Über das Buch

17 Geschichten von 17 Autorinnen über 17 Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten — sie erzählen von der brutalen Vergewaltigung, vom ungehobelten Wunsch nach Verführung, von den Berührungen, die einen ratlos zurücklassen. Doch eins eint sie: Der unbedingte Wille zur Stärke und Selbstbestimmung. In einer Zeit, in der die Neuverhandlung des Miteinanders von Frauen und Männern stattfindet, in einem Moment der größten Unruhe und Verwirrung, ist es die Literatur, die für Aufklärung sorgt. Nirgends sonst wird unsere Realität in all ihren Facetten abgebildet, nirgends sonst darf Denken, Fühlen und Handeln gleichzeitig passieren. Und nirgends sonst darf all das erzählt werden, was sonst nicht erzählt werden würde.

Inhalt

Vorwort

Antonia Baum Setzen Sie sich!

Anna Prizkau Boss

Julia Wolf Dickicht

Annett Gröschner Maria im Schnee

Annika Reich Der Fleck

Margarita Iov Das Wasser des Flusses Lot

Anna Katharina Hahn Drei Mädchen

Helene Hegemann The Day I Fucked Her Husband At The lake

Juliane Liebert Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate

Heike-Melba Fendel Wie Madonna

Anke Stelling Raus

Nora Gomringer »Das haben sie nicht gesagt« Monologe aus dem Dazwischen

Jackie Thomae Unsexyland

Margarete Stokowski Zurück

Kristine Bilkau Die kurze Zeit der Magischen Logik

Mercedes Lauenstein Die Wahrheit

Fatma Aydemir Ein Zimmer am Flughafen

Die Autorinnen

Herausgeberin

Sagte sie 17 Erzählungen über Sex und Macht

Herausgegeben von Lina Muzur

Hanser Berlin

Vorwort

Es gibt im Englischen eine Redewendung, die eine bestimmte Art von Konflikt beschreibt, der dadurch charakterisiert ist, dass die beiden in Streit stehenden Parteien völlig konträre Aussagen über eine bestimmte Begebenheit machen, und zwar jeweils ohne konkrete Beweise zu haben. Ein solch umstrittenes Ereignis wird im Englischen als he-said-she-said bezeichnet, was sich übersetzen ließe in sagte-er-sagte-sie. In der vorliegenden Anthologie geht es um genau diese Art von Konfliktmomenten; um Momente, in denen die Anwesenden eine diametrale Sicht auf die Ereignisse haben; um Momente, die, nimmt man die englische Redewendung ganz wörtlich, im Nachhinein von ihm tatsächlich ganz anders erzählt werden als von ihr. Und weil es durchaus sein könnte, dass wir schon zu lange und zu oft seiner Version der Geschichte zugehört und Glauben geschenkt haben, soll in dieser Anthologie ausschließlich ihre Sicht der Dinge erzählt werden: Sagte sie.

Bei den hier versammelten siebzehn Erzählungen handelt es sich wohlgemerkt um Literatur. Die Mädchen und Frauen, Jungen und Männer, die dieses Buch bevölkern, sind nicht aus Fleisch und Blut, doch sie könnten es sein und ihre Geschichten könnten sich teils genauso ereignet haben. Ob sie das wirklich getan haben, ist irrelevant. Viel wesentlicher ist, dass wir uns in ihnen wiedererkennen, dass jede einzelne von ihnen uns gnadenlos spüren lässt, was nun, seit dem Aufkommen der MeToo-Bewegung, neu verhandelt werden muss: die Zukunft des Miteinanders von Männern und Frauen.

Wut spielt eine Rolle in diesen Erzählungen. »Ich knall den ab!«, schreit eine Protagonistin dieses Bandes. Und eine andere erinnert sich: »Ich hasste ihn dafür, dass er nicht merkte, dass ich nicht wollte, was er tat, und beschimpfte in Gedanken ihn und sein lächerliches Geschlecht …« Fast schon beherrscht stellt eine dritte fest: »Ist einfach ein Arschloch. Ein fettes Arschloch.« Wut ist das, was diese Figuren empfinden, wenn sie, oft erst Jahrzehnte später, erkennen, dass sie bedrängt, benutzt oder misshandelt wurden. Die Wut ist etwas Gutes, denn sie folgt auf das Schweigen und das Verdrängen, auf die Selbstvorwürfe und die verzweifelte Suche nach Erklärungen. Nur die Wut kann den Mut entstehen lassen, den es braucht zu sagen: »Die Zeit aller Uwes auf der Welt ist vorbei.«

Angst ist immer präsent in diesen Erzählungen. Angst, die Frauen vor Männern haben, schlicht weil sie Frauen sind, die Männern gegenüberstehen. Weil die Männer sich ihrer Körper bemächtigen und ihnen Schmerzen zufügen könnten. Und doch sind es nicht nur die Frauen, die Angst haben, beschränken sich die Autorinnen nicht darauf, das sogenannte schwache Geschlecht als schwach darzustellen, sondern lassen Frauen und Mädchen auftreten, die sich über Rollenklischees hinwegsetzen und selbst zu Täterinnen, Aggressorinnen, ja Sexistinnen werden.

Es geht in diesen Erzählungen natürlich auch um Scham und die Frage, inwieweit das fremde Begehren bewusst gelenkt werden kann, durch Zeichen, die willentlich oder gerade im Gegenteil nicht willentlich gesendet werden, die ein Gegenüber aber trotzdem zu empfangen meint: »Man wird in jeder Menschenansammlung einen finden, auf den man eine wie auch immer geartete Begierde richten kann«, sagt an einer Stelle eine Figur, die aus der Zukunft zu uns spricht. Es geht also um die überwältigende Beschämung, die entsteht, wenn die Zeichen missinterpretiert oder ignoriert werden. Und es geht um die ganz andere Art von Scham, wenn das eigene Begehren zurückgewiesen wird. Bis es schließlich geradezu unmöglich erscheint, dass das eigene und das fremde Begehren jemals parallel, mit ähnlicher Intensität und derselben Ausprägungsform zusammentreffen könnten.

Und gleichzeitig geht es in diesen Erzählungen um noch viel mehr. Denn es gibt etwas, was nur die Literatur kann: die Welt noch facettenreicher, detaillierter und vor allem noch realistischer abbilden, als sie in Wirklichkeit ist. Literatur kann, wenn sie ihre Mittel richtig einsetzt, fühlen lassen, was es bedeutet, in den Moskauer Schnee geworfen und vergewaltigt zu werden. Oder im Taxi zu sitzen, mit einer fremden Hand unter dem Rock, einer fremden Zunge im Mund, und verzweifelt zu überlegen, wie man beides möglichst unauffällig loswerden könnte. Oder eine Frau von vierundfünfzig Jahren zu sein, die von ihrem achtzehn Jahre jüngeren Liebhaber verlassen wird. Oder mit dem Boss schlafen zu wollen, obwohl das in diesen Zeiten ein geradezu absurder Wunsch sein müsste.

Das war der Antrieb für diese Anthologie: zu zeigen, dass es unendlich viele Wege gibt, eine Geschichte zu erzählen. Jede Zeit hat die Literatur, die sie verdient, und vielleicht ist die Literatur im Jahr 2018 zuerst weiblich und dann universell.

Lina Muzur

Antonia Baum
Setzen Sie sich!

Grüß Gott, hi, ich bin’s, die Frau, nämlich diese Person mit dem Loch, in das man Sachen reinstecken kann, wenn der Mann will, und über deren Integrität man öffentlich beraten kann (Schlampe, ja/nein), während man sich zu ihr herunterbeugt, ihre Schamlippen auseinanderzieht (ich schäme mich, schon immer) und gleichzeitig betont, hier gebe es kein Machtgefälle. Denn diese Frau da unten soll endlich damit aufhören, sich zum Opfer zu machen.

Okay, hallo noch mal, ich bin’s, die Frau, die diese erniedrigenden Worte aussprechen muss, schließlich bin ich es auch, die erniedrigt wird. Ich denke nämlich schon seit sechs Monaten über meine Schuld nach und möchte darüber nun öffentlich abstimmen lassen.

Bitte ziehen Sie sich also das hier kurz rein, werte Zuschauer und Richter, die ich nun darum bitte, in meinem Gehirn Platz zu nehmen. Setzen Sie sich, machen Sie es sich bequem, ich meine, Sie sind hier doch ohnehin zu Hause (genauso wie auf meinem Körper, auf dem Sie ständig herumturnen).

Es geht los:

Am 28.1. dieses Jahres gab die Agentur, bei der ich seit inzwischen eineinhalb Jahren arbeite, ein Fest. C. (ich werde aus Sicherheitsgründen C. schreiben, dabei stimmt nicht mal der Anfangsbuchstabe) — C. war anwesend.

C. leitet meine Abteilung. Er ist an sich ein netter Typ.

C. ist total für »Gleichberechtigung« (hat er oft so gesagt, dieser Trottel, dabei gibt es ja von Gesetzes wegen längst »Gleichberechtigung«, aber fair ist deswegen noch lange nichts, meine Herren und Damen).

C. findet Mansplaining und den Gender-Pay-Gap megascheiße.

Aber die Sache ist: C. ist tatsächlich ein netter Typ. Sieht auch ganz gut aus, etwa halb so gut wie Don Draper, und deswegen läuft er auf Partys häufig mit einem Kristallglas und Whiskey darin umher, so auch am 28.1.

Den 28.1. habe ich mir gemerkt, denn seit dem 28.1. denke ich, wie gesagt, über meine Schuld nach. Denn mir, diesem Flittchen, mir hat es doch gefallen, wie er mich im Büro angeguckt hat. Ich habe mich doch täglich zurechtgemacht, um zu gefallen, ihm, den anderen Männern und immer wieder: ihm.

Und jetzt sagt die frauenbewegte Frau mit der klugen Brille ganz links hinten in meinem Gehirn: Schätzchen, das ist doch deine Sozialisation als Frau, das sind die Machtverhältnisse. Du hast gelernt, dass du als Frau Männern gefallen musst, wenn du etwas erreichen willst. Weibliche Komplizenschaft mit dem Patriarchat, you name it. Du hast gelernt, dass du das am besten schaffst, wenn du hübsch aussiehst. Und davon musst du dich jetzt befreien!

Der Typ mit der Alphajacke brüllt: Halt’s Maul, du Fotze. Du willst es doch auch.

Okay, ein bisschen habe ich es gewollt.

Habe ich das?

C. und ich gingen nach dem Agentur-Fest noch auf eine andere Party. Wir saßen im Taxi, es war schon nach eins. Wir waren beide angetrunken, bisher war es nett gewesen. Mir hatten C.s Komplimente gefallen und dass er meine Nähe gesucht hatte.

Zwischenfrage aus dem Publikum: Was heißt das konkret? Haben Sie auch seine Nähe gesucht? Was heißt: Es hat Ihnen gefallen? Würden Sie sagen, dass Sie ihn angemacht haben?

Ich war mit meinem Körper anwesend. Dieser Körper ist gepflegt, diesem Körper sieht man an, dass seine Eigentümerin sich um ihn kümmert, was eine Menge Arbeit bedeutet, also zeitintensiv ist (auch ich habe mich bei der Körperpflege, beim Schminken, Sportmachen und Rasieren schon häufiger mit schlechtem Gewissen gefragt, für wen ich das eigentlich tue, wenn nicht für die Männer beziehungsweise in diesem konkreten Fall C., und bin zu dem Schluss gekommen, dass mein Wille und ihrer nicht mehr trennbar sind, das heißt: Sie würden mir das gleiche Kleid aussuchen wie ich). Mein Körper jedenfalls verfügt über zwei Brüste, Taille, Hüften und — Typ mit der Alphajacke: Eine Fotze!

Genau. Aus diesem Körper habe ich herausgelächelt, auf C. habe ich draufgelächelt, der mit so einem Glitzern in den Augen zurücklächelte und aussah wie auf der Jagd. Vielleicht hätte ich schon da gehen sollen. Als er ständig meinen Namen sagte, mich an Armen und Händen berührte, als er Blicke auf mir platzierte. Die Blicke waren wie ein Vertrag. Man unterschreibt ihn, wenn man zurückguckt.

Oder?

Ich guckte zurück. Es gibt Momente, da liebe ich es, von Männern angesehen zu werden, denn Männer haben Macht. Sie reden über Sachen, sie entscheiden Sachen, sie gehen mit Schritten durch die Welt, die zum Ziel führen. Ich will auch so sein, also will ich von ihnen, von interessanten, mächtigen Männern, interessant gefunden werden, und das Wissen darüber gibt es gratis, sozusagen mit der Muttermilch.

Einwurf der Frau mit der klugen Brille von links hinten: Wie unsolidarisch von Ihnen!

Gegenfrage: Wie solidarisch ist es von Ihnen, mir diesen Vorwurf zu machen? Egal. Der Wille zur Macht ist ein Tier, das in mir wohnt. Das Fell ist grau und verzottelt. Wundgeleckte Lefzen, kaum Fleisch am Körper, aber blitzschnell in seinen Reaktionen. Schneller als Sie (die Frau mit der klugen Brille) und Ihr berechtigter Einwand jedenfalls.

C. fragte also, ob wir zu dieser Party gehen wollten. Ich hatte keine Lust, ich wollte ins Bett. Aber der Vertrag, den ich mit meinen Blicken in sein Gesicht bestätigt hatte, lag auf dem Tisch. Und man darf nicht vertragsbrüchig werden. Ich kann das nicht. Ich mache, was man von mir will, auch wenn ich es nicht will. Denn die Zufriedenheit darüber, dass ich keine Probleme mache, ist, was es für mich als Belohnung zu essen gibt und schon immer zu essen gab. Das Bewusstsein darüber bringt mir nichts, oder nicht besonders viel, denn es ist anstrengend, das alte Tier mit den wunden Lefzen zu besiegen. Dieses Tier hat großen Hunger. Wenn ich gefalle, kriegt es zu fressen, also gefalle ich. Das Tier aber kann man nicht einfach so aus mir herauspräparieren und entsorgen. Es bewohnt mein System, das heißt, man müsste auch mich als Frau komplett entsorgen.

Ich sagte C., dass wir zu der Party fahren könnten, dass ich aber nicht lange bleiben würde, weil ich am nächsten Tag früh aufstehen müsse, Familienbesuch. Ich dachte, das versteht jeder, und hoffte, dass für C. damit alles klar sein würde. Ich hoffte, dass unser Vertrag somit modifiziert wäre, und zwar dahingehend, dass zwischen uns nichts mehr laufen würde.

C. lachte, C. hatte auch im Taxi sein Whiskey-Glas dabei.

Im Publikum steht jetzt jemand auf. Er sagt, dass ich mich echt nicht wundern müsse, und geht.

C. saß dicht neben mir. Unsere Beine berührten einander, ich drückte mich gegen die Taxitür und lachte über seine Witze, die wirklich gut waren. Es wäre so schön gewesen, weiterlachen zu können, weiter für ihn schön sein zu dürfen mit der Garantie, dass er mir zuhörte, weil ich in diesem Moment der Boss war. Auch wenn ich wusste, dass nichts umsonst ist, lachte ich mit ihm weiter. Weil es mir gefiel, neben ihm zu lachen. Aber ich lachte auch wie ein Hund, der vor Angst bellt, ich lachte, als könne ich durch mein Lachen einen Pflock in die Erde rammen, ohne dabei die Erdstruktur zu verändern, und wissen Sie, was mich jetzt gerade wirklich nervt?

Das Publikum raunt, einige der Anwesenden sind aufgestanden.

Mich nervt, dass ich diesen ganzen erniedrigenden Scheiß erzählen muss. Dass ich über meinen Körper reden muss und was mit ihm passiert ist.

Gegenfrage eines Hellmuth-Karasek-haften Mannes aus dem Publikum: Glauben Sie denn, Sie und Ihre Opfermentalität gehen uns nicht auf die Nerven? Können Sie außerdem langsam zum Punkt kommen? Herrje, es ist ja immer noch nichts Schlimmes passiert.

Klar, ich beeile mich. C. strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, beugte sich vor und küsste mich. Ich erwiderte seinen Kuss nicht, ich sah ihn regungslos und mit großen Augen an. Er küsste mich weiter und fasste an meine Brust. Mein Mund war von seinen Küssen zugedeckt, ich sagte ihm durch seine Mundhöhle direkt in seinen Kopf hinein, dass ich jetzt bald nach Hause müsse. Ich sagte, bald, nicht sofort, ich wollte irgendwie höflich bleiben und C. nicht beschämen. Er sollte nicht dastehen wie jemand, der gegen meinen Willen handelte, wie ein Vergewaltiger aus dem Fernsehen. Das kam mir übertrieben vor, das wäre doch ein Witz gewesen, einer, vor dem ich uns beide bewahren wollte. Es war nicht so, dass ich diese Situation eindeutig hätte einordnen können als etwas, gegen das man sich wehren sollte. Es war nicht so, dass ich einen Namen hatte für das, was passierte, und ich überlegte auch, ob es überhaupt okay wäre, C. zu sagen, dass ich nicht wollte, nachdem wir den Abend so verbracht hatten, wie wir ihn verbracht hatten. C.s Zunge steckte nun tief in meinem Hals, und ich wollte sie da wieder herausbekommen, aber ich dachte auch, dass es dafür nun endgültig zu spät sei. Seine Hand war in meiner Bluse an meiner Brust, sie war da schon seit etwa eineinhalb Minuten. Er knetete meine Brust. Mit welcher Begründung sollte ich ihn nun darum bitten, sie wegzunehmen? Er küsste mich weiter, ich sah ihm dabei zu, ohne eine Bewegung zu machen. Ich hoffte, dass das Taxi bald ankommen würde. Dann würde ich nach einer halben Stunde gehen und sagen, dass mir nicht gut sei. Darüber wäre er vielleicht enttäuscht, aber es wäre nicht offiziell peinlich für ihn. C. nahm meine Hand und legte sie zwischen seine Beine, auf seinen harten Penis, den ich durch die Jeans fühlte. Meine Haut wollte nicht, aber ich ließ die Hand liegen. Vielleicht war das nicht meine Hand. Das war irgendeine Situation. Eine Konfiguration aus Atomen, die in ihrer zufälligen Konstellation eben genau dieses Bild ergaben. Manchmal ist es besser, das nicht persönlich zu nehmen.

Frau mit der klugen Brille: Daran ist überhaupt nichts zufällig. Kapieren Sie das nicht?

Junge Frau aus dem Publikum mit Kind auf dem Arm und Telefon in der anderen Hand: Was Sie erzählen, kennen wir doch alle. Entschuldigung, aber ich weiß nicht, was daran neu oder besonders sein sollte.

Ich auch nicht. Auch deswegen kann ich niemandem davon erzählen.

C. stöhnte, er bewegte sich. Ich nutzte seine Bewegung, um auch eine Bewegung zu machen. Ich nahm meine Hand von seinem Penis und tat so, als müsste ich mir das Haar aus dem Gesicht streichen. C. tastete sich unter meinen Rock. Er legte die Hand auf die Innenseite meiner Oberschenkel, die ich geschlossen hielt. Ich drückte sie zusammen, er presste sie auseinander. Vielleicht fand er, dass das ein sexy Moment war, weil man in Pornos immer wieder sieht, wie die Frau zu ihrem Glück gezwungen werden muss. Er schob seine Hand an meiner Unterhose vorbei und blätterte in meinem Geschlecht. Es war trocken, es tat ein bisschen weh, und mir war inzwischen tatsächlich schlecht geworden. Ich hasste ihn dafür, dass er nicht merkte, dass ich nicht wollte, was er tat, und beschimpfte in Gedanken ihn und sein lächerliches Geschlecht, seine lächerliche Imitation von geilem Spontansex im Taxi, seine lächerliche Performance von einem Mann. Aber noch mehr hasste ich mich und dass ich nichts sagte.

Noch einmal: Ich wusste nicht, was das hier war, obwohl ich es gut kannte.

C. schob mir dann einen Finger in die Vagina. Es tat weh, aber ich dachte vor allem an all die Dinge, die er den Abend über mit dem Finger, der nun in meiner Vagina war, angefasst hatte, und begann ihn in meinem Kopf wieder zu beschimpfen. Weil er nicht merkte, dass ich nicht wollte, was er tat, weil er nicht wusste, dass ich noch nie etwas damit anfangen konnte, wenn man mir einen Finger in die Vagina steckt, weil er so inkompetent und vertrottelt in mir herumrührte und nicht wusste, wie lächerlich er war. Ich machte ihn richtig fertig, in Gedanken siegte ich über ihn. Dann nahm er noch einen zweiten Finger dazu. Er schob seine Finger rein und raus, das brannte. Unwillkürlich schrie ich auf und dachte im gleichen Moment, dass er den Ausdruck meines Schmerzes auch missverstehen könnte als Zustimmung.

Das Taxi hielt. Er lächelte mich an, stolz fast und mit einem Lächeln, das ich von ihm kannte und das ich eigentlich mochte. Ich war mir dankbar, als ich dann sagte: »C., es war ein toller Abend, aber sei mir nicht böse. Mir ist, seit wir im Taxi sind, irgendwie nicht gut, ich fahre nach Hause. Ich vertrage einfach keinen Alkohol.«

Ich lächelte ihn an, so niedlich von unten und um Verständnis bittend. Ich spekulierte auch darauf, dass ihm gefiel, dass ich keinen Alkohol vertrage (was nicht stimmt). Denn wann immer ich einem Mann gesagt hatte, dass ich keinen Alkohol vertrage, hatte ich den Eindruck gehabt, dass das gut ankam.

»Ich bringe dich nach Hause«, entgegnete C. Da klingelte glücklicherweise sein Telefon. Irgendjemand wollte wissen, wo er blieb. Der Taxifahrer drehte sich nach hinten zu uns um und nickte auffordernd.

»Geh ruhig und mach dir noch einen schönen Abend. Taxi zahle ich«, sagte ich sanft, aber bestimmt.

»Sicher?«, fragte C.

Ich nickte.

Und er verließ das Taxi, und ich strich meinen Rock glatt und fuhr nach Hause, beschwingt von dem Gedanken, dass es zwar ein wenig peinlich sein würde, ihn am Montag wieder im Büro zu sehen, dass ich ihn aber nicht bloßgestellt hatte. Wir würden weiter zusammenarbeiten können.

Das Publikum ist nun eine ganze Weile ganz still gewesen. Einige weitere Zuschauer sind gegangen. Der Hellmuth-Karasek-hafte Mann hat mehrere Menschen um sich gesammelt, mit denen gemeinsam er einen Wein trinkt und über meine hysterische Darstellung den Kopf schüttelt.

Denn ich bin’s, die Frau.

Nun, da ich mich einmal komplett ausgezogen habe, kann ich mich nackt und schwach zurücklehnen. Dagegen hat eigentlich niemand etwas, solange ich keine Forderungen stelle.

Ich lehne mich also zurück, ich warte auf Fotos und Interviews und hoffe, dass eine befriedigende Antwort auf die Frage meiner Schuld gefunden wird.

Eine Frau, die mein Alter hat und ein bisschen aussieht wie ich, erhebt sich: Sorry, aber warum fällt Ihnen das alles erst jetzt ein?

Anna Prizkau
Boss

Ihr Telefon machte schon wieder das Geräusch. Es klang nach Schluckauf. Sie ließ das graue Buch mit den Zwetajewa-Gedichten fallen, drückte den Zeigefinger auf die rote Taste, so fest, dass ihre Fingerspitze weiß anlief, und mit der anderen Hand verdeckte sie ihr schuldiges, unschuldiges Gesicht, halb Täter und halb Opfer. Ich kannte die Bewegung. Ich wusste, dass es wieder eine Nachricht war. Ich wusste, dass es wieder Markus war. Markus war der Boss meiner Mutter. Sie sagte immer Boss, sie sagte nie seinen Namen. Wann die Boss-Sache angefangen hatte, das weiß ich nicht genau. Vielleicht an ihrem ersten Arbeitstag, vielleicht am zweiten. Das war vor fast fünf Jahren. Das war nach ihrem dritten Deutschkurs und meiner vierten Klasse — zwei Jahre lebten wir da schon in Deutschland.

Zu Hause roch es damals immer nach Rinderbrühe, Zwiebeln und nach Zigaretten. Denn seit dem Umzug in das neue Land hat meine Mutter jeden Tag Gerichte aus dem alten Land gekocht. Das machte sie am Morgen. Danach telefonierte sie zwei Stunden mit ihrem Bruder und rauchte dazu eine Packung Vogue. Dann ging sie ins Badezimmer, das war immer am späten Mittag, da kam ich gerade von der Schule und Papa von der Arbeit. Zuerst heulte sie leise, doch nicht stumm, mein Zimmer war neben dem Badezimmer, und ihre Tränen waren meine Uhr — es dauerte genau fünfzig Minuten. Dann kam der andere Lärm, das Wasser und der Föhn, der Föhnlärm war der längste. Denn ihre Haare trug sie da so lang, dass sie ihren Rücken streiften, und ihre braunen Locken brauchten Zeit. Gegen fünf Uhr kam sie heraus und sah so aus wie Frauen auf den Magazinen, die an den Kioskfenstern vor der Schule klebten. Sie wärmte alles auf, was sie am Morgen gekocht hatte, und nach dem Essen las sie immer — immer las sie ihre Zwetajewa-Gedichte.

Mit ihrer Arbeit änderte sich dieser Rhythmus. Morgens telefonierte sie und rauchte — nicht einmal eine halbe Stunde, nicht einmal eine halbe Packung —, war kurz im Bad und fuhr dann ins Büro, kam abends wieder, kochte. Das Abendessen blieb das unseres alten Landes, irgendeine dicke Suppe, danach das Zweite, so nannten wir das Hauptgericht, es war immer etwas Mit-Fleisch-Gefülltes. Zum Weinen hatte sie zu Hause keine Zeit mehr, ich fragte mich, ob sie es auf der Arbeit machte. Dort konnte sie nicht baden und nicht föhnen, nicht cremen und nicht schminken — und weil die Tränen meiner Mutter ohne das Baden, Föhnen, Cremen, Schminken unlogisch und undenkbar waren, dachte ich, dass sie von da an nicht mehr weinte und dass sie glücklich war. So wie mein Vater und wie ich. Wir mochten es im neuen Land, sie aber vermisste sehr das alte Land, deswegen weinte sie, das hatte Papa mal erklärt, der so wie ich die Tränen meiner Mutter ignorierte.

Das Unglück meiner Mutter war aber nicht vorbei. Das merkte ich an einem Wintersamstag, da hatte sie die Arbeit schon ein Jahr. Es regnete zu grob und war zu kalt, um in die Stadt zu gehen, überhaupt rauszugehen. Mein Vater war auf einer Messe, er war fast jedes Wochenende auf irgendeiner Messe, so ging im neuen Land die Arbeit meines Vaters, aber so war sie auch im alten gegangen, da war er auch am Wochenende immer weg. Ich lag vor dem Fernseher und wollte eine Ewigkeit dort liegen. In ihrem grünen bodenlangen Seidenkimono stand Mama an der Tür und sagte, dass sie gleich zur Arbeit muss. »Es ist doch Samstag«, sagte ich. Doch ihre Antwort konnte ich nicht verstehen, der Fernseher war viel zu laut, ich sagte zweimal »Hmmm«, während ich weiter auf den Bildschirm starrte, es lief eine Gerichtsshow, Gerichtsshows liebte ich damals. Dann hörte ich, wie sie ins Badezimmer ging, stellte den Fernseher auf stumm und hörte wieder Tränen, sie dauerten nicht lange, vielleicht nur fünf Minuten. Es war eine Verbesserung, das dachte ich, berechnete das Unglück meiner Mutter in Prozenten — es waren zehn — und lächelte. Nach einer Stunde kam sie aus dem Bad: mit glänzenden geföhnten Locken, rostrot gemalten Lippen und dem tiefschwarzen, dünnen, pedantischen Kajalstrich, der ihre Augen rahmte und die zwei halbmondhaften Schwellungen unter ihren Lidern leicht betonte. Sie war erst Anfang dreißig, und ihre Haut war glatt wie meine, nur die zwei kleinen Beulen unter ihren Augen ließen sie aussehen wie erwachsen.

Sie küsste meine Stirn und ging. Am Nachmittag klingelte unser Telefon, es war Sabrina aus der Schule, und sie erzählte mir glücklich und aufgeregt, dass meine Mutter beim Chinesen neben ihrem Haus mit einem Mann herumsaß. Ich sagte, dass sie lügt, und legte auf, ging in mein Zimmer und machte laut Musik an. Wann meine Mutter an diesem Tag nach Hause kam, hörte ich nicht. Nachts konnte ich nicht schlafen. Ich blieb im Bett, bis es halb hell wurde, vielleicht war es acht Uhr, vielleicht auch später. Dann wollte ich wieder vor den Bildschirm, wieder den ganzen Tag dort liegen.

Die Tür zum Wohnzimmer war zu. Unser Wohnzimmer war auch das Zimmer meiner Eltern, sie klappten nachts die Couch aus. Dann hörte ich die Stimme meiner Mutter, sie war am Telefon. Ihr Bruder konnte es nicht sein, denn mit ihm sprach sie immer in der Küche, außerdem sprach sie jetzt auf Deutsch — es war ihr junges Deutsch, drei Jahre alt, mit Fehlern und Artikeln, die nicht stimmten. Sie sagte aufgeregte Sätze, die mit »Ich kann nicht mehr« anfingen oder endeten. Ich schluckte meinen Atem, um unbemerkt zu bleiben. Dann sagte sie, dass sie die Arbeit braucht, und danach mehrmals »Bitte«. Das war das erste Mal, dass ich es ahnte, eine Vorstellung hatte, was die Boss-Sache eigentlich war. Ich ging wieder ins Bett.

Markus war so wie diese Männer, die in den deutschen Fernsehfilmen Liebe spielten. Sie hatten entweder eine Fabrik für Schokolade oder Schuhe, die vor der Pleite stand, oder sie waren Familienväter ohne Frauen, die mit den Kindern Ärger hatten. In diesen Filmen tauchten dann — meistens durch Zufall — sehr laute und halbschöne Frauen mit einem falschen Lächeln auf, die die Fabriken oder Kinder retteten und so auch diese Männer. Ich mochte solche Filme nicht. Markus trug blonde, schulterlange Haare, am Hinterkopf zum Schwanz gebunden, auf seiner Stirn hatte er eine Narbe, ein kleiner Kreis, an dem er immer kratzte. Alles in seinem Gesicht war weich und rund, so dass er nicht wie ein Erwachsener aussah, sondern wie ein Kind, das schon Falten hatte. Ich sah ihn jeden Morgen im Auto vor dem Haus, er holte meine Mutter immer ab. Das erste Mal sprach ich mit ihm am Girls’ Day. Es war ein Tag, an dem die Mädchen nicht zur Schule mussten, sondern sich Arbeit anschauen sollten. Ich schaute die von meiner Mutter an. In ihrem Büro war alles leblos, ordentlich und grau, die Ordner waren nach Farben aufgestellt, auf großen Tischen standen glänzende Computer, dort gab es keine Blumen, dort gab es Plastikvasen mit Kugelschreibern, mit Bleistiften, mit Markern. Markus griff mir durch meine Haare, so wie man Fünfjährigen durch ihre Haare greift, kratzte an seiner Narbe und redete dann lange über Arbeit, dass sie sehr wichtig wäre und er auch, und fragte meine Mutter, ob sie jetzt Kaffee für uns machen könnte. Er dachte, dass ich Kaffee trinke, ich hasste Kaffee, weil Kinder Kaffee hassen. Doch meine Mutter machte das, was er ihr sagte, und gab mir eine Tasse mit viel Milch. An diesem Tag trug sie auf ihrem glatten und herzförmigen Gesicht ein Lächeln, das ich so noch nicht kannte. Sie sah aus wie eine Schauspielerin in diesen Filmen über Liebe. Sie war mir fremd.

Dann war sie schwanger. Das sagte sie mir nicht, das sagte sie am Telefon zu ihrem Bruder. Ich hörte mit, weil ich, seitdem sie Arbeit hatte, jedes Gespräch mithörte, nicht wegen der Gespräche, sondern wegen des Zigarettenrauchs, ich liebte den Geruch der Vogues. Ich saß, so wie ich immer morgens vor der Küche saß, auf dem Fußboden vor der angelehnten Tür, und atmete den Rauch. Den Zeige- und den Mittelfinger hielt ich mir vor den Mund, als würde ich dort eine Zigarette halten. Dann sagte sie es, sagte »schwanger«, und meine ausgedachte Zigarette fiel herunter. Ich wollte keine Schwester, keinen Bruder, stand deshalb auf und riss, als sie es noch mal aussprach, die Tür zur Küche auf und sagte nichts. Ich holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Saft, schlug dann die Kühlschranktür laut zu und danach lauter noch die Küchentür.

Vielleicht hat meine Mutter meine Wut gesehen, verstanden, denn ich bekam keinen Bruder, keine Schwester. Ich bekam nur diese Geräusche mit, die ihr Klappmotorola seitdem machte, die sie seitdem wegdrückte, halb unschuldig, halb schuldig. Einmal föhnte sie ihre Haare und hörte nicht den Telefonschluckauf, er kam aus dem Wohnzimmer, ich rannte hin, schaute erstarrt auf das Gerät mit dem Geräusch, das auf dem Kacheltisch zwischen der Couch und dem Fernseher lag. Es kam mir vor, als ob es mich jetzt rief. Ich öffnete die Klappe, der Bildschirm sagte: »Sie haben 1 neue Nachricht«. Der Absender war »Boss«. Ich drückte auf das Plastik, die große grüne Taste, und sah es plötzlich leuchten: »Jetzt stell dich bitte nicht so an, das war nicht so gemeint. Du weißt, dass ich dich brauche im Büro. PS: Ich liebe dich.« Sofort drückte ich die Klappe zu, machte sie wieder auf, dann wieder zu und auf. Die Nachricht aber war noch immer da, und der Verrat war jetzt bewiesen. Dann hörte ich die Badezimmertür, legte das Telefon auf den grüngrauen Kacheltisch, warf mich auf die blassbraune Couch, schloss meine Augen und spielte eine Schlafende. Als meine Mutter ins Zimmer kam, wusste sie sicher, dass ich spielte.

Am nächsten Abend, wir hatten da zusammen Tee getrunken, Tee gab es immer nach dem Zweiten, presste sie ihre Finger fest gegen das Buch mit den Zwetajewa-Gedichten und sagte, dass sie aufhören wird zu arbeiten. Mein Vater antwortete mit Vorwürfen. Er sagte, dass wir das Geld doch brauchten, dass wir doch eine große Wohnung wollten, dass eine große Wohnung ohne ihr Gehalt nicht möglich war. Er sagte auch, dass niemand sonst sie anstellen würde, mit dem Akzent, mit dem ausländischen Diplom. Ich sagte nichts, und sie sagte, dass sie schon etwas anderes finden würde.