LOUIS L'AMOUR

 

 

Das war der Wilde Westen

 

Roman

 

 

 

Apex Western, Band 18

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS WAR DER WILDE WESTEN 

Erster Teil: DIE FLÜSSE 

Zweiter Teil: DIE EBENEN 

Dritter Teil: DER KRIEG 

Vierter Teil: DAS DAMPFROSS 

Fünfter Teil: DIE DESPERADOS 

 

Das Buch

 

Sie kamen über die Flüsse und mit den großen Wagentrecks und trotzten den endlosen Entfernungen der Great Plains und den eisigen Pässen der Sierra Nevada. Es waren Männer wie der rastlose Linus Rawlings, der im Land der Indianer zu überleben gelernt hatte, und der nach Osten gegangen war, um das Meer zu sehen, aber der sein Herz - und seine Heimat - im Westen zurückgelassen hatte. Es waren Frauen wie Lilith Prescott, eine kluge, temperamentvolle Schönheit, die vor ihrer Familie floh und sich in der vom Goldfieber gepackten Grenzregion in einen Spieler verliebte.

Diese Männer und Frauen säten mit ihrem Mut und ihrem Blut den Samen einer Nation.

Dies ist die Geschichte, wie sich ihre Wege inmitten des epischen Kampfes gegen wilde Feinde und die Grausamkeit der Natur kreuzten, um schließlich den reichen und ungezähmten Westen für alle Zeiten zu gewinnen...

 

Das war der Wilde Westen ist die Roman-Adaption des epischen Western-Filmmeisterwerks aus dem Jahre 1962 (Regie: John Ford, Henry Hathaway, George Marshall und Richard Thorpe), das mit drei Oscars ausgezeichnet wurde und das durch die Mitwirkung von James Stewart, Gregory Peck, Eli Wallach, Carroll Baker, Karl Malden, George Peppard, John Wayne, Richard Widmark u. v. a. starbesetzt war.

Der Apex-Verlag veröffentlicht Louis L'Amours monumentale Romanfassung in seiner Reihe APEX WESTERN als durchgesehene Neu-Ausgabe. 

  DAS WAR DER WILDE WESTEN

 

 

 

   

  Erster Teil: DIE FLÜSSE

 

 

Das schimmernde Land lag weit offen - bereit, erobert zu werden. Der Weg in dieses Land waren die Flüsse. Langsam und mächtig, reißend und schäumend - die Flüsse waren die ersten Straßen, welche die Siedler benutzten. Sie bauten Flöße und Flachboote und fuhren damit über das Wasser, das grün, braun, schwarz und schaumfleckig war, das aber mitten hinein in dieses gefährliche, doch noch schlummernde, jungfräuliche Land führte, wo ungeahnte Reichtümer auf den starken und verwegenen Eroberer warteten...

 

 

 

 

 

1.

 

 

Die Sonne stand noch keine Stunde am Himmel, als Linus Rawlings auf die Spuren der Ute-Indianer stieß. Die hohen Wände des sich immer mehr verengenden Tales am Rio Grande versperrten jeden Fluchtweg. Linus wusste, dass er nun Ärger bekommen würde. Die Rothäute befanden sich zweifellos auf dem Kriegspfad.

Er bewies wieder einmal, dass er ein Mann von unendlicher Geduld sein konnte, denn lange saß er im Schatten der hohen Espen auf seinem Pferd, die drei Packtiere mit dem Winterfang an Pelzen hinter sich. Vor ihm erstreckte sich ein vom ersten grünen Frühlingshauch gezeichneter Berghang.

Nichts rührte sich auf diesem Hang; genauso wenig wie unten im Tal. Nur die Blätter der Espen raschelten leise im leichten Wind. Aber Linus traute niemals dem äußeren Anschein im Indianergebiet. Also blieb er, wo er war.

Solange er sich nicht bewegte, war er gegen den dunklen Hintergrund der Espen nicht zu erkennen, denn seine Kleidung, seine Pferde und deren Last waren von unauffälliger Farbe und passten sich gut der Umgebung an. Methodisch suchte sein Blick den Hang ab. Jedes Gebüsch, jeden Baum von einer Seite bis zur anderen beobachtete er sehr sorgfältig. Er achtete auf jeden Felsen, auf jede Farbveränderung im Gras.

Es war schon sehr lange her, dass Linus Rawlings sich einmal auf einer Hügelkuppe klar gegen den Himmel abgezeichnet oder neben einem brennenden Lagerfeuer geschlafen hatte. Er hatte Männer gekannt, die beides getan hatten... und diese Männer waren jetzt tot. Es war also durchaus kein Zufall, wenn er stets nur vor einem Hintergrund anhielt, der ein Erkennen seiner Umrisse so gut wie unmöglich machte.

Im Indianergebiet durfte man niemals ein Risiko eingehen, ob man nun Feinde vermutete oder nicht. Man lernte auch, ein nur sehr kleines Feuer zum Essenkochen anzuzünden, nach dem Essen unverzüglich seine Position zu wechseln und ein ganzes Stück entfernt ohne Lagerfeuer irgendwo im Dunkeln zu schlafen.

Alles das waren simple Regeln, um im Indianergebiet zu überleben. Aber daneben gab es auch noch einige andere, wie zum Beispiel niemals einen Schritt ohne Waffe zu gehen oder auf jede Bewegung von Vögeln oder anderen Tieren zu achten. Gerade letzteres kündete meistens Gefahr an.

Linus dachte gar nicht mehr über die Notwendigkeit solcher Dinge nach, denn sie waren ihm genauso selbstverständlich geworden wie das Atmen.

Äußerst misstrauisch musterte er immer noch den Hang. Linus Rawlings' nach außen hin so lässige Haltung täuschte. Dahinter verbargen sich die geschärften Sinne eines Mannes, der zweiunddreißig Jahre im Westen gelebt hatte. In den dunklen Wäldern von West-Pennsylvania geboren, wo seine Familie sich als eine der ersten angesiedelt hatte, war Linus später mit seinem Vater weiter nach Westen gezogen. Nach dem Tode seines Vaters, Linus war damals gerade fünfzehn Jahre alt gewesen, war der Junge von Illinois aus mit einem Kielboot noch weiter nach Westen gekommen, um hier nach Pelzen zu jagen. In den darauffolgenden sechzehn Jahren hatte er das ganze Land durchstreift, vom Kootenai-River in Montana bis zum Gila in Arizona, von der Küste des Pazifiks bis zu den östlichen Hängen der Black Hills. Er hatte zusammen mit Jim Bridger, Onkel Dick Wootton, Bill Williams, Joe Walker, Osborne Russell und Jedediah Smith Fallen gestellt. Abgesehen von einem kurzen Besuch im Pueblo von Los Angeles hatte er in jenen Jahren nur zweimal die Berge verlassen. Diese beiden Reisen aus den Bergen hatten ihn nach St. Louis und New Orleans geführt.

Jetzt versuchte er sich vorzustellen, welchen Weg die Indianer wahrscheinlich einschlagen würden, aber so sorgfältig er sich auch umsah, er konnte nicht die geringste Bewegung entdecken. Nichts. Doch dann erinnerte er sich daran, was ihm Kit Carson vor vielen Jahren einmal gesagt hatte. Wenn du Indianer siehst, sei vorsichtig. Wenn du sie nicht siehst, sei doppelt vorsichtig! 

Linus hatte großen Respekt vor jedem Indianer. Er kannte ihn als einen wild und verbissen kämpfenden Mann, dessen Lebensinhalt Krieg und Pferdediebstahl waren. Der Indianer kannte die Wildnis und wusste sich allen Gegebenheiten anzupassen. Keine Katze könnte sich ruhiger bewegen; kein Habicht hatte ein schärferes Auge. Das Leben eines Indianers hing von der Schärfe seiner Sinne ab. Im Indianergebiet konnte nur überleben, wer ein noch besserer Indianer war.

Die Zeit verstrich. Die Morgensonne tauchte allmählich die Berggipfel in goldenes Licht. Kein Grashalm bewegte sich. Nur das Laub der Espen bewegte sich kaum wahrnehmbar. Ein Packpferd stampfte ungeduldig mit den Hufen. Über einem niedrigen Busch summte eine Biene.

Linus hatte das Gewehr quer vor sich auf dem Sattel liegen. Die Mündung zeigte zum Hang hinab. Der rechte Zeigefinger war um den Abzug gekrümmt, der Daumen hielt den Hammer zurück.

Etwas unterhalb zu seiner Rechten gab es eine größere Gruppe von Espen. Linus schätzte ihre Höhe im Vergleich zu seiner eigenen Position. Um sie zu erreichen, würde er nicht länger als eine Minute im Freien zu sehen sein. Als er dort angekommen war, ritt er im entgegengesetzten Winkel weiter den Hang hinab. Bereits nach kurzer Entfernung verengte sich das Tal noch mehr. Doch kurz darauf wurde es breiter und mündete schließlich in die Ebene. Falls die Indianer etwas von ihm wissen sollten, wäre dort der geeignete Platz für einen Hinterhalt.

Linus hatte es nicht eilig. Die Fleischtöpfe des Ostens konnten ruhig noch ein paar Stunden oder auch Tage länger auf ihn warten. Sehr langsam und äußerst vorsichtig, sich stets an eine Seite des Tales haltend, arbeitete er sich vorwärts. Auf der Talsohle folgte er dem Flusslauf und benutzte die hier vereinzelt wachsenden Bäume als Deckung.

Als er die Stelle erreicht hatte, wo die Ute-Indianer den Fluss durchquert hatten, hielt er an und tränkte seine Pferde. Erst als die Tiere genug hatten, stieg auch er ab und trank etwas weiter stromaufwärts. Er stand gerade wieder auf, als er den Schuss hörte. Regungslos blieb er stehen und lauschte.

Wo war dieser Schuss gefallen? Eine halbe Meile entfernt? Eine ganze Meile?

Dem zweiten Schuss folgten in rascher Folge noch drei weitere.

Linus stieg wieder in den Sattel und überquerte den Fluss. Auch auf dem anderen Ufer hielt er sich im Schatten der Bäume. Als er eine Stelle erreichte, wo der Fluss eine etwas höhere Bodenwelle durchschnitt, trieb er sein Pferd hinauf. Von hier oben aus hatte er einen guten Überblick.

Vor ihm erstreckte sich eine Wiese von etwa dreihundert Acres. Zur Linken staute sich der Fluss etwas, wahrscheinlich durch einen Biberdamm. Hinter der Wiese floss er erneut quer durch das Tal und schlängelte sich dann auf der gegenüberliegenden Seite dahin. An dieser besonders engen Stelle ragten die Gebirgswände etwa tausend Fuß über die Wiese empor.

 

Ein Mann zu Fuß könnte fast überall dort hinaufsteigen, aber für ein Pferd dürfte es nirgends möglich sein.

Ein blaues Rauchwölkchen hing über dem im Morgentau silbrig glitzernden Gras. Etwa fünfzig Yards davon entfernt wälzte sich ein Pferd auf dem Boden und schlug wild mit den Hufen um sich.

Zunächst konnte Linus nichts weiter sehen. Das Indianerpony schlug ein letztes Mal verzweifelt aus, dann lag es still. Es war tot.

Und dann bewegte sich ein Indianer. Sekunden später entdeckte Linus zwei weitere. Alle drei starrten zur Wiese hinab und hielten Linus den Rücken zugewandt.

Die Gruppe war ganz offensichtlich in einen Hinterhalt geraten. Wahrscheinlich, so überlegte Linus, war sie einer anderen Gruppe gefolgt. Entweder Arapahoes oder Trappern. Linus richtete sich so hoch wie möglich in den Steigbügeln auf, und jetzt konnte er sie auch ganz klar sehen: Fünf Trapper lagen in einer Büffelmulde. Zweifellos hatten sie ihre Pferde zwischen den Bäumen unten am Fluss versteckt, wo dieser quer durch die Wiese floss. Ein oder zwei Mann hatten sie sicher als Wache zurückgelassen.

Dicht neben dem toten Pony lag ein toter Indianer. Falls es auch Verwundete gegeben haben sollte, so hatte man sie jedenfalls gut verborgen. Zahlenmäßig waren die Rothäute den Weißen immer noch zwei zu eins überlegen.

Sehr sorgfältig suchte Linus das Gelände vor sich ab. Er konnte noch mehrere Indianer entdecken. Die anderen mussten sich irgendwo zwischen den Bäumen unten am Fluss versteckt haben.

Linus konnte im Moment nichts unternehmen, wenn er sich nicht selbst einem Angriff der Utes aussetzen wollte. Auch die Männer im Hinterhalt konnten das Feuer auf ihn eröffnen, weil sie ihn nicht sofort als Weißen erkennen würden. Er konnte weiter nichts tun, als abzuwarten... vielleicht ergab sich für ihn ja irgendwie eine Chance, das offene Wiesengelände zu überqueren.

Hier oben gab es nur ein paar vereinzelte Bäume, aber zu seiner Linken erstreckte sich ziemlich dichter Wald, der sich kreuz und quer durch das enge Tal zog.

Linus brauchte nicht zu befürchten, gesehen zu werden. Er blieb im Sattel und bereitete sich darauf vor, entweder zu kämpfen oder zu fliehen, je nachdem, wie es die jeweilige Situation gerade erfordern würde.

Sein Blick suchte unaufhörlich die Wiese ab und wanderte bis zum Fluss hinüber. Und dann sah er, was er schon halb vermutet hatte. Zwei Indianer krochen durch das hohe Gras auf die Büffelmulde zu. Als die anderen geflohen waren, hatten sich diese beiden absichtlich vom Pferd fallen lassen und sich tot gestellt, um diesen hinterlistigen Angriff durchführen zu können.

Linus hob das Gewehr und schätzte die Entfernung. Das Ziel war schlecht für die Reichweite seiner Waffe. Während er noch zögernd überlegte, ob er nicht wenigstens einen Warnschuss abfeuern sollte, kam ihm jemand zuvor. Zwischen den Bäumen, wo er die Pferde vermutete, krachte ein Schuss auf. Einer der beiden Utes stieß einen heiseren Schrei aus und sprang auf die Beine. Fast gleichzeitig dröhnten zwei Schüsse aus schweren Büffelgewehren in der Mulde auf. Der Indianer wurde zurückgeworfen, stürzte ins Gras, zuckte noch ein paar Sekunden und lag dann still.

Der andere Ute hatte sich nicht gerührt. Auch drei weitere Schüsse, die dicht neben ihm in den Boden klatschten, vermochten nicht, ihn zu einer Reaktion zu bewegen.

Linus kaute nachdenklich auf einem Grashalm herum und überlegte, wie selten doch ein Kampf so verlief, wie man es erwartete; offene, wilde Auseinandersetzungen gab es kaum. Meistens war es so wie hier - ein paar Schüsse, dann endloses Warten, während nichts geschah.

Die Trapper hatten ihren. Platz gut gewählt. Ein solcher Hinterhalt in offenem Gelände gehörte zu den Tricks der Indianer. Diesmal schienen jedoch die Utes von ihrer eigenen Taktik überrascht worden zu sein. Jeder Gegenangriff von Seiten der Indianer war wegen des Mannes, der sich zwischen der Weiden drüben am Fluss versteckt hatte, äußerst schwierig.

Wenn die Sache jedoch bis zum Einbruch der Dunkelheit so weitergehen sollte, dann wäre diese günstige Position für die Trapper wertlos. Sie würden dann von den Indianern, die ja in der Überzahl waren, leicht überrannt werden können. Der Hinterhalt war gewiss nicht schlecht gewählt, aber die Trapper hatten damit zugleich einen Bären am Schwanze gefangen. Nachdem es ihnen nicht gelungen war, den größeren Teil der Rothäute gleich beim ersten Angriff außer Gefecht zu setzen befanden sie sich jetzt in einer alles andere als beneidenswerten Position.

Allmählich begriff Linus aber auch, dass er selbst nicht viel besser dran war. Auch seine Lage wurde immer gefährlicher. Jeden Augenblick konnten weitere Indianergruppen hier auftauchen, die sich mit der ersten vereinigen wollten. Er musste aber auch mit der Möglichkeit rechnen, dass sich die Utes zurückzogen. Dann würde man ihn hier leicht entdecken. Bekamen ihn die Indianer aber erst einmal zu Gesicht, würden sie ihn sehr rasch umzingelt und getötet haben, da er ja von den anderen Weißen abgeschnitten war.

Ein für die Rothäute unerwarteter Angriff von seiner Seite konnte dagegen die Lage zu seinen Gunsten entscheiden. Drei Utes befanden sich in Reichweite seines Gewehres; einer ziemlich weit entfernt, die beiden anderen dagegen recht nahe. Linus atmete einmal tief ein und aus, dann drückte er ab. Das Echo des Schusses brach sich rollend an den hohen Wänden des engen Tales. Der Indianer, auf den Linus geschossen hatte, zuckte zusammen, drehte sich einmal um seine eigene Achse und blieb auf dem Rücken liegen. Linus feuerte sofort ein zweites Mal. Diesmal hatte er den Lauf etwas nach links bewegt. Mit einem kurzen Ruck riss er das Gewehr noch weiter nach links und drückte zum dritten Mal ab. Die Schüsse waren so rasch hintereinander gefallen, dass ihr Echo wie ein einziges klang.

Der erste Schuss war ein klarer Treffer gewesen, der zweite danebengegangen, der dritte wieder ein Treffer.

Linus gab seinem Pferd die Sporen, stieß einen gellenden Schrei aus und galoppierte über die Wiese. Dieser plötzliche Angriff sollte bei den Utes den Eindruck erwecken, es mit mehreren Gegnern zu tun zu haben. Das Überraschungsmoment würde ihm einen kleinen Vorsprung verschaffen.

Seine Rechnung ging auch prompt auf. Die Utes flohen schleunigst zwischen die Büsche. Als Linus an der Büffelmulde vorbeipreschte, sah er, wie sich die Trapper aufgerichtet hatten und die fliehenden Rothäute unter Beschuss nahmen. Linus hielt erst zwischen den Weiden am Fluss wieder an. Ein hagerer, aber sehr kräftig gebauter Mann mit leicht hängenden Schultern trat hinter einem Baum hervor.

»He, Linus...!«, rief er und grinste, als er nun langsam nähertrat. »Du bist gerade im richtigen Moment aufgetaucht! Wo kommst du denn auf einmal her?«

»Von da drüben.«

Die anderen Trapper näherten sich und stiegen in die Sättel. Ihre Packpferde waren schwerbeladen.

»Allerhand Pelze«, stellte Linus fest.

»War zunächst 'n schlechtes Jahr«, erklärte Williams. »Aber vor ein paar Wochen gelangten wir in eine Gegend, wo wir mehr gefangen haben als das ganze Jahr vorher.«

Williams schwang ein Bein über den Sattel.

»Wir wollen am Rio Grande entlang nach Taos hinunter.«

Linus dirigierte sein Pferd zu Williams hinüber.

»Ich will nach dem Osten. Den Platte und Missouri hinunter und dann den Ohio hinauf. Hab' plötzlich Verlangen nach Meerwasser.«

»Wohl eher nach hübschen Mädchen, was?« grinste Williams.

»Auch das«, gab Linus zu. »Ist ja schon 'ne Ewigkeit her, seit ich ein weibliches Wesen in Spitzen und Rüschen und so gesehen hab'. Das will ich jetzt nachholen. In der Hauptstadt hab' ich aber den Ozean im Sinn. Ich habe nachgedacht. Ein Mann, so alt wie ich... und nichts weiter als Berge, Indianer und Pelze gesehen!«

»Wasser wirst du schon noch genug zu sehen kriegen«, meinte Williams. »Ich selbst bin ja in North Carolina großgeworden. Dort hinten hab' ich kein Meer zu sehen bekommen, aber ich hab' den Pazifik gesehen. Ist schon ein toller Anblick. Aber nicht zu vergleichen mit den Bergen. Hat man's nur einmal gesehen, hat man auch schon alles gesehen.«

»Als einziges größeres Gewässer hab' ich bisher den Salt Lake zu sehen gekriegt.«

»Man erzählt, dass sich dort hinten allerhand Leute versammeln sollen. Wird nicht mehr lange dauern, behauptet man, und sie werden hier ins Land strömen. Ich hab' sogar schon von Dampfwagen gehört, von einer Eisenbahn, die bis nach Kalifornien führen soll.«

»Dummes Gerede«, sagte Linus. »Wer könnte wohl verrückt genug sein, seine Frauen und Kinder ins Indianergebiet zu bringen? Und überhaupt, was wollen sie denn hier? Die Pelze werden allmählich knapp, und weiter gibt's hier doch nichts. Kaum der Rede wert.«

»Land! Die Leute wollen Land

»Na, da werden die Sioux aber auch was dazu zu sagen haben. Und die Cheyenne und die Arapahoes auch.«

Linus blieb zwei Tage bei den Trappern. Als er sich von ihnen getrennt hatte, ritt er sehr vorsichtig weiter. Immerhin befand er sich noch mitten im Ute-Territorium. Wären alle Indianer wie die Shoshonen oder Nez Perce oder Flachköpfe... nun, dann sähe alles wahrscheinlich ein bisschen anders aus. Mit diesen Stämmen konnte man sich sogar anfreunden. Die Nez Perce zum Beispiel brüsteten sich damit, noch nie einen Weißen getötet zu haben, und Linus war durchaus geneigt, ihnen das zu glauben.

Aber dies hier war Ute-Land, und kein anderer Indianerstamm - von den Schwarzfüßen einmal abgesehen - bereitete den Weißen so viel Ärger. Und hinter den Utes kamen die Arapahoes.

 

 

 

2.

 

 

Eve Prescott stand ein paar Fuß von ihrer Familie entfernt ganz allein und beobachtete die Schiffe, die sich auf dem Hudson River und im Erie-Kanal zusammendrängten. Auf dem Strand waren Ballen, Körbe und Kisten, Handelswaren aller Art und Hausrat aufgestapelt. Alles wartete darauf, nach Westen verladen zu werden. Nichts auf der Farm, wo sie bisher gelebt hatte, oder in der kleinen Ortschaft ganz in der Nähe hatte sie auf diesen Augenblick vorbereitet.

Große, derbgekleidete Männer liefen hin und her, schrien sich gegenseitig gutmütig an und waren eifrig damit beschäftigt, die Schiffe zu ent- und beladen. Mächtige Wagen, von den größten Ochsen gezogen, die Eve je gesehen hatte, rumpelten an ihr vorbei. Die Luft über dem Fluss war vom Bimmeln der Schiffsglocken oder Pfeifen der Dampfsirenen erfüllt.

Rund um die Prescotts waren andere Auswanderer versammelt, die samt ihrer Habe darauf warteten, auf eins der Kanalboote verladen zu werden. Auch sie hatten, genau wie die Prescotts, alle Brücken hinter sich abgebrochen, um den abenteuerlichen Vorstoß in ein neues, erschreckendes Land zu wagen.

Eve sah sich um. Die Männer unterhielten sich laut über das neue Land und seine Möglichkeiten. Aber es war ihnen anzusehen, wie unbehaglich den meisten zumute war. Ein Abenteuer zu planen und darüber zu reden... nun, das war eine Sache gewesen; eine ganz andere war es dagegen, ein völlig neues Leben zu beginnen und mit der gesamten Familie in unbekanntes Niemandsland zu ziehen, wie es diese Männer jetzt tun wollten.

Diese Männer waren bisher kühn und verwegen gewesen, wie Eve sehr wohl wusste, und sie würden zu gegebener Zeit ihren Mut auch wieder unter Beweis stellen, aber im Moment hatten wohl alle ein wenig Angst, genau wie Eve selbst. Ihr Herz pochte wild gegen die Rippen. Sie schien plötzlich Schwierigkeiten mit dem Atmen zu haben. All diese groben Männer, die sich bei der Arbeit gegenseitig anschrien... was konnten sie sich schon aus ihr und ihrer Familie machen? Und doch wurde sie immer wieder gewarnt. Sie fing manchen kühnen, herausfordernden, anerkennenden Blick auf, der ihr deutlich genug verriet, dass sich der eine oder andere dieser Männer sehr wohl etwas aus ihr machen könnte - zumindest in einer Hinsicht.

Eve war aber einigermaßen überrascht, dass solche Blicke sie eher erregten und freuten als abstießen. Zu Hause war alles ganz einfach gewesen. Sie hatte genau gewusst, welche Männer verheiratet gewesen waren und deshalb nicht in Frage kamen. Hatte ein Mann an ihr Interesse verraten, dann hatte sie seine Absichten sehr genau einschätzen können. Bisher war sie jedoch noch nie an einen Mann im Besonderen interessiert gewesen.

Und die Männer hatten auch sie gekannt. Alle hatten gewusst, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die von jedem genommen werden konnten. Manche, die ernste Heiratsabsichten gehabt hatten, waren geneigt gewesen, Eves abweisendes Verhalten für Hochmut zu halten.

»Du träumst viel zu viel!« hatte der Vater oft gescholten, wenn auch stets auf freundlich-gutmütige Art. Und er hatte recht gehabt. Eve träumte auch jetzt wieder, nur lagen ihre Träume diesmal weit im Westen, irgendwo am unteren Ohio.

Sie wusste nur ungefähr, wo der Ohio-River lag, und von dem neuen, unbekannten Land, das noch niemand gesehen hatte, hatte sie nur eine sehr vage Vorstellung. Ihr Vater hatte noch nicht einmal eine Landkarte davon gesehen, falls es überhaupt schon eine geben sollte. Das einzige, was alle bisher gesehen hatten, war eine rohe Skizze gewesen, die ein Herumtreiber mit einem Stock in den Staub gezeichnet hatte.

Das Ohio-Country war Wildnis, war der Wilde Westen. Und genau dorthin wollten jetzt alle.

Eve hatte den Namen Ohio seit einigen Jahren schon gehört, bis er sich schließlich fest in ihrem Gehirn eingenistet hatte. Männer sprachen davon, als handelte es sich um das Gelobte Land oder um das Paradies auf Erden.

Ganz in der Nähe erzählte ein bärtiger Mann vom Missouri und Platte River, von Kielbooten und Pelzhandel. Mit zwei betrunkenen Besatzungsmitgliedern eines Kanalbootes unterhielt er sich über die wilden Indianer, die das Land an diesen beiden Flüssen bevölkerten.

Eve hatte weder vom Missouri noch vom Platte River je etwas gehört. Für sie war der Ohio schon westwärts genug.

Ihre Schwester Lilith, schlank, hübsch und erst sechzehn, kam zu ihr herüber.

»Oh, ist das alles nicht schrecklich aufregend?«, rief sie.

»Ich verstehe nur nicht, Eve, warum wir ausgerechnet nach dem Westen müssen. Warum können wir denn nicht hierbleiben?«

»Pa ist doch Farmer«, antwortete Eve. »Er muss also dorthin gehen, wo es Land gibt. Außerdem würdest du es hier bestimmt sehr bald langweilig finden. Dinge sind doch nur aufregend, solange man sich noch nicht daran gewöhnt hat. Später wird alles grauer Alltag.«

»Aber hast du denn niemals den Wunsch, auch einmal etwas anderes zu tun? Ich verstehe dich einfach nicht, Eve!«

»Warum solltest du auch? Manchmal glaube ich, dass du nicht einmal dich selbst verstehst.«

»Für dich ist es leichter«, seufzte Lilith. »Du weißt genau, was du willst. Du willst einen Mann, und du weißt auch schon, wie dieser Mann aussehen muss. Und du willst ein Zuhause. Das... das will ich überhaupt nicht. Wenigstens jetzt noch nicht.«

»Ich weiß.«

»Eve, was ist nun, wenn du ihn nie findest? Immerhin bist du doch schon über Zwanzig und...«

»...und eine alte Jungfer, das wolltest du doch sagen, nicht wahr?« Eve lächelte. »Du brauchst dich nicht zu scheuen, es auszusprechen. Aber ich weiß, dass ich ihn finden werde. Frage mich jetzt nicht, warum. Ich weiß es eben.«

Vom Wasser drang das schrille Pfeifen einer Dampfsirene herüber.

»Es ist nicht der Ort, der einen glücklich oder unglücklich macht«, fuhr Eve fort. »Es sind die Leute, die man liebt und von denen man geliebt wird.«

»Ma sagt, ich sei faselig und leichtsinnig. Glaubst du das auch, Eve?«

»Nein, du bist nur anders als wir, Lil, aber auf deine Art bist auch du gesetzt und beständig. Ich habe noch niemanden gesehen, der so schnell Handharmonika spielen gelernt hätte wie du. Pa meint, dass du wohl nach Tante Mae schlägst.«

»Die damals mit dem Spieler durchgebrannt ist? Davon hat Pa aber nie ein Wort zu mir gesagt! Er hat ja nicht einmal ihren Namen vor uns Kindern erwähnt! Was ist eigentlich aus ihr geworden, Eve? War sie sehr unglücklich?«

In diesem Augenblick schlenderte ihr Bruder Sam, ein hagerer, schlaksiger Bursche von neunzehn Jahren, vom Fluss herüber und blieb neben Zeke stehen, der auf dem zusammengerollten Bettzeug lag.

»Wird bald soweit sein«, sagte er. »Na, und wie geht's dir, Zeke?«

Zeke riss abrupt die Augen auf.

»Jedenfalls nur halb so schlecht, wie Ma dauernd behauptet! Wenn sie endlich aufhören würde, dauernd diese Medizin in mich hineinzulöffeln, könnte ich längst wieder auf den Beinen sein.«

Eves Blick wanderte von Zeke zu ihren Eltern hinüber Zebulon und Rebecca Prescott erinnerten von Kopf bis Fuß an das, was sie waren - stämmige, unabhängige Farmersleute... und Pioniere. Zunächst war die Mutter dagegen gewesen, die Farm aufzugeben, die von Jahr zu Jahr zu einem immer gemütlicheren Zuhause geworden war, aber nachdem die endgültige Entscheidung gefallen war, hatte auch sie sich von der allgemeinen Aufregung anstecken lassen.

Zebulons bestes Argument war zugleich ein gutes. Hier hätten sie niemals reich werden können. Das war zwar nicht unbedingt wichtig, denn man lebte recht gut, aber es gab kein Land für die Jungen. Der vorhandene Besitz reichte allenfalls für einen Sohn.

Plötzlich entstand lebhafte Bewegung unter der Menge, über all den Tumult hinweg hörten sie eine laute Stimme rufen: »Die Stolz von Utica wird jetzt beladen! Alle an Bord für die Stolz von Utica! He - alle mal herhören! Folgende Familien: Ramsey, Peter Smith, John und Jacob Voorhies, L. P. Baker, Stoeger - alle an Bord der Stolz von Utica

»Wir sind die nächsten, Pa«, sagte Sam und wuchtete sich einen großen Reisekorb auf die Schulter. »Wir gehen am besten schon zum Ufer hinunter.«

Ein hagerer Schotte im verschossenen Hemd aus derbem selbstgewebtem Stoff sah zu Zeke hinüber, der sich soeben von seinem zeitweiligen Ruhelager erhob.

»Der Gesundheitszustand des Jungen ist wohl der Grund weshalb auch du nach Westen ziehst, was, Prescott?«, fragte er.

»Zum Teil, nur zum Teil«, erwiderte Zebulon ernst. »Unser Hauptkummer waren die Steine. Mann, es hätte ja Jahre gedauert, bis wir die alle von unseren Äckern abgelesen hätten, um eine vernünftige Ernte erzielen zu können.«

»Na, na, Zebulon!«, mischte sich Rebecca vorwurfsvoll ein. »Du solltest den guten Mann aber nicht so anlügen. Wir hatten doch gutes Ackerland.«

»Ich - und lügen?«, protestierte Zebulon. »Du weißt, dass ich ein gottesfürchtiger Mann bin, Rebecca! Ich lüge niemals! Ich sage immer die Wahrheit, wie ich sie sehe. Und in diesem Land hier hat doch noch nie ein Mann einen Pflug benutzt. Er hat die Furchen einfach mit Pulver in den Boden gesprengt.

Und dann kam die Zeit, dass ich genug hatte. Wenn ich mit dem Eimer Wasser aus dem Brunnen schöpfen wollte, was holte ich da heraus? Steine! Nichts als Steine! Und da hab' ich zu mir gesagt: Zeb, hab' ich gesagt, hier stehst du nun mit einem halb invaliden Sohn und mit einer einundzwanzigjährigen Tochter, die sich nicht entschließen kann, endlich 'nen Mann zu nehmen, und...«

»Pa! Wie kannst du nur!«

»...mit einer zweiten »Tochter, die sich aufführt, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf!« fuhr Old Zebulon unbeirrt fort. »Und da hab' ich einen Schwur getan. Wenn ich einen Mann finden könnte, der fünfhundert Dollar in der Tasche hat, dann würde ein anderer Narr diese Farm weiter bewirtschaften! Nun, Sir, Gott der Allmächtige hat mir einen solchen Mann geschickt, und deshalb stehen wir jetzt hier.«

»Glauben Sie ihm kein Wort, Mr. Harvey!«, rief Rebecca. »Wir hatten die beste Farm in der ganzen Gegend. Aber Pa hat's ganz einfach wieder mal in den Füßen gejuckt, und deswegen sind wir jetzt hier! Und der Himmel mag wissen, wie alles noch enden wird!«

»Ich will nach Illinois«, sagte Harvey. »Dort soll's Leute geben, die noch nie in ihrem Leben 'nen Stein gesehen haben.«

Er deutete zu drei großen, stämmigen Burschen hinüber, die in der Nähe herumlungerten und die beiden Mädchen fast mit ihren Blicken verschlangen.

»Das sind meine Jungs - Angus, Brutus und Colin. Sieht so aus, als möchten sie gerne eure Töchter kennenlernen.«

»Noch ledig, will ich doch hoffen?«

Harvey nickte.

»Bis jetzt immer noch... aber der Sinn steht ihnen schon verdammt nach Mädchen!«

»Was du da von Illinois gesagt hast, hört sich gut an. Lilith, nimm deine Harmonika und spiel den Jungen was vor.«

»Ich hab' keine Lust, Pa.«

»Hör zu, Lilith«, sagte ihr Vater sehr streng. »Jetzt ist keine Zeit für Faxen! Los, spiel auf!«

Lilith zuckte mit den Schultern, warf ihrer Schwester Eve einen angewiderten Blick zu und griff nach der Harmonika. Sie spielte und sang dazu Miss Bailey's Geist.

»Na, na, Lilith, was soll denn das? Musst du ausgerechnet dieses Lied spielen? Spiel lieber eine Melodie, die die Jungen mitsingen können.«

Sie sah zu den drei jungen Burschen hinüber.

»Welche Lieder kennen Sie denn?«, fragte sie.

»Ich kann den Yankee Doodle singen«, schlug Colin vor.

»Yankee Doodle... pah!«, erklärte Lilith und bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Wer will denn schon den Yankee Doodle singen!«

»Ihre Mutter ist schon lange tot«, meinte Harvey entschuldigend. »Deswegen haben sie nicht viel Übung in guten Umgangsformen, aber sonst sind's gute und kräftige Jungs.«

»Nur zu, Lilith! Spiel ihnen das Lied Ein Haus auf der Wiese

Lilith sah erneut zu Eve hinüber und zuckte wieder resigniert mit den Schultern. Damit wollte sie wohl andeuten, wie albern sie das Ganze fand.

Prescott wandte sich an seine älteste Tochter. »Eve...?«

Widerstrebend schloss sie sich den anderen an. Auch einige Leute aus verschiedenen anderen Familien schleuderten herüber und stimmten in den Gesang ein. Alle waren begeistert bei der Sache. Selbst Lilith überwand ihre Abneigung und übernahm die Rolle einer Vorsängerin. Niemandem machte es etwas aus, dass viele wirklich sehr schlecht sangen. Die Männer unterbrachen ihre Arbeit und hörten eine Weile zu. Von einem der Schiffe winkte ein Seemann herüber und sang ebenfalls laut mit. Ein halb betrunkener Ire versuchte sogar ein paar torkelnde Tanzschritte. Minutenlang hallte der Strand wider vom Gesang der Auswanderer.

Lilith wollte gerade ein neues Lied anstimmen, als die Stimme des Abfertigers die Veranstaltung beendete.

»Fracht für die Fliegender Pfeil!«, schrie er aus Leibeskräften. »Alles an Bord für die Fliegender Pfeil

Da sie vorhin Sams Rat befolgt hatten und zum Ufer heruntergegangen waren, befanden sie sich nun nicht weit von der Gangway entfernt. Lilith winkte den Sängern noch einmal lebhaft zu, dann marschierte sie hochaufgerichtet als erste an Bord. Auf dem Deck herrschte unbeschreibliches Gedränge. Eve wurde gegen die Reling gepresst, wo sie dem Schiff den Rücken zudrehte und noch einmal zum Land hinübersah. Plötzlich war ihr die Kehle wie zugeschnürt. Nachdem sie sich an Bord befanden, schienen sie endgültig den letzten Schritt in eine Richtung getan zu haben, aus der es kein Zurück mehr gab.

Um sie herum waren nichts als Fremde, aber in diesem Augenblick kam Eve sogar die eigene Familie fremd vor.

Unter tiefhängenden, grauen Wolken, die baldigen Regen ankündigten, setzte sich das Flussboot Fliegender Pfeil langsam in Bewegung. Drüben am Kanalufer trieb ein Mann in kariertem Hemd das Gespann an, das dazu bestimmt war, das Schiff zu ziehen.

Allmählich kehrte auf dem Deck etwas mehr Ruhe und Ordnung ein, nachdem die Auswanderer ihr Gepäck so gut wie irgend möglich verstaut und auf Kisten und Koffern Platz genommen hatten. Hinter sich hörte Eve lebhafte Unterhaltung und ab und zu auch lautes Gelächter.

 

Der Kanal von Albany am Hudson River bis nach Buffalo am Eriesee war hundertfünfundzwanzig Meilen lang. Ein paar tausend wilde Iren, frisch aus ihrer Heimat eingewandert, hatten das Kanalbett in achtjähriger Arbeit ausgehoben. Im Herbst des Jahres 1825 hatte Gouverneur DeWitt Clinton den Kanal eröffnet. Damit war ein großer Schritt getan, um neuen Siedlern den Westen zu öffnen. Innerhalb von zwanzig Jahren stieg die Bevölkerungszahl von Ohio vom dreizehnten auf den dritten Platz. Die Einwohnerzahl von Michigan stieg auf das Sechzigfache. Viertausend Schiffe und Flussboote benutzten den Kanal, und mehr als zwanzigtausend Menschen lebten auf dem Wasser.

Die Mannschaft eines Kanalbootes bestand aus drei bis vier Personen. Ein Junge oder Mann trieb für einen Lohn von sieben bis zehn Dollar pro Monat das Gespann über den Treidelpfad. Ein Steuermann konnte sogar bis zu dreißig Dollar im Monat verdienen, was damals sehr viel Geld war. Nicht selten fungierte der Kapitän gleichzeitig als Steuermann. Sonst saß er auf Deck herum, rauchte seine Pfeife und schrie Verwünschungen zu anderen Booten hinüber.

Boote von allen Formen und Größen und Farben tummelten sich in beiden Richtungen auf dem Kanal und kämpften verbissen um die Fracht. Es ging überhaupt sehr laut zu. Das Heulen der Dampfsirenen oder Tuten der Schiffshörner verstummte fast nie.

Der Drang der Menschen nach Westen war nun schon über hundert Jahre alt, aber erst jetzt nahm diese Bewegung einen ungeahnten Aufschwung, der sie in der Weltgeschichte einmalig machen sollte.

Es hatte immer Männer gegeben, die nach Westen gezogen waren, um dort ihr Glück zu versuchen: Fallensteller und Händler, die Geschäfte mit den Indianern abschließen wollten. In jedem Jahr drangen sie ein Stück weiter in die Wildnis vor. Es waren Abenteurer und Jäger. Vor allem die Männer in den Bergen drangen bis in den äußersten Westen vor. Aber alle waren Einzelgänger. Sie zogen über die Berge bis zum Ohio und schließlich sogar bis zum Mississippi herunter. Einer von ihnen war Daniel Boone.

Dann kaufte Jefferson im Jahre 1803 Louisiana. Über Nacht wurde die junge Nation damit zu einem Land von weitreichenden Grenzen. Mit diesem geographischen Wandel erfolgte auch ein Wandel in der nationalen Psychologie.

Die Lewis-und-Clark-Expedition ging nach Westen. Sie erforschte einen Weg über die fernen Berge bis zum Pazifik. Als sie schließlich heimkehrte, zogen es einige Männer wie John Coulter vor, im Westen zu bleiben. Ihnen folgten Kit Carson, Jim Bridger, Bill Williams, Joe Walker... und Linus Rawlings.

Farmerjungen ließen Land und Pflug im Stich und zogen nach Westen. St. Louis und Independence waren die Ausgangsorte. Manche behaupteten, es wäre das Pelzgeschäft gewesen, das diese jungen Menschen immer weiter nach Westen trieb; andere hielten Gold oder Land für die Ursache. Aber letztlich war es wohl ganz einfach der Westen, der sie nach Westen lockte. Sie zogen nach Westen um des freien, wilden Lebens willen, aus Liebe zum Abenteuer, aus Sehnsucht nach der unendlichen Prärie, wo der Wind beständig über Tausende von Meilen saftigen Weidelandes wehte.

Sie benutzten den Eriekanal oder den Weg durch die Wildnis. Wenn sie zurückkehrten, dann weckten fremde Namen merkwürdige Sehnsüchte nach dieser Fremde in den Herzen der Zuhörer und machten sie ruhelos.

Männer zogen nach Westen über den Overland-Trail, Santa Fé-Trail, Oregon-Trail, Hastings Cut-Off, Applegate Road. Und viele von ihnen tränkten das neue Land mit ihrem Blut, aber wo sie starben, nahmen andere ihre Stelle ein und lebten weiter.

Draußen auf den endlosen Ebenen begegneten sie den Indianern, der besten leichten Kavallerie, die es je gegeben hat. Die Rothäute lebten nur für Kampf und Krieg. Sie fielen über die Lager der Weißen her, und wenn es ihnen gelang, sie zu besiegen, dann mordeten und plünderten und marterten sie. Reich mit Beute beladen kehrten sie zu ihren Stämmen zurück. Doch der Strom der weißen Männer riss nicht ab.

Etwas hatte sich inzwischen jedoch grundlegend geändert. Jetzt zogen die weißen Männer nicht mehr allein westwärts, sondern brachten Frau und Kinder mit. Sie kamen nicht mehr, um ein Abenteuer zu erleben, sondern um für immer hier zu bleiben und Wurzeln zu schlagen.

Die Jungen, die Alten und alle Jahrgänge dazwischen - niemand war mehr gegen den Traum immun, der die Menschen nach dem Westen lockte. Die Schwachen blieben unterwegs auf der Strecke oder gaben vorzeitig auf und kehrten zu ihrem früheren Leben in der sicheren Geborgenheit der Gemeinschaft zurück, aber die Starken überlebten oder fielen im Kampf, und die Überlebenden gingen aus jedem Kampf gestärkt hervor.

 

Eve Prescott blieb an der Reling stehen, während das Boot langsam durch das Wasser gezogen wurde. Die fremden, poetischen, musikalischen Namen, die hinter ihr ausgesprochen wurden, gingen ihr ins Blut.

Es waren seltsame, wundervolle Namen, jeder das Symbol einer wilden Romanze. Santa Fé und Taos; Ash Hollow und Cross Timbers; Arkansas; Boggy Depot; Washita; Cotton Creek; der südliche Arm des Cimarron. In ihrem Klang lag ein mystischer Zauber.

Langsam glitt das Boot am Kanalufer entlang. In den Fenstern der Häuser spiegelte sich die Sonne. Plötzlich schrie jemand: »Vorsicht! Brücke! Brücke! Runter mit den Köpfen - oder ihr verliert den Skalp!«

Die großen Hörner tuteten. Jemand in der Nähe sprach ein seltsames Wort aus: Arapahoes. Andere, nicht minder merkwürdige Namen mischten sich zu erregender Musik.

»...bevorzugte das North-Gewehr. Niemand kann ein besseres Gewehr herstellen als Simon North!«... »Cheyenne«... »hat sein Haar verloren!«...  »Spanish Fork«... »Hal's Patent von North«... »Zündnadelgewehr? Und was ist, wenn dir die Zündhütchen ausgehen, he?«... »...Co- manches!«... »Flusspiraten«... »Texas«... »Pelze, so dick, dass man's kaum fassen kann!«... »Jawohl, Flusspiraten!«

Wieder tuteten die Hörner.

»Vorsicht! Brücke!«

Vom Treidelpfad herüber klang das Knallen einer Peitsche wie ein Pistolenschuss.

»...viel zu weit südlich für die Sioux!«... »Unten am Ohio«... »nie wieder gesehen!«

»Vorsicht! Brücke! Vorsicht!«

Erneutes Hörnertuten. Das Echo brach sich an den fernen Bergen.

Plötzlich tauchte Sam neben Eve auf.

»He...!«, rief er. »Bist du denn gar nicht aufgeregt, Eve? Ich hab' mich schon gewundert, wo du steckst! Stell dir doch bloß mal vor, Eve! Wir werden Flöße bauen und damit den Ohio hinabfahren! Na, ist das etwa nichts?«

»Doch, Sam, doch. Ja, das ist schon etwas.«

In Gedanken aber fragte sie sich: Würde der Mann, den sie zwar noch nie gesehen, von dem sie aber ständig geträumt hatte, irgendwo dort draußen im fremden Land zu finden sein?

 

 

 

3.

 

 

Eve Prescott richtete sich vom Feuer auf und strich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihr Gesicht war von der Hitze gerötet. Sie stand eine Minute da und lauschte auf das Brodeln im Topf.

Die großen Bäume, noch dunkler als die sternenlose Nacht, ragten um sie herum empor. Es waren uralte, mächtige Bäume. Selbst den kleinsten von ihnen hätten ihr Vater, Sam und Zeke nicht umspannen können, wenn sie sich an den Händen gehalten hätten.

Der Wind raschelte leise in den Zweigen. Das Feuer knisterte und prasselte. Kaum zwanzig Yards entfernt rauschte das Wasser.

Die erwartungsvolle Heiterkeit und die hoffnungsvollen Gespräche während der Kanalfahrt lagen schon weit hinter ihnen. In Buffalo hatten sie das Schiff verlassen und ein paar Dollar für einen zweirädrigen Karren bezahlt, auf dem sie die wenigen Habseligkeiten verladen hatten. Gemeinsam hatten sie dieses Gefährt etwa dreihundert Meilen weit zum Ohio gezogen oder geschoben. Dort war ein Floß gebaut worden. Auch die Harveys, die mit ihnen ziehen wollten, hatten ein Floß gezimmert.

Jetzt lagen beide Flöße miteinander verbunden am Flussufer. Man hatte sie an einem Baum vertäut. Morgen würden sie wieder den ganzen Tag lang stromabwärts treiben; weiter auf diesem Fluss, der kein Ende zu nehmen schien.

Das Feuer war angenehm. Selbst hier auf der Lichtung in unmittelbarer Nähe des Flussufers schien das Land unendliche Ausmaße zu haben. Sam und Pa richteten eine Unterkunft aus Zeltplanen für die Nacht her. Ma schnitt große Streifen Fleisch von einem Stück Wild, das Sam am Morgen erlegt hatte.

Eve begann allmählich zu begreifen, was diese Wildnis aus einem Mann machen konnte. Zum erstenmal spürte sie auch eine leichte Veränderung im gegenseitigen Verhalten der Eltern. Ma war schon immer eine kräftige, resolute Person gewesen, die mit Zebulon gewissermaßen auf gleicher Stufe gestanden hatte. Manchmal war sie ihm an Autorität sogar überlegen gewesen. Jetzt zeigte sie auf einmal mehr Respekt ihrem Mann gegenüber. Er richtete das Lager her, spaltete Holz und übernahm alle anderen Lagerarbeiten mit einer ruhigen Selbstsicherheit, die Eve an ihm noch nie bemerkt hatte. Bisher hatte sie nicht einmal geahnt, dass ihr Vater sich als ein solcher Turm der Stärke herausstellen könnte.

Hier in der Wildnis wurde sich ein Mann seiner selbst stärker bewusst, denn von seiner eigenen Kraft hing nun das Leben der anderen ab. Mehr denn je konnte Eve deshalb jetzt auch begreifen, warum es die Männer so unwiderstehlich in die Wildnis zog, denn sie stellte eine Herausforderung an ihre Stärke, an ihren Einfallsreichtum, an ihren Verstand und Willen dar. Die Männer liebten es, dieser Herausforderung zu begegnen und mit den Gegebenheiten dieser Wildnis fertigzuwerden.

Eve setzte sich nahe ans Feuer und griff nach ihrem Buch, das sie dicht über die Flammen hielt, um besser lesen zu können.

Nach einer Weile schlenderte Lilith herüber. Eve sah auf.

»Hör dir das mal an, Lilith«, sagte sie. » Es gab eine kleine Lichtung im Wald. Der junge Hinterwäldler schnitt mit seinem Messer zwei Herzen in die Rinde eines Baumes, dann trat er zehn Schritte zurück und warf das Messer so geschickt, dass es mit der Spitze genau zwischen den beiden Herzen steckenblieb.« Aufmerksam hörte Lilith zu, als Eve nun weiterlas. »»Seine Treffsicherheit war geradezu unheimlich. Dreimal warf er das Messer. Das war für das Glück, sagte er nach dem ersten Wurf. Und das für die Liebe - nach dem zweiten Wurf. Und das war ein Gebet, dass unsere Liebe nie sterben soll, erklärte er beim dritten Mal.» Ist das nicht wunderschön, Lilith?« schloss Eve verträumt.

»Ich denke schon... falls ein Mann je so etwas sagen sollte.«

»Es kommt doch nicht auf die Worte, sondern nur auf das Gefühl an.«

»Ich verstehe dich nicht, Eve. Du willst die Frau eines Farmers werden, aber du wirst nie einen Farmer finden, der deinem Ideal von einem Mann entspricht. Und eigentlich willst du ja gar keinen Farmer heiraten.«

»Du aber auch nicht.«

»Ich möchte einen Mann, der immer gut riechen muss. Ich möchte ausgehen und in eleganten Restaurants speisen. Alles was ich wollte, schien es im Osten zu geben, aber jetzt sind wir hier, und wir ziehen immer weiter und weiter und weiter. Aber warte es nur ab! Ich werde all diese schönen Sachen schon noch bekommen!«

»Du bist ja auch erst sechzehn, Lilith. Du hast noch viel Zeit. Außerdem zählt nur der Mann, nicht der Ort, wo er lebt.«

»Der Mann, den du dir erträumst, den gibt's doch gar nicht! Den hat's nie gegeben und wird's auch nie geben!« behauptete Lilith.

»Das glaube ich nicht, Lil. Das kann ich einfach nicht glauben. Ich weiß genau, was ich empfinde, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich die einzige sein soll, die solche Gefühle hegt. Ich will einen Mann, der mich liebt, nicht nur einen Mann, der eine Frau für seine eigene Bequemlichkeit braucht. Und irgendwo muss es einen solchen Mann geben, der genauso fühlt wie ich.«

»Und diesen Mann glaubst du irgendwo hier draußen im Westen zu finden, Eve?«, fragte Lilith ungläubig. Es klang leicht ironisch.

»Wo denn sonst? Mir scheint, dass ein Mann, der so denkt und fühlt wie ich, höchstwahrscheinlich ebenfalls nach Westen ziehen würde. In ihm muss so etwas wie Poesie stecken, und deshalb müsste es ihn zu den Bergen und Wäldern und unendlichen Ebenen ziehen. Nun ja, auf einer Farm gibt's natürlich auch so etwas wie Poesie, aber sie bleibt eben immer nur auf die Farm beschränkt. Harte Arbeit, natürlich, aber alle lohnenswerte Dinge im Leben müssen hart erarbeitet werden, denke ich. Ein Mann, der den Boden pflügt, die Saat in die Erde bringt und dann beobachtet, wie die Ernte langsam heranwächst... oh, ja - ich glaube schon, dass auch darin Poesie liegt. Ich habe einmal jemanden sagen hören, dass wahre Kraft nur aus der Erde erwächst, und das glaube ich auch.«

»Eve...!«, rief Rebecca. »Pass auf das Fleisch auf! Es wird Zeit, die Zwiebeln in den Topf zu werfen!«

Zebulon und Sam traten ans Feuer.

»Heute Nacht müssen wir scharf aufpassen, Sam«, sagte Zebulon. »Man hat von Flusspiraten gesprochen, die andere Leute ermorden, nur um ihnen ihre Sachen abnehmen zu können. Und da wir ja auch an die Frauen denken müssen, heißt es besonders gut aufpassen.«

»Ich werde bis Mitternacht aufbleiben, Pa«, schlug Sam vor. »Du kannst dann die Wache bis zum Morgen übernehmen. Diese Harveys...« - Er warf einen missbilligenden Blick zu der anderen Familie hinüber - »...die haben meiner Meinung nach einen viel zu gesunden Schlaf.«

Von den Bäumen, wo die Harveys ihr Lager aufgeschlagen hatten, klangen Axtschläge herüber.

»Kräftige Burschen«, meinte Zebulon anerkennend. »Ich wünschte nur, dass Eve sich für einen von ihnen entscheiden könnte.«

»Na, na, Pa!« protestierte Sam. »Das ist doch nicht dein Ernst? Keiner der drei wäre der richtige Mann für Eve... und auch nicht für Lilith. Zugegeben, es sind gute Männer, mit denen sich auch gut arbeiten lässt, aber sie sind doch nichts für Eve und Lilith. Unsere Mädchen sind doch... na ja, eben so ganz anders. Nicht dafür geschaffen, solche Männer zu heiraten.«

Die beiden Mädchen hatten sich inzwischen vom Feuer entfernt. Die Männer hörten, wie sie sich neben der Unterkunft in einem Zuber wuschen.

»Ich sehe gar nicht ein, dass sie so anders sein sollen«, widersprach Zebulon grollend. »Ihre Ma ist doch eine so vernünftige Frau.«

»Das haben sie von dir«, erwiderte Sam. »Hast du ihnen nicht dauernd diese Geschichten erzählt? Wie du zum Beispiel nach Albany gegangen bist, um dir diese Theaterleute anzusehen? Manchmal glaube ich fast, Pa, dass du selbst nicht richtig weißt, was du eigentlich willst. Nehmen wir doch nur dieses Unternehmen. Versteh mich nicht falsch - ich war von Anfang an dafür. Ma übrigens auch. Aber vergiss auch nicht, dass du eine gute Farm aufgegeben hast, um weiter nach Westen zu ziehen. Na, und warum hast du das wohl getan, he? Weil auch du ein Gefühl für andere Dinge hast. Du liebst die Abwechslung, siehst gern prächtige Farben, hörst mit Vergnügen singenden Leuten zu. Daran ist nichts verkehrt, sicher nicht, aber wenn du eins von unseren Mädchen mit einem dieser Harvey-Burschen verheiraten willst, wirst du ihnen das Herz brechen!«

»Du redest Unsinn«, brummte Zebulon, aber im Stillen freute er sich über die Worte seines Sohnes.

Plötzlich hörten sie jemanden auf sich zu laufen. Sie drehten sich um. Keuchend blieb Zeke vor ihnen stehen und rief aufgeregt: »Pa! Da ist was draußen auf dem Fluss! Wenn ich mich nicht getäuscht habe, und das glaube ich nicht, dann habe ich ein Paddel im Wasser platschen hören!«

Brutus Harvey hatte gerade mit einem Eimer Wasser aus dem Fluss holen wollen. Jetzt bog er ab und ging aufs Floß, wo er am äußersten Rand stehenblieb, um den Fluss besser übersehen zu können.

»Kein ehrlicher Christenmensch würde um diese Zeit noch auf dem Wasser sein«, sagte Zebulon. Er ging aber doch zum Zelt hinüber, um sein Gewehr zu holen.

»Ich kann keinen Menschen sehen!«, rief Brutus, aber so leise, dass man es gerade noch verstehen konnte.

Auch Sam griff nach seinem Gewehr und verschwand in der Dunkelheit. Die Wildnis hatte bei ihnen allen bereits ihre Spuren hinterlassen und natürliche Instinkte wieder zum Leben erweckt, die bislang unter der Oberfläche geschlummert hatten. Zum Beispiel den Instinkt, sich im Dunkeln verborgen zu halten, bis man genau wusste, ob man es mit einem Feind zu tun hatte.

Harvey und sein Sohn Colin gingen von ihrem Feuer zu Sam hinüber.

»Es soll ein Trick der Flusspiraten sein, sich so lange auf den Boden eines Bootes zu legen, bis sie dicht heran sind, um ihre Opfer unversehens anspringen zu können«, sagte Old Man Harvey.

Brutus stellte den Eimer hin, hockte sich neben den Floßaufbau und zog seine Pistole, die er ständig - hinter den Hosenbund geschoben - bei sich trug.

Langsam tauchte das Kanu aus dem Dunkel auf. Ein Mann saß am Heck und tauchte das Paddel ins Wasser. Das restliche Kanu war mit zusammengenähten Tierfellen überzogen, deren hohe Wölbung eine beachtliche Ladung andeutete.