Von Kindesbeinen an verbrachte Thomas de Padova die Sommerferien in einem Dorf in Apulien, Geburtsort seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters – drei Männer, die alle irgendwann ihre Koffer packten und aufbrachen in die Welt. Seine Großmutter dagegen blieb. Jahr für Jahr erwartet sie ihn, still auf einem Stuhl sitzend, im Dunkel ihres Zimmers: eine schweigsame, in Schwarz gekleidete Frau, die ohne Kühlschrank lebt und ihn – er habe doch studiert – fragt, durch welche Pforte Jesus in den Himmel gekommen sei. In der Atmosphäre der Vergangenheit steigen Fragen auf: Warum hat der Großvater seine Frau immer behandelt, als existiere sie nicht? Was hat die beiden vor mehr als einem halben Jahrhundert aneinander gebunden?

 

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Thomas de Padova

 

Nonna

 

 

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Unter dem Portal bleibt er stehen. Auf seinem Kopf ein dunkles Barett, sein Oberkörper wirkt gedrungen. Der hohe Bund der Hose lässt ihn unnatürlich kurz erscheinen. Hinten und an der Seite ist sie mit tiefen Taschen versehen, für Spachtel und Maurerkelle. Jetzt stecken Zigaretten darin.

Er hat zuletzt noch öfter danach gegriffen als sonst und hält auch jetzt einen glimmenden Stummel in der hohlen Hand, während er ins Innere der Kirche sieht. Beim Altar brennen Lichter auf einem Opferkerzentisch. Die Bänke sind leer. Nur in der ersten Reihe zeichnen sich die Silhouetten einiger Personen ab, drei auf der einen und eine auf der anderen Seite. Reglos sitzen sie da. Sie warten auf ihn.

Der Amerikaner, wie ihn alle im Dorf rufen, kehrt ihnen den Rücken zu und schaut die Straße entlang, über die er gekommen ist, als würde er an diesem Novembermorgen selbst noch auf jemanden warten. Doch da kommt niemand. Irgendwann lässt er den Zigarettenstummel auf den Treppenabsatz fallen, ballt beide Hände zu Fäusten und schließt die feucht gewordenen Augen.

Als er sie wieder öffnet, sieht ihn sein Großvater an, sein Nonno. Ihn also haben sie vorgeschickt! Mit dem kurz geschorenen Haar und jenem spitzen Ansatz, an dem man alle Männer in der Sippe erkennt, die Augen milchig, die Lippen blass, unter dem glattrasierten Hals eine von silbernen Fäden durchwirkte Krawatte.

Schweigend tritt sein Nonno an ihn heran, legt die Hand an seinen Arm und steht nun gemeinsam mit ihm unter dem Portal, unter einem Architrav mit dem lateinischen Schriftzug: »Pulcrum reddre templum vota vovere migrantes. Factis non verbis, contribuere simul.« Den Tempel schön zu gestalten, gelobten die Migranten. Mit Taten trugen sie bei, nicht mit Worten.

Mitte der 1920er Jahre, die Familie war soeben aus Amerika zurückgekehrt, spendete auch sein Vater für die Ausschmückung der Kirche. Heute bleibt er ihr fern, am Tag der Hochzeit seines Sohnes, die er selbst angeordnet hat.

Mit einem Machtwort? Ihrem Willen hat er sich gebeugt, nachdem sie wie eine Furie mit dem Messer auf seinen Sohn losgegangen war. Jetzt sitzt sie in der ersten Reihe und trägt einen dunklen Mantel anstelle des Brautkleids, an dem sie so lange gearbeitet hat.

Er ringt nach Worten, will seinem Nonno etwas sagen, da spürt er, wie dessen Hand seinen Oberarm umfasst. Und mit einer Bestimmtheit, die etwas absolut Zwingendes hat, führt der Vater seines Vaters ihn in die Kirche, den Amerikaner, der nicht weiß, ob er dem alten Mann an seiner Seite folgen oder weglaufen will, ob er ihn liebt oder hasst. Er weiß nur, dass er nichts versteht. Nicht einmal, warum er hier ist.

 

Noch bevor die Zeremonie beendet und der Segen gesprochen ist, erscheint er wieder unter dem Portal, doch diesmal bleibt er nicht stehen, sondern geht in seinen klobigen Schuhen mit schnellen Schritten die Treppe hinunter, über den Vorplatz und dann die Kirchstraße entlang bis zur Kreuzung, wo er kurz innehält und sich fragt, ob er den längeren Weg ums Dorf herum nehmen soll, um nach dem Spießrutenlauf der letzten Tage niemandem mehr zu begegnen, entscheidet sich jedoch für den corso, denn es ist schon spät, er beginnt zu laufen, die Dorfstraße hinunter, bis er den Bus erblickt, der gerade in Richtung Foggia abfährt, nachdem im letzten Moment noch eines dieser Schwarzhemden aufgesprungen ist, woraufhin er noch schneller rennt und die Mütze schwenkt, denn er will unbedingt zur Baustelle, nach Foggia, weg von hier, weit weg, Gott weiß wohin, doch der Fahrer sieht ihn nicht, auch das Faschistenschwein will ihn nicht sehen, und als er die Haltestelle endlich erreicht, biegt der Bus bereits auf die Landstraße ein.

»Merda!«

Er wirft das Barett in den Staub und verflucht den Vater, der ihn hierher geschleppt hat in dieses Drecksnest, dieses Scheißkaff, wo die Leute am Morgen ihre Pisse auf die Straße schütten, wo die Weiber hinter ihren Gardinen gaffen, bis sie irre werden, und sich das Schicksal an einer vermaledeiten Türschwelle entscheidet.