Verhaltenstipps von A bis Z

Aberglaube und Glaube: Viele Argentinier sind abergläubisch – nur nicht so radikal, dass sie deshalb auf die guten Seiten des Lebens verzichten würden. Es ist mehr so etwas wie eine kleine Rückversicherung bei den Göttern oder Ahnen: Ein Amulett, ein paar Münzen in den Opferstock oder ein paar Kerzen kosten doch nichts. Eine Flasche Wasser für die verdurstete Difunta Correa – die Volksheilige der Autofahrer auf den Landstraßen, deren Karossen meistens zusätzlich mit katholischen Devotionalien geschmückt sind. Auch der Taxifahrer in Buenos Aires bekreuzigt sich lieber, wenn er an einer Kirche vorbeifährt – ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen.

Abstammung: Man kratzt ein wenig an der Haut eines Argentiniers – und heraus kommt ein Neapolitaner, ein Bretone oder ein Baske. Dass natürlich auch die Gene von Mapuche-Indianern, Indios aus den Anden oder sogar die von schwarzen Sklaven in der Haut stecken: Schwamm drüber! So genau will das keiner wissen. Argentinier sind Europäer in der Diaspora, so lautet das Mantra. In der sozialen Hierarchie hoch eingestuft wird jeder Europäer, der Argentinien besucht.

Anmache: Wenn man jung, hübsch und weiblich ist, so wird man unweigerlich in dezenter (gemurmelte Elogen) oder offensiverer (Pfiffe, obszöne Gesten) Form auf der Straße angemacht. Das kann zu einem Spießrutenlauf werden – wenn man sich nicht zwingt, die Anmachen als Kompliment zu verstehen, was sie vermutlich sind. Darauf einzugehen, wäre allerdings übertrieben, lieber mit einem Lächeln geschwind weitergehen.

Ansehen/Gesicht wahren: Ganz wichtig: eine „gute Figur” abgeben, in korrekter und edler Kleidung und mit Grazie auftreten! Die äußere Form ist fast wichtiger als die Botschaft, der Inhalt der Rede, die Geschichte, die man erzählt, um sich selber ins rechte Licht zu setzen. „Wenn es auch nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden” – dieses italienische Kompliment gilt auch in Argentinien.

Armut und Bettelei: Der Stolz verbietet es, Ausländer oder Touristen anzubetteln. Dabei ist die Armut in den Vorstädten und auf dem Lande nicht zu übersehen. Rund ein Drittel der Argentinier leben von der Hand in den Mund. Die Armen sind trotz, oder besser gesagt wegen der turbulenten Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte mehr geworden, die Reichen bloß reicher. Im Stadtbild nicht wegzudenken sind die catadores, die Sammler, die nach Büroschluss den Verpackungsmüll wegschaffen und vom Verkauf an die Papiermühlen leben.

image

073ar-fo © tonisalado

Touristen sind in Argentinien gern gesehen

Ausländer/Touristen: Europäer sind in Argentinien hoch angesehen; schließlich wären die Argentinier selbst am liebsten Europäer – jedenfalls wollen die meisten keinesfalls auf eine Stufe mit den lateinamerikanischen Nachbarn gestellt werden. Der Tourist wird mit Liebenswürdigkeit umgarnt und Argentinier setzten gerne ihr Schulenglisch mit ganzem Stolz probeweise ein.

Alkohol: Man sieht nicht viele Alkoholleichen auf den Straßen Argentiniens. Es gibt mehr Weintrinker und tagsüber wird vor allem Matetee geschlürft – der allerdings literweise. Betrunken zu fahren wird in Argentinien streng, im Extremfall sogar mit Gefängnis, bestraft. Zu einem guten Essen – ob mittags oder abends – gehört aber auch hier selbstverständlich Bier oder Wein. Argentinien verfügt über vorzügliche, kräftige Rotweine wie etwa von der Traubensorte Malbec.

Anrede: Fremde und höher gestellte Personen sollte man selbstverständlich mit „Sie” (Usted) anreden, am besten mit Titel und vollem Namen. Später kann man dann zum tu und dem Vornamen übergehen. Unter Jugendlichen wird natürlich der zwanglose Slang gepflegt. Um das Dilemma von „Sie” und „Du” zu umgehen, was Deutsche ja kennen, kann man sich bei der ersten Kontaktaufnahme vielleicht noch ins Englische flüchten.

Baden/Nacktbaden: Argentinien ist ein prüdes Land, Nacktbaden so gut wie unbekannt und in der Sauna trägt mann/frau Badekleidung. Am Strand liegt man rudelweise in der Sonne, geht aber kaum ins Wasser. Nur wenige wagen das; nicht alle können schwimmen. Im Übrigen ist der Südatlantik nicht so harmlos – und kalt ist er auch.

Begrüßung/Verabschiedung: Die Begrüßung/Verabschiedung wird in Argentinien als Operette aufgeführt. Sie kann gar nicht überschwänglich und herzzerreißend genug ausfallen, auch wenn man sich in ein paar Stunden wiedersieht. Es ist nicht genug, sich die Hand zu geben: Ein möglichst herzlicher – nicht gerade dezenter – Körperkontakt in Form von Umarmung, Rücken und Nieren reiben, Arme streicheln und natürlich Bussi austeilen ist angebracht.

Bekleidung: Am besten so wie in einem englischen Klub. In gute Restaurants erhält man ohne Krawatte/Kostüm kaum Eintritt. Kurze Hosen, sei es noch so heiß, sind allenfalls am Strand erlaubt. Auf dem Lande liebt man den Casual Look der Gauchos: also breeches (Reiterhosen), Karohemd, Halstuch und Baskenmütze bzw. Lederhut für die Herren, für die Damen Glockenröcke oder auch Reiterkleidung. Generalregel: Im Zweifel lieber overdressed daherkommen. Abgerissene Hippie-Klamotten sind uncool.

Beleidigungen: Die Gossensprache in Argentinien steckt voller Beleidigungen, so wie ein Hund voller Flöhe. Als Fremder kriegt man das kaum mit und ist in jeder Hinsicht selbst nicht satisfaktionsfähig. Eine äußerst hässliche Geste ist es, den („Stinke-”)Mittelfinger zu zeigen: Das könnte sogar lebensgefährlich werden.

Berührungen/Körperkontakt: Den einen dramatisch am Arm packen, der anderen galant aus dem Auto helfen – ohne Körperkontakt geht in Argentinien gar nichts. Wer auf Abstand hält, der ist ein kalter Fisch. Argentinier sind Kontaktpersonen, allerdings sind Knutschereien in der Öffentlichkeit unangebracht. Nordeuropäer mit ihren etwas distanzierteren Gepflogenheiten sind immer wieder ob der Warmherzigkeit der Argentinier und ihrer körperlichen Ausdrucksfähigkeit entzückt.

image

074ar-fo © MB

Warmherziges Argentinien: keine Scheu vor Berührungen

Bestechung/Schmiergelder: Handcreme, Anerkennungen, Beförderungs- und Schweigegelder – für alle Arten der Korruption gibt es unzählige Begriffe, die verschleiern sollen, was sie wirklich ist: die Umgehung, also das Korrumpieren (wörtlich: Zerbrechen) von Regeln und Gesetzen, die dem eigenen Vorteil im Wege stehen. In Argentinien ist das allgemeiner Volkssport und manchmal eine sympathische Art, die Bürokratie zu umgehen. Nur leider ist es nicht immer lustig, wenn diejenigen, die die Gesetze und Regeln machen, die Ersten sind, die sie wieder brechen.

Blickkontakt: „Schau mir in die Augen!” Das gilt beim Begrüßen, beim Zuprosten, beim Sprechen, beim Verabschieden. Die zwischenmenschliche Kommunikation läuft in Argentinien gleichermaßen über die Lippe wie über die Pupille. Wer also wirklich etwas mitteilen will, der sollte die Sonnenbrille abnehmen.

Bürokratie: Wo soll man da anfangen und wo aufhören? Die Bürokratie in Argentinien ist ein selbstreferenzielles System oder besser noch: ein Krebsgeschwür, das täglich Metastasen bildet. Wie die Luft zum Atmen so brauchen Argentinier die Bürokratie zum Leben: Um sich nämlich gegen sie zu wehren bis zum letzten Atemzug. Der Bürokratie ein Schnippchen zu schlagen, ist fast so schön, wie im Lotto zu gewinnen.

Debatten: Argentinier lieben die Debatte. Dabei kommt es nicht darauf an, Recht zu haben und gute Argumente vorzubringen, sondern elegante rhetorische Volten zu schlagen. Debattieren ist wie Singen: Die Melodie ist entscheidend, bitte nicht der Text. Argentinische Debatten sind deshalb wechselseitige, gesungene Monologe. Hört sich ziemlich gut an, muss aber nicht stimmen.

Drogen: Bei Drogen hört in Argentinien der Spaß auf. Handel und Konsum (auch bei Kleinstmengen) sind strafbar. Alkohol und Nikotin zählen selbstredend nicht dazu, aber zum Beispiel Cannabis. Anders als im benachbarten Uruguay, auf der anderen Seite des Rio de la Plata, wird der Konsum in Argentinien gesetzlich verfolgt. Kokain wird in den Kreisen der farandula (Bohème) gerne geschnupft: Man hat die Nummer des Anwalts im Handy, falls einer pfeift.

Besonders in den Armenvierteln von Buenos Aires und anderen Städten wird PBC (pasta básica de cocaina, auch paco genannt) konsumiert. Vorsicht: Es wird aus Abfallprodukten der Kokainproduktion gewonnen und man weiß nie, was alles drin ist!

Einladung: Eine Einladung ins private Schloss eines Argentiniers ist ein großer Vertrauensbeweis. Da muss man sich mit einem üppigen Strauß Blumen revanchieren. Aber bitte bloß nicht die Gastgeberin loben, sie habe alles so toll gekocht! Erstens könnte das Mahl aus der Mikrowelle stammen und zweitens von der Köchin. Das Essen darf man loben, die Köchin nicht, denn eventuell gab es einfach keine. Und das wäre doch peinlich.

image

071ar-fo © Galina Barskaya

Asado: Alles kommt auf den Grill

Ess- und Trinksitten: Die Argentinier essen mit Messer und Gabel, aber mehr mit dem Messer. Das braucht man zur Bezwingung der Fleischberge, denn ohne Rind- oder Schaffleisch ist das, was auf den Teller kommt, kein Essen. Dazu ein „Roter” aus dem Lande und ein frischer Tomaten-Zwiebel-Salat. Das kann man immer essen. Vegetarier haben es allerdings schwer. Getafelt wird grundsätzlich mittags zwischen eins und drei und abends von neun bis unendlich.

Fahrer/Guides: Die Argentinier sind seit dem legendären Manuel Fangio eine Rennfahrernation. Ihre instinktive Fahrtechnik wird nicht durch Gesetzestreue gelähmt. Man kann sich also den Fahrern durchaus anvertrauen, wenn man mutig ist. In Argentinien ist das Unfallrisiko fünfmal höher als in Deutschland, obgleich es dort viermal weniger Autos pro Bewohner gibt. Verkehrszeichen und -signale sind übrigens nur Empfehlungen, ein guter Fahrer hat seinen eigenen Kopf und einen Fuß aus Blei.

Fotografieren: Argentinier sind stolz darauf, wenn man sie beachtet und auch fotografiert. Man sollte aber wenigstens durch eine Geste die Zustimmung der zu portraitierenden Personen einholen. Argentinien ist neben Italien aber auch das Land der Paparazzi und Voyeure. Wer vorgibt, von der Presse zu sein, dem öffnen sich selbst Schlafzimmertüren.

Frau und Mann: Mann ist Mann und Frau ist Frau. Die Androgynisierung – also die Verschmelzung des „Männlichen” und des „Weiblichen” – sowie die ganze Gender- und Sexismus-Debatte aus Europa sind noch nicht in der Alltagsrealität der Menschen am Rio de la Plata angekommen. Mann und Frau in Argentinien spielen weiterhin die klassische Operette – sogar mit großer Begeisterung immer wieder. Denn wer schiebt beim Tango? Na also!

Fremdenfeindlichkeit: Argentinien gilt als offenes Land, das Einwanderer aus aller Welt willkommen heißt. Fremde waren die Argentinier schließlich (bis auf versprengte indianische Ureinwohner) alle einmal, man fühlte sich aber sehr schnell heimisch. Und so geht es auch allen, die hernach gekommen sind. Man ist sehr schnell „eingemeindet”, besonders wenn man äußerlich den Argentiniern ähnelt, was für die meisten Europäer zutrifft. Für Asiaten und Afrikaner liegt die Schwelle da schon höher. Und auch gegen Ausländer aus den Nachbarländern haben Argentinier zuweilen Vorbehalte. Seit der Argentinien-Krise 2004 haben zudem antiamerikanische Haltungen zugenommen.

Insbesondere die verbliebenen indianischstämmigen Minderheiten sehen sich mit diskriminierenden Haltungen konfrontiert. Übergriffe müssen heutzutage nicht befürchtet werden, Ressentiments und Ausgrenzungstaktiken dagegen werden hartnäckig aufrecht erhalten.

Geld: In Buenos Aires gibt es ein „Museum der Auslandsschuld” (Museo de la Deuda Externa), das im Wesentlichen aufzeigen will, wie Argentinien immer wieder wegen der Abzahlung seiner Schulden in die Krise schlitterte. Wenn Deutsche von „Schulden” sprechen, schwingt darin die Sünde mit. Wenn Argentinier von deuda reden, dann geht das auf das lateinische Wort debere, also auf die „Verpflichtung” zurück – das ist ein großer Unterschied: Für die Sünde muss man büßen, einer gesellschaftlichen Verpflichtung kann man sich womöglich entziehen. Geld ist also flüssig in Argentinien und löst sich manchmal sogar in Luft auf.

Geschenke: Es kommt nicht darauf an, dass die Gastgeschenke teuer sind; sie müssen nur prächtig verpackt sein – so wie eine Pralinenschachtel. Schweizer Schokolade wäre übrigens kein schlechter Tipp. Das Gastgeschenk sollte deutlich europäische Herkunft aufweisen und am besten ein Markenprodukt sein. Mit selbst gekochter Marmelade kommt man nicht weiter. Kleine Aufmerksamkeiten sind immer dann angebracht, wenn man ins Haus eingeladen wird – nicht etwa zu einem Essen ins Restaurant.

Gesprächsthemen (bevorzugte und problematische): Man kann über alles reden, nur nicht darüber, warum Argentinien einst reich war und heute ziemlich abgerissen dasteht. Denn die Argentinier ahnen, dass es mit ihrer Sicht der Welt zu tun haben könnte. Also rede man lieber über Luftschlösser oder über Fußball und Familie. Auf keinen Fall sollte man in das übliche Lamento über die Misere und die Korruption einstimmen, da ist Zurückhaltung angebracht.

Hygiene: Mehr Schein als Sein! Duftwässerchen, Deos und alle Techniken der Oberflächenbehandlung sind im Einsatz. Kernseife nicht. Kaltes Wasser bitte nicht! Wenn aber heißes aus der Dusche fließt, kann es Stunden dauern, bis aus der Sauna wieder ein Badezimmer wird. Die öffentlichen Toiletten entsprechen nicht den mitteleuropäischen Standards hinsichtlich der Sauberkeit.

Kinder: Bambini! Niños! Que alegria!: die infantilen Götter der Gesellschaft. Ihnen ist alles erlaubt, ihnen wird alles ver- und gegeben. Die Affenliebe der Mütter und Väter kennt keine Grenzen. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die Kleinen, einmal groß, nur in äußerster Notwendigkeit (zum Beispiel wegen Heirat) das „Hotel Mama” verlassen. Sie würden sich alleine nicht zurechtfinden – es sich aber auch finanziell kaum leisten können. Selbst Che Guevara war anfangs ein Muttersöhnchen.

Kriminalität: „Legal, illegal, scheißegal.” Die Konturen sind verwischt. Wer Millionen verschiebt, gilt immer noch als smart, wer aber Handys klaut, als Krimineller. Nicht das Verbrechen/die Untat bestimmt die Höhe der Strafe, sondern das Honorar für den Anwalt. Aber: In Argentinien ist man sicher – auf dem Land. In Buenos Aires sollte man nicht mit Wertsachen auf die Straße gehen, schon gar nicht nachts.

Müll: Plastiktüten sind kein Müll, denn die kriegt man ja von jedem Supermarkt nachgeworfen. Müll sind auch nicht die Fernsehsendungen, die Popmusik, der Auspuffdreck. Müll ist nur das, was im Mülleimer zu Hause landet – der wird einmal in der Woche abgeholt. Müll ist also nur der Dreck, den man selber macht. Der kommt weg – wohin, weiß kein Mensch. Vielleicht sogar auf die Deponien, wohin die Europäer ihre alten Reifen schicken. Also bitte nicht mit ökologischen Ratschlägen wie Mülltrennung usw. kommen. Das müssen die Argentinier schon selber für sich entdecken.

image

075ar-fo © forcdan

Natur pur: Die Wasserfälle von Iguaçu

Naturliebhaber: Naturliebhaber gibt es auch in Argentinien, sie sind aber eine kleine Minderheit. Für die meisten Argentinier ist Natur das Gegenteil von Kultur, und für das Zweite entscheiden sie sich. Wandern, Zelten, Bergsteigen: Das ist nur etwas für Exoten. Naturromantik ist also weitgehend unbekannt. Dass Schafzüchter, Gauchos und Farmer unter der Sonne schuften, ist kein Gegensatz: Die haben ein sehr unromantisches Verhältnis zur Natur.

Politik: Politik ist das einzige Thema, das im (Herren-)Klub angezeigt ist, neben der Börse, versteht sich. Der „hereinschnuppernde” Fremde aber genießt den gleichen Status wie Frauen: „Das ist nichts für die!” Halten Sie sich also zurück! Und philosophieren Sie lieber über Frauen, Familie … Wenn Sie allerdings gefragt werden zur Politik in der Heimat, dann dürfen Sie gerne berichten, doch nicht mit dem Zeigefinger.

Prostitution: „Prostitution gibt es in Argentinien natürlich nicht” – zumindest nicht so wie an der Copacabana. Das untere Segment der käuflichen Liebe ist in Buenos Aires tatsächlich wenig vertreten. Nach oben hin sind aber keine Grenzen gesetzt: Über Edel-Agenturen kann man sogar mit der Mätresse des Ministers schlafen. Aber eigentlich ist eine Geliebte, die man aushält und auf Dienstreisen mitnimmt, viel angesehener als eine Bordsteinschwalbe.

Pünktlichkeit: Pünktlichkeit als solche wird als Plage empfunden. Keiner versteht in Argentinien, warum ein Flieger trotzdem startet, wenn doch ein Passagier gerade noch sein Bier austrinken will. Dafür muss Zeit sein! Überhaupt: Ist es wichtiger, sich zum Sklaven der Uhr zu machen oder die Zeit zu genießen, wenn man sich gerade gut unterhält?

Souvenirs: Silber! Silber in den Beschlägen der Gaucho-Gürtel, der Matetee-Kalebassen, des Zaumzeugs der Pferde. Leder! Leichte, feine Lederjacken gegen den Pampero-Wind! Und natürlich Tango! Auf CDs oder Schellack, aus den Fundgruben der Antiquariate in San Telmo, Buenos Aires. Eine gute Flasche Wein ist auch nicht schlecht.

Sprache: Lunfardo, das Rotwelsch, die neapolitanische Gauner- und Ganovensprache aus dem Bauch von Buenos Aires, wird wohl so schnell keiner lernen, der nur mal reinschneit. Aber auch das offizielle argentinische Spanisch hat es in sich: Aus der „Calle Lavalle” wird die „Kasche Lavasche”, so ungefähr wie aus dem hessischen Panzer ein „Panssee” wird. Also das Kastilische schön weich waschen und am Ende verschlucken, dann kommt vielleicht Argentinisch heraus.

Schuheputzen: Auf blitzblanke Schuhe legt jeder Argentinier (und jede Argentinierin) höchsten Wert. Blanke Schuhe signalisieren: Der Mann/die Frau ist aus dem Dreck heraus. Deswegen sollte man den Dienst der Schuhputzer, die es an jeder Ecke gibt, auch in Anspruch nehmen. Die Schuhe selber putzen? Nur wenn es keiner sieht!

Statussymbole: Sie sind omnipräsent, die Statussymbole. Zunächst einmal die Markenklamotten, zweitens die Wohnung (natürlich nur nördlich der Avenida Santa Fee, Buenos Aires), drittens der richtige Country Club und letztens die jährliche Reise nach Paris, London oder Rom. Wenn dann noch eine junge, blonde Begleiterin hinzukommt, ist der Status himmelhoch. Der Begleiter der Damen hingegen muss einfach das Parfüm des Geldes tragen.

image

072ar-fo © sunsinger

Alles, was ein Gaucho braucht, trägt er am Leib: Geld, Dolch und Gerte

Tabus: Tabu ist alles, was mit Schweiß, Blut und Tränen zu tun hat. Also das Thema harte Arbeit, zweitens der Falkland- (sorry: Tabu!) Malvinas-Krieg und drittens das Leben von Maradona, Evita und Gardel: zu viele Tränen. Nicht tabu ist hingegen das Leben der anderen, also die Schlüssellochperspektive. Die Nachbarn der Argentinier, die Chilenen und Brasilianer, sollte man allerdings auch nicht zu sehr loben, denn mit denen fühlen sich viele Argentinier nicht auf gleicher Augenhöhe.

Teetrinken: Matetee-Trinken: immer und überall, besonders auf dem Lande. Die Kalebasse mit der herva, den trockenen Blättern, wird kochend aufgegossen, dann süffelt jeder in der Runde aus dem gleichen Silberröhrchen. Matetee-Trinken ist ein Ritual, das die Teilnehmer so ähnlich zusammenschweißt wie eine Skatrunde.

Toleranz: Argentinier sind in der Regel großzügig und tolerant. Das Land ist groß und es hat Platz für jeden mit all seinen Macken. Doch im Grunde sind die Argentinier sehr konservativ: Sie wissen, was sich schickt und was nicht. Von diesen Konventionen wollen sie ungern abweichen – hier zeigt sich auch, wer wohin gehört. Aber Oberlehrer, die stets mit erhobenem Zeigefinger dastehen, sind sie nicht: leben und leben lassen. Und was zu Hause los ist, geht keinen etwas an.

Trinkgeld: Trinkgeld ist erwünscht! Wenn es mit 10 oder 15 Prozent nicht auf der Rechnung verzeichnet ist, dann sollte man den entsprechenden Betrag schon geben. Und zwar so, dass man auf dem Teller mit der Rechnung und dem Wechselgeld ein paar Scheine liegen lässt. Großzügigkeit im Kleinen zeichnet den Herren und die Dame aus.

Urlaub: Im Urlaub sind die Argentinier Herdentiere. In den fast drei Monate langen Sommerferien gibt es je nach Brieftasche eigentlich nur drei Alternativen: nach Mar del Plata für die Sparsamen, nach Florianopolis zu den Brasilianern für die Spendableren und nach Punta del Este, Uruguay für die Steuerschwindler und Besitzer von Schwarzgeldkonten. Im Winter natürlich Skifahren im heimischen Bariloche. Als zeitweiliger Besucher von Argentinien sollte man solche Orte dann besser meiden.

Unterkunft: Wie man sich bettet, so liegt man. Fünf Sterne Plus ist sozusagen eine erdferne Raumstation. Bei cama e café (also Zimmer und Frühstück) gehts down to earth. Letzteres hat den finanziellen, aber vor allem den Vorteil von Erfahrungsgewinn. Komfort gegen Erkenntnis – jeder Argentinienbesucher muss das für sich selber entscheiden. Man sollte keine Angst haben: Noch nie ist ein Gast von einem Gastgeber gebissen worden. In jedem Fall empfiehlt sich eine Vorbuchung, denn mit der Tür ins Haus zu fallen, mag kein Argentinier, da sind sie nicht flexibel.

image

076ar-fo © elnavegante

Talkampaya-Canyon im wüstenhaften Nordargentinien

Vegetarier: Vegetarier haben es nicht leicht in Argentinien, dem Land der hohen Rippe. Glücklicherweise gibt es immer mehr Buffet-Restaurants (tenedor libre – wörtlich: freie Gabel), in denen man sich nach Belieben auch fleischfrei bedienen kann. Bei einer privaten Einladung sollte man eventuell vorher taktvoll signalisieren, dass man kein Raubtier is(s)t. Aber bitte keine Missionierung in Richtung Veggyday.

Verkehrsmittel: Durch Schienen und Schwellen wuchs Argentinien einst über sich hinaus. Heute sind die Bahnhöfe Kathedralen der Vergangenheit. Man fliegt, man rumpelt in Überlandbussen oder der eigenen Karosse. Ist das ein Fortschritt? Sicher nur für die Überflieger. In den Städten verkehren die üblichen rauchenden Sardinenbüchsen, die man meist wie ein Taxi per Winken zum Stoppen bringen kann. Frau und Mann von Welt nehmen sowieso die Droschke.

Warten: Argentinier gehören zu einer Wartegemeinschaft. Sie lieben es, denn beim Warten kann man wundervoll plaudern. Aber das hat auch seine Grenzen. Kommt der Bus zu lange nicht, verheddert sich die vorher so britische Warteschlange in ein Menschenknäuel, das auf Teufel komm raus zugleich in den Bus drängt. Auf Ämtern zu warten, ist eine Selbstverständlichkeit, schließlich ist man dort ein Bittsteller. Und wer darüber mosert, der muss noch länger warten.

Wohnen: Argentinier halten es in ihrer Wohnung nie lange aus; sie möchten ja andere treffen: auf der Straße, im Café, im Park. Deswegen ist die „Wohnkultur” nicht skandinavisch, sondern eher etwas chaotisch – abgesehen natürlich von den Salons der Oberschicht, die oft Museen gleichen. Zum Standard einer guten Wohnung gehört auch das Dienstmädchenzimmer, wo gerade Bett und Fernseher hineinpassen. Wegen der Wirtschaftskrise haben aber viele Haushalte der empleada gekündigt; ihre ehemalige Kammer ist jetzt ein Abstellraum.

Zeitverständnis: Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, heißt es im Märchenbuch. Die Argentinier sehen die Zeit als ihren persönlichen Besitz an. Darüber können sie frei verfügen. Wie über das Geld ja auch. Wenn also einer keine Zeit hat, ist er arm dran. Kein Mensch macht sich zum Sklaven der Uhr. Die Uhrzeit ist wie die Temperatur: Man kann sich nach ihr richten, muss es aber nicht.

Weltsicht und Selbstverständnis

Ein Versuch, Argentinien zu verstehen

Argentinien – ein Außenseiter in Südamerika. Es nimmt praktisch den gesamten Südteil des Kontinents ein und ist nach Brasilien das größte Land – immerhin mit einer räumlichen Ausdehnung, die in etwa derjenigen Indiens entspricht. Es reicht von den Anden im Norden über die fruchtbare Pampa bis hinunter zur Eiswelt Feuerlands im fernen Süden. Aber es sind weniger seine landschaftlichen Extreme als seine Bewohner, die Argentinien zu einem ganz besonderen Land machen.

Wer, aus welchen Gründen auch immer, nach Argentinien kommt, der wird sich nicht ausgeschlossen fühlen. Dieses Land ist eines der Zuwanderer und Immigranten, was zu einer ungewöhnlichen Verbindung aus vielfacher europäischer Herkunft und lateinamerikanischem Temperament geführt hat. Jeder dieser Zuwanderer hat ein kleines Stückchen seiner traditionellen Kultur mitgebracht, beispielsweise ein Stück italienischer Pizza oder das englische, aristokratische Polo. Und daraus ist eine einmalige Mischung entstanden – kein Eintopf, sondern ein Gericht, in dem noch alle Zutaten zu unterscheiden sind. Selbst im Lunfardo, der Gaunersprache der Vorstadt und der Unterwelt von Buenos Aires, selbst im erotischen Wiegen des Tangos und selbst im unnachahmlichen Genuss eines Steaks vom Grill – all dies ist deutlich mit einer Prise Europa vermengt.

Spätestens wenn man ins Taxi fällt, das zum Hotel fährt und bald darauf im Stau steckt, wenn der Fahrer wild gestikulierend und ungeduldig in einem seltsamen Kauderwelsch flucht, wenn man in einem der schwankenden Fahrstühle mit den rostigen Spiegeln und messingbeschlagenen Gittern hochfährt, wenn man die schwere, feuchte Luft des Río de la Plata atmet – spätestens dann wird man von Argentinien vereinnahmt. Und natürlich wird der Taxifahrer schon gefragt haben, wie einem dieses Land gefällt, das man gerade erst vor ein paar Minuten betreten hat.

Und er wird zu verstehen geben, dass in Argentinien die schönsten Frauen leben, die besten Steaks brutzeln, die besten Fußballer spielen und dass es überhaupt kein besseren Platz auf der Erde gäbe, wenn nicht die Politiker alle Diebe wären. Also stimmt es doch, dass die Argentinier in einem solchen Maße von sich überzeugt sind, dass sie als arrogant gelten. Zum Stolzsein haben die Argentinier aber auch Grund genug, nicht nur wegen der generösen Natur, die ihnen nach dem Himalaja die höchsten Berge geschenkt hat. Auch kulturell kann sich das Land mit Höchstleistungen schmücken, vom Tango ganz abgesehen, der bekanntlich „ein trauriger Gedanke ist, den man tanzt”. Argentinier sind weder bescheiden noch leise. Ein permanenter Lärmpegel liegt über den großen Städten. Die bemitleidenswerten Motoren werden auf höchste Drehzahlen getrieben. Man lässt die Bremsen kreischen, den Fernseher mit der Fußballspielübertragung für das ganze Viertel spielen, vor allem aber die Nachbarn im Restaurant an der lauten Unterhaltung teilhaben. Jeder spricht zugleich, und das immer lauter, ja man schreit sich geradezu an. Geschnatter, Geklapper, Gewisper – keine andere Nation scheint so mitteilungsbedürftig zu sein, geradezu leidenschaftlich dem Klatsch, dem Tratsch, der Lästerei zu frönen wie die Argentinier – was übrigens insbesondere auf die Herren der Schöpfung zutrifft.

Extrainfo 1 (s. S. 9): Video des Hessischen Rundfunks „Traumtouren in Argentinien” mit touristischen Höhepunkten und praktischen Tipps für eine Reise durch Argentinien – zur Einstimmung

In Argentinien will man nicht nur plappern und gehört werden, sondern vor allem auch sehen und gesehen werden. Ausgehen und flanieren, als ginge es über einen Laufsteg, eine gute Figur machen, was hergeben, sich darstellen – das ist das Lebenselixier eines jeden Argentiniers. The show must go on. Argentinier sind keine Mauerblümchen, ganz im Gegenteil. Und: Dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Wenn in anderen Teilen der Welt die braven Bürger längst im Tiefschlaf schlummern, machen sich die Argentinier zum Ausgehen fein. Die wichtigsten gesellschaftlichen Verabredungen beginnen eigentlich alle erst nach Mitternacht. Und nachts um Drei sind die Avenidas der Innenstädte stärker bevölkert als nachmittags zur Siesta. Mit Sicherheit schlafen Argentinier weniger als alle anderen Weltbürger. Man sieht es ihnen an den aschfahlen Gesichtern und den Augenringen an. Nach einer Analyse der „Lateinamerikanischen Gesellschaft für Schlafforschung” aus dem Jahr 2003 leiden siebzig Prozent der porteños (die Bewohner von Buenos Aires) unter Schlafstörungen und an zu wenig nächtlicher Ruhe.

Im „Paris Südamerikas”, in Buenos Aires also, leben der Geldadel und die Bohème trotz aller Pleiten weiter, als wenn die argentinische Belle Époque nicht längst geendet hätte. Trotz der Dauerkrise – die porteños, die etwas auf sich halten, eilen von einem Treffen zum anderen, so als ob es darum ginge, jeden Tag in die Sozialspalte der Regenbogenpresse zu kommen. Außerhalb des Molochs am Río de la Plata, auf dem Lande, geht es weit ruhiger zu, zuweilen gar totenstill. Aber vielleicht ist das platte Land da draußen ja gar nicht wirklich Argentinien …?

Wie auch immer, der Reisende findet in Argentinien ein relativ sicheres und wohl organisiertes Land vor. Vor Speiseeis und Feldsalat braucht sich kein Mensch zu fürchten, das Leitungswasser ist trinkbar, wenn auch stark gechlort. Und jedermann flaniert durch die Straßen, selbst tief in der Nacht, weil er sich nicht vor Übergriffen fürchten muss. Die Gewaltkriminalitätsrate in Buenos Aires und den anderen großen Städten liegt nicht weit höher als in Europa. Doch die tiefer liegenden Schichten Argentiniens, die Tragik und Tristesse ebenso wie auch die Stärken dieses Landes erschließen sich dem Besucher erst mit der Zeit.

Ein Land auf der Couch

Es gibt arme und reiche Länder und es gibt Argentinien. Vor einem Jahrhundert lebte das „Silberland” in Saus und Braus – dieser Tage ist es arm wie eine Kirchenmaus. Keine andere Nation hat in einem Jahrhundert so gründlich ihren Reichtum ruiniert. Und das aus freien Stücken und (fast) ohne Krieg. Jedes Kind kennt das Märchen vom Hans im Glück. Wie der Märchen-Hans mit seinem Goldklumpen heimzieht und am Ende mit leeren Taschen ankommt: Das ist auch die Story Argentiniens.

„Reich wie ein Argentinier”, das war um 1900 eine gängige Redewendung. Durch Buenos Aires ratterte die Metro, knapp nachdem man sie in London und Paris gebaut hatte. Der Peso wurde mit Gold aufgewogen. „In Argentinien spuckt man auf den Boden, und schon wächst eine Blume”. Jeder konnte reich werden, wenn er nur wollte, hieß es.

Das Geld hatte Millionen Hungerleider aus Südeuropa an den Río de la Plata getrieben, nicht etwa die Verheißung von Freiheit. Ihre Muskelkraft war gefragt, doch ihre Seele war zu Hause in Sizilien, Andalusien und im Baskenland geblieben. Auf drei Männer in Buenos Aires kamen damals nach der Statistik zwei Gastarbeiter mit Fremdenpass. Sie verschwendeten keine Gedanken über die Nation, die Verfassung, die Flagge. Gesetze, Vorschriften, Papiere – lästiges Zeug, die Obrigkeit hielt man sich besser vom Leibe. „Die Mexikaner kommen von den Azteken, die Peruaner von den Inkas – die Argentinier von den Schiffen”, scherzt bissig der mexikanische Autor Octavio Paz.

Ein Staatsvolk waren die Argentinier also (noch) nicht. „Regieren bedeutet besiedeln” urteilte der Staatsrechtler Juan Bautista Alberdí. Das Land war ja leer, wenngleich voller goldener Kälber. Mit Fleisch, Leder und Korn wurden über Nacht Vermögen gemacht – und ausgegeben. Die Fortabads und Thornquists, die Bullrichs und die Bunges legten ihr Kapital in prächtige Villen, ein paar Fabriken, in Abgeordnete und Richter und auch in edle Pferde an. Hans im Glück hatte seinen Goldklumpen als Belohnung für seine treue Dienerschaft erhalten. Statt seinen Schatz gegen gute Zinsen zu verleihen, sein Pferd vor den Pflug zu spannen, seine Kuh zu melken oder sein Schwein zu verwursten und damit Geld zu machen, tauscht er alles ein. Den Mühlstein zuletzt nimmt er nicht zum Mahlen. Er ist ihm zu schwer, er schmeißt ihn weg. Hans im Glück hat sein Kapital in Windeseile vernichtet.

image

002ar-cg

Galeria Pacifico: Der Prunk des einstigen Reichtums ist überall zu sehen

Genauso machten es viele reiche Argentinier: Sie legten das Geld im Ausland auf die Bank oder unter ihre Matratze, wenn sie es nicht für Statussymbole und Luxus ausgaben. Geld im Schweiße des Angesichts zu verdienen, das brauchten die estancieros (Großgrundbesitzer) nicht. Das Kapital wuchs in der fetten Pampa auf vier Hufen von alleine. Und der gekaufte Staat hielt den Fabrikanten die Konkurrenz vom Leibe.

Hans im Glück wird vom Pferd abgeworfen. In Argentinien besorgte das Oberst Juan Domingo Perón. Der alte Geldadel hatte nun kaum noch bei den Staatsgeschäften mitzureden. Der neue Patron Perón ließ sich von den descamisados, den Hemdlosen, inthronisieren. Evita Perón, der „Engel der Armen”, verprasste das Volksvermögen. Alles sollte nun dem Volk gehören, auch die Eisenbahn. Die hatte Perón den Engländern abgekauft und sich damit teuren Schrott eingehandelt. Seither lebt Argentinien über seine Verhältnisse, insbesondere die Regierung. Selbst unter Carlos Menem, der die defizitären Staatsbetriebe gegen ein Linsengericht an seine Freunde verschenkte, stiegen die Staatsausgaben von 1992 bis 1999 um 50 Prozent.

Seit vielen Jahren werkelt Argentinien nun auf Pump dahin. Aber die Argentinier glauben im Grunde, sie seien der Welt von großem Wert. Nicht sie selber, sondern der Norden müsse sie retten. Was aber ist ein Land wert, in dem die Arbeit nicht geehrt, das Sparen nicht gepflegt und die Gesetze konsequent gebeugt werden? Der Argentinier Marcos Aguinis hat in seinem Buch „El atroz encanto der ser argentino” („Das schreckliche Vergnügen, Argentinier zu sein”) der stolzen Nation einen Spiegel vorgehalten, in den sie ungern schaut. Nicht wenige Argentinier, die etwas auf sich halten, wären gerne Hanseaten: Sie geben sich als Engländer aus, aber sie sind weder Gentlemen noch Hanseaten. Sie sind die Nachkommen von Don Quijote, meint Marcos Aguinis.

„Wir kultivieren Defekte, die uns um Kopf und Kragen bringen”, klagt Aguinis. „La cultura de la renta” zum Beispiel. Man kann das als „Kuponschneiderei” übersetzen. Die Argentinier würden immer nur nach Schnäppchen schauen, nach dem schnellen Gewinn. Nicht durch harte Arbeit und geduldiges Sparen käme man zu Wohlstand, sondern durch gewitztes Spiel, durch Beziehungen, durch Spekulation und auch durch Schuldenmachen.

„Deudas” (Schulden) sind ja nur Engpässe. Sie sind nicht das gleiche wie „Schulden”. In dem deutschen Wort steckt die „Schuld”, die Sünde, die Unmoral. Im spanischen steckt das Wort „teilen”, „dividire”. Wer also in Argentinien Schulden hat, ist sich keiner Schuld bewusst, er ist höchstens „klamm” („duro”). Er wird versuchen, die Schlinge mit der berühmten „viveza criolla” (der Bauernschläue) zu lockern. „Renegociar la deuda”, die Außenstände neu „verhandeln” – Argentinien unternimmt seit Jahren nichts anderes, als Schulden neu zu „verhandeln”, also zu strecken. Beispielsweise durch neues Schuldenmachen.

Die Argentinier und das liebe Geld, das wäre ein Thema für Sigmund Freud. Die Sprache verrät es schon: Von „plata dulce”, vom „süßen Geld” also, ist die Rede. Das ist das Kapital, was man im Schlaf verdient. Bargeld heißt „efectívo”, also „wirkliches Geld”. Daraus darf man wohl schließen, dass Schecks, Wechsel, Guthaben u.Ä. „unwirkliches Geld” sind. Mit anderen Worten: Nur das Geld, das man in der Hand hält, ist wirkliches Geld. Alles andere steht auf dem Papier und löst sich des Öfteren in Luft auf. Szenen aus dem Alltag: Jorge hat ein paar Schuhe gekauft, nur acht Peso hätten sie gekostet, erzählt er freudestrahlend. Nur acht Peso – und sonst nichts? Naja, acht Peso als Anzahlung, der Rest in sechs Monatsraten von ebenfalls je acht Peso. Ein anderes Beispiel: Vier Argentinier spielen Karten. Einer verliert am laufenden Band. „Was heißt hier verloren? Das Geld ist bloß im Moment bei den anderen!”, gibt dieser zum Besten und nimmt erst einmal Schulden auf.

Geld ist flüssig und flüchtig. Und es geht ja nicht nur ums Kapital. Es geht um die persönlichen Beziehungen, um Einfluss, Ansehen und auch um Macht. Wer eine Million auf dem Konto hat, der ist ein armer Wicht. Wenn er aber goldene Kettchen trägt, einen Importwagen fährt, mit der Rolex spielt und rauschende Feste gibt, dann gilt er als feiner Mann – mag er noch so hoch verschuldet sein. Mehr Schein als Sein.

„Dame dos!”: Die argentinischen Touristen hatten, so lange sie noch in Brasilien zum Shopping einfielen, den Spitznamen „Gib mir zwei!”. Über ihre Angeberei, ihre Arroganz und Überheblichkeit reißt man in ganz Lateinamerika Witze. „Argentinien ist ein Land, das seine Millionen Menschen versenken möchten, es ihnen aber nicht gelingt”, foppt der TV-Tölpel Cantinflas (Mario Moreno) in einer mexikanischen Endlosserie. Schon Albert Einstein hatte sich bei seinem Besuch 1925 gewundert: „Wie kann ein solch desorganisiertes Land vorwärts kommen?”

Bereits zu Anfang des vorigen Jahrhunderts waren die öffentlichen Dienstleistungen in Buenos Aires doppelt so teuer wie in London. Ein Drittel der Staatsausgaben ging für Bestechungen drauf, behauptet Marcos Aguinis. Ein spanischer Finanzbeamter klagte schon 1923 über die argentinischen Zustände: „Es gibt einen tiefen Graben zwischen der Prosperität des Landes und dem Zerfall der öffentlichen Finanzen, die ein Dauerelend sind”. Unter Perón und seinen Nachfolgern hätte so gut wie jeder dritte Argentinier, Rentner oder nicht, am Tropf von Vater Staat gehangen.

Dabei ist der argentinische Nationalheld ein Freibeuter zu Pferde. Jeder Abiturient kann Verse aus dem romantischen Epos „Martín Fierro” zitieren, das ein gewisser José Hernández 1879 verfasste. Hier wird den Gauchos ein Denkmal gesetzt. Die Gauchos verachten den Tango, sie spucken auf Buenos Aires und das gelackte Gesindel der Großstadt. Sie lieben den Himmel, die Erde, die Pampa, deren Herren sie einst waren. Die Gauchos gleichen den Potros, den wilden Pferden, die sie zureiten. Einen Gaucho kann keiner zähmen. Jeder Argentinier möchte ein Gaucho sein. Aber das ist Illusion. Denn die Pampa ist längst parzelliert.

image

003ar-cg

Silberland Argentinien

Die Argentinier sind im Grunde Anarchisten, meint Marcos Aguinis. Dem Staat ist man nichts schuldig, der Staat ist einem selber etwas schuldig. Vor allem, wenn man zu seiner Familie gehört. Eigentlich ist der Staat ein Patron, ein guter oder ein böser. Der böse Patron ist ein Blutsauger, den es zu betrügen, der gute aber eine Kuh, die es zu melken gilt. Wo sonst auf der Erde lassen sich die Hausmeister der staatlichen Schulen noch das Pausenbrot vom Staat bezahlen? Welche andere Regierung gibt so viel Geld aus dem Haushalt für die „Rechtspflege” aus?

Ein Staat, der so viele Gesetze wie in Argentinien erlässt, hält seine Bürger für dumm oder kriminell. Beides trifft sicher nicht zu. Die Gesetze werden gemacht, damit die Bürokraten ein Auskommen haben. Je mehr Gesetze, desto mehr Gesetzesbrecher. Die Obrigkeit zu betrügen ist keine Sünde, sondern eher eine Tugend, die von Bauernschläue und Pfiffigkeit zeugt. „Sie haben mich wegen Diebstahl geschnappt, aber nicht wegen Blödheit”, brüstet sich der Delinquent. „Zafar” – sich vor der Verantwortung drücken, „El vivo”, der Schlaumeier, der hat den Trick raus, wie man die Probleme umgeht, sich aus der Schlinge zieht. Die Tangotexte und das „Lunfardo”, die Gaunersprache, sind voller Vokabeln, die jene viveza criolla, die Philosophie des Durchmogelns, anklingen lassen.

image

004ar-cg

Demonstration in Buenos Aires: „Die Argentinier sind im Grunde Anarchisten …”

„Mein Vater”, so schreibt Marcos Aguinis, „landete wie alle am Dock Sur und schuftete sein Leben lang. Er gründete eine Familie und war stolz darauf, seinen Sohn auf die Universität zu schicken. Das ist das Modell, dem wir folgen müssen!” Die meisten Argentinier würden den Autor wohl als Nestbeschmutzer anklagen, würden sie ihn lesen. „Ich habe versucht, mein Land zu verstehen – es ist mir nicht gelungen”, resigniert Aguinis.

Es gibt kein anderes Land der Erde, das sich so sehr mit sich selbst beschäftigt. Wer kann schon die Anzahl der Publikationen überblicken, die in Argentinien um die Frage kreisen „Wer sind wir?” Fast jeder kennt die wunderbare Karikatur von Saul Steinberg über die geistige Landkarte der New Yorker. Würde man eine ähnliche geistige Landkarte der Argentinier zeichnen, wäre das Ergebnis eindeutig. Vorne im Mittelgrund steht Buenos Aires, südlich davon liegt Mar del Plata, das Ferienparadies und östlich davon, auf der anderen Seite des Río de la Plata, Montevideo, die kleine Schwester von Buenos Aires (in Uruguay). Sonst wird man von Argentinien nichts weiter auf der Karte finden, von Südamerika nur einen weißen Fleck, von Nordamerika die USA, also Washington, New York und Miami. Afrika, Ozeanien und Asien fehlen auf dem Bild völlig, hingegen wird der Atlantik ein schmales Rinnsal und an seinem anderen Ufer liegen strahlend jene Städte Westeuropas, zu denen jeder Argentinier eine Liebesbeziehung hat: London und England, seit dem Krieg um die Malvinas/Falklands vielleicht eine Hassliebe, aber unersetzlich für jene, die sich als „kultiviert” bezeichnen. Gleich neben London: Paris, keine Frage das Mekka aller, die ihr Geld ausgeben wollen. Und dann haben wir noch Rom (der Papst), Madrid (Sprache, Kultur und bevorzugtes Exil) sowie, je nach Herkunft, die Dörfer Kalabriens, der Normandie oder des Baskenlands. Der Rest Europas verschwimmt im Nebel.

Alle großen Denker Argentiniens haben Europa als das Modell und Vorbild gesehen. Argentiniens Zukunft, das stand außer Zweifel, lag darin, so wie Europa zu werden, denn: „Europa ist das Zentrum der Zivilisation und steht für den Fortschritt der Menschheit. Wir haben keine andere Wahl, uns nach Europa zu orientieren, ohne allerdings alle Moden sklavisch zu übernehmen”, schrieb der Präsident und Lehrmeister der Nation, Domingo F. Sarmiento. Keiner seiner Zeitgenossen dachte auch nur im Entferntesten daran, die Vorbilder anderswo zu suchen (zum Beispiel in den jungen USA) oder sich gar mit den Ureinwohnern Amerikas zu beschäftigen. In Mexiko war man bald stolz auf die altamerikanischen Hochkulturen, die man erst zwei Jahrhunderte lang zerstörte. Dort trugen bald die Söhne und Töchter der Oberschicht aztekische Namen. Kein Mensch in Argentinien wäre darauf verfallen, indianische Wurzeln freizulegen. Alberdi, der Staatsphilosoph, machte unmissverständlich klar: „In Amerika ist alles, was nicht europäisch ist, barbarisch. Es gibt also keinen Zweifel: Zuerst waren da die Indios, also die Wildheit. Und nun der Europäer, also sind wir dran”. „Europa nach Amerika bringen” – darauf musste sich die politische Klasse verständigen. Denn mit den Indianern, den Halbbluts und den wilden Gauchos war nichts zu machen. „Aus einem Gaucho macht man in hundert Jahren keinen englischen Arbeiter”, klagt Alberdi.

Argentiniens Name

Das Wort „Argentinien” stammt von „argentum” ab, dem lateinischen Wort für Silber. Der Ursprung dieser Bezeichnung geht auf die Reisen der ersten spanischen Eroberer zum Río de la Plata zurück. Die Schiffbrüchigen der Expedition von Juan Díaz de Solís stießen in dieser Gegend auf Eingeborene, von denen sie mit Silbergegenständen beschenkt wurden, die sie nach Spanien mitnahmen. Um das Jahr 1524 wurde über die sagenumwobene Sierra de la Plata berichtet, ein Berg mit reichen Vorkommen an diesem Edelmetall. Ab dieser Zeit wurde der Fluss von den Portugiesen „Río de la Plata” genannt. Zwei Jahre später übernahmen auch die Spanier diese Bezeichnung. Seit 1860 wird der Name „Republik Argentinien” als offizielle Bezeichnung des Landes geführt. Genau genommen stimmt das aber nicht, denn die ganz korrekte Übersetzung wäre „Argentinische Republik”. Und das hat mehr als nur semantische Bedeutung. (Wir erinnern uns an die „Deutsche Demokratische Republik”/DDR: Da war das Deutsche auch vom Substantiv zum Adjektiv verdünnt, und zwar ganz bewusst.) So gesehen gibt es Argentinien also gar nicht. Es gibt nur eine argentinische Republik. Und da wird es kompliziert. Wie in Argentinien so manches.

Argentinien wollte also nie und nimmer die Nabelschnur zu Europa abschneiden. Und das bedeutete, um im Bild zu bleiben, dass die Nation niemals erwachsen wurde, sich emanzipierte, ihren eigenen Weg suchte, sich in Amerika einrichtete. „Es war ein schwerwiegender Fehler, dass die argentinischen Denker niemals auch nur wenigstens das ‚Anderssein’ der Ureinwohner akzeptierten, sondern in ihnen nur menschlichen Abschaum sahen”, konstatiert der Soziopsychologe Julio Mafud.

Argentinien – wo liegt es? Wer ist eigentlich Argentinier? Man kennt ja die Klischees zu genüge: Tango, Brilliantine im Haar und arrogantes Benehmen. Und dazu dieses verwaschene, gesungene Spanisch. „Ein Argentinier ist ein Italiener, der Spanisch spricht und glaubt, er sei ein Engländer” – noch so ein griffiger Slogan.

Zustand der Heimatlosigkeit und der Zeitlosigkeit