Oswald, Georg M. Lichtenbergs Fall

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I.

Befragt, ob er der Mörder seiner Schwiegermutter sei, rückte sich Lichtenberg zurecht, als sei die Rede auf eine interessante Hypothese gekommen, zu der er sich bisher nicht geäußert habe, dies aber nunmehr um so lieber tue, und er sagte, nichts habe er sich sehnlicher gewünscht, als endlich diese Frage gestellt zu bekommen, und nichts stünde ihm ferner, als sie in der erwarteten Weise zu beantworten.

Als er verhaftet worden sei, sei er aus allem – seiner gesellschaftlichen Stellung, seinem Beruf, seiner Familie, seinem gesamten geregelten Leben – herausgefallen in die Gesetzlosigkeit und letztlich in diese Verhörzelle, die noch nicht einmal die Luft zum Atmen böte, hinein, weswegen er jetzt ohne jede falsche Rücksichtnahme reden könne.

Die Verhörzelle war ein fensterloser Raum von vier mal vier mal vier Metern, in dessen Mitte sich ein quadratischer Tisch und zwei Stühle befanden, auf denen Lichtenberg und der Vernehmende Platz nahmen. Aus Sicherheitsgründen waren Stuhl- und Tischbeine fest in den Betonboden eingelassen und standen somit unverrückbar.

Im Ernst, sagte Lichtenberg, es stünde ihm nicht im Geringsten der Sinn nach Versteckspielchen, er sei ruiniert, gesellschaftlich vernichtet und habe allein durch die Verhaftung lebenslangen Schaden genommen, weswegen er seiner Vernehmung mit großer Gelassenheit entgegensehe, wie er sich ausdrückte, weil ihm bereits alles genommen wäre, was ihm zu nehmen gewesen sei, seine Frau, seine Kinder, seine Stellung, sein Besitz und – er lachte – sogar seine Freundin.

Auf Nachfrage, wer seine Freundin sei und ob er ihren Namen bereits zu den Akten gegeben habe, antwortete er nein, nein, das sei nur ein Scherz gewesen, eine Anspielung auf seine angebliche Affäre mit Olga Orlow, der Schwester seiner Ehefrau Lisa, die ihm im Laufe des Verfahrens sicher noch vorgehalten werde, obwohl es eine solche Affäre, das wäre er bereit zu beeiden, niemals gegeben habe.

Der Vernehmende erläuterte, Ehebruch werde nicht strafrechtlich verfolgt. Lichtenberg lachte wieder und schüttelte den Kopf.

Er, der Vernehmende, müsse sich das vorstellen, sagte Lichtenberg, wenngleich er, der Vernehmende, sich das wohl gar nicht vorstellen könne, denn es sei aus dem engen Netz der bürgerlichen Wohlanständigkeit, in dem sich der Vernehmende wahrscheinlich ebenso befinde, wie er, Lichtenberg, sich bis zu seiner Verhaftung darin befunden habe, schlichtweg unvorstellbar, in welch grauenhafte Hölle der Verhaftete, gewissermaßen auf dem Dienstweg, da hineingezerrt werde.

Der Vernehmende erläuterte kurz die gesetzlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft und dass sie im Falle Lichtenbergs vorlägen.

»Meine Frau«, sagte Lichtenberg, und seine zu Beginn so feste und klare Stimme weichte ein wenig auf, »meine Frau glaubt doch nicht, was Sie erzählen – dass ich ihre Mutter getötet habe, oder?«

Der Vernehmende erläuterte, er dürfe über Zeugen und deren Aussagen zum Tatvorwurf keine Auskünfte erteilen.

Lichtenberg sagte, er sei in der letzten Zeit, in der sich die Dinge – vor allem geschäftlich – wirklich zusehends komplizierter gestaltet hätten, so sehr auf ein intaktes Familienleben bedacht gewesen wie zugegebenermaßen niemals zuvor.

Natürlich sei ein intaktes Familienleben eine reine Illusion, eine Erfindung, nichts, was es verdiene, ernstgenommen zu werden. Dennoch habe er für Lisa und die Kinder endlich diese immens teure Wohnung in Nymphenburg gekauft, was wirtschaftlich totaler Unsinn gewesen sei, aber er habe es wegen der Kinder getan, wegen der Familie. Er habe sicher zu wenig Zeit mit seinen Kindern Marc und Claudia verbracht, mit zwanzig sei er zum ersten Mal Vater geworden, mit zweiundzwanzig zum zweiten Mal, das sei sehr jung gewesen, besonders in der heutigen Zeit, und er habe sich deshalb umso mehr und intensiver mit seiner Karriere befassen müssen, daraus dürfe ihm heute kein Strick gedreht werden.

Er meine, es mute doch geradezu grotesk an, was ihm da buchstäblich für eine Räuberpistole, so drückte er sich aus, angehängt werde, wie solle er denn am frühen Abend in der äußerst belebten Residenzstraße, zwischen Hauptpostamt und Franziskaner, unerkannt und zunächst sogar unbemerkt seine Schwiegermutter erschossen haben.

Wie, bitte schön, sei es möglich, dort, auf dem breiten, dicht mit Fußgängern bevölkerten Boulevard, eine Pistole zu ziehen und einen mehrere Meter weit weg stehenden Menschen zu erschießen, ohne dabei entdeckt und erkannt zu werden? Habe der Täter etwa einen Schalldämpfer benutzt? Ihm, Lichtenberg, sei das alles nicht bekannt und nicht erklärlich, und dass er in der Residenzstraße nicht als Mörder seiner Schwiegermutter sofort auf frischer Tat ertappt worden sei, beweise allein schon ausreichend, dass er es nicht gewesen sein könne.

Der Vernehmende wies darauf hin, dass auch ein anderer Tatverdächtiger vor Ort nicht gefasst worden sei.

»Ausgezeichnet«, empörte sich Lichtenberg, »wenn ihr keinen anderen gefunden habt, dann bleibe ja nur noch ich übrig!«

Woher solle er denn, fragte Lichtenberg, überhaupt gewusst haben, dass sich seine Schwiegermutter zur Tatzeit in der Residenzstraße aufhalte?

Der Vernehmende erläuterte, um siebzehn Uhr vierzig sei im Hause Orlow in München-Solln angerufen worden und es sei mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, der Anrufer sei Lichtenberg gewesen, was sich aus Folgendem ergebe: Die Hausangestellte Suttner, welche mit Lichtenberg persönlich bekannt sei, habe den Telefonhörer abgenommen und mit dem vorgeblichen Leiter des Hauptpostamtes in der Residenzstraße gesprochen, der sie gebeten habe, Frau Orlow ans Telefon zu holen.

Frau Suttner sei dieser Aufforderung gefolgt und habe Frau Orlow von dem Anruf unterrichtet, mit dem allerdings gewichtigen Zusatz, sie meine in der Stimme des vorgeblichen Leiters des Hauptpostamtes diejenige von Frau Orlows Schwiegersohn Carl Lichtenberg erkannt zu haben. Frau Orlow, so Frau Suttner, habe diesen Hinweis jedoch mit einer abwehrenden Handbewegung in den Wind geschlagen, weil sie, Frau Orlow, sie, Frau Suttner, für neugierig und intrigant gehalten habe, aus Gründen, deren Erörterung im anhängigen Verfahren nicht gegenständlich sei.

Von dem vorgeblichen Leiter des Hauptpostamtes habe Frau Orlow, so Frau Suttner, die Nachricht bekommen, der von ihr in Auftrag gegebene Nachforschungsauftrag betreffend ein bestimmtes Telegramm sei bearbeitet und dessen anonymer Absender gefunden. Bestimmte Umstände machten es für sie erforderlich, ohne Aufschub in das Hauptpostamt in der Residenzstraße zu kommen.

Frau Orlow, so Frau Suttner, habe zunächst abgelehnt, das Haus noch zu verlassen, weil ihr die Sache höchst merkwürdig vorgekommen sei, doch der Postbeamte sei offenbar so sehr in sie gedrungen, dass ihr die Angelegenheit schließlich doch äußerst eilig erschienen sei, denn sie habe sich sofort nach Beendigung des Telefonats auf den Weg zum Hauptpostamt in der Residenzstraße gemacht.

»Dort«, erläuterte der Vernehmende, »ist, wie Sie wissen, Ihre Schwiegermutter von einem Schuss, der ihren linken Lungenflügel und beide Herzkammern durchschlug, getötet worden. Es ergibt sich die Annahme, Sie hätten Ihre Schwiegermutter durch den Anruf, bei dem Sie sich glaubhaft als Leiter des Hauptpostamtes ausgegeben haben, zum Tatort bestellt, um sie dort zu erwarten und zu erschießen.«

Lichtenberg warf sich auf die schmale, hölzerne Lehne seines Stuhls zurück, dass er krachte.

»Mein lieber Freund«, sagte er, »mein lieber Freund«, und schüttelte fassungslos den Kopf.

Er, Lichtenberg, so sagte er, sei gewiss nicht bekannt dafür, ein besonders ausgeglichener, ruhiger und gelassener Mann zu sein. Alles, was er in seinem Leben, das noch nicht lange dauere, gemessen an den Erfolgen, die er währenddessen bereits habe erringen können, erreicht habe, werde von Beobachtern wie auch von ihm selbst zutreffend seiner enormen Willenskraft zugeschrieben, die ihn, sei sie einmal erwacht, zu jedem Ziel führe, auf das er sie lenke. Er wolle nicht behaupten, er habe ein entspanntes oder gar gelöstes, in anderen Worten: ein einfaches, unkompliziertes Verhältnis zu seiner Schwiegermutter gehabt. Das Verhältnis zur Schwiegermutter, so Lichtenberg, sei nicht von ungefähr ein sprichwörtlich schlechtes, aus diesem Umstand könne ihm aber doch nicht im Ernst ein Mordmotiv gedrechselt werden, das allenfalls Westentaschenpsychologen zufriedenstellen würde.

Er garantiere es allen, die es wissen wollten, wenn er seine Schwiegermutter hätte umbringen wollen, hätte er es so angestellt, dass er nicht schon drei Stunden nach deren Tod in Untersuchungshaft genommen worden wäre.

Was hätte er auch für einen Grund gehabt, sie zu töten? Sei er ihr nicht immer in allen Punkten überlegen gewesen? Habe er sich nicht stets in allem, was er verfolgt habe, ihr gegenüber durchgesetzt? Warum also hätte er sie töten sollen?

Es sei wahr und bekannt, dass die Familie Orlow und also seine Schwiegermutter, die diese Familie ja stets allein repräsentiert habe, nachdem ihr Mann, lange schon bevor er, Lichtenberg, sie, die Familie Orlow, kennengelernt habe, gestorben sei, dass also die Familie Orlow eine der reichsten Familien Münchens und damit des gesamten Landes sei.

Somit wäre, so Lichtenberg, aus diesem Grund natürlich auch sofort das Geldmotiv auf dem Tapet, welches ihm sicher noch schlimm zu schaffen machen werde, nachdem er zuletzt in eine ganz unglückliche und ungeheuerliche finanzielle Schieflage geraten sei.

In unserer Gesellschaft, so Lichtenberg, sei nur derjenige etwas wert, der Geld habe. Er meine das nicht etwa im Sinne einer sozialkritischen Anmerkung, sondern wolle dies als schlicht zutreffende Feststellung verstanden wissen, und er sage sogar ganz ausdrücklich, dass er nicht das geringste gegen eine Gesellschaft einzuwenden habe, die den Wert ihrer Mitglieder allein nach dem Wert ihres Vermögens bemisst. So sei das nun einmal bei uns, damit müsse jeder selbst fertig werden, und die gegenteiligen Beschwichtigungen der Politiker seien nichts weiter als pure Heuchelei, über die sich aufzuregen allerdings äußerst naiv sei, die Politiker würden schließlich dafür bezahlt, dummes Zeug zu reden. Er sei es gewöhnt, als eigentliche Triebfeder jedes beliebigen menschlichen Verhaltens immer nur die Geldgier zu unterstellen, und sei damit noch nie falsch gelegen, sagte Lichtenberg.

Gleich, ob es darum gehe, eine Frau zu erobern, einen Feind zu besiegen, einen Konkurrenten auszuschalten, einen Freund zu gewinnen, eine Freude zu bereiten, es sei immer das gleiche Zauberpulver, das die Türen und die Herzen gleichermaßen öffne. Das wisse natürlich jeder, doch keiner gebe es zu, da es, besonders in den sogenannten besseren Kreisen, als schrecklich unzivilisiert gelte, dieses Wissen auszusprechen, unverzeihlich banal, aber das nur am Rande.

Nur Geld allein mache glücklich, so Lichtenberg, weswegen jeder der seine, Lichtenbergs, jüngsten Kontoauszüge studiere, gleich erkennen könne, wie unglücklich er sei. Ob es nicht geradezu zwingend logisch sei, dass der finanziell in die Enge geratene Schwiegersohn, die Gläubiger im Genick, seine steinreiche Schwiegermutter umbringe, zumal ihm sowieso nicht viel an ihr liege, fragte Lichtenberg.

Er sei sich ganz sicher, sagte er, am Ende werde alles damit erklärt werden.

Der Vernehmende fragte nach, wie die finanzielle Schieflage, von der Lichtenberg zuvor gesprochen hatte, zustande gekommen sei.

Er stamme aus besten Verhältnissen, antwortete Lichtenberg, wie die Presse nach seiner Verhaftung seine Familie mit Schmutz und Dreck beworfen habe, so Lichtenberg wörtlich, beschäme ihn zutiefst.

Gut, es sei wahr, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben sei, er selbst habe nie Genaueres darüber erfahren, sein Vater niemals ausführlicher mit ihm darüber gesprochen. Aber die Presseschmierer hätten hieraus ohne Weiteres geschlossen, er, Lichtenberg, sei in seiner Kindheit und Jugend zwar materiell so gut ausgestattet gewesen, wie es das einzige Kind eines wohlhabenden Automobilversicherungsvorstandsvorsitzenden nur sein könne, jedoch von Anfang an emotional vernachlässigt gewesen, was sich schon bald in einer verhängnisvollen Haltlosigkeit und der Neigung zur Ausschweifung bemerkbar gemacht habe.

Emotional vernachlässigt sei er niemals gewesen, sagte Lichtenberg erregt, sein Vater und dessen von Zeit zu Zeit wechselnde Haushälterinnen hätten ihn betreut und aufgezogen, wie es niemand anderer besser gekonnt hätte. Freilich, als er später erfahren habe, warum seine Mutter nicht mehr am Leben, wie sie zu Tode gekommen sei, habe sich ein gewisses Schuldgefühl gegenüber seinem Vater bei ihm eingeschlichen, über das er nie mit ihm gesprochen habe, denn dieser hätte es natürlich weit von sich gewiesen, dass er seinem einzigen Sohn Vorwürfe mache, weil der seine Mutter durch seine Geburt das Leben gekostet habe. Dennoch habe er seinen Vater ab einem gewissen Zeitpunkt als eine Art fürsorglichen Gegner betrachtet, der jeden Grund gehabt habe, ihn zu hassen, weil er ihm seine Frau weggenommen habe, und der ihn zwar aufziehen, dann aber verstoßen werde, sagte Lichtenberg. So etwas, sagte er, wäre in den Ohren seines Vaters eine solche Ungeheuerlichkeit gewesen, dass er es ihm niemals hätte sagen können, und heute spiele es vermutlich gar keine Rolle mehr.

Lichtenberg sagte, er überlege gerade, warum er eigentlich seinen Vater auf dieses Thema nie angesprochen habe, und er erinnere sich, schon als Fünfzehnjähriger in der Absicht gelebt zu haben, den zu erwartenden Angriffen des Vaters durch eine im geheimen erworbene Selbstständigkeit zu begegnen. Einfacher ausgedrückt, er habe schon mit fünfzehn das deutliche Gefühl gehabt, es sei für ihn an der Zeit abzuhauen. Allerdings, das gebe er zu, sei er in diesem Alter schon klug genug gewesen, den Segen des Reichtums, der auf dem Vaterhaus lag, als solchen zu begreifen, und er sei stets darauf bedacht gewesen, diese Quelle am Sprudeln zu halten, durch artiges Benehmen zur richtigen Zeit. Er sei keiner strengen Aufsicht unterstanden, die Haushälterinnen hätten sich zeitlebens nie gegen ihn durchsetzen können, weil sie einfache Angestellte ohne Vermögen gewesen seien und er ihnen das, sobald er es verstanden, auch vorgehalten habe.

Mit fünfzehn sei er schon ganz der junge Herr im Haus gewesen, dem die Haushälterinnen zu gehorchen gehabt hätten wie dem eigendichen Hausherrn, dem Vater, der nur sehr selten da gewesen sei, so dass er, Lichtenberg, in allem völlig freie Hand gehabt habe. Anders als so vielen seiner Generation sei es ihm nie um Zerstreuung gegangen, um Partys, Alkohol, Drogen, alles, was erfunden worden sei, die Köpfe von jeder Beschäftigung zum eigenen Vorteil abzulenken. Ihn, Carl Lichtenberg, so Lichtenberg, hätten immer nur zwei Dinge interessiert auf der Welt: Frauen und Geld.

Er wisse, im Spaß behaupte das jeder Mann von sich, aber er meine es todernst, denn dahinter stehe, wofür er sich sein Leben lang immer und immer am allermeisten interessiert habe und interessieren werde: für sich selbst ganz allein.

Er sagte, er habe das Glück, den Frauen zu gefallen, er drücke das so harmlos aus, um seine Geschlechtsgenossen nicht mehr als nötig zu beschämen, obwohl er nicht glaube, dass es sich dabei um Glück im Sinne einer ihm zugefallenen Göttergabe handle.

Die Frauen schätzten ihn stets, weil er es verstehe, ihr Interesse zu wecken und sich ihnen zugleich zu entziehen. Eine Frau, die ihm erst einmal verfallen sei, verachte er bald, ohne das zu wollen oder es auch nur als besonders angemessen zu empfinden. Es übe stets den größten Reiz auf ihn aus, durch eine Handbewegung, einen Blick, eine flüchtige Berührung, nur für einen Sekundenbruchteil die Aufmerksamkeit einer Frau auf sich zu ziehen und diesen dann zu nutzen, um sie mit aller Kraft in seinen Bann zu ziehen. Dies gelinge durch eine feine, unauflösliche Mischung aus Werbung und Abweisung, welche Unsicherheit schaffe und das Terrain bereite für die anschließende Eroberung. Daher komme es wohl auch, dass ihn Frauen, die dieses schöne Spiel durch ungeteilte, bereitwillige Hingabe zerstörten, entsetzlich langweilten. Weitaus die meisten Frauen aber, so Lichtenberg, verstünden sich auf dieses Spiel viel besser als Männer und dankten es einem, wenn man sich auf diesem Feld mit ihnen messe, denn sie begriffen es richtig als Kräftemessen, bei dem allein die größte Raffinesse zum Ziel führe.

Dies habe er instinktiv, wie er sagte, schon als Fünfzehnjähriger begriffen, auf dem Schulhof, auf den Partys, die er einzig besucht habe, um sich an den jeweils begehrtesten Frauen zu erproben, und je länger er geübt habe, desto sicherer sei er in der Kunst der Verführung geworden und habe sich alsbald sogar an ältere Mädchen herangetraut, mit nicht geringem Erfolg, wie er bemerken dürfe.

Das Geld, so Lichtenberg, das sei ihm später klar geworden, als er erstmals wirklich viel davon in der Tasche gehabt habe, vereinfache vieles, insbesondere erleichtere es den Frauen die Entscheidung für einen Mann. Es einzusetzen, um zu verführen, sei mithin zwar unsportlich, zuweilen aber bequem.

Um auf die Frage des Vernehmenden zurückzukommen – er, Lichtenberg, wisse es nicht.

Er wisse nicht, wie es zu seiner finanziellen Schieflage, die er ganz unumwunden seine finanzielle Katastrophe nennen könne, gekommen sei. Er habe immer gut verdient, sehr gut sogar, und doch seien wie verhext immer größere Verpflichtungen auf ihn zugekommen, die er sich in den seltensten Fällen selbst ausgesucht habe, die vielmehr zumeist von Dritten an ihn herangetragen worden seien. Seine Lebensumstände hätten sich binnen Kurzem derart entwickelt, dass es ihm vollkommen normal erschienen sei, das verdiente Geld – und offensichtlich auch das nicht verdiente – jubelnd, mit beiden Händen zum Fenster hinauszuschmeißen in der Annahme, es werde, wie man so sage, zur Tür wieder hereinkommen, was allerdings nicht der Fall gewesen sei und was er, Lichtenberg, erst zu einem Zeitpunkt bemerkt habe, als buchstäblich schon alles verloren gewesen sei, so dass es ihm, so sagte er, ein heidnisches Vergnügen bereitet habe, gewissermaßen das Fenster weiterhin offenstehen zu lassen, um sein Finanzdesaster, wie er sagte, in vollen Zügen genießen zu können.

II.

Befragt, wann und unter welchen Umständen er seine spätere Schwiegermutter kennengelernt habe, antwortete Lichtenberg, es solle offensichtlich ernstgemacht werden mit dem Vorwurf, er habe sie ermordet, was ihn nicht hindern, im Gegenteil sogar ermutigen werde, sich weiterhin um Kopf und Kragen zu reden, jetzt, da die Vernehmung nun einmal begonnen habe und wohl schon gar nicht mehr aufzuhalten sei. Als Jurist wisse er natürlich genau, dass er sich um Kopf und Kragen rede, wenn er rede, egal, was er rede, aber er rede nun einmal, wie er erklärte, für sein Leben gern.

Der Vernehmende wies Lichtenberg auf sein Aussageverweigerungsrecht hin, der lachte und fuhr den Vernehmenden an, einen Dreck sei es wert, dieses Aussageverweigerungsrecht, das wisse er, der Vernehmende, so gut wie er, der Vernommene, Lichtenberg.

»Ich werde Ihnen alles sagen, alles, was ich weiß, und doch werden Sie von mir nicht zu hören bekommen, was Sie einzig und allein hören wollen, nämlich, dass ich meine Schwiegermutter ermordet habe«, sagte Lichtenberg.

Auf ärztliches Anraten sei er vor ziemlich genau zehn Jahren, so Lichtenberg, nach Elba gereist, um sich für längere Zeit zur Erholung dort aufzuhalten, nachdem er zu Hause, kurz vor dem Abitur, in rascher Folge zwei Blutstürze erlitten habe, deren letzterer nach Auskunft des Arztes durchaus lebensbedrohlich gewesen sei, eine verschleppte Lungenentzündung sei ihm diagnostiziert worden, so dass absolute Ruhe und frische Meeresluft sowie warmes mediterranes Klima unbedingt angezeigt gewesen seien.

Auf diese Weise sei er nach Elba gekommen, an einen Ort, der Villa Ottone geheißen habe, nahe Portoferraio. Die Villa Ottone sei eine allererste Adresse für Erholung suchende Schwerreiche aus ganz Europa gewesen, Lichtenbergs Vater habe ihm den dortigen für drei Monate geplanten Aufenthalt in ernster Sorge um seine, Lichtenbergs, Gesundheit finanziert, und er, Lichtenberg, sei begeistert gewesen, als er nach seiner Ankunft habe feststellen dürfen, dass es dort etliche jüngere und ältere Frauen gegeben habe, die, der Erholung müde, auf Abwechslung wie ihn gewartet hätten.

In der Villa Ottone auf Elba sei er erstmals auf seine spätere Schwiegermutter getroffen, zuvor aber auf seine spätere Frau Lisa, deren erster Anblick ihm schon einen derartigen Schlag versetzt habe, dass ihm auf der Stelle klar gewesen sei, hierbei handle es sich nicht um die gewöhnliche Faszination oder Verliebtheit, welche die Anwesenheit schöner Frauen leicht in ihm auslöse, sondern um eine Empfindung, der er wohl mit ganzem Herzen nachgehen müsse, wolle er ihr gerecht werden.

Gar nicht leicht sei es gewesen, an Lisa heranzukommen, denn sie sei nahezu perfekt von Mutter und Schwester abgeschirmt gewesen, alle drei Frauen hätten ein kaum zu sprengendes Familienmolekül gebildet, das jeden Fremdkörper ohne Weiteres von sich abgestoßen habe. Eine höchst eigenartige, einzigartige, unzerbrechliche, unzerstörbare, hochexplosive, im höchsten Maße ekelerregende Familienmolekülstruktur habe er da entdeckt und sei von ihr zugleich angezogen und angewidert gewesen.

Diese drei Frauen, seine spätere Ehefrau, seine spätere Schwiegermutter und seine spätere Schwägerin, die er über Tage in der Villa Ottone beobachtet habe – bevor es an der Bar in der Lounge zu einem ersten Gespräch zwischen ihm und Lisa gekommen sei, bei dem sich sogleich erwiesen habe, dass Lisa ihn, Lichtenberg, ebenfalls schon über Tage beobachtet habe –, diese drei Frauen hätten sich nach einem minutiös geregelten Plan zu bestimmten vorgegebenen Zeiten an bestimmten Orten aufeinander zubewegt und wieder voneinander gelöst wie unsichtbar miteinander verbundene Teile eines Ganzen.

Das Gespräch an der Bar in der Lounge zwischen ihm und Lisa sei deshalb dem Versuch gleichgekommen, eines dieser Teile aus dem Ganzen herauszutrennen, der von seiner späteren Schwiegermutter und seiner späteren Schwägerin aus ihren Klubsesseln heraus, einige Meter von ihm und Lisa entfernt in der Lounge, mit ungläubigem Entsetzen verfolgt worden sei.

Während seine spätere Schwiegermutter über die gesamte Dauer seines Gesprächs mit Lisa hinweg ihren Mund stets leicht geöffnet gehalten habe, so Lichtenberg, sei Olga damit beschäftigt gewesen, einen Cocktail nach dem anderen auszutrinken, eine Eigenart, die sie sich im übrigen, seit er sie kenne, nicht abgewöhnt habe. Beide hätten Lisa und ihn nicht eine Sekunde lang aus den Augen gelassen, während Lisa und er sich in der anregendsten Unterhaltung befunden hätten und Lisa, so sei es ihm vorgekommen, ihre hinter ihrem Rücken sitzende Familie vollkommen vergessen habe, wohingegen er unausgesetzt die gesamte Familie Orlow im Blick behalten habe, direkt vor ihm Lisa und, wenige Meter dahinter, seine spätere Schwiegermutter und Olga, ihn und seine spätere Ehefrau erstaunt und voller Geringschätzung fixierend.

Lichtenberg habe sich an diesem Abend in Lisa verliebt, wie sie sich an diesem Abend in ihn verliebt habe, es sei da von Anfang an nicht zu den geringsten Missverständnissen gekommen.

Was die spätere Schwiegermutter schon zu diesem Zeitpunkt als das Empörendste angesehen habe, den mehr als sechs Jahre betragenden Altersunterschied zwischen ihm, dem Neunzehnjährigen, und ihr, der Fünfundzwanzigjährigen, hätten Lisa und er von Beginn an als eine reizvolle Provokation empfunden, die ihr Interesse aneinander niemals ausgemacht, aber doch verfeinert habe.

Der Vernehmende fragte, wann Lichtenberg und Frau Orlow, seine spätere Schwiegermutter, erstmals über die Hochzeit mit Lisa gesprochen hätten und wie dieses Gespräch verlaufen sei.

Eine ziemlich direkte Frage, antwortete Lichtenberg, die ihm zeige, dass der Vernehmende wisse, worauf er hinaus wolle, weil er vermutlich von Lisa oder von Olga die Fluchtgeschichte gehört habe.

Weil er nun schon einmal dabei sei, sich um Kopf und Kragen zu reden, werde er ohne Weiteres auch die Fluchtgeschichte erzählen, sagte Lichtenberg.

Zwei Wochen seien Lisa und er ein Paar gewesen. Zwei Wochen würden für vernünftige Menschen, die sich gerade erst kennengelernt hätten, niemals ausreichen, um auch nur eine gemeinsame Urlaubsfahrt zu verabreden, so Lichtenberg. Er und Lisa aber, die ihre ersten zwei Wochen Tag und Nacht gemeinsam auf eine Weise verbracht hätten, für die Zeit eine völlig ungenügende und geradezu lächerliche Maßeinheit sei, hätten am Ende dieser zwei Wochen nicht die geringsten Zweifel mehr gehabt, füreinander bestimmt zu sein, was sich in gewisser Hinsicht in der Zukunft auch erwiesen habe, so Lichtenberg, denn schließlich seien sie nach wie vor verheiratet und hätten zwei Kinder zusammen. Natürlich hätten sie gewusst, dass außer ihnen niemand der Meinung sein würde, es sei für sie beide und deshalb letztlich auch für alle anderen das Beste, sie würden zusammen leben und sogar heiraten. Dennoch hätten sie sich entschlossen, um die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens unter Beweis zu stellen, ganz offiziell ihre Hochzeit anzukündigen und, falls nötig, mit allen Mitteln durchzusetzen.

In der Lounge der Villa Ottone hätten sie alle zusammen an dem betreffenden Abend in jenen schweren, schwarzen, würfelförmigen Klubsesseln gesessen, Frau Orlow und Olga, Lisa und er, Lichtenberg. Freudestrahlend, aber dennoch in dem Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit ihres Tuns, hätten Lisa und er seiner späteren Schwiegermutter die Heiratsabsicht verkündet und damit den Abend in eine feierliche, verzweifelte Stimmung gesenkt, die jedem der Anwesenden die Zwangsläufigkeit des nunmehr zu erwartenden Unglücks verdeutlicht habe.

Mutter Orlow habe ihnen, Lisa und Lichtenberg, ein beinahe mitleidiges, langes, stummes Lächeln geschenkt, bevor sie mit scharfer Stimme die Stille durchschnitten habe mit den Worten: »Kommt ja überhaupt nicht in Frage!«

Im widerlichsten Ton habe sie dies gesagt, so dass ohne Weiteres klar gewesen sei, sie werde sich niemals erweichen lassen und sich mit einer Heirat von Lisa und ihm, Lichtenberg, abfinden, geschweige denn einverstanden erklären. Durch diese ihre Antwort habe sie die Heiratsfrage von Beginn an zu einer Machtfrage gemacht, wobei es ihr völlig egal gewesen sei, ob sie sich zum Wohl ihrer immerhin bereits fünfundzwanzigjährigen Tochter verhalte oder nicht. Sicher habe ihr das Wohl ihrer Tochter stets sehr am Herzen gelegen, aber nicht um den Preis ihres eigenen, das sie, wie er vermute, in Gefahr gesehen hätte, hätte sie auch nur das geringste Zugeständnis in der Heiratsfrage gemacht. Nach ihrem Verständnis, so Lichtenberg, sei sie ihren Töchtern stets die großzügigste Mutter gewesen und habe es stets als Selbstverständlichkeit betrachtet, ihnen jeden ihrer Wünsche zu erfüllen, solange diese Wünsche auch ihre eigenen Wünsche gewesen seien.