesehen, der ja sogar meinte, man könne den Gebrauch einer Tugend übertreiben. Zum Beispiel die Liebe übertreiben, oder den ehelichen Geschlechtsverkehr (ein Beispiel, das er tatsächlich anführt!). Bei allem käme es darauf an, das rechte Maß zu finden. War das Ideal unserer Denker der Goldene Mittelweg? Nicht Spannung zwischen den Extremen, nicht begeistertes Differenzieren, sondern langweiliges Abwägen zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig? Den Weg des geringsten Widerstands gehen?

Nein, solche Fragen stellte ich meinem Montaigne nicht; ich bewunderte, ich verehrte ihn zu sehr. Was ich las, konnte ich damals noch lieben, wie ich meine Frauen liebte, bewunderte, verehrte, mit einer Maßlosigkeit, die die Helden der abendländischen Geistesgeschichte gerügt hätten. Nicht gleichzeitig, sondern der Reihe nach habe ich sie geliebt, in verschiedenen Abschnitten, Kapiteln. Gab es nicht auch eine Antithetik zwischen der Geliebten und mir, dem Liebenden? Nein, die alte Affektenlehre konnte das nicht ganz so alte, aber tiefer verwurzelte romantische Ideal nicht ausrotten; beide Systeme koexistierten, ohne daß mir dies zu Bewußtsein kam. Das Ideal der Einheit, der Überwindung der Gegensätze. Die Rückkehr ins Paradies. War Hegel nicht in seinem Wesen, oder zumindest in seinem Ursprung, ein Romantiker? Auch diese Frage stellte ich mir nicht, zu sehr war ich immer noch vom Zeitgeist geprägt, der allem den Wind der Dialektik um die Ohren blies. Trivial, das Gelebte war trivial; ich merkte nicht, daß es diese Eigenschaft mit den heiligen Texten teilte.

3

Ich glaube nicht, daß ich je mit meiner Frau – meiner zweiten Ehefrau, um genau zu sein – über diese Dinge gesprochen habe. Meine Dissertation lag weit zurück, als wir uns kennenlernten; die Trivialität der Affektenlehre hatte ich hingenommen. Umso überraschter – d’autant plus admiratif, oder schlichter gesagt: épaté – war ich, als ich in dem von ihr hinterlassenen Manuskript von der Polarisierung zwischen den Bewertungskategorien der sogenannten Sozialen Medien las und diese auf eine tieferliegende Binarität zurückgeführt fand. Es ist doch so, im täglichen Zusammenleben nähert man sich einander an, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn, bloße Kontiguität führt zur Identifikation. Solche Annäherung kann – und sollte vielleicht – wechselseitig sein, keine Einbahnstraße, wie es so schön heißt. Ich werde du, du wirst ich. Natürlich nicht schrankenlos, nur in bestimmten Zonen und Winkeln der Persönlichkeit. Vermutlich gibt es durchaus so etwas wie einen unzerstörbaren Kern (der seinerseits zwiefältig sein dürfte). Like/dislike, diese unerbittliche Grundkonstellation und die ganze, in rhetorische Zeichen, genauer gesagt: in eine Tabelle von Emojis* verpackte Mechanik der Gefühle, und nicht nur der Gefühle, sondern sämtlicher Lebensläufe – mit Parametern wie Geburtstag, Beziehung, Unterwegssein; Mahlzeiten, Haustiere, Kinder – hätte Descartes vermutlich entzückt, sie zeigt und bewältigt die höchst rationale, numerisierte Ordnung und Verwaltung der menschlichen Angelegenheiten im 21. Jahrhundert. Jeder weiß, es gibt Differenzierungen wie „Ich liebe dich, aber manchmal hasse ich dich ein wenig“, aber letzten Endes, en fin du compte, kann man auf sie verzichten, es kommt doch nur darauf an, was oder wen man liebt und was nicht. Von dem, was man nicht mag, hält man sich besser fern, und genau dieses Fernhalten besorgen die Filter (übrigens nicht erst im digitalen Zeitalter). Auch den Gegensatz von Mann und Frau bringt die moderne Sozialrhetorik in die nämliche Reihe und damit auf die Reihe – aber ich sollte angesichts der Umstände nicht scherzen. Weiters ist heutzutage allgemein anerkannt, daß sich die Affekte nicht einfach so den Geschlechtern zuordnen lassen. Meine Frau war – oder ist – zum Beispiel alles andere als sanft und weich. Mehr als ich verfügt sie über diesen unzerstörbaren Kern. Vielleicht hat sie sich deshalb der Gefahr ausgesetzt.

Woran mich die Stelle in ihrem Manuskript urplötzlich erinnert hat: daß ich von den nicht allzu vielen, aber auch nicht ganz wenigen Frauen, mit denen ich zusammen war, bestimmte Dinge angenommen und in mich, meinen Körper, mein Leben eingefügt habe, so daß vieles davon bis heute geblieben und lebendig ist. Auch diese Feststellung ist mehr oder weniger trivial. Man entwickelt, wenn man sich mit einem anderen Wesen zusammentut, gemeinsame Interessen, übernimmt Ansichten, beeinflußt und läßt sich beeinflussen. Yuuki zum Beispiel dachte vor unserer Beziehung und Ehegemeinschaft kaum an Umweltschutz, selten an die Knappheit der Ressourcen, ja, nicht einmal an die Bedeutung von Natur, auch wenn sie, wie alle Japaner, weiße Kirschblüten und rote Ahornblätter schön fand. Erst durch mich entdeckte sie ihre Liebe zum Fahrrad, die besondere Beziehung zur veränderlichen Umgebung, die dieses Fortbewegungsmittel gewährt, den wechselnden Rhythmus und die gesteigerte Wahrnehmung im Gegensatz zu dumpfen Autofahrten… Drahtesel? Eher ein sanft wiegendes Stahlpferd. Was mich betrifft, so habe ich nicht nur sprachliche Gewohnheiten von ihr übernommen, darunter meine unfreiwillig humoristische, von Japanern oft als sympathisch empfundene Gewohnheit, weibliche Ausdrucksformen zu gebrauchen, die bei einem japanischen Mann einfach nur lächerlich wären, oder auch meinen mit der Zeit gewachsenen, um nicht zu sagen: ins Kraut geschossenen Konservativismus und das häufige, wo nicht ständige Gedenken der Toten, die mir früher allesamt gleichgültig waren (meine zu früh verstorbene Mutter eingeschlossen). Oder den Sinn für Skurrilität, für Dinge, die man nicht einordnen kann.

Aber das meine ich nicht. Ich meine die kleinen Gesten, die Handbewegungen und Gesichtsverzerrungen, das Lächeln und den Ausdruck von Staunen, lauter geringfügige, von mir selbst nur sehr selten bemerkte Eigenschaften, die aber das eigentliche Leben in seinen Fasern durchdringen. Ich meine die Art, wie ich seit ein paar Jahren die Wäsche zusammenlege, anders als früher, nicht unbedingt besser oder geschickter, oder die Art, wie ich gespültes Geschirr zum Trocknen abstelle. Auch an meiner Frau bemerke ich solche scheinbar unerheblichen, den Körper und das Leben zusammenfügenden und sehr langsam verändernden Eigenschaften. Und dann bin ich wieder überrascht, wenn ich Relikte sehe oder in meinem Inneren spüre, Überbleibsel von Einwirkungen meiner ersten Frau, von der ich mich letzten Endes deshalb getrennt habe, weil sie meinem Kinderwunsch, den ich schon als babysittender Doktorand mit Faible für Affektenlehren insgeheim hegte, der mir aber so lange nicht zu Bewußtsein kam, bis es fast zu spät war, nicht entsprach, nicht entsprechen konnte oder wollte – welches Modalverb hier paßt, ist mir immer noch nicht klar. Die Angewohnheit, in bestimmten Situationen Luft steil nach oben zu blasen, habe ich von ihr geerbt; sie diente einmal dazu, störende Haarsträhnen zu vertreiben, und ich habe sie beibehalten, obwohl meine Behaarung so spärlich geworden ist, daß ich überlege, mir den Kopf demnächst kahl scheren zu lassen. Von alldem hat Yuuki, wie gesagt, nicht die leiseste Ahnung; sie liebte den kleinen Tick als eine meiner unverwechselbaren Eigenheiten, auf meinem und keinem anderen Mist gewachsen.

Es dauert Jahre, Jahrzehnte, bis einer ein Selbst geworden ist. Man begrenzt sich, grenzt sich ab, beginnt langsam, ohne daß man es merkt, sich zu verschließen, und damit die Welt. Oder ist es angemessener zu sagen, dieses feststehende, abgerundete, scheinbar kantenlose Selbst sei immer nur momentan, folglich eine Vielzahl von Ichs, die in loser Verbindung stehen? Mit dem Augenblick vergehe ich selbst; der da hinten, meines Namens zwar, hat nicht mehr mit mir zu tun als ein zufälliger Nachbar in der U-Bahn. Als ich ein Kind war, warnten mich die Erwachsenen, ich sei leicht beeinflußbar. Ich habe mir sowohl die Angst davor als auch das Bedürfnis und die Lust dazu bewahrt, jedoch in abnehmendem Maß, meine Aufnahmekraft ist gesunken. Die trivialsten Beispiele haben den Vorteil, daß sie die klarste Sprache sprechen, zum Beispiel das Rauchen, das ich vor langer Zeit aufgegeben habe und mit Sicherheit nicht wieder beginnen werde, weil ich fühle, daß mein Leben sonst zu kurz ausfallen würde; zu kurz vor allem für meine Tochter, die mich braucht. Eines Abends in einer Kneipe in Paris war ich es leid, diese gräßliche Taubheit und Grauheit, kurz: diese Abgeschmacktheit im Mund zu haben, und ich beschloß, auf die nächste Zigarette wie auf alle weiteren zu verzichten (obwohl ich den Duft, als flüchtig Teilhabender, immer noch genießen kann). Es fiel mir damals nicht leicht, aber ich darf wohl sagen, daß auch ich einiges an Willensstärke besitze. Allerdings wurde ich rückfällig, und zwar wegen einer Frau. Sie war Raucherin, nicht exzessiv, ein paar Zigaretten am Tag, allem Anschein nach genoß sie es. Ich wollte bei ihr sein, wollte die Äußerungen und Eindrücke ihres Körpers mitempfinden, wollte ihn gewissermaßen von innen her spüren, vom innersten Kern. Und nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren Geist, ihre Sicht der Welt, wie sie sich die Dinge zusammenreimte – kurz, ich war, wenigstens für ein paar Monate, in der Zeit der Verliebtheit, die tatsächlich ein langer Frühling war, von März bis Juni, bereit, mein bisheriges Selbst (die Reihe meiner Selbste) aufzugeben, nicht restlos natürlich, aber doch immer dort, wo ein Widerspruch gegen meine neue Freundin entstehen konnte, zum Beispiel in der Frage von Rauchen/Nichtrauchen. Ich begann also wieder zu rauchen, versuchte auch, jede einzelne Zigarette zu genießen, statt wie ein Süchtiger zu hecheln. Und in der Tat, man kann sagen, ich war bei ihr, mit ihr, in ihrer ureigenen Welt – und nicht mehr so ganz in meiner eigenen, ebenso ureigenen, jetzt aber langsam zerrinnenden. Eines Tages hörte ich von neuem auf mit dem Tabak (wie man auf japanisch sagen würde, tabako ho yamemashita), ich weiß nicht mehr, ob es einen Anlaß gab oder nicht, aber ich glaube, daß ich es war, der seine letzte Ureigenheit aufbot und seine Freundin davon überzeugte, die Zigaretten in die hinfort gemeinsame Vergangenheit zu verbannen.

Was ich hier für das Rauchen beschreibe, ließe sich ebensogut in Bezug auf Gedanken, Überzeugungen, Geschmacksvorlieben vermerken. Wir alle sind wankelmütig; die Frage ist nur, in welchem Maß, bis zu welcher Grenze. Mit meiner jetzigen Frau saß ich vor vielen Jahren, als unsere Tochter noch nicht geboren war, an einem jener wunderbar milden römischen Abende, die das Herz erweichen und die Zunge lösen, in einer Gelateria in Monte Mario, hinter dem Vatikan, und ich kam mit dem Pärchen am Nebentisch ins Gespräch; glaube sogar, das Gespräch gesucht zu haben, weil mir die beiden da außerordentlich gefielen, schöne junge Menschen, ungewöhnlich höflich, ohne deshalb ihre Lebensfreude zu drosseln, beide im Trikot von Juventus Turin, tifosi della Juve. Mit großen Augen, die beim Sprechen leuchteten. Sie waren bedingungslose, treue Anhänger des Klubs, aber keine Ultras (wie sie betonten), besuchten auch oft Spiele oben im Norden, und es war förmlich mit Händen zu greifen, wie sie ihre fleischliche Zuneigung und Liebe füreinander auf die Liebe und Zuneigung zur squadra ausdehnten, die davon profitierte, so daß beide Formen der Liebe einander noch steigerten. Juventus als Lebenssinn, an dem man gemeinsam baut. Später die Kinder anstelle der squadra, eine kleine Mannschaft – man gestatte den Scherz –, deren Mitglieder, indem sie heranwuchsen, ihrerseits Juve-Fans wurden, die Familientradition fortsetzend. Wie schön, solche zeitüberdauernde Identität!

Hergestellt, um nicht zu sagen: fabriziert durch Identifikation des Liebenden mit dem Geliebten, des Kindes mit den Eltern, des Lehrers mit dem Schüler, des Wahrnehmenden mit seinen Gegenständen (die dann nicht mehr „entgegenstehen“). Des Vaters mit seinem Kind – ja, auch das ist möglich, ist erstrebenswert. Yuukis Okarina-Manuskript enthält Erinnerungen an Reisen, aber nicht die für mich so starke, bleibende Erinnerung an Monte Mario, es sind andere Momente, die ich vergessen hatte oder die mir nicht besonders wichtig waren; zweifellos aber waren ihre Europa-Reisen von, wenn ich es so profan sagen darf, formender, bildender Kraft, also von beträchtlichem Einfluß auf ihre Identität. So nahe wir einander auch kommen, wir sehen doch immer verschiedene Dinge, verschiedene Aspekte, verschiedene Ansichten derselben Dinge. Vor allem aber werten wir sie verschieden, in unserem Gedächtnis erhalten sie unterschiedliche Orte. Für mich ist, jedenfalls in diesen Zeiten, die Erinnerung an Andalusien am stärksten, während meine Frau in ihren Aufzeichnungen Spanien kein einziges Mal erwähnt. Die Stadt Ronda, in der Rilke eine Zeit verbrachte, genauso staunend wie ich selbst – oder doch umgekehrt, staunend ich nach seinem Vorbild, staunend und, da ich an Höhenangst leide, auch ein wenig erschrocken, dieses gemischte Gefühl der Erhabenheit genießend, „ein wenig“ zu erschrecken, nicht vor den Weiten des Alls, sondern vor den Untiefen der Erde, und einem Aspekt der Gefahr, aber nicht ihr selbst, zu begegnen. Lange stand ich auf der Brücke, die in die Stadt hinüberführt, höher als lang, aus dem Stein heraus- und in ihn hineingeschlagen, und nach ich weiß nicht wie langer Zeit gelang es mir sogar, hinabzusehen in den müllverzierten Abgrund. Die Angst später dann, tiefnachts, vergolten und aufgehoben durch das Gefühl, im stuckverzierten, plateresken Zimmer zu schweben. Ich glaube mich an den Traum jener Nacht zu erinnern, sein Hell-Dunkel, doch vielleicht vermischt meine Erinnerung die Traumbilder mit den Gemälden von Zurbarán, die wir tags zuvor in einer kleinen Kirche in Marchena gesehen hatten. Viel deutlicher, profaner und trivialer, doch bleibender ist die Erinnerung an unseren Halt auf einem Parkplatz, bevor wir die Stadt nach langer Fahrt – im Mietauto, muß ich gestehen – auf kurvigen Nebenstraßen erreichten, wo wir über das weite grüne Land schauten, ihr Kopf an meiner Schulter, ihre weißen Schenkel auf dem Nebensitz, und die tiefen Klüfte ahnten, obwohl wir noch nichts davon wußten, angedeutet vielleicht von einer Wallung der Luft, jenseits des Baches, den wir an einer Furt durchqueren würden.

4

Wie kommen wir einander überhaupt näher? Es war mir immer ein Rätsel. Auf der Ebene der Tatsachen (die man notfalls schaffen muß), war ich meist ungeschickt, zögerlich, habe den rechten Augenblick versäumt. Meistens, nicht immer. Und manchmal glaubte ich – carpe diem! – den Augenblick ergreifen zu müssen, und daß ich es tat, stellte sich viel später dann als Fehler oder Irrtum heraus.* Wie kann man die Plötzlichkeit vermeiden, dieses Ruckartige, Abrupte der Handlungen? Muß man es denn vermeiden? Wie gelangt man von einem gegebenen Zustand in einen anderen? Bewegt sich denn überhaupt etwas, ist das nicht Illusion, sind wir nicht alle längst erstarrt? Späte, zu späte Einsicht: Wahrscheinlich geschieht auch das eher durch Differenzierung als durch Identifikation. Ein Kamel geht durch ein Nadelöhr! Indem ich Unterschiede feststelle, Dinge und Eigenschaften, die sich – oder einander? – nicht gleichen, nie gleichen können und werden. Durch Spaltung kämen wir also zueinander, wenigstens näher, wenn schon nicht auf ein und denselben Standpunkt. Die Beziehung zwischen uns, Yuuki und mir, ist mit der Zeit immer feiner geworden, ein jedesmal zerbrechlicheres, reineres Gespinst aus Zeit. Und dann wieder gröber, mag sein, es gab Brüche und Abbrüche, so wie jetzt, plötzlich, ohne Übergang, keine Brücke, nicht einmal eine Furt. Ich bin nicht wie du, du bist nicht wie ich, darin liegt unsere Chance auf Gemeinsamkeit. Bis es dann aus ist. Chaos statt Verfeinerung, die Reinheit ins weite Nichts verwandelt. Noch so eine Trivialität: Nichts währt ewig. Die Toten sind mir in letzter Zeit wieder gleichgültiger geworden. Und dir, scheint es, auch. Es wird daran liegen, daß wir uns vorstellen können und vorstellen (was wir früher nicht taten), daß wir über kurz oder lang selbst zu ihnen gehören. Wer denkt dann an uns? Egal, es tangiert uns ja nicht.

Als ich im zweiten oder dritten Semester studierte, glaubte ich in ein Mädchen verliebt zu sein, das ich aus der Hauptvorlesung des Literaturprofessors kannte, jedoch nur vom Sehen, sie saß in dem steil ansteigenden, gut besuchten Hörsaal auf der anderen Seite, diagonal gegenüber. Ich weiß nicht, warum sie mir gefiel, aber sie war wohl „mein Typ“, eher dunkel, mit ausgewaschenen Blue Jeans und langem glattem Haar, vermutlich ein Studienjahr über mir, deshalb sah ich sie nie in den Proseminaren. Eines Tages erkannte ich sie bei einem der vielen Feste, die wir feierten, am Rand der Tanzfläche. Ich setzte mich neben sie, sagte eine Zeitlang gar nichts, und dann: „Darf ich dich berühren?“ Ein besserer Satz fiel mir nicht ein. Zum Beispiel „Tanzen wir?“, das fiel mir nicht ein. Oder ich vermied den Satz, weil ich glaubte, ein schlechter Tänzer zu sein. „Kein Übergang, entweder zu direkt oder zu indirekt“, raunt der Mann mit dem schütteren Haar über den müllverzierten Abgrund der Jahre hinweg dem Jungen mit der langen Mähne zu. „Tanzen ist keine Kunst, es ist nur ein Übergang“, könnte er hinzufügen. Die Antwort des Mädchens, ein schlichtes Ja, stieß den Jungen regelrecht vor den Kopf und bewirkte, daß er unfähig zu jeder Gefühlsregung war. Mit allem hätte er gerechnet, nur nicht mit diesem plötzlichen Einverständnis. Er saß noch ein paar Minuten neben ihr, die flache Hand an ihrem Rücken, dann gab er auf, machte sich aus dem Staub, die Niederlage schmeckte bitterer als die gewohnte des Zögerns. Die beiden haben sich nie wieder angesehen, nicht einmal aus den Augenwinkeln, während der Hauptvorlesung, in die sie weiterhin gingen, weil sie – eine Gemeinsamkeit – den Professor bewunderten.

Das unerbittliche Nacheinander ist genauso schwer oder unmöglich zu überwinden wie das Nebeneinander. Diese Schlußfolgerung legt die Lektüre von Borges’ Erzählungen und Essays nahe, doch sie entspricht nicht unseren Wahrnehmungen und Gefühlen. Eher schon trifft es zu, daß sich die Zeit nicht aufhalten läßt, denn sie fließt. Sie springt nicht und spaltet sich nicht, sondern fließt, ein einziger zäher, dehnbarer, wandelbarer Stoff. (Auch das übrigens eine Raummetapher, das Fließen der Zeit.) Das Aleph ist eine (selbst-)parodistische Erzählung mit zwei abstoßenden Hauptfiguren, die man beide nicht ernst nehmen kann, doch das Zentrum des Textes, sein unzerstörbarer Kern, das Aleph des Alephs, hat doch eine starke intellektuelle und poetische Brennkraft. In gewisser Hinsicht ist dieser Punkt, der alle anderen Raumpunkte enthält, eine Vorwegnahme des Fernsehens, das wenige Jahre nach der Entstehung der Erzählung seinen weltweiten Siegeszug antreten sollte – und das heute vom Internet und den tragbaren Weltempfängern abgelöst und überboten wird. Unendlich viele bunte – ehedem schwarz-weiße – Bilder, zwischen denen man in Windeseile hin- und herspringen kann. Simulation von Simultaneität. Umherwandelnde Menschen, die ihren Blick gebannt auf eine winzige Fläche von dicht zusammengedrängten Punkten vor ihren Augen heften. Weit bequemer als die Rückenlage des Aleph-Betrachters auf dem kalten Fliesenboden im Keller des Hauses in der Calle Garay. „Was meine Augen sahen, war simultan“, schreibt Borges. „Was ich beschreiben werde ist sukzessiv, weil die Sprache es ist.“

Auch das Fernsehen ist ja, im Unterschied zu Malerei und Photographie, ein Zeitmedium, doch es perfektioniert die Simulation, die den Betrachter glauben läßt, alles geschehe zugleich, nicht nur in einem Zeitraum, sondern zu einem Zeitpunkt, der im Idealfall das Gefühl absoluter Beständigkeit vermittelt. Ich habe mich der Literatur verschrieben und werde ihr auch nicht abschwören, komme, was da wolle. Die literati, wie man diese Minderheit in der Bevölkerung einst nannte, sind für alle Zeiten mit dem Paradox konfrontiert, Dinge der Reihe nach und bei vergehender Zeit schildern zu müssen, die im Modus der Gleichzeitigkeit im Raum existieren. Warum auch nicht, es gehört nicht allzuviel dazu, den entsprechenden Gedankenschritt zu tun und im Bewußtsein zu behalten. Genauso locker schaffen wir es, vom Digitalen ins Analoge zu übersetzen. In einer kleinen Rede, einem mündlichen Essay, den der längst erblindete Dichter kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag hielt, postuliert Borges – gegen Newton, der von einer einzigen, alles umspannenden Zeit ausging – eine Vielzahl von Zeiten, die zumindest theoretisch die Möglichkeit hätten, simultan abzulaufen. Meine Zeit ist nicht deine, aber beide können sich berühren, oder parallel gehen, einander spiegeln, miteinander kommunizieren. Yuukis Geschichte, der ich den Titel „Okarina“ gegeben habe, spielte sich in etwa gleichzeitig mit der unsrigen ab, also der mit „Kinkakuji“ überschriebenen Geschichte von meiner, besser gesagt unserer Tochter und mir selbst (wobei auch diese Geschichte wieder in zwei Zeitlinien zerfällt, wie man besonders deutlich in der Episode sehen kann, in welcher der Vater nach dem verschwundenen Mädchen sucht). Aber genaugenommen – was heißt schon Gleichzeitigkeit? Im strengen Sinn gibt es keine, auch die Raumkunst und die Metaphorik können uns da nicht helfen. Sobald ich aufblicke, um zu sehen, was der andere macht, lasse ich von meiner Geschichte ab. Verschwende ich einen Gedanken an ihn, bin ich schon aus meiner Rolle, meinem Text gefallen. Nur für den Blick von außerhalb, einem archimedischen Punkt, wie ihn nur ein Gott einnehmen kann, gibt es Gleichzeitigkeit, und sie umfaßt ausnahmslos sämtliche Abläufe.

Aber, wie gesagt, wir können simulieren. Wir haben Techniken zur Verfügung, die uns Illusionen vorzaubern, denen wir gerne Glauben schenken. Die Literatur gehört dazu. Um die Gleichzeitigkeit unserer Geschichten darzustellen, habe ich versucht, sie mit der alten Methode des Cut-up in Schichten zu zerschneiden (wie ein MR-Gerät den menschlichen Körper) und diese Schichten „simultan“, das heißt immer noch der Reihe nach, ineinanderzufügen, also eigentlich auch wieder nur nebeneinander-, nebeneinanderzufügen. Wie bei experimentellen Werken üblich, litt die Lesbarkeit darunter, und es wäre mit dieser Anordnung auch nichts gewonnen gewesen. Ich hätte weiter gehen müssen, radikaler sein, einen Satz aus dieser, einen aus jener Geschichte nehmen, schließlich ein Wort von hier, eines von dort, womöglich durch verschiedene Farben gekennzeichnet, sagen wir Schwarz und Blau, oder Grün und Rot. Wäre damit echte Gleichzeitigkeit – Echt(gleich)zeitigkeit – erzielt gewesen? Nein. Abgesehen davon, daß die beiden Texte nicht gleich lang sind. Kaum eine Erzählung echter („echter“) Ereignisse läßt sich mit exakt der selben Anzahl von Worten bewältigen, die eine andere beansprucht; nicht einmal zwei Versionen ein und desselben Ereignisses sind in der Regel gleich lang, ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Rhythmen, Pausen, Akzentuierungen. Mehr noch, es fragt sich, ob zwei Ereignisse überhaupt gleichzeitig geschehen können. Letzten Endes handelt es sich nicht um ein Formproblem, sondern um ein ontologisches. Also habe ich es bleiben lassen und mich zu einer, wie man’s wohl nennt, traditionellen Anordnung entschieden. Blieb immer noch die Frage, wer beginnen würde, wie bei einem Gesellschaftsspiel, etwa: Der Jüngste zuerst. Oder nach der alten Regel des Gentlemans: Ladies first! Ich oder du, im Grunde genommen ist es egal.

5

Zuletzt noch ein Wort zum kurzen, punktartigen Schlußtext in diesem Buch. Die Identität des Verfassers spielt hier gar keine Rolle. Bei meinen Lektüren, während ich an dieser Einleitung schrieb, bin ich auf eine handschriftliche Anmerkung auf der mehr als zur Hälfte leeren, schon ziemlich eingedunkelten letzten Seite von Borges’ Erzählung Die Wartezeit in der deutschen Taschenbuchausgabe der Sammlung Das Aleph gestoßen. „Kein Traum“, steht dort zu lesen, vermutlich die Kurzfassung einer Interpretation des Lesers, der ich war, und die besagt, daß Villari, die Hauptfigur, die nicht wirklich so heißt – Villari ist ihr Feind, gewissermaßen ihre Entgegensetzung –, zwar hofft, er möge (in dieser fiktiven Geschichte) träumen, in Wahrheit aber eben nicht träumt und am Ende buchstäblich, also physisch, ausgelöscht wird.

Oder hieß der Mann und war er eben doch Villari, (wie) seine Entgegensetzung, sein Feind?

* Für jene, die’s nicht wissen: „Emoji“ ist die japanische Zusammenfügung von „Emotion“ und „Zeichen“.

* Der Fluß der Gedanken gibt mir hier Gelegenheit, auf den Gegensatz und die Einheit von Memento mori und Carpe diem hinzuweisen. Auch diese Dualität, wahrscheinlich die grundlegendste, die wir benennen können, war während meiner Doktorandenzeit für mich zu einem unvorhergesehenen Forschungsfeld geworden. Sie prägt unsere christliche Kultur, und nicht nur unsere, sondern auch die buddhistische, jedenfalls in Japan. Hier kam es im Verlauf der Geschichte zu einer Arbeitsteilung zwischen zwei einander ergänzenden Religionen, wobei der Buddhismus für Naturgenuß und Lebensfreude zuständig war (und ist), der Buddhismus aber für Jenseits und Ewigkeit.

Okarina

1

Die Frau an der Supermarktkassa lächelte. Die Mundwinkel hochgezogen, mit leicht hervortretenden Augäpfeln, grinste sie in einem fort, bei jeder kleinsten Handbewegung, jedem Zirpen des Strichcodelesers – reader hieß das kurz und bündig auf englisch –, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, als sie den Kopf zur Seite wandte, nicht abwandte, sondern zur Seite, irgendwie … bedeutungslos. Wo es nichts abzulesen gibt. Gesichtsausdruckslos. Yuuki, die sich das erste Mal in ihrem Leben als „Single“ fühlte, versuchte, ihrem Blick zu folgen, und blieb bei den Verkaufsständern hängen. Ihr eigener, anderer, selbiger Blick strich über die Blickfänger, konnte aber nichts ausmachen als die üblichen Kleinigkeiten, Süßigkeiten, Batterien, Kaugummis, von denen der Kunde etwas erwerben sollte, bevor er die unsichtbare Grenze überschritt und zum Ausgang strebte, ins Freie trat. Auch vor ihrer Heirat – mit einem Fremden, hatte ihre Mutter fragend betont, betonend gefragt –, auch vor ihrer Heirat wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, sich der Gruppe der Singles, der Einzelnen, zuzurechnen, deren Zahl den Statistiken zufolge immer noch anstieg. Für das Marketing, dem ihre Firma letztendlich diente, waren diese Zahlen von erheblicher Bedeutung.

War die Kopfbewegung der Kassiererin als Aufforderung zu deuten gewesen? Yuuki versuchte vergeblich, ihren Blick dingfest zu machen. Mundwinkel hochgezogen, als hätten sie Angst vor dem Fall; Augäpfel leicht hervortretend. Die Frau war durchaus nicht stumm, im Gegenteil; kurz bevor die Pause, die Unterbrechung des gewohnten Ablaufs, eingetreten war, hatte sie die Preise der Waren und, eine Spur lauter, die Preisnachlässe geflüstert. Da die Kundin nicht reagierte, hob sie den rechten Arm, so daß der ausgestreckte Zeigefinger auf einen Korb am letzten Verkaufsständer zeigte. Dieser Korb war nicht leer, wie es den Anschein gehabt hatte, vielmehr lagen darin einige wenige kleinformatige Kartons. Rote und grüne, säuberlich getrennt; von der Form und Größe jener Karten, die der Schiedsrichter bei Fußballspielen manchmal in die Luft hielt.

Yuuki wandte den Kopf fragend zurück in die Richtung der Kassiererin, und diese nickte, das Grinsen verwandelte sich in eine freundliche Aufmunterung, und jetzt begriff die Kundin, die vereinzelte, mit einem Mal (ihr „ging ein Licht auf“), daß die grüne Karte den Wunsch des Einkäufers nach einer Plastiktüte signalisierte, die rote Karte aber den Verzicht darauf. Oder war es umgekehrt? Sie hätte fragen können, doch sie entschloß sich, es aufs Geratewohl zu versuchen, und griff zu einer grünen Karte. Die Kassiererin betonte ihr Lächeln um einen unmerklichen Grad, tippte mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf ein Tastfeld und nahm die Kreditkarte entgegen, die die Einzelgängerin über die altmodische, etwas eingedunkelte Geldschale hielt. Gab es Leute, die noch mit Bargeld bezahlten? Buckelige Großmütterchen vielleicht…

Die Kassiererin legte keine Plastiktüte als Schlußakt des Einkaufsrituals auf die jetzt wohlgeordneten Waren im Einkaufskorb (in Europa schoben die Kassiererinnen das Gekaufte einfach auf eine Schräge, ohne jede Sorgfalt, nicht selten brutal, als wollten sie die Dinge endlich los sein). Die Einzelgängerin überlegte einen Moment lang, die Kassiererin doch noch um eine Tüte zu bitten, setzte zu einer Kehrtwendung an, um eine rote Karte aus dem Körbchen zu nehmen, ließ es dann aber sein, weil es lächerlich gewesen wäre, einen so geringen Betrag – er war auf einem Schildchen am Verkaufsständer vermerkt – mithilfe der Kreditkarte von ihrem Konto abzubuchen. Es fiel ihr ein, daß sie Müllsäcke gekauft hatte, riesige Tüten in vier verschiedenen Farben, wie es Vorschrift war, und daß sie einen davon zum Warentransport verwenden konnte. Das Gekaufte, auch Waschpulver, Spül- und Putzmittel, Reissäckchen, alles fand darin ohne weiteres Platz; wie sollte sie als Single und mäßige Esserin nur so viel Müll produzieren, daß einer dieser Säcke auch nur annähernd gefüllt wäre? Im Zeitraum von einer oder zwei Wochen… Die Essensreste würden zu faulen, zu stinken beginnen. Diese Säcke, orangefarben, wasserblau, violett und milchgrau, mit aufgedruckten Schriftzeichen, waren für eine durchschnittliche Familie berechnet, mit zwei oder drei Kindern; Familien, von denen es immer weniger gab. Lag der Durchschnitt, Kinder pro Frau, nicht längst unter eins? Berufsbedingt kannte sie die Statistiken. Schon öfters hatte sie sich darüber gewundert, daß die Geburtenrate im Süden unter der im Norden lag. Wenige Jahre zuvor war es noch umgekehrt gewesen. Die Gründe, oder was man so nannte… Sie hatte keine Neugier verspürt, nach Korrelationen mit anderen Daten zu suchen.

Vier Farben… Für Plastik, Glas-Dosen-Tetrapack, Restmüll und einen vierten Verwendungszweck, den sie bei rascher Lektüre der japanischen Aufschrift nicht recht verstand. Sie griff zu den violetten Säcken, weil ihr diese Farbe in diesem Moment am schönsten vorkam. Die Waren füllten etwa die Hälfte des Volumens, obwohl dies der erste Einkauf für die neue Wohnung und allerlei zu besorgen gewesen war. Sie wand einen doppelten Knoten in die Plastikzipfel und machte sich auf den Rückweg. Im Korb des Elektrofahrrads, das sie eine Woche zuvor im Internet bestellt hatte, würden die Dinge scheppern, aber der Weg war nicht weit; zehn Minuten schätzungsweise. Ziemlich steil, aber das Fahrrad, ein nagelneues Modell, schaffte den Anstieg, ohne daß sie viel Kraft aufwenden mußte, mit einem leisen, angenehmen, katzenartigen Surren oder Schnurren, das sein Timbre beim Gangwechsel kaum änderte.

2

Like/dislike, dachte sie, ein binäres System. Daumen rauf, Daumen runter. Wie unsere Rechner, unsere Programme, alles ist darauf aufgebaut. Rot/grün, Feuer/Wasser, Kreis/Kreuz. Er liebt mich, er liebt mich nicht… Womöglich funktioniert das seit Menschengedenken so, die Computer sind nur etwas schneller als die menschlichen Gehirne, da gibt es kein Zögern, kein Nachdenken.