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Maria Theresia Schönherr

Psychodrama-Theater

Das zwischenmenschliche Spiel auf der Bühne

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Maria Theresia Schönherr, MSc, DSA, Psychotherapeutin, Diplomierte Sozialarbeiterin, Diplomierte Supervisorin, Lehrbeauftragte an der Donau-Universität Krems, lehrende Psychodramatikerin, Gründungsmitglied der Fachsektion Psychodrama im ÖAGG, Entwicklerin des Formats „Psychodrama-Theater“.
Siehe auch: www.psychodrama-theater.at.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

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Alle Angaben in diesem Buch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung des Herausgebers, der Beitragsautorinnen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2020

Copyright © 2020 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlagbild: © Izabela Habur/istockphoto.com

Satz: Wandl Multimedia-Agentur

Druck und Bindung: finidr, Tschechien

Printed in the EU

ISBN 978-3-7089-1928-7

eISBN 978-3-99030-950-6

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

1 Psychodrama-Theater – spielerisch aktive Lebensgestaltung erlangen

2 Regiekompetenz – Erlebnisgewinn durch Szenen und Rollengestaltung

2.1 Grundannahmen für die szenische Lebensgestaltung

2.2 Die Begegnungsgestaltung – das zwischenmenschliche Spiel als Inszenierungszusammenhang

2.3 Die Verbindung des zwischenmenschlichen Spiels mit der inneren Szenengestalt

2.4 Die Begegnungsdynamik als Interaktions- und Integrationshandeln mit dem Umfeld

2.5 Die Deutung des impliziten Spielwissens

2.6 Die Rollengestaltung als situatives Netzwerk von Person, Rolle und einem Gegenüber

2.7 Das szenische Handlungsverstehen als Beziehungsentwurf des zwischenmenschlichen Spiels

2.8 Der Mensch als handelndes Wesen – dramaturgische soziale Motivlage

2.9 Die Erweiterung unseres impliziten und expliziten Spielwissens

2.10 Die fünf Instrumente des Formats „Psychodrama-Theater“

2.11 Das Instrument der interaktiven Regiebegleitung, gezeigt anhand eines szenischen Märchenspiels unter der besonderen Berücksichtigung der dramaturgischen sozialen Motivlage

2.11.1 Die Vorbereitung des szenischen Spiels

2.11.2 Das szenische Spiel

2.11.3 Die Integration des szenischen Spiels

2.11.4 Die Wirksamkeit des Spiels auf persönlicher und Gruppenebene

2.12 Zusammenfassung

2.13 Exkurs: Eine autobiografische Resonanz

3 Regiekompetenz – Erfahrungsgewinn durch Probehandeln

3.1 Das Instrument der Spielgestaltanalyse, gezeigt anhand der Traumarbeit im Psychodrama-Theater

3.2 Zusammenfassung

3.3 Exkurs: Eine autobiografische Resonanz

4 Regiekompetenz – Erkenntnisgewinn durch Aneignung des Spielwissens

4.1 Die Vorbereitung des Stücks durch Perspektivenwechsel und Rahmenbruch

4.2 Die Rollengestaltanalyse der Figuren eines Dramas als Auftakt für ein vertieftes Spielwissen

4.3 Das Instrument der Rollengestaltanalyse, gezeigt anhand der Figuren des Stücks „Die Glasmenagerie“

4.3.1 Laura, als Protagonistin

4.3.2 Tom, als Protagonist

4.3.3 Amanda, als Protagonistin

4.4 Zusammenfassung

4.5 Exkurs: Der Besuch im Theater und eine autobiografische Resonanz

5 Regieführung in der Gruppe: Regiekompetenz und Gemeinschaftsbildung

5.1 Der Beziehungsentwurf „Gruppe“

5.2 Die Gruppenkohäsion und die Spielräume

5.3 Spezielle Methoden und Techniken des Psychodrama-Theaters

5.4 Die Handlungstechniken der Theatermacherin/des Theatermachers

5.5 Die Handlungstechniken der Spieler und Spielerinnen

5.6 Zusammenfassung

6 Das Instrument der soziometrischen Orchestrierung, gezeigt anhand eines Workshops zum Stück „Die Glasmenagerie“

6.1 Teil I der Psychodrama-Theaterinszenierung: Die Aneignung der Gemeinschaftserfahrung

6.2 Teil II der Psychodrama-Theaterinszenierung: Die Aneignung der medialen Figuren des Dramas

6.2.1 Die Gruppe „Körper“

6.2.2 Die Gruppe „Gesundheit“

6.2.3 Die Gruppe „soziales Handeln“

6.2.4 Die Gruppe „Kulturtechniken“

6.3 Teil III der Psychodrama-Theaterinszenierung: Die Aneignung der biografischen Verbundenheit mit den gespielten Figuren, das dramatisierte Sharing

6.3.1 Die „Vater-Gruppe“

6.3.2 Die „Mutter-Gruppe“

6.3.3 Die „Tom-Gruppe“

6.3.4 Die „Laura-Gruppe“

6.3.5 Die „Jim-Gruppe“

6.4 Publikumsabschlussrunde und Abschlussrunde

6.5 Zusammenfassung

7 Inszenierungsbeispiele – die Methoden und Instrumente des Psychodrama-Theaters in Verbindung mit Lebensthemen

7.1 Die erste Inszenierung: Das Herrschaftsverhältnis und die Liebe („König Lear“ und „Gedichte von der Liebe“)

7.1.1 Die Vorbereitung

7.1.2 Das szenische Handlungsverstehen oder die Inszenierung der Wahrheit – der Beziehungsentwurf

7.1.3 Erkundungen und „Selbstbeforschung“ der Teilnehmerinnen

7.1.4 Das Beziehungsgeflecht von „Bindung – Beziehung – Beziehungsentwürfen“

7.1.5 Der Liebe eine Hilfe sein/Frieden in der und durch die Gemeinschaft finden

7.1.6 Das erste Spiel: Sich bewegen und geborgen sein

7.1.7 Das zweite Spiel: Sehen, was bisher verborgen war

7.1.8 Das dritte Spiel: Fühlen, was scheinbar taub ist

7.1.9 Das vierte Spiel: Erkennen, was nottut

7.1.10 Die gemeinsame Schlussszene

7.2 Die zweite Inszenierung: Die Verwerfung und die Akzeptanz („Glaube Liebe Hoffnung“)

7.2.1 Die Vorbereitung

7.2.2 Die Publikumsrolle als gruppendynamisches Steuerungsmodul

7.2.3 Spielbeginn der Szenen: Die kriminelle Handlung – die Verwerfung des Möglichen

7.2.4 Die Unterstützung des Gruppenprozesses – eine neue Publikumsrolle wird gesucht

7.2.5 Das Stück wird weitergespielt – die Aneignung der medialen Figuren vertieft

7.2.6 Das zentrale Thema: Beziehungsabbruch oder Beziehungsgewinn durch Akzeptanz

7.2.7 Die neuen Spielregeln – Elisabeths Transformation – „Das wahre zweite Mal“

7.3 Die dritte Inszenierung: Die Einsamkeit und die Verantwortung („Nora oder Ein Puppenheim“)

7.3.1 Die Vorbereitung 1

7.3.2 Der Spielbeginn: Die Sehnsucht nach Bindung

7.3.3 Das zweite Spiel: Die Sehnsucht nach Beziehung

7.3.4 Das dritte Spiel: Trennende Beziehungsentwürfe

7.3.5 Reflexionen zur Erweiterung der Erlebnisfähigkeit

7.3.6 Die Inszenierung des Stücks „Nora“: Die Vorbereitung 2

7.3.7 Die Verkümmerung eines Begegnungswunsches

7.3.8 Die innere Sprachlosigkeit

7.3.9 Die Bereicherung der Begegnung durch Auflösung der beengenden Dyade

7.3.10 Die Verteidigung des Geheimnisses

7.3.11 Die neuerliche Unterwerfung

7.3.12 Die Auflösung der Komplizenschaft

7.3.13 Die Paarbeziehung und ihre Beziehungsentwürfe

7.4 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Glossar

Stichwortverzeichnis

Danksagung

Ich möchte mich mit diesem Buch vor allem bei den zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bedanken, die mit Freude an den vielen Gruppenveranstaltungen teilgenommen haben. Durch die gemeinsame Arbeit in diesen psychodramatischen Gruppen kam es zu der Entwicklung und Gestaltung des Formats „Psychodrama-Theater“.

Hier liegt ein Buch vor, welches durch die Gemeinschaft in diesen Gruppen entstanden ist.

Begleitet hat mich bei der Manuskripterstellung durch ausführliches und aufmerksames protokollieren der Workshops Bettina Wegleiter.

Strukturgebend ist mir meine Freundin Eva Dornauer und ihre Tochter Verena zur Seite gestanden. Die wohlwollende Begleitung durch den Verlag von Frau Sigrid Mannsberger-Nindl, Frau Victoria Tatzreiter und der Lektorin Verena Hauser sei hier noch besonders erwähnt.

In meinem Herzen hatte sich in den vielen Jahren eine große szenische Spielerfahrung und ein reichhaltiges Spielwissen beheimatet.

Nicht zuletzt verdanke ich dieses auch meinem Sohn Jakob und Enkelsohn Paul.

Ihnen allen ist dieses Buch gewidmet.

Wien, Jänner 2020

Maria Theresia Schönherr

1Psychodrama-Theater – spielerisch aktive Lebensgestaltung erlangen

Das Psychodrama-Theater ist ein szenisch-dramaturgisches Format, welches sich die unterschiedlichsten Interaktionsmöglichkeiten des szenischen Spiels zunutze macht, um spielerisch für Seele und Geist eine Quelle an Lebendigkeit zu erschließen.

Die Idee des Psychodramas stammt von Jakob Levi Moreno, dem Begründer der Therapiemethode „Psychodrama“, der Kinder im Wiener Augarten beim Spielen beobachtete und mit ihnen Inszenierungen von Märchen ausprobierte. Die Spielfreude der Kinder, ihre Reaktionen und Verhaltensweisen im Spiel veranlassten ihn schließlich, Stegreifspiele mit Kindern und später mit arbeitslosen Erwachsenen zu veranstalten. In dieser Phase seines Schaffens setzte er sich intensiv mit der Wirkung des Spiels auf den Menschen auseinander. Auf diesem experimentellen Weg legte Jakob Levi Moreno den Grundstein für das Psychodrama-Theater sowie für die Psychodrama-Psychotherapie zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte.

Das Psychodrama-Theater ist ein neues Format für die Arbeit in der Gruppe mit der Gruppe. Psychodrama-Theater verfolgt das Ziel, Inszenierungszusammenhänge und das darin verborgene Spielwissen zu erkunden und es einem szenischen Handlungsverstehen zuzuführen, welches sich in Beziehungsentwürfen zeigt.

Im Wechselspiel der Erzählungen der Alltagserfahrungen und in der Aneignung von Kunst und Kultur entstehen Imaginationen sowie neue persönliche und gesellschaftliche Aspekte. In diesem Vorgehen entfaltet sich die dialogische Narration der eigenen Lebensgeschichte. Wir erfühlen uns und unsere Welt und erkunden das Geschehen mit dem szenischen Spiel.

Durch die Darstellung im Psychodrama-Theater werden Entwicklungsthemen aufgezeigt, Sichtweisen verändert und Lebensthemen im Kontext der Spielgestaltung neu betrachtet. Wir können uns im Psychodrama-Theater aktiv die Figuren der Geschichten ,ausborgen‘ und sie uns erspielen. Durch den Blick der Figuren gewinnen wir einen intensiveren Zugang zu unserem Inneren. Dieses Vorgehen entspricht der Sehnsucht des Menschen, sich selbst und das Leben in den Geschichten gespiegelt zu sehen.

Dieses Buch soll einen Einblick in das Format „Psychodrama-Theater“ vermitteln und als Praxisbuch für Anwenderinnen und Anwender eine Anregung sein. Darüber hinaus soll die Alltagserfahrung eines jeden von uns von der szenischen Sichtweise auf das Leben profitieren. Ich habe viele von der Methode begeisterte Menschen kennengelernt und will diesen und vielen anderen den Weg erschließen, bis an ihr Lebensende an der Gestaltung ihres Lebensspiels Freude zu empfinden.

2Regiekompetenz – Erlebnisgewinn durch Szenen und Rollengestaltung

Regiekompetenz wird im Format „Psychodrama-Theater“ als dialogisches Prinzip verstanden. Es gilt, den Dialog mit sich selbst, den Dialog mit der Welt, innerhalb einer Gemeinschaft, eines Teams, einer Familie zu erfassen. Dieser Dialog enthält Spielwissen. Das Spielwissen ist sowohl implizit als auch explizit in unserem zwischenmenschlichen Austausch vorhanden. Die Regiekompetenz hebt dieses Spielwissen hervor und gibt dem weiteren Handlungsverlauf Rückhalt und Sinn.

2.1 Grundannahmen für die szenische Lebensgestaltung

„Sein ist nicht das, was ich mit mir selber bin, sondern vor allem das, was sich zwischen mir und den Mitmenschen ereignet.“

Martin Buber

Wir alle sind hineingeboren in eine Gemeinschaft, in der sich unsere Lebensgestaltung durch ein Handlungsverstehen äußert. Dieses Handlungsverstehen löst Konzepte und Lebensentwürfe aus, die sich in Szenen organisieren. In den autobiografischen Fragmenten von Martin Buber können wir lesen, dass er bereits mit vier Jahren den Entwurf für seine spätere Begegnungserkundung entdeckt hat.

Was war geschehen? Buber kam mit vier Jahren zu seinen väterlichen Großeltern nach Lwow (Lemberg), in die damalige Hauptstadt des österreichischen Kronlands Galizien – die heutige Ukraine. Dort beaufsichtigte ihn ein Kindermädchen. In diesem Sommer bereits wusste er durch die Umstände, die er fühlte, auch wenn es ihm niemand sagte, dass die Mutter, die sich in Wien vom Vater hatte scheiden lassen, nicht kommen werde. Mit vier Jahren wurde ihm das durch ein Mädchen bewusst, das ihn beaufsichtigte und mit ihm am Altan des großelterlichen Hauses spielte, mittels eines beiläufig gesprochenen Satzes, dass seine Mutter tatsächlich nicht wiederkehren werde. Etwas später formte sich für ihn das Wort „Vergegnung“, das „Verfehlen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen“ (Buber 1986, S. 11).

„Als ich nach weiteren zwanzig Jahren meine Mutter wiedersah, die aus der Ferne mich, meine Frau und meine Kinder besuchen gekommen war, konnte ich in ihre noch immer zum Erstaunen schönen Augen nicht blicken, ohne irgendwoher das Wort ,Vergegnung‘, als ein zu mir gesprochenes Wort, zu vernehmen. Ich vermute, daß alles, was ich im Lauf meines Lebens von der echten Begegnung erfuhr, in jener Stunde auf dem Altan [= ein Balkon] seinen ersten Ursprung hat.“

(Buber 1986, S. 11)

Martin Buber konnte mittels seiner inneren Zwiesprache herausfinden, wonach er im Leben suchte, welchen Weg er nehmen musste, um von dem Tatereignis – die Mutter fehlt – zum Tatentwurf – die Mutter wird nicht zu dem Vierjährigen kommen – und zum Tatgeschehen, der „Vergegnung“, zu gelangen. Die Erlebnisfigur „Vergegnung“, das Im-Stich-gelassen-Werden, zu wandeln, war sein Bestreben. Letzten Endes wurde seine Suche zum Spirit des Psychodramas. Der Schlüsselbegriff „Begegnung“ ist im Psychodrama untrennbar mit Martin Buber verknüpft.

Aber nicht immer sind die Lebensentwürfe und Handlungskonzepte des Menschen zu seinem Wohle geformt. Oft fehlt es an genügend Spiel- und Veränderungserfahrung, um zu merken, was von dem Erlebten, Erfahrenen und Erkannten auf das eigene Lebenskonzept einwirkt und nützlich ist. Auch ein Zurückgreifen auf geglückte Ereignisse ist nicht immer möglich. Im Format „Psychodrama-Theater“ erkunden wir die innere Bilderwelt und bringen die entdeckten Erlebnisfiguren auf die Bühne.

2.2 Die Begegnungsgestaltung – das zwischenmenschliche Spiel als Inszenierungszusammenhang

Jede Form der Begegnung organisiert sich mittels Interaktion. Die Interaktion ist eingebettet in einen Inszenierungszusammenhang. Der Inszenierungszusammenhang ist immer auch ein Spielzusammenhang, aus dem das zwischenmenschliche Spiel hervorgeht.

Die Größenordnung des Spiels, des Inszenierungszusammenhangs, im Psychodrama-Theater ergibt sich aus der Definition, ob es sich um eine Geschichte, eine Situation, eine Szene oder eine Rolle handelt. Ein Inszenierungszusammenhang ist definiert durch Raum und Zeit und den vereinbarten Blick der Beteiligten auf das Geschehen.

„Im Spiel wird der Einzelne Teil eines umfangreichen Netzes von Beziehungen. Sein spielerisches Handeln verbindet ihn mit anderen Spielern, mit Zuschauern, mit früheren und zukünftigen Spielern. Es ist auf die materiellen Bedingungen des Spiels bezogen, auf konkrete Räume und Zeitverläufe. In Bezug auf diese erfolgt sein praktisches Handeln, die Inszenierung und Aufführung des Spiels. Neben der Erfahrungsgewissheit entstehen im Spiel auch die Ordnung und Strukturierung der Erfahrung selbst, insbesondere räumliche, zeitliche und soziale Gliederungen.“

(Wulf 2014, S. 145)

2.3 Die Verbindung des zwischenmenschlichen Spiels mit der inneren Szenengestalt

Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Durch die Gemeinschaft und mit der Gemeinschaft entdecken wir uns. In unserem menschlichen Dasein organisieren wir unsere Entfaltungsmöglichkeiten von Anfang an in und durch Szenen, die sich aus den aktuellen Lebenssituationen herausschälen. Diese Vielfalt wird im Laufe des Lebens erweitert.

Eine jede äußere Szenengestaltung korrespondiert mit der inneren Szenengestalt. Das Interaktionssystem der inneren Szenengestalt, eine Grundlage des Formats „Psychodrama-Theater“, ist zusammengesetzt aus vier Interaktionsfeldern (siehe Abbildung 1). Diese Szenengestalt verwahrt das Erlebte, Erfahrene und Erkannte als Szenenbild im Wesenskern des Menschen. Die Bilder dieses Wesenskerns sind wieder in einer Szenengestaltung abrufbar. Jedoch nicht alle im Wesenskern gespeicherten Szenenbilder gelangen in unser Bewusstsein, daher bleibt für uns eine lebenslange Maxime aufrecht: „Eine Szene ist nur durch eine weitere Szene zu verstehen.“

Denken wir zurück an die ersten Tage unseres Lebens. Unser Bewusstsein wird kaum noch wissen, was wir empfunden haben, als wir unsere Eltern das erste Mal sahen. EntwicklungsforscherInnen (Slater et al. 2007) haben herausgefunden, dass der Säugling zunächst die Gesichter seiner Eltern nur schemenhaft erkennt. Der erste visuelle Eindruck ist das Wahrnehmen der Augenbrauen der Eltern. Was aber noch viel vordergründiger ist, sind Geruch und Stimme. Die szenischen Erlebnisse werden durch immer neu hinzukommende Szenen mehr und mehr für unsere menschliche Existenz ausformuliert und begreifbar gemacht. Es liegt auf der Hand, dass sich dadurch nicht nur unser Wahrnehmungsfeld, sondern auch unser Gefühlsfeld verändert.

Für die Dramaturgie unseres Lebens sind wir gut ausgestattet. Wir verfügen über vier Interaktionsfelder, die miteinander in Wechselwirkung stehen, sich gegenseitig bedingen und uns auch bei der Entwicklung unterstützen (siehe Abbildung 1). So sind wir neben dem ersten Interaktionsfeld der Wahrnehmung und dem zweiten Interaktionsfeld der Gefühle auch mit einem dritten Interaktionsfeld konfrontiert – mit dem Feld der dramaturgischen sozialen Motivlage. Dieses Interaktionsfeld entwickelt sich gleichzeitig mit den beiden anderen Interaktionsfeldern. In diesem Interaktionsfeld spiegelt sich die Übernahme zwischenmenschlicher Motive. Diese werden mimetisch (= durch Nachahmung) vermittelt, also ebenso durch eine Interaktion mit der Umwelt. Das vierte Interaktionsfeld, die Handlung, drückt durch das tatsächliche Handeln das Gestaltbare eines Inszenierungszusammenhangs aus, welches durch die drei bereits genannten Interaktionsfelder mitbestimmt wird.

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Abb. 1: Die vier Interaktionsfelder für das zwischenmenschliche Spiel – die innere Szenengestalt; die Grundlage für das szenische Handlungsverstehen

Die innere Szenengestalt als verinnerlichte Inszenierungseinheit ist einem größeren Inszenierungszusammenhang unterstellt, dem Handlungsverlauf (dramaturgischen Verlauf) unserer Lebenssituation. In jedem Inszenierungszusammenhang wird das zwischenmenschliche Spiel durch verinnerlichte, miteinander in Interaktion stehende Interaktionsfelder bewegt. Ausgedrückt wird das innere Interaktionssystem durch szenisches Handeln. Das Geschehen wird durch das implizite und explizite Spielwissen gesteuert. Das erlebte und erfahrene Spielwissen wird mittels Beziehungsentwürfen in das zwischenmenschliche Spiel eingebracht.

2.4 Die Begegnungsdynamik als Interaktions- und Integrationshandeln mit dem Umfeld

Die Wahrnehmung gibt den Gefühlen Anlass, sich zu artikulieren. Die Artikulation der Gefühle ist ganzheitlich bemerkbar, sowohl physisch als auch psychisch. Gefühle sind an Bilder und Szenen gebunden, die sich in unserem Wesenskern ein Zuhause suchen und vielfach auch dort bereits ein Zuhause haben. Von dort aus gehen wir zum nächsten Erleben, um uns durch Handlung die Welt anzueignen. Die Aneignung unseres Umfeldes bedingt, dass eine dramaturgische soziale Motivlage entsteht. Zu jeder Tat gehört ein Motiv, welches das Tatgeschehen regiegebend beeinflusst. Die dramaturgische soziale Motivlage erkunden wir zunächst aus der mimetischen Bezugnahme auf das Handeln der Anderen. Die Bezugnahme wird zum ersten Regieplan der Begegnung. Ein Regieplan ist immer eine Vorwegnahme, was geschehen kann und was geschehen soll.

„Dass sich dabei kollektive und höchst individuelle Schemata und Bilder überlagern, ist offensichtlich. Ihr Zusammenwirken bewirkt das Imaginäre der Menschen und vernetzt sie miteinander.“ (Wulf 2014, S. 125f.)

Ergreifen wir die Gelegenheit, das erspürte unsichtbare Imaginäre der Erlebnisfigur mit anderen Mitwirkenden in einen szenischen Kontext zu setzen, so entsteht für uns die Möglichkeit, das unsichtbare Imaginäre für uns selbst sichtbar werden zu lassen. Der Prozess der Begegnungsgestaltung, welcher durch Aneignung und Wiedergabe der zwischenmenschlichen Interaktion hervorgerufen wird, erzeugt im Menschen den Wunsch, die Ereignisse des Lebens zu begreifen, sie bewusst zu erleben, zu erfahren und sie letzten Endes einem Erkenntnisgewinn zuzuführen. Der Vorgang der Interaktion und Integration bildet sich in der inneren Szenengestalt ab und findet seinen Ausdruck in der Begegnung mit sich, dem Anderen und der Welt. Eine szenische Deutungshoheit gibt uns die Möglichkeit, uns selbst zu erkennen.

Die Dramaturgie der Begegnungsdynamik, welche dem Erkennen vorausgeht, ist an unterschiedliche Aspekte gebunden: zum einen wie eine Person mit anderen kommuniziert, interagiert, und zum anderen, wie die Integration des Handelns aller an einer Situation oder Szene Beteiligten aussieht. Durch eine fortgesetzte oder intensivierte Interaktion mehrerer Beteiligter ergibt sich ein Muster. Verantwortlich für dieses Muster ist eine Art von Magnetismus. Die Personen ziehen sich an oder stoßen einander wiederholt ab. Dadurch entstehen Regeln – Spielregeln des zwischenmenschlichen Spiels. Dieses Muster zu definieren führt schließlich zur Deutung des impliziten Spielwissens.

Die Deutung des impliziten Spielwissens orientiert sich am Ausdruck der szenischen Handlung, dass heißt, auf welche Art und Weise die Szene von allen Beteiligten gelebt und erlebt wird. Dieses Erleben wird in unserem Wesenskern, in der inneren Szenengestalt als kollektive Erfahrung gespeichert.

Bevor wir noch in die eigentliche Handlung einsteigen, hat unsere Wahrnehmung bereits das Umfeld danach sondiert, wie weit wir in einem spezifischen Inszenierungszusammenhang dazugehören oder nicht. Erst durch die unmittelbare (nachfolgende) Interaktion, die sofort an unsere dramaturgische soziale Motivlage andockt und uns Gefühle entlockt, gestalten wir das Umfeld mit. Richtet sich die Integrationsachse nach dem Gegenüber aus, wird sich unser Handlungsfeld erweitern. Sind die dramaturgischen sozialen Motivlagen wandelbar, erweitert sich der Horizont unseres Gefühlsfeldes (siehe Abbildung 2).

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Abb. 2: Die Dramaturgie der Begegnungsdynamik

Beispiel: Eine szenische Beobachtung

Eine ganz gewöhnliche Mahlzeit am Neusiedler See

Die reale Situation: Es ist Mittagszeit und ich bin hungrig. In dieser Jahreszeit – es ist Frühsommer und sehr warm – gehe ich gerne in ein Lokal mit Blick auf den wunderschönen Neusiedler See. Dieses Bedürfnis teile ich offensichtlich mit vielen anderen Menschen, denn an jenem Samstagmittag sind alle Tische bereits besetzt. An einem größeren Tisch für acht Personen ist für mich noch ein Platz frei. An diesem Tisch sitzen nur zwei jüngere Paare. Ich nehme am anderen Ende, an der Stirnseite, des Tisches Platz.

Das eine Paar sitzt eng zusammen, die beiden sind vermutlich frisch vermählt – ich sehe, dass die Frau mehrmals still in sich hineinlächelnd an ihrem breiten Ehering dreht. Das andere Paar: Der Mann sitzt an der Stirnseite des Tisches (also mir gegenüber), die Frau ums Eck. Die alleinsitzende Frau, etwas dicklicher von Statur, hantiert mit ihrem Handy, um eine Vielzahl von Dates mit dem befreundeten Paar für die Freizeit in den Sommermonaten zu organisieren, ohne Rücksicht auf die Wetterentwicklung! Der Partner der Frau möchte zwischendurch auch auf ihr Handy blicken, um die Homepages der diversen Freizeitgestaltungsanbieter anzusehen. Keine Chance: „Jetzt nicht!“ Das andere Paar nickt die Vorschläge ab.

Ich bin bereits bei der Nachspeise, als die „Organisation der Freizeitgestaltung“ zu Ende ist und ein neues Organisationsthema beginnt: die Hochzeit des Paares „Frau Gesprächsleitung und ihr ums Eck sitzender, etwas finster dreinblickender, sehr schweigsamer Partner“. Es wird alles Erdenkliche von Frau Gesprächsleitung aufgezählt: die Hochzeitskleidung, Tischschmuck, Überlegungen zum Ort, wo die Hochzeit stattfinden könnte, etc. Ein klein wenig unterstützt von der Frischvermählten werden es immer mehr und immer ausführlichere Details. Der frisch vermählte Mann wendet sich in einer Luftholpause von Frau Gesprächsleitung an den zukünftigen Bräutigam: „Was sagst denn du zu den Plänen?“

Der Bräutigam: „Mir geht das am A… vorbei.“

In diesem Moment ist es, als würde der Wellenschlag des Neusiedler Sees verstummen und als würden die Gesprächsfetzen der anderen Gäste auf der schönen Terrasse in dem inneren Aufschrei von Frau Gesprächsleitung in ein schwarzes Loch fallen.

Nach einigen Schrecksekunden sagt die zukünftige Braut zu ihrem Bräutigam: „Aber ich habe dir doch alles gezeigt, was ich ausgesucht habe, und du warst doch damit einverstanden?! … Das, was du eben gesagt hast, ist nicht nett.“ Die Frischvermählte will das Ruder herumreißen und meint, sie und ihr Ehemann würden sich zur geplanten Hochzeit auch Scherze einfallen lassen, die sie jetzt noch nicht verraten würden … vielleicht die Entführung der Braut …

Ich zahle und höre im Weggehen, dass es noch keinen Hochzeitstermin gibt. Damit ist meine Rolle des Publikums zu Ende.

Interaktionsachse und Integrationsachse als Matrix für die szenische Beobachtung der Spielgestalt:

Die Interaktionsachse der Frau Gesprächsleitung könnte sein: Ihr Handeln ist beeinflusst von dem Wunsch, besser, schöner, schneller, perfekt zu sein.

Die Integrationsachse der Frau Gesprächsleitung könnte sein: „Ich mein’s ja nur gut, und ich tue es doch für euch! Wer liebt, hat doch recht?! Oder?!“ (Es ist ein seit der Antike sich wiederholendes Schema, an dessen Anfang der Liebesvertrag, an dessen Ende der Liebesverrat steht.)

Die Interaktionsachse aller anderen an der Szene Beteiligten könnte umfassen: „Ja, mach nur – bitte noch mehr, wir lassen uns sowieso gerne berieseln. Wer weiß, was noch kommt und wo wir schlussendlich tatsächlich mitmachen!“ Der Bräutigam ist mit seinem aufgestauten Groll nicht bereit, die Braut zu unterbrechen und seine Meinung kundzutun. Er äußert sich erst, als sein Freund das „Berieseln“ mit einer Frage markiert. → Die Integrationsachse aller an der Szene Beteiligten führt daher schließlich zur gemeinsamen Spielregel der Spielgestalt: „Es ist alles nur scheinbar fix!“

2.5 Die Deutung des impliziten Spielwissens

Lebensthemen entziehen sich oft unserem Bemühen, sie zu enträtseln. Wir fahnden nach Zeichen, die uns den Entwurf offenbaren, nach Spuren eines Geschehens. Was wir mit Sicherheit wissen, ist die Doppeldeutigkeit unseres Handelns. Wir zeigen her, was wir zu sein glauben oder was sein soll, und erfahren doch, dass uns die Unvernunft einen Streich spielt. Die Unvernunft, die den Zwang zur Eindeutigkeit nicht überwinden kann.

Kassandra, die Seherin, die in der Parabel von Christa Wolf die Protagonistin ist, sie sieht den Sinn der Unvernunft. Die Geschichte ist aus der Antike vielen Menschen einigermaßen bekannt. Troja ist gefallen, der zehnjährige Krieg der Troer mit den Griechen ist beendet. Die Troer glauben, durch das riesige zurückgelassene Holzpferd für ihre Kriegsmühen entschädigt zu werden, und stürmen das Objekt.

Kassandra, die dieses Treiben beobachtet, ist entsetzt über die Hast, mit der die Troer das Pferd einnehmen wollen. Sie erkennt: „Wenn Sieger sich so hastig dem ‚Geschenk‘ annähern, können sie keine Sieger sein!“

Diese Widersprüchlichkeit aufzuzeigen, ist die Aufgabe der Deutung des impliziten Spielwissens einer Szene. Ihr Ziel ist, den Sinn im ,Unsinn‘ zu finden.

Die Deutung des impliziten Spielwissens in unserem „Mittagessen“-Beispiel basiert auf der Wahrnehmung der Situation: „Wir sind zwei Paare, die sich viele ,Pärchentreffs‘ ausmachen. Wenn wir keine zwei Paare mehr sind, werden die vielen, vielen Treffen, die wir uns soeben angedacht haben, für unsere Vierergruppe hinfällig.“ – Dies führt zur Überlegung, welche Gruppierung überbleibt, wenn es Frau Gesprächsleitung und Herrn Finster als Paar nicht mehr gibt. Ist es vielleicht der verborgene Wunsch der beiden Männer, etwas gemeinsam, ohne die Frauen zu unternehmen?

Wie bei der inneren Szenengestalt erläutert, verfügt auch die Inszenierungseinheit „Rollenhandeln“ über die vier Interaktionsfelder des szenischen Handlungsverstehens.

Wie sieht das in unserem Beispiel bei Frau Gesprächsleitung aus? Das Rollenhandeln von Frau Gesprächsleitung in der Mittagsszene als Organisatorin der Freizeit und als Braut ist stark mit ihrer inneren dramaturgischen sozialen Motivlage verknüpft. Dieser Fokus ist besonders für die Rollengestaltanalyse in den Vordergrund zu rücken. Vergleicht man beide Analysen, die Spielgestaltanalyse und die Rollengestaltanalyse, so finden sich starke atmosphärische Überschneidungen, die den Beweis liefern, dass es kein Rollenhandeln ohne den szenischen Kontext gibt.

Die Rollengestaltanalyse

Die atmosphärische Wahrnehmung der Rollengestaltung von Frau Gesprächsleitung bei dem besagten Mittagessen könnte wie folgt lauten: „Ich muss mich jetzt größer und wichtiger machen, als ich bin. – Ich betreue alle, ihr sagt sowieso nicht viel!“

Ein mögliches Gefühl: „Ich fühle mich unsicher. Ob alles so wird, wie ich es mir vorstelle? Schließlich kam der Heiratsantrag in einer Urlaubssituation in der Südsee, und jetzt bin ich mit den Hochzeitsvorbereitungen alleingelassen.“

Das Handeln könnte die Idee der Selbstwirksamkeit beinhalten: „Schaut her, auf mich ist Verlass, ich bin (hoffentlich) wichtig!“

Die dramaturgische soziale Motivlage in Verbindung mit dem Gefühl (Interaktionsachse) schafft eine mögliche Sichtweise auf das Handlungsmuster der Rollengestaltung in dieser Szene: „Ich hab’s erreicht – ich bin jetzt auch eine Braut! Ich muss mich nicht mehr schämen, im Nachteil zu sein. Ich will den gesellschaftlichen Erwartungen an mich als Frau entsprechen können. Darum kämpfe ich so, dass ich in dieser Runde akzeptiert werde.“

Mein Kommentar zum traurigen Ende: Alles, was wir vordergründig verneinen, nicht zulassen, inszeniert sich unerbittlich im zwischenmenschlichen Spiel! Erkennen bedeutet eben gelegentlich auch erschrecken, wenn sich das implizite Spielwissen offenbart. Denn:

„Die Handlungen des Spiels nehmen Elemente und Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung auf, machen diese in der Inszenierung und Aufführung des Spiels sichtbar, verändern diese und wirken auf sie zurück.“ (Wulf 2014, S. 140)

2.6 Die Rollengestaltung als situatives Netzwerk von Person, Rolle und einem Gegenüber

Gerahmt ist diese Rollengestaltung durch die Szene und die Aufträge, die eben in dieser stattfinden. (Im angeführten Beispiel ist es die Rolle der Organisatorin und der Braut, die sich Frau Gesprächsführung gegenüber dem befreundeten Paar gibt.)

Dramaturgisch gesehen erfährt jeder Darsteller, jede Darstellerin im szenischen Spiel eine Verdopplung. Einerseits sind wir die reale, sinnlich wahrzunehmende Person – anderseits die oder der Rollenspielende in Verbindung mit einem, einer anderen Rollenspielenden. Die Rolle ist jedoch nur so lange aufrecht, solange die anderen diese szenische Spielwelt teilen. Verändert sich die Spielwelt, verlieren wir auch die Rolle. Das Erlebte bleibt in uns als Referenzerfahrung zurück.