Seymour, Bruce Lola Montez

Impressum

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Übersetzt aus dem Amerikanischen von Renate Sandner

 

© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH, 2018
© 1996 Bruce Seymour
Originally published by Yale University Press
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Lola Montez – A Life«
© Yale University Press, New Haven/London 1996
© an der Übersetzung: 1998, Bibliographisches Institut GmbH (Artemis & Winkler), Berlin
Covergestaltung: Favoritbüro München
Covermotiv: FinePic®, München

 

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Vorwort

Lola Montez behauptete einmal, über sie gebe es mehr Biographien als über jede andere lebende Frau, und sie fügte hinzu, daß eine Beschreibung ihres Lebens einer authentischen Geschichte über den Mann im Mond gleichkäme. Die Biographien über diese faszinierende Frau blieben weiterhin ungenau, und zwar hauptsächlich deshalb, weil ihr Sujet eine unverbesserliche Lügnerin war. Die Zeugnisse über ihr Leben waren über die zahlreichen Orte auf dem ganzen Globus verstreut, in denen sie gelebt und die sie besucht hatte, und ihre Biographen haben sich weitgehend damit begnügt, Lolas Lügen zu überarbeiten und noch einige neue zu erfinden. Die Anstrengungen der wenigen, die sich um die Wahrheit ernsthaft bemühten, waren durch Lolas Versuche, die Tatsachen zu verwirren, und die Erfindungen einiger Biographen vergeblich. Als ich mit dieser Biographie begann, wurde mir rasch bewußt, daß die Schilderung ihres Lebens weitgehend auf Fiktion beruhte und daß ich nur durch ein Zurückgreifen auf die ursprünglichen Quellen hoffen konnte, auf die Wahrheit zu stoßen. Die Suche nach diesen Quellen führte mich in Dutzende von Archiven und Bibliotheken in vier Kontinenten, und ich machte einige spektakuläre Entdeckungen, insbesondere den Reichtum des Materials im Ludwig I.-Archiv in der Bayerischen Staatsbibliothek.

Ich habe mich sorgfältig darum bemüht, die Geschichte Lolas auf zeitgenössische Quellen zu stützen. Wann immer ich die Quellen anzweifelte oder das Fehlen jeglicher Dokumentation mich zur Spekulation zwang, wird das im Text erwähnt. Die ersten Absätze der Biographie, die die Gedanken von Reverend Hawks beschreiben, sind eine Erfindung, die sich sehr eng an seine Memoiren über seine kurze Begegnung mit Lola Montez anlehnt, ansonsten habe ich nichts hinzugefügt. Alle Übersetzungen sind von mir. Ich bin überzeugt, daß die wahre Geschichte über das Leben von Lola Montez, die hier zum ersten Mal erzählt wird, zumindest ebenso faszinierend und unglaublich ist wie Lolas eigene Erzählungen oder die ihrer früheren Biographen.

Um jedem, der an der Weiterverfolgung der Geschichte von Lola Montez interessiert ist, die Arbeit zu erleichtern, habe ich meine gesamten Notizen und Forschungsunterlagen bei der Bancroft Library der Universität von Kalifornien in Berkeley hinterlegt. Diese, mehrere tausend Seiten lang, umfassen meine transkribierten Notizen, Fotokopien von Zeitungen und Dokumenten sowie eine frühere Version dieser Biographie mit zusätzlichem Material und ausführlicheren Zitaten. Ich habe überdies noch eine kritische Bibliographie und Anmerkungen zu einigen unbeantworteten Fragen über Lolas Leben hinzugefügt.

Ohne die Hilfe vieler Bibliothekare und Archivare wäre es unmöglich gewesen, dieses Buch zu schreiben. Als Bewahrer der gesammelten Erinnerungen der Menschheit leisten sie einen unbezahlbaren Dienst, der selten anerkannt und geschätzt wird. Jedem einzelnen an dieser Stelle persönlich zu danken, ist mir nicht möglich, doch ich bin allen für das, was sie für mich und unsere Zivilisation getan haben, überaus verbunden.

Auch möchte ich vielen Menschen und Organisationen meinen Dank aussprechen, die mir bei der Arbeit an dieser Biographie besondere Hilfe geleistet haben. Ohne meine Gewinne bei dem Fernsehspiel »Jeopardy« wäre es mir unmöglich gewesen, vier Jahre meines Lebens zu forschen und zu schreiben, und ich danke den Produzenten und Mitarbeitern der Merv Griffin Productions, daß sie mir die Gelegenheit gaben, Lolas Geschichte auf der ganzen Welt zu verfolgen. Mein besonderer Dank gilt auch Nicholas Shreeve aus Arundel in England, Joel Honig aus New York und John Duncan aus London, die mir alle wertvolle Informationen lieferten.

Die Mitarbeiter der Bayerischen Staatsbibliothek, des Bayerischen Hauptstaatsarchivs und der Harvard Theatre Collection zeigten sich besonders hilfsbereit, mich durch das umfangreiche Material über Lola Montez in ihren Sammlungen zu führen. Ihnen und den anderen Einrichtungen und Personen, die mir erlaubten, Abbildungen zu kopieren oder aus Manuskripten in ihren Sammlungen zu zitieren, bin ich zu Dank verpflichtet.

Heidi Downy, meine Lektorin beim Verlag Yale University Press, war mit der entmutigenden Aufgabe konfrontiert, einen Pfad durch das dichte Unterholz meines Textes zu schlagen. Ich danke ihr dafür, daß sie das Buch knapper und lesbarer gemacht hat.

Schließlich möchte ich allen Freunden danken, die außergewöhnliche Geduld bewiesen, als sie während der vergangenen vier Jahre mein ständiges Gerede über Lola Montez über sich ergehen ließen. Ich weiß, daß sie der Auffassung sind, ich sei Lolas letztes Opfer, verführt von Reizen, die über die Grenzen der Zeit hinausgehen, und daß sie glücklicher als ich sein werden, daß dieses Projekt nun beendet ist. Denn selbst wenn ich meine letzten Zeilen über Lola Montez beinahe mit einem Gefühl der Erleichterung niederschreibe, muß ich gestehen, daß ich sie, trotz ihrer Lügen und ihrer Anmaßung, doch vermissen werde.

Von Irland nach Indien

Hochwürden Francis Lister Hawks[1] schien besorgt, als er an einem kalten Wintertag Ende Dezember 1860 Manhattans belebte, morastige Siebzehnte Straße hinunterging. Seine quälenden Gedanken kreisten nicht um die am Horizont aufziehenden dunklen Wolken eines drohenden Bürgerkriegs, sondern um die seltsame Bitte eines Gemeindemitglieds der Calvary Episcopal Church. Diese Frau hatte eine frühe Jugendfreundin, die im Sterben lag, eine Dame, der Hawks zwar nie zuvor begegnet war, deren Ruf jedoch in der zivilisierten Welt praktisch jedem, der eine Zeitung lesen konnte, nur allzu bekannt war: Lola Montez.

Der Pfarrer konnte sich an mehr als nur eine erstaunliche Geschichte über Lola Montez erinnern, die Frau, die nun im Angesicht des Todes seinen geistigen Beistand erbat. Sie sollte unterschiedlichen Meldungen nach eine spanische Adlige, eine irische Schlampe oder gar eine gebürtige New Yorkerin sein, doch alle Berichte stimmten darin überein, daß sie in ihrer Jugend, die noch nicht allzu lange zurücklag, eine überwältigende Schönheit gewesen war, die die Herzen mächtiger und berühmter Männer in ihren Bann schlug, als sie auf den Bühnen der ganzen Welt ihre verführerischen Tänze darbot. Dem Vernehmen nach hatte sie von dem alten König Ludwig, ihrem sie vergötternden Liebhaber, die bayerische Regierung übernommen und wollte das Königreich in einen liberalen Modellstaat verwandeln, als der von Reaktionären gedungene, mörderische Straßenmob sie zur Flucht zwang. Es hieß, hinter ihrer Schönheit stecke ein physischer Mut, der jedem Manne ebenbürtig sei, und die Zigaretten, die sie ständig rauchte, charakterisierten ihre Verachtung konventioneller Weiblichkeit. Sie konnte reiten wie eine Amazone, traf sicher mit der Pistole und hatte mehr als einen Mann, der es gewagt hatte, ihren Charakter anzuzweifeln, ihre Peitsche spüren lassen. Lola habe, so wurde erzählt, den größten Teil der Welt gesehen und fühlte sich in einer Hütte in Indien ebenso zu Hause wie in einem Palast. Je nachdem, welcher Geschichte man Glauben schenken wollte, war Lola Montez eine lebende Furie oder die Verkörperung weiblichen Liebreizes, eine Frau von beeindruckendem Intellekt oder ein gewöhnliches Flittchen, die erstaunlichste Erscheinung ihres Zeitalters oder eine größere Schwindlerin als Barnum. Sorgenfalten durchzogen die Stirn über den buschigen Augenbrauen von Hochwürden Hawks, als er überlegte, ob er bei seiner Mission bei der sterbenden Frau der aufrichtigen Beichte einer wahrhaft reuigen Christin beiwohnen oder nur Zeuge der pathetischen Verzweiflung einer sündigen Hure sein würde, deren einziges Bedauern war, daß der Tod sie an weiteren Fehltritten hinderte.

Der Priester traf sein Gemeindemitglied in der West Seventeenth Street, kurz vor der Fifth Avenue, und gemeinsam gingen sie die wenigen Häuserblöcke hinunter bis zur Hausnummer 194 auf der südlichen Straßenseite der West Seventeeth Street, kurz vor der Eight Avenue. Es war eine bürgerliche Wohngegend mit anständigen Pensionen. Die Frau wies ihm den Weg die Treppe hinauf zu einer kleinen Hinterhauswohnung. Hawks betrat ein einfaches Zimmer und sah im flackernden Lampenschein auf das Gesicht von Lola Montez herab, das einst schön, nun durch Krankheit eingefallen und zerstört, aber immer noch lebhaft war. Die dunkelblauen Augen zeichneten sich unnatürlich groß und ausdrucksvoll in dem blassen, von pechschwarzem Haar umrahmten Gesicht ab.

Der Pfarrer muß sich gefragt haben, wie die zerbrechliche Gestalt, die vor ihm lag, die Bewunderung und das Begehren von Königen und Kaisern erregt haben, den zornigen Mob eingeschüchtert und unbekümmert getanzt haben konnte. Aber Lola hatte sich selbst eingestanden: »Ich habe alles erlebt, was die Welt zu geben hat – alles!«[2] Nun, da sie im Sterben lag, konnte sie auf vierzig Jahre voller Abenteuer zurückblicken, die für vierzig Lebenszeiten ausreichten.

 

Lola hatte einmal geschrieben, daß »unsere ersten Gefühle immer unsere letzten Erinnerungen bleiben«,[3] und für sie werden sich diese letzten Erinnerungen auf eine exotische Kindheit in Indien bezogen haben. Die sengende Sonne des Subkontinents hatte offensichtlich die ersten drei Lebensjahre, die sie in der grauen, frostigen Atmosphäre Irlands verbracht hatte, in ihrem Gedächtnis verblassen lassen. Sie kam im Sommer 1823 mit ihrem Vater, einem Fähnrich der Britischen Armee, und ihrer Mutter, der illegitimen Tochter einer Stütze der herrschenden protestantischen Klasse Irlands, in Indien an.

Etwas von dem Abenteuerdurst seiner Tochter mußte von dem Fähnrich Edward Gilbert stammen, der seinen sicheren, aber langweiligen Polizeidienst im unzufriedenen irischen Hinterland gegen den Dienst in einem anderen Regiment in Indien eintauschte. Indien war nicht nur viel exotischer als Irland, auch der Sold dort war besser und reichte länger; und die Chancen eines Offiziers auf Beförderung, falls er sich den Krankheiten, dem Klima und den rebellischen Eingeborenen besser als seine Vorgesetzten widersetzen konnte, waren viel größer als zu Hause.

Gilbert war gerade sechsundzwanzig,[4] als er in Kalkutta eintraf, aber er hatte bereits sechs Dienstjahre als Armeeoffizier hinter sich. Lola beschrieb ihn als einen Mann mit einem hübschen, jungenhaften Gesicht, das mit hellblondem Backenbart und einem dünnen Schnurrbart verziert war. Seine genaue Herkunft liegt im dunkeln, aber ganz sicher entstammte er, ob legitim oder illegitim, dem Hochadel oder dem wohlhabenden niederen Adel.

Er war Ende Dezember 1818 mit dem 25. Infanterieregiment in die Grafschaft Cork gekommen,[5] und das Regiment machte sich daran, die Rebellion in der irischen Domäne von König Georg zu unterdrücken. Cork hatte durchaus seine Attraktionen, und eine davon waren die irischen Mädchen. Lola berichtete, ihr Vater habe ein heiteres und gewinnendes Wesen besessen, und möglicherweise war es dieses Wesen ebensosehr wie seine jugendliche Gestalt in der roten Uniformjacke und den engen Hosen, die Eliza Oliver, die vierzehnjährige Gehilfin einer Putzmacherin, anzogen. Der Name Oliver hatte sowohl in der Grafschaft Cork als auch in der angrenzenden Grafschaft Limerick einen guten Klang; die Familie besaß viele Ländereien und kontrollierte die meisten öffentlichen Ämter sowie die parlamentarische Vertretung der Gegend. Eliza war stolz auf ihre Herkunft aus dieser einflußreichen protestantischen Familie, auch wenn sie ein uneheliches Kind war. Ihr Vater, Charles Silver Oliver, ehemaliger hoher Verwaltungsbeamter von Cork und Parlamentsmitglied, hatte mit der Heirat gewartet, bis er über Vierzig war, doch während dieser Bedenkzeit hatte er mit Mary Green, seiner Geliebten, vier Kinder in die Welt gesetzt.

Eliza oder Elizabeth,[6] wie ihr Vater sie nannte, war das jüngste Kind Olivers von Mary Green. Sie wurde 1805 geboren, in demselben Jahr, in dem ihr Vater schließlich eine einheimische Erbin aus guter Familie zur legitimen Ehefrau nahm und sieben eheliche Erben für den Namen Oliver zu zeugen begann. Doch Eliza und ihre Schwester Mary sowie die Brüder John und Thomas trugen alle ebenfalls den Namen ihres Vaters, und er sorgte für ihr Wohlergehen, selbst nach dem Tod ihrer Mutter. Die Jungen gingen bei einem Lebensmittelhändler und die Mädchen bei Mrs. Hall, einer Putzmacherin in Cork, in die Lehre, so daß sie sich selbst anständig durchs Leben bringen konnten. Und als Oliver 1817 schließlich starb, hinterließ er jedem seiner vier »mutmaßlichen« Kinder 500 Pfund, eine beträchtliche Summe in jenen Tagen, die ihnen an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag ausgezahlt werden sollte.

Leutnant Gilbert war wohl eher von Eliza Olivers hübschem Gesicht, ihren dunklen Augen und dem rabenschwarzen Haar angetan als von dem, was er möglicherweise über ihren Vater und ihre Erbschaft erfahren hatte.[7] Zwischen dem britischen Offizier und dem irischen Mädchen entwickelte sich eine Romanze, und im Frühjahr 1820 dachten sie an Heirat. Genau um diese Zeit wurde Gilberts Regiment aus Cork abgezogen. Soldaten im Polizeidienst wurden regelmäßig an andere Orte versetzt, um sie davon abzuhalten, mit dem Volk, das sie unterdrücken sollten, zu fraternisieren, und das 25. Infanterieregiment wurde in das Hinterland geschickt, um eine Rebellion weiter nördlich zu unterbinden.[8] Um eine Fraternisierung zwischen Edward und Eliza zu verhindern, war es jedoch schon zu spät, und am 29. April 1820 wurden sie in Cork in der Christ Church getraut, wo der Bürgermeister von Cork und die protestantische Elite der Stadt ihre Kirchenbänke innehatten. Und falls irgend jemand das Aufgebot übersehen haben sollte, wurden in den Zeitungen Inserate aufgegeben, so daß alle von der Heirat von »Edward Gilbert, wohlgeb., 25. Regiment, mit Eliza, der Tochter von Charles Silver Oliver, wohlgeb., aus Castle Oliver, Mitglied des Parlaments« erfahren würden.

Das junge Paar begann ein unstetes, von vielen Umzügen geprägtes Eheleben, da Gilberts Kompanie in den Grafschaften Roscommon und Sligo von einer Stadt zur anderen beordert wurde.[9] Dieses Zigeunerleben muß noch schwieriger geworden sein, nachdem die fünfzehnjährige Braut schnell in andere Umstände kam. Im Hochwinter befanden sich der Fähnrich Gilbert und seine Frau in Grange, einem in Meeresnähe und im Schatten des Ben Bulben Mountains gelegenen Dorf nördlich von Sligo; und dort wurde am 17. Februar 1821 das Kind, das der Welt später als Lola Montez bekannt werden würde, geboren. Seine Eltern gaben ihm den Namen Elizabeth Rosanna Gilbert, wenngleich seine Mutter es stets Eliza nannte. Später würde Lola Limerick als ihren Geburtsort angeben, doch das war nur eine ihrer vielen Lügen.

Vielleicht war es sein Status als frischgebackener Familienvater, der Gilbert dazu bewog, nach einer Position mit höherer Bezahlung und einer besseren Aussicht auf schnelle Beförderung Ausschau zu halten, oder vielleicht hatte er die gleiche Sehnsucht nach Abenteuern, die seine Tochter verzehren würde. Im Jahr 1822 gelang es ihm schließlich, seinen Posten mit einem frischen Absolventen der Militärakademie in Sandhurst zu tauschen, der dem 44. Regiment, das sich bereits auf dem Weg nach Indien befand, zugeteilt worden war. Der englische Handel mit Indien war zu jener Zeit ein Monopol der Britischen Ostindienkompanie, einer Gesellschaft, die als Quasi-Regierung in den von Großbritannien beherrschten Teilen des Subkontinents fungierte. Die Ehrenwerte Gesellschaft, wie sie hieß, besaß ihre eigene Armee aus einheimischen Truppen, die von britischen Offizieren befehligt wurden. Diese Truppen wurden jedoch mit Regimentern der regulären britischen Armee ergänzt. Die englischen Soldaten standen im Ansehen weit über den einheimischen, und durch die allgemeine Verringerung des Militärs nach den Napoleonischen Kriegen war das Kriegsministerium froh, für einige seiner Regimenter eine Einsatzmöglichkeit zu haben.

Also reisten die Gilberts nach England, um Vorkehrungen für die Überfahrt nach Indien zu treffen, und am 14. März 1823 segelten sie von Gravesend ab, ohne zu wissen, wann sie wiederkehren würden.[10]Vor dem Bau des Suezkanals brauchte man für die Reise nach Indien etwa vier Monate, mit einer oder zwei Unterbrechungen, um Wasser und Vorräte zu laden. Gilbert erreichte Kalkutta, die Hauptstadt der Präsidentschaft Bengalen, im Sommer 1823 und mußte feststellen, daß sein neues Regiment schon in die Garnison Dinapore in der Nähe von Patna, fast vierhundert Meilen den Ganges hinauf, beordert worden war.

Nach vier Monaten auf See waren Gilbert und seine Frau wohl nicht sehr begeistert darüber, sich sofort wieder mit ihrer kleinen Tochter auf die beschwerliche Reise flußaufwärts zu machen, aber es war schon fast ein Jahr vergangen, seit er offiziell zu seinem neuen Regiment versetzt worden war, und jede weitere Verzögerung, sich zum Dienst zu melden, wäre schwer zu rechtfertigen gewesen. Die Familie schloß sich wahrscheinlich den letzten Kompanien des Regiments an, die von Kalkutta aufbrachen, und begann die Reise in kleinen Schiffen den Ganges hinauf.[11] Die Expedition reiste nur bei Tageslicht und legte im Durchschnitt etwas über zehn Meilen am Tag durch die trügerischen Stromschnellen und Untiefen des gewaltigen Flusses zurück. Durch die Hitze, den Monsunregen, die Insekten und das langsame Vorwärtskommen des Schiffes war die Fahrt alles andere als eine Vergnügungsreise. Die Eingeborenen, die auf der weiten Ebene zu beiden Seiten des Flusses ihre Felder bestellten, waren den Fremden gegenüber nicht wohlgesonnen, und sie verkauften ihnen nur sehr widerstrebend Proviant.

Leutnant Gilbert hatte sich bereits für das langwierige Unternehmen gerüstet und zehn Bände des New British Theatre, drei Bände von Popes Werken, Rhyme and Reason, Essays on Physiognomy sowie eine französische Grammatik mitgebracht.[12] Mit seinen Farben und Stiften und der Zeichenausrüstung wollte er die Landschaftsbilder Indiens einfangen, und an den Abenden konnte er seine Mitreisenden auf seiner mit silbernen Paßstücken ausgestatteten Flöte unterhalten.

Trotz der Unbequemlichkeit und des langsamen Vorankommens der Schiffe mußten die Reisenden von der Exotik Indiens fasziniert gewesen sein. Der Fluß erstreckte sich in seinem Hauptkanal über eine Breite von drei Meilen, und die Landschaft wechselte zwischen ausgedehntem Weideland, üppigen Farmen und Wäldern, in denen graue Affen kreischten. Die Inder selbst, die entlang des Wasserweges ihren täglichen Arbeiten nachgingen, mußten den Briten auf wunderbare Weise fremdartig erschienen sein.

Doch für Leutnant Gilbert war die Reise nicht der Beginn eines großen Abenteuers. Als die Schiffe sich in Patna dem großen Markt am Flußufer näherten, hatte er wahrscheinlich schon unter Erbrechen und Durchfall, den für den Ausbruch von Cholera typischen Symptomen, gelitten; und am 22. September, nachdem die Gruppe die wenigen letzten Meilen zu dem Quartier in Dinapor zurückgelegt hatte, wurde Gilberts Name in die Musterrolle sowohl als Neuzugang, der sich zum Dienst meldete, als auch als Todesfall eingetragen.[13]

Als junge, hübsche Offizierswitwe würde Mrs. Gilbert ohne Schwierigkeiten sowohl in der regulären britischen Armee als auch in den Regimentern der Ehrenwerten Gesellschaft Bewerber gefunden haben. Sie verfügte zwar über eine kleine Witwenpension, doch wäre für sie in der heimatfernen Gemeinde in Indien gesellschaftlich oder wirtschaftlich wenig Spielraum gewesen, wenn sie sich nicht wieder verheiratet hätte.

Nach Lolas Aussage[14] war ihre Mutter eine eitle, egozentrische Frau, die sich hauptsächlich mit den Menschen und Ereignissen in ihrer Umgebung befaßte; Feste, Bälle und Gesellschaften waren der Mittelpunkt ihrer Welt. Sie gehörte zu jenen unglücklichen Frauen, schrieb Lola, die unter nervöser Erschöpfung leiden, wenn sie mit ihren Gedanken alleine gelassen werden.

Wenn das der Fall war, dann erwog die Witwe Gilbert wahrscheinlich niemals ernsthaft, sich an dem abgelegenen und unwegsamen Außenposten niederzulassen, wo sie ihren Ehemann begraben hatte. Selbst wenn sie in Indien bleiben wollte, wäre es bestimmt ihr Ziel gewesen, nach Kalkutta – dem Sitz des Generalgouverneurs und dem Zentrum der britischen Gesellschaft auf dem Subkontinent – zurückzukehren. Doch da es auf dem Fluß keinen regulären Passagierverkehr gab, mußte sie warten, bis ein Konvoi von Schiffen sich auf die Rückreise machen würde.

Die anderen Offiziersfrauen halfen wahrscheinlich dabei, sich um Lola zu kümmern.[15] Sie war alt genug, den Verlust ihres Vaters zu spüren. Die neuen Gesichter, Anblicke und Gerüche mußten ihr dabei geholfen haben, sich von dem Kummer, den sie vielleicht gefühlt haben mochte, abzulenken. Lola beschuldigte ihre Mutter immer, sie vernachlässigt und der Pflege allzu nachsichtiger indischer Kindermädchen, den Ayas, überantwortet zu haben, die es zuließen, daß sie verwöhnt und undiszipliniert wurde. Das Grundmuster ihres Verhaltens wurde vielleicht bereits während ihres Aufenthalts in Dinapore festgelegt.

Einen Monat nach Gilberts Tod versteigerte das Regiment seine persönliche Habe. Der Erlös und eine weitere Summe, die dem verstorbenen Offizier zustand, zusammen 60 Pfund, wurden der Witwe ausbezahlt.[16] Dieser Betrag hätte wohl mehrere Monate für den Unterhalt der Witwe und ihrer Tochter gereicht, aber bei weitem nicht für die Rückreise nach Großbritannien. Ob die Witwe nun um ihren Mann ein volles Jahr trauern wollte oder nicht, das einzige, was sie tun konnte, um für sich und ihre Tochter zu sorgen, war, unverzüglich einen neuen Ehemann zu finden.

Mutter und Tochter traten wahrscheinlich im November die Reise nach Kalkutta an. Möglicherweise trafen sie den jungen schottischen Leutnant Patrick Craigie bereits auf ihrer Fahrt flußabwärts.[17] Craigie, der dem 19. Einheimischen Infanterieregiment der Britischen Ostindienkompanie angehörte, war gerade von seinem Posten als Bewacher des politischen Vertreters der Kompanie am Hof von Jaipur nach Kalkutta zurückbeordert worden, und er könnte sich um diese Zeit auf der nach Dinapore gelegenen Strecke flußabwärts befunden haben.

Craigie war 24 und seit fünf Jahren in Indien.[18] Er stammte aus einer großen, dem Mittelstand angehörenden Familie in Montrose an der Ostküste Schottlands. Er war beliebt bei seinen Offizierskameraden, und seine Vorgesetzten hielten ihn für pünktlich, fröhlich und diensteifrig. Der junge Schotte besaß eine eindrucksvolle Gestalt, und sein ovales Gesicht war von einem hellbraunen Backenbart eingerahmt, den er vielleicht wachsen ließ, um die hohe Stirn auszugleichen, die er durch vorzeitigen Haarausfall hatte. Craigie hatte auch begonnen, sich einen Namen als Verwaltungsoffizier zu machen, der fähig war, die unzähligen Einzelschritte im Zusammenhang mit der Bewegung und Versorgung großer Truppenverbände zu koordinieren.

Zwischen Craigie und der Witwe schien sich während des folgenden Sommers eine ernsthafte Liebesbeziehung entwickelt zu haben, als Craigie auf Bitten von Oberstleutnant William Innes zum Dienst an die Grenze des Distriktes Sylhet berufen wurde, der heutigen nordöstlichen Grenze zwischen Bangladesch und Indien.[19] Am 16. August 1824, nicht einmal ein Jahr, nachdem sie ihren ersten Ehemann begraben hatte, wurde die 19jährige Eliza Gilbert die Frau von Patrick Craigie.

Craigie gewann nicht nur die irische Witwe, sondern auch ihre blauäugige Tochter lieb, schrieb Lola.[20] Sicher ist, daß Lolas Erinnerungen an ihren Stiefvater weit glücklicher waren als die Erinnerungen an ihre Mutter. Sie schrieb immer voller Zuneigung über ihn und sagte, er habe sie davor bewahrt, ihren echten Vater je zu vermissen. Obwohl ihr Stiefvater Eliza immer als »Mrs. Craigies Tochter« bezeichnete, war er fröhlich und sanftmütig und die Hauptquelle ihres Glücks in ihrem neuen Hausstand. Durch seinen Dienst war Craigie die meiste Zeit im Feld, weit entfernt von zu Hause, und ihre Mutter, wenn wir Lola glauben wollen, überließ sie weitgehend der Fürsorge der Ayas. Lola beschrieb sich später als ein halbnacktes, auf der Hüfte ihres Kindermädchens sitzendes Kind, das ständig verwöhnt und gelobt wurde.

Lola berichtete ferner, daß sie, während ihre Mutter sich mit Kleidern und Unterhaltungen beschäftigte, unter der nachsichtigen Pflege ihrer Aya kaum gelernt hatte, zu gehen, zu sprechen oder selbständig zu essen.

Die Üppigkeit Indiens mit seiner unglaublichen Vielfalt an Pflanzen, Tieren und Menschen war für das verwöhnte, jedoch vernachlässigte Mädchen ein wundervoller Spielplatz, und Lola hatte zärtliche Erinnerungen nicht nur an Vögel, Affen und Blumen, sondern auch an das tägliche Leben in Indien, daran, daß sie täglich zweimal im Fluß Houghly gebadet worden war, an das ständige Schauspiel der Händler, der Tänzer, der nackten Fakire. »Ich ging stets barfuß«, schrieb sie, »und mein Verstand hatte sich noch mit nichts Anderem beschäftigt, als mit den sonderbaren und überraschenden Schauspielen, denen in Ostindien das Auge auf jedem Schritt begegnet.«[21] Sie erinnerte sich daran, wie sie Betel gekaut hatte, bis sich ihr Mund hellrot färbte, und an glühend heißen Nachmittagen im Haus lag und im Schatten dem rhythmischen Zischen der großen Luftfächer, den Punkhas, lauschte, die ohne Unterlaß von einheimischen Knaben für nur ein paar Pfennige am Tag gezogen wurden.

Ihr Stiefvater war es, erzählte Lola, der sich schließlich Gedanken darüber machte, daß die fünfjährige Eliza keine Anstalten machte, etwas anderes als ein verwöhntes und halbwildes Tier zu werden. In den letzten Monaten des Jahres 1826 gingen ihre sorglosen Tage in Indien zu Ende. Leutnant Craigie wurde zum Stellvertreter des Assistenten des Generaladjutanten in Meerut, in der Nähe Delhis und über tausend Meilen von Kalkutta entfernt, ernannt. Und etwa gleichzeitig entschloß sich Oberstleutnant Innes, sein früherer Kommandant, mit seiner Familie nach England in den Ruhestand zurückzukehren. Wenn Eliza nach Großbritannien zur Schule geschickt werden sollte, wie für Offizierskinder üblich, dann war dies der geeignete Zeitpunkt. Meerut wäre zu weit von Kalkutta entfernt gewesen, um ohne Schwierigkeiten Vorkehrungen für die Seereise zu treffen. Es traf sich gut, daß Innes und seine Frau sich auf der Fahrt nach Europa um Eliza kümmern konnten.

Craigie sorgte dafür, daß seine Stieftochter mit der Familie Innes auf der Malcolm nach London reisen durfte. Von da aus würde das Kind nach Montrose gebracht werden, um bei Craigies Vater zu wohnen. Eliza war alles andere als glücklich bei der Vorstellung, Indien verlassen zu müssen. Damals, so schrieb sie, machte sie die Erfahrung, daß niemand wirklich frei ist und daß die Welt ein einziges großes Gefängnis ist.[22]

Ihre Mutter fing begeistert an, hübsche Kleider und Toilettenartikel zu packen, die Lola als ein weiteres Beispiel für deren Eigenschaft ansah, im Trivialen und Nichtigen Glück zu finden. »So verließ ich meine erste Heimath«, schrieb sie, »die Phantasie mit den poetischen Erinnerungen, den dramatischen Feenschlössern und den berauschenden Tänzen angefüllt, unter denen meine Kindheit entflohen war.«[23]Die Familie feierte zusammen Weihnachten, und am 26. Dezember 1826 umarmten Mutter und Stiefvater das Mädchen am Diamond Harbor, neunzig Meilen flußabwärts von Kalkutta, zum letzten Mal. Der Maat schrieb in die Passagierliste des Logbuchs »Eliza Gilbert, Mrs. Craigies Tochter«,[24] die Laufplanke ging nach oben, das Segel knatterte über den Köpfen, und die Fünfjährige winkte der einzigen Familie und Heimat, die sie je gekannt hatte, ein trauriges, schmerzliches Lebewohl zu.

Vom Kind zur Frau

Eliza reiste in guter Gesellschaft. Obwohl ein Offizier der Armee der Ostindienkompanie und nicht der Britischen Armee, war Oberstleutnant Innes Ritter des Bath-Ordens. Das bedeutete, daß er über eine gute Erziehung, beste Beziehungen und Vermögen verfügte. Er, seine Frau und ihre erwachsene Tochter mußten während der viermonatigen Reise mit einer launischen, eigenwilligen und undisziplinierten Fünfjährigen fertigwerden. Die Malcolm machte halt in Madras und segelte dann quer über den Indischen Ozean, durch Stürme und Unwetter. Je weiter südwärts das Schiff fuhr, um so mehr sanken die Temperaturen. Am 10. März sichtete man Kap Agulhas, die südlichste Landspitze Afrikas, und hielt dann nördlichen Kurs auf England.[25]

Familie Innes war geduldig und freundlich zu ihrem Schützling, aber für Eliza waren sie Fremde. In dieser andersartigen Welt zeigte das Mädchen die Unbeständigkeit ihres Temperaments und ihrer Stimmungen, die zu einem ihrer Charaktermerkmale werden sollte. Für Eliza, die an ihre beiden täglichen Bäder gewöhnt war, muß die Wasserrationierung an Bord eine weitere unliebsame Überraschung gewesen sein. Jeder Passagier hatte täglich Anspruch auf zweieinhalb Liter Süßwasser, da die Tanks erst wieder auf Sankt Helena gefüllt werden konnten.

Am 19. Mai 1827, nach fast fünf Monaten auf See, legte die Malcolm in Blackwall an, das unweit des Londoner Towers flußabwärts gelegen war. Lola erhielt von Oberst Innes und seiner Frau innige Küsse, die sie als Zeichen dafür nahm, daß ihr all ihre Launen und Wutanfälle vergeben waren, und wurde der Obhut ihrer Verwandten anvertraut, die gekommen waren, um sie nach Schottland zu begleiten.[26]

Einem Kind, das in Kalkutta aufgewachsen war, muß Montrose fremd und totenstill erschienen sein. Sogar die Sonne, die tief am Himmel stand und während der kurzen, kalten Wintertage kaum zu sehen war, war hier eine andere. Das Städtchen mit weniger als zehntausend Einwohnern lag, geschützt vor dem schlimmsten Toben der Nordsee, an einer Trichtermündung und einem Tidebecken zwischen Dundee und Aberdeen.[27] Elizas Stiefgroßvater, der ebenfalls Patrick Craigie hieß, war während der Napoleonischen Kriege viermal Bürgermeister der Stadt gewesen und hatte sich 1816 aus dem Stadtrat in seine Apotheke zurückgezogen. Er und seine Frau Mary hatten während ihrer 30jährigen Ehe neun Kinder großgezogen, und das jüngste war nur sieben Jahre älter als der Neuankömmling aus Indien.

Lola erinnerte sich, daß die »Ankunft des seltsamen, widerspenstigen kleinen ostindischen Mädchens in ganz Montrose sofort bekannt wurde. Ihre eigentümliche Kleidung und, man kann wohl sagen, ihre ziemlich exzentrischen Umgangsformen dienten dazu, sie zu einem Gegenstand der Neugierde und Beachtung zu machen; und höchstwahrscheinlich bemerkte das Kind, daß es so etwas wie eine öffentliche Person war, und hatte vielleicht sogar schon in diesem frühen Alter angefangen, eigene Haltungen und Sitten anzunehmen«[28]. In Montrose erinnerte man sich später an Eliza wegen ihrer unkontrollierbaren Vorliebe für Späße und dumme Streiche; einmal, so erinnerten sich die Einwohner, hatte sie sich während des sonntäglichen Gottesdienstes in der roten Sandsteinkirche in der High Street damit amüsiert, in die Perücke des alten Herrn, der in der Kirchenbank vor ihr saß, heimlich, still und leise Blumen zu stecken.

Als sie zehn Jahre alt war, zogen die ältere Schwester ihres Stiefvaters, Mrs. Catherine Rae, und ihr Ehemann William weiter südlich nach Durham, um in Monkwearmouth eine Internatsschule zu eröffnen.[29]Es läßt sich nicht mehr rekonstruieren, weshalb Eliza mitkam, aber sie reiste mit dem Ehepaar Ende 1831 nach England. Unter den Lehrern, die eingestellt wurden, war auch ein Zeichenlehrer mit Namen Grant, der das Mädchen Jahre später folgendermaßen beschrieb:

 

Eliza Gilbert … war damals ein sehr anmutiges und hübsches Kind von etwa zehn oder (vielleicht) elf Jahren. Ihre Figur wirkte größer, als es ihrem Alter entsprach, war aber ebenmäßig geformt, von fließender graziöser Haltung, deren Charme nur durch einen Ausdruck von dreister Selbstgefälligkeit – ich würde fast sagen von hochmütiger Ungeniertheit – gemindert wurde, in völliger Übereinstimmung mit dem Ausdruck ihres sonst schönen Antlitzes, nämlich dem ihres unbezähmbaren Eigenwillens – eine Eigenschaft, die sich, glaube ich, schon seit ihrer frühen Kindheit gezeigt hatte. Ihre Züge waren regelmäßig, konnten jedoch ihren Ausdruck rasch und stark verändern. Ihr Teint war orientalisch dunkel, aber durchscheinend klar; die Augen waren tiefblau und, wie ich mich genau erinnere, von außerordentlicher Schönheit, strahlten hell und gaben wenig Hinweis auf die sanften und zarten Gefühle ihres Geschlechts als vielmehr auf stürmischere und leidenschaftliche Erregungen. Der Mund wies ebenfalls auf einen besonders entschlossenen, eher resoluten als sinnlichen Charakter hin, und alles in allem war es unmöglich, sie längere Zeit anzusehen, ohne die Überzeugung zu gewinnen, daß sie sehr eigenwillig und schwierig war. Tatsächlich gaben die Heftigkeit und Halsstarrigkeit ihres Wesens ihrer gutmütigen, freundlichen Tante nur allzu häufig Anlaß zu schmerzlicher Besorgnis; und ich erinnere mich, daß Eliza einmal erst aus ihrer Einzelhaft entlassen werden mußte, in der sie den ganzen vorherigen Tag wegen eines rebellischen Ausbruchs von Leidenschaft gehalten worden war, damit sie den Unterricht besuchen konnte. Die Tür wurde aufgeschlossen und heraus kam bereits eine kleine Lola Montez, die wie eine junge Tigerin aussah, die gerade von einer Höhle in eine andere entkommen war!

 

Elizas Aufenthalt in Durham dauerte nur etwa ein Jahr.[30] Hauptmann Craigie (er war Ende 1830 befördert worden) hatte in Meerut unter dem Kommando von Generalmajor Sir Jasper Nicolls gedient, der sich durch seine Führungseigenschaften bei der Belagerung von Burthpore im Jahr 1825 hervorgetan hatte. Sir Jasper plante, im Frühjahr 1831 nach England zurückzukehren, und Craigie sah diese Rückkehr offensichtlich als eine Gelegenheit, für eine anspruchsvollere Erziehung seiner Stieftochter zu sorgen. Sir Jasper hatte selbst acht Töchter, einige waren noch im Schulalter, und daher bat Craigie seinen früheren Kommandanten, Eliza dort unterzubringen, wo sie eine standesgemäße Erziehung erhalten würde.

Catherine Rae und Eliza unternahmen deshalb die lange Kutschfahrt von Durham nach Reading, dem Wohnsitz von Sir Jasper, der in der Grafschaft Berkshire, westlich von London, lag, und trafen dort am 14. September 1832 ein. Sir Jasper war, so schrieb Lola, großgewachsen mit einer hohen Stirn und beginnender Glatze über einem ernsten Gesicht mit zwei schwarzen buschigen Augenbrauen. An Befehlen und Gehorsam gewöhnt, ließ der General im täglichen Umgang auch innerhalb der Familie eine gewisse militärische Strenge walten, obwohl er ein vornehmes und wohlerzogenes Benehmen zeigte. Für ihn bedeutete, nach Lolas Charakterisierung, Schweigen Würde und Kälte Ernsthaftigkeit. Die elfjährige Eliza machte einen gleichermaßen ungünstigen Eindruck auf Sir Jasper, der bereits früh die Überzeugung gewann, daß aus dem Mädchen nichts Gutes werden würde. Die beiden eigensinnigen Egozentriker hätten im selben Haushalt unvermeidlich Streit miteinander bekommen, aber Eliza sollte ohnehin nicht im Haus der Nicolls bleiben, sondern lediglich, wie es Sir Jasper in seinem Tagebuch vermerkte, »in einer Schule untergebracht« werden. Eliza wurde in einem Internat angemeldet, das von den beiden Fräulein Aldridge in Bath in der Grafschaft Somerset geleitet wurde.

Bath, ein von der britischen Oberschicht bevorzugter Badeort, stellte für Eliza nun wieder eine neue Welt dar. Seine Architektur mit der berühmten Abtei, dem Pump House und den Assembly Rooms war weit eindrucksvoller als alles, was Montrose oder Monkwearmouth geboten hatten, und seine Bewohner waren ebenfalls viel kultivierter und wohlhabender. Doch hat Eliza nur gelegentlich etwas von dem mondänen Leben in Bath zu Gesicht bekommen. Wie jedes gute Mädcheninternat in jenen Tagen nahm die Aldridge Academy[31] ihre Zöglinge fest an die Kandare und ließ sie nur selten und unter strenger Aufsicht ausgehen. Den größten Teil der Zeit verbrachte Eliza im Camden Place Nr. 20 (jetzt Camden Crescent), wo die Schwestern Aldridge und ihre Mutter vor einigen Jahren ein vornehmes Reihenhaus gemietet hatten, um dort ihre Schule zu eröffnen.

Der Camden Place war als ein weitgeschwungener Bogen von dreistöckigen Stadthäusern geplant worden, um mit dem Royal Crescent und dem Lansdown Crescent, den eleganten, halbkreisförmig angelegten Wohngegenden, zu konkurrieren, die immer noch zu den begehrtesten Adressen in Bath gehören. Doch der Boden des steilen Abhangs am rechten Bogenende stellte sich für eine Bebauung als ungeeignet heraus. Der Halbkreis von Stadthäusern wirkte daher durch den imposanten Zentralpavillon, der nun außerhalb des Mittelpunkts stand, leicht gestutzt. Elizas Schule war das vorletzte Haus am nördlichen Bogenende, und die großen korinthischen Säulen, welche die klassische Fassade schmückten, verliehen dem Gebäude ein für eine Mädchenschule überaus imposantes Erscheinungsbild. Über dem Eingang war in dem honigfarbenen Kalkstein, mit dem das ganze Haus verziert war, ein Elefant eingemeißelt, Teil des Wappens von Lord Camden, nach dem der Platz benannt war.

Wenn der Camden Place auch nicht so vornehm war wie die beiden anderen halbkreisförmigen Stadthausanlagen, so übertraf er sie doch in seiner großartigen Aussicht. Die Straße vor der Aldridge Academy bot einen weiten Blick auf das grüne, enge und sich schlängelnde Flußtal des Avon. Am Fuß des Hanges vor der Schule ragte der Turm der Kirche von Walcott empor, zu der die Mädchen wahrscheinlich jeden Sonntag geführt wurden. Auf der rechten Seite sah man über die Gärten und Häuser entlang der London Street auf das Wirrwarr der Dächer im Zentrum von Bath, das von der grauen Erhebung der ehrwürdigen Abtei geprägt wurde.

Die Aldridge Academy hatte etwa fünfzehn Internatsschülerinnen im Alter von zehn bis siebzehn oder achtzehn Jahren. Der Lehrplan umfaßte die üblichen weiblichen Fertigkeiten – Tanzen, Nähen, Zeichnen und Klavierspielen –, aber es wurde auch ungewöhnliches Gewicht auf Sprachen, Latein und Französisch eingeschlossen, gelegt. Nach Lolas Berichten war Französisch die Umgangssprache innerhalb der Schule, Englisch war nur an Sonntagen erlaubt. Den Mädchen, die unter der Woche Englisch sprachen, wurde zur Strafe etwas von ihrem Taschengeld abgezogen. Das Französisch, das Lola in Bath lernte, sollte ihr noch sehr zugute kommen, obwohl sie es niemals ganz korrekt sprach oder schrieb, selbst nicht nach mehreren Jahren in Paris. Tanzen sollte ihr Beruf werden, und Sticken und Klavierspielen blieben ihr ganzes Leben lang ihre beliebtesten Zerstreuungen.

Es ist schwer zu sagen, wieviel Kontakt die junge Eliza zu Menschen außerhalb der Schule hatte.[32] Sie behauptete, die Schulferien bei der Familie Nicolls in London und Paris und auf »ihrem Schloß bei Bath« verbracht zu haben, aber die Tagebücher von Sir Jasper machen deutlich, daß dies nur Lolas Phantasien waren. Wahrscheinlich war sie mehr oder weniger in die Schule abgeschoben worden, wie viele Internatsschüler in dieser Zeit, um im heiratsfähigen Alter wieder nach Hause geholt zu werden.

Die Jahre in Bath scheinen für sie dennoch eine glückliche Zeit gewesen zu sein.[33] Sie erinnerte sich, unter den Schülerinnen die Haupträdelsführerin gegen die Autorität der Erwachsenen gewesen zu sein, und sagte, sie sei nie müde geworden, Streiche gegen die Lehrer auszuhecken. Die Erziehung, die sie erhielt, war außergewöhnlich gut für ein Mädchen ihres Standes. Viele Mädchen der Mittelschicht wurden damals nur von ihrer Mutter in den Fertigkeiten unterrichtet, die für die Aufgaben einer Ehefrau und Mutter für notwendig erachtet wurden. Sir Jasper schätzte, daß Craigie über 1000 Pfund in die Erziehung seiner Stieftochter investiert hatte, ein Betrag, der weit über dem Jahreseinkommen eines Hauptmanns lag; und Lola erinnerte sich später dankbar an das Opfer, das ihre Mutter und ihr Stiefvater gebracht hatten, um ihren Intellekt zu fördern. Die Menschen, die Lola Montez kennenlernten, waren oft überrascht über das breite, wenn auch nicht immer in die Tiefe gehende Spektrum ihrer Vertrautheit mit Literatur, Kunst und Philosophie. Die Grundlage für dieses Wissen wurde wahrscheinlich am Camden Place gelegt.

In Bath wuchs Eliza zu einer jungen Frau heran, und ihr Körper nahm wunderschöne weibliche Formen an. Sie verbrachte dort beinahe fünf Jahre, die längste Zeit, die sie in ihrem Leben ohne Unterbrechung an einem Ort bleiben sollte. Doch während sie körperlich zur Frau heranreifte, erlaubte das von der Außenwelt isolierte Leben in der Aldridge Academy nur eine romantische Vorstellung von der Außenwelt und der Männer, die in ihr lebten.

Sir Jasper hatte keine gute Meinung von Eliza, und von Mrs. Craigie hielt er ebenfalls nicht sehr viel, so sehr er auch Hauptmann Craigie als Offizier schätzte. Allein der Versuch, die Mutter dazu zu bewegen, mit ihm über Elizas Erziehung zu sprechen, hatte sich als vergeblich erwiesen. »Schließlich haben wir doch von Mrs. Craigie gehört«, schrieb er am 14. Februar 1834 in sein Tagebuch, »die sich vermutlich gezwungen sah, unsere zahlreichen Briefe zu beantworten, obgleich sie sechsmal von uns hörte, bevor es dazu kam – ich war sehr überrascht – und ziemlich verärgert – und irgendwie bereute ich es, so leichtfertig eine unangenehme und offensichtlich undankbare Aufgabe übernommen zu haben. Ich verglich sie mit einer Schildkröte, die ihre Eier nur leicht im Sand vergräbt und sie der Sonne und dem Schicksal überläßt.«[34]

Schließlich wurde es Mrs. Craigie bewußt, daß Eliza bald aus der Schule genommen und auf das Eheleben vorbereitet werden mußte, der ehrbarste und wünschenswerteste – und praktisch der einzige – Lebensweg, der einer jungen Frau ihres Standes offenstand. Man konnte nicht von den Nicolls erwarten, sich auch hierum zu kümmern, und da Eliza bald sechzehn wurde, durfte man nicht länger zögern. Deshalb verließ ihre Mutter Kalkutta am 2. November 1836 an Bord des Dampfers Orient, um Eliza aus der Schule zu nehmen und nach Indien zurückzubringen.[35]

Einer ihrer Mitreisenden war Thomas James, ein Leutnant im Dienst der Ostindischen Kompanie, der dem Regiment der 21. Einheimischeninfanterie angehörte.[36] Er sah gut aus und war 29 Jahre alt, etwa zwei Jahre jünger als Mrs. Craigie. Er kehrte in seine Heimat Irland auf Genesungsurlaub zurück. In der liberalen Politik der Ehrenwerten Gesellschaft bedeutete dies, daß er vielleicht mehrere Jahre dort verbringen würde.

Thomas James kam aus der Grafschaft Wexford, wo seine Familie dem protestantischen Landadel angehörte, jedoch weder von hohem Rang noch besonders wohlhabend war. Mrs. Craigie erzählte ihm von ihren Plänen, ihre Tochter aus der Schule zu nehmen, und drängte ihn, nach dem Aufenthalt bei seiner Familie nach Bath zu kommen, da der Heilbrunnen vielleicht gut für seine Gesundheit wäre und er sie besuchen könne.

Niemand weiß, wie sich Mutter und Tochter an diesem Tag im Mai 1837 fühlten, als Mrs. Craigie durch die Tür der Schule trat.[37] Sie hatten sich getrennt, als Eliza fünf war, und die Erinnerungen an ihre Mutter mußten inzwischen verschwommen und unzusammenhängend geworden sein. Und auch das Kind, das Mrs. Craigie vor so vielen Jahren fortgeschickt hatte, gab es nicht mehr. Nach Lolas Bericht, der von späteren Ereignissen gefärbt sein mag, hatte die Begegnung keinen guten Start. Die Tochter, so schrieb sie, schlang die Arme um den Hals ihrer Mutter und küßte sie, und diese reagierte mit dem Aufschrei: »Ach, mein liebes Kind, wie bist du schlecht frisiert!«

LolaMontez1

Wilhelm von Kaulbach, Lola Montez, 1847. Münchner Stadtmuseum, Inv. Nr. Gm 89/7

 

Die Beziehung schien sich von da an zu verschlechtern. Es gibt nur Lolas Berichte über die Ereignisse in Bath, und sie erzählte die Geschichte jedesmal anders, doch es scheint, daß Mrs. Craigie ihre Tochter vom Camden Place in von ihr gemietete Räume brachte.[38] Eliza ging weiterhin in die Akademie, während sie und ihre Mutter zusammen wohnten und offensichtlich eine ziemlich starke gegenseitige Abneigung entwickelten.

Irgendwann tauchte der gutaussehende Reisegefährte, Leutnant James, in Bath auf und besuchte Mutter und Tochter. Für Eliza, der nur begrenzter Kontakt mit Männern erlaubt gewesen war, erschien der dreißigjährige Offizier alt. Sie beschrieb ihn als von durchschnittlicher Größe, mit blauen Augen und ziemlich attraktivem braunem Haar, blitzenden weißen Zähnen (was damals selten war), niedriger Stirn und suchenden Augen. Er schien sie damit beeindruckt zu haben, wie wenig er sagte. Lola sprach von ihm als dem »Kavalier« ihrer Mutter, und sie sagte, daß sie und ihre Lehrer von der beschützenden Art beeindruckt waren, die er Mrs. Craigie gegenüber an den Tag zu legen schien.

Irgendwann in diesem Frühling kam Frau Craigie offensichtlich mit ihrer Tochter auf das Thema Heirat zu sprechen.[39]