Über das Buch

Acht Erzählungen über acht Frauen, die ein und dieselbe Person zu unterschiedlichen Zeiten ihres Lebens sein könnten: Die Studentin, die in »Abtreibung. Eine Liebesgeschichte« mit ihrem Professor schläft, könnte die Collegeabgängerin sein, die in »Zeig ihnen, wie man Spaß hat« in ihrer irischen Heimatstadt einen Tankstellenjob annimmt, oder die Lehrerin, die in »Noch nicht das Ende« ihre Freizeit mit Blind Dates verbringt. Eine dieser Frauen wird irgendwann stundenlang unbeweglich auf dem Badezimmerboden liegen. Für eine andere ist sogar das Anziehen zu einer Quelle der Verwirrung geworden. Nicole Flattery zelebriert den Humor einer hohlen Welt, die kurz vor dem Untergang steht. Ihre Erzählungen sind melancholische Gedankenspiele, grotesk und tragisch zugleich. Mit erschreckender Präzision geben sie das Lebensgefühl einer ganzen Generation wieder und verspotten es zugleich.

Nicole Flattery

Zeig ihnen, wie man Spaß hat

Storys

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Hanser Berlin

Für meine Großmutter

Schließlich waren die Möglichkeiten einer einzelnen Frau auf der großen, gnadenlosen Bühne begrenzt.

Lorrie Moore, »Was fliegt denn da?«

ZEIG IHNEN, WIE MAN SPASS HAT

Die Programme waren für Leute gedacht, die viel Zeit hatten, oder auch für Leute, denen das Gefühl, beschissen behandelt zu werden, nicht ganz unvertraut war. Ich kannte beide Zustände bestens. Das Gespräch wurde von der Geschäftsleitung geführt — absurde Fragen hinter zentimeterdickem Plexiglas: Geben Sie bitte in Stunden an, wie lange Sie schon arbeitslos sind. Haben Sie Ihre Jugend damit verschwendet, Steine nach fahrenden Autos zu werfen?

»Der Bewerbungsprozess kann etwas willkürlich wirken«, erläuterte die Geschäftsleitung, und ich sagte, das tue mir leid.

»Nur Bauern entschuldigen sich«, kommentierte die Geschäftsleitung und konzentrierte sich wieder auf ihre undurchschaubaren Beurteilungen.

Das Gespräch dauerte die ganze Nacht, mit dem Ziel, mich zu brechen und dafür zu sorgen, dass ich mich bis ans Ende meiner Tage zu Strukturiertheit und Verantwortungsbereitschaft verpflichtete. Als ich rauskam, war ich mir über nichts mehr richtig sicher, bis auf meinen Namen und mein Alter, das sich irgendwo Ende zwanzig bewegen musste. Am Morgen wurde ich auf die Toilette geführt, wo mir eine Uniform angepasst werden sollte. Die Kabine schien mir so finster und bodenlos, als könnte dort tagelang unentdeckt eine Leiche liegen. Von der Bluse bekam ich Brüste, von den vorgeschriebenen Stiefeln Beine. Lauter Teile von mir, die ich mit aller Kraft hatte vergessen wollen, wurden jetzt unter überraschenden, polyesterhaltigen Umständen wiedervereint. Als ich fertig angezogen war, reckte die Geschäftsleitung wie verrückt den Daumen hoch. Die Geschäftsleitung war fast vollkommen kugelrund und neigte zu unvermittelten Lachanfällen. Sie musterte mich, meine weiße, leere Miene, und fragte: »Ist es nicht toll, dass man einfach so mal herzhaft lachen kann?« In ihrem Verhalten erkannte ich ihr früheres Leben als Landarbeiterin, die irre Seelenruhe, mit der sie das Vieh zur Schlachtbank führte.

Die Geschäftsleitung erklärte mir noch einmal den Ablauf. Wir hatten die Aufgabe, uns in der Nähe der Kasse aufzuhalten, das Erscheinungsbild der Tankstelle zu prägen und — das war das Wichtigste — den Glauben nicht zu verlieren. Die Geschäftsleitung ging aus dem Zimmer, während ich das Lernvideo laufen ließ. Darin erzählten drei Teilnehmer des Programms mit dem geschlechtslos glatten Äußeren von Versandhausmodels, was es für eine Freude sei, endlich wieder zu arbeiten. Sobald sie irgendwie spontan handelten oder etwas machten, was ihre Zuständigkeit überstieg, erschien ein großes X auf dem Bildschirm. Beim Zuschauen war ich aufgedreht und peinlich berührt, als würde ich eine bestimmte Art besonders scheußlicher Pornographie gucken.

Die Geschäftsleitung regte an, falls ich jemals das Gefühl hätte, den Glauben zu verlieren, solle ich einen kurzen, kräftigen Spaziergang machen — beispielsweise auf dem Fußweg neben der Autobahn — und mich von meinen Kolleginnen und Kollegen fernhalten, weil meine innere Verfassung und mürrische Miene zum Problem werden könnten. Sie meinte, ich wirke wie ein netter Mensch, die Kunden würden mich sicher mögen, falls wir welche hätten. Meine Persönlichkeit eigne sich besonders gut für zwischenmenschliche Kurzkontakte.

»Soll ich mir eine Visitenkarte drucken lassen?«, fragte ich.

»Das ist doch mal eine Idee«, sagte die Geschäftsleitung und reckte erneut wie verrückt den Daumen hoch.

*

Vor der Tankstelle war mein Heimatort vor allem bei Leuten berühmt gewesen, die unter Reisekrankheit litten. Hier hielten sie an und würgten und spuckten, um dann ein besseres Ziel anzusteuern. Bei meiner Rückkehr aus der Stadt hatte ich geglaubt, der Ort und ich hätten uns vielleicht beide auf strahlend glamouröse Weise verändert, aber das war nicht so. Enttäuschung und die Freuden des Ausgenutztwerdens waren für uns beide alte Bekannte.

Ich war seit zwei Monaten wieder daheim, und das Haus kam mir merkwürdig leer vor, als wären unsere sämtlichen Möbel verkauft worden. Irgendwie hatten sich während meiner Abwesenheit Hunderte kleiner, unsäglicher Ereignisse zugetragen. Ich war wieder bei meiner Mutter: zwei Aufreißerinnen, zwei Frauen, die in einer toxischen Beziehung steckten und es nicht mal merkten, zwei echte Luschen — wieder vereint.

Jeden Abend beim Essen wollte sie wissen, warum ich aß, wie ich aß, warum ich immer die Finger in Einmachgläser steckte und darin herumpulte. Ob ich überhaupt je Gemüse äße? Ob in vielen Restaurants drüben in der Stadt Erbsen serviert würden? Ich sagte, ich hätte keine Ahnung, über so etwas dächte ich nicht groß nach, und sie richtete die Gabel, mit der sie das alberne Gemüse aufgespießt hatte, auf mich, als wäre es ein Insiderscherz zwischen uns.

»Gab es auch Jungs dort? Hattest du einen Freund?«

»Ja.«

»War er nett?«

»Nicht besonders. Er war ziemlich nervig. Er sagte immer Sachen wie: Jetzt nehme ich noch einen kleinen Espresso. Kaffeekram, den alle sowieso längst wissen. Er war überhaupt nicht witzig. Und manchmal hat er mich auch so ein bisschen geschlagen, wenn ich schlief. Wobei ich natürlich nur so getan habe, als würde ich schlafen, ich war also auch nicht ganz ehrlich.«

»Es ist immer wichtig, dass ein Mann Sinn für Humor hat.« Ein vertrauliches, mütterliches Lächeln. Ihr Optimismus war undurchdringlich, erschreckend. Er konnte ganze historische Epochen niederbrennen.

Meine Eltern waren auf eine unerschütterliche Weise miteinander verbunden, die ich bewunderte. Sie hatten die Gewohnheit einer langen Ehe verfeinert, erst nichts zu sagen und dann alles zwei Mal. Mich beachteten sie nicht, allerdings auf pragmatische Weise: so, wie man im Bunker vielleicht den Schwächling ignoriert. Ihr Tagesablauf folgte seinem eigenen gemächlichen Privatrhythmus, durchsetzt vom harten Hämmern der Spülmaschine. Ein merkwürdiges Alltagsmuster: über die Straße schlendern, in den Supermarkt gehen, flüchtigen Bekannten zuwinken, zum immergleichen Stück Himmel hochschauen, wieder nach Hause gehen. Sie hatten Langeweile erlebt, sie einfach niedergestarrt und überdauert. Und trotzdem wirkten sie weniger verbraucht, weniger gealtert als ich. Mein Vater, der früher immer Schwarz getragen hatte, hatte plötzlich einen Enthusiasmus für Farben entwickelt und präsentierte sich mit rosa Hemd unter seinem roten Golfpullover. Meine Mutter ermunterte mich, ihn bei der Suche nach seinem Stil zu unterstützen. Sie hatten auch neue Freunde, Paare, die sie angeblich im Supermarkt kennengelernt hatten. Wenn diese neuen Leute anriefen und ich mich meldete und fragte: »Wer sind Sie?«, sagten sie: »Nein — wer sind Sie?«, als glaubten sie, Einbrecher erwischt zu haben, ein hochdramatisches Horrorszenario, das ihre Bande zu meinen Eltern noch verstärken würde.

Ich lungerte auf meinem durchgelegenen Bett herum und dachte mir fantasievolle Wege aus, meinen Körper zu verlassen. Ich blickte von oben auf ihn herab — schlaff und sternförmig —, schloss dann die Augen, riss sie wieder auf. Er war immer noch da. Wollte wohl nicht verschwinden. Ich war ruhelos. Ich schaute oft bei der Regentonne im Garten vorbei. Diese Regentonne empfand ich als Zeitmesser — all der Regen, der während meiner zweijährigen Abwesenheit gesammelt worden war. Meine Mutter argwöhnte, dass der Welt das Wasser ausgehen könnte, und diese verbeulte Aluminiumtonne war unsere Absicherung, unser geheimer Plan. Am liebsten hätte ich ihr gesagt: »Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert«, aber das klang so aufgeblasen und fremd in unserem feindseligen kleinen Haus.

Ich hatte kein Interesse an Erlösung. Ich glaubte nicht daran — das war etwas für Spinner und Spießer —, aber die Regentonne hatte etwas an sich, was den Wunsch nach Wiedergeburt in mir weckte. Ich sah mich durchs trübe Wasser tauchen, das Gesicht von schmutzigem Laub umrahmt, während das Blau der Tonne die Jungfrau Maria in mir weckte.

Ich musste dringend raus aus diesem Haus.

*

Kevin fing genau eine Woche nach mir zu arbeiten an, hatte aber gleich ein Gefühl für die Tankstelle, das mir fehlte. Er begriff ihre stille Romantik, ihren rostigen Reiz. Er kannte die Reihenfolge, in der wir unsere Tätigkeiten absolvieren sollten — instinktiv. Ich tauchte beispielsweise den Wischmopp in den Eimer oder wrang ihn aus, und Kevin sagte: »Das sollen wir aber jetzt noch nicht machen«, und er hatte immer recht. Mein nichtlineares Denken machte ihm Sorgen, aber ich hatte den Eindruck, dass wir zusammen bestens funktionierten, ein perfekt eingespieltes Team.

Ich fühlte mich viel stärker zu ihm hingezogen, als es eigentlich gern gesehen wurde. Die Geschäftsleitung, das war mir klar, wünschte sich ein komplizierteres Verhältnis zwischen uns, vielleicht sogar mit einem Schuss erbittert erotischer Spannung, aber das war nicht drin. Von Anfang an gab es diese ganz spezielle Atmosphäre zwischen uns, eine persönliche Verbindung, rein und ehrlich. Er merkte beispielsweise sofort, wenn ich auf der Toilette war, um mein Gesicht zu überprüfen und zu sehen, ob ich den Anforderungen noch genügte, ob mich die ganze Warterei nicht schon völlig fertiggemacht hatte. Sauer war er deswegen nicht. Wir hatten beide trottelige Träume, in denen wir uns durchschlagen mussten, Fantasien von Kämpfen, aus denen wir siegreich hervorgingen. Wir vertrauten uns gegenseitig. Wir legten Bekenntnisse ab. Wahrscheinlich war ich für ihn die Schwester, die er gern geheiratet hätte.

Als die deutlich Ältere fand ich es angebracht, ihn in seinem Selbstwertgefühl zu bestärken. Ich sagte ihm, er sehe umwerfend in seiner Uniform aus, sie mache richtig was her an seinem schlaksigen Neunzehnjährigenkörper. Das stimmte auch. Er sah aus wie einem Film über Ganoven und Serienmörder auf der Flucht entsprungen. Nur, dass er kein Ganove war und auch kein Serienmörder. Er war der Tankstellenwärter, der hilfsbereit in die richtige Richtung zeigt und ruft: »Sie sind da lang!« Er freute sich über solche Vergleiche, solche Zeichen.

Während wir den Vorplatz der Tankstelle fegten und dabei die Augen nach Glückspennys offen hielten, gestand er mir, dass in seinem Kopf alles Fernsehen sei. Es gab zwar Möglichkeiten, die Realität von der Fantasie zu unterscheiden, aber die beherrschte er nicht. Das konnte ein kleines Problem sein, so wie man vielleicht die Himmelsrichtungen nicht auseinanderhalten kann und Norden und Süden verwechselt. Es konnte aber auch zum großen Problem werden. Einmal, als wir gerade rund um den unfreundlichen, überflüssigen Zaun Unkraut jäteten, erzählte er mir, er fühle sich wie eine Figur, die ziemlich ungeschickt aus einer Comedyserie herausgeschrieben würde.

»Kennst du das, wenn sie noch da sind, aber gar nichts mehr machen und auch nichts mehr sagen? Als hätte keiner einen blassen Schimmer, was man noch mit ihnen anfangen soll? Dann verschwinden sie einfach, und kein Mensch spricht mehr über sie. Ich glaube, so was passiert mir auch.«

Mit solchen dumpfen Gefühlen kannte auch ich mich aus. In der Tankstelle kam ich mir vor, als könnte einfach irgendwer an meine Stelle treten und mich spielen, solange er oder sie nur mit der richtigen gequälten Miene ausgestattet wurde, den trägen Reaktionen eines von den eigenen falschen Entscheidungen überrumpelten Menschen. Abends, wenn das Selbstmitleid einsetzte, schien Reden immer eine halbwegs gute Idee zu sein. Dann sagte ich: »Erzähl mir was, Kevin«, und er erfüllte mir den Wunsch. Kevins Kinowissen war ebenso detailreich wie abwegig. Es ließ nicht mehr viel Platz für anderes in seinem Kopf, aber ich war dankbar dafür. Die gespenstische Stille in der Tankstelle wurde dadurch erträglich. Ich machte eine große Sache daraus, ihm zuzuhören. Ich glaube, dann fühlte er sich besser, als hätte er mehr geleistet, als nur eine Zeiterfassungskarte auszufüllen, draußen Unkraut zu jäten und zu warten.

Ich wollte ihn beeindrucken. Das lag einfach irgendwie in der Luft zwischen uns.

»Weißt du, ich war auch bei ein paar Filmen dabei, kleine Rollen nur, aber ich war immerhin am Set.«

Wir beide, völlig unbewegt im Wind der Autobahn.

»Und wie war das so?«, fragte er.

»Irgendwann auch wie alles andere. Fast ein bisschen langweilig. Unangenehm. Die meiste Zeit hängt man bloß so rum.«

»Hast du deswegen aufgehört?«

»Ja. Und weil es keine guten Rollenangebote mehr gab.«

»O ja, das kommt vor.« Kevin nickte ernst. »Passiert Frauen oft, hab ich gehört.«

Nach ein paar Wochen hatte ich mir angewöhnt, jeden Abend zügig und schuldbewusst an dem Haus vorbeizulaufen, in dem Kevin noch bei seinem Vater wohnte. Die Gedanken, die das auslöste, gefielen mir nicht. Ich sah ihn vor mir, dort drinnen, zusammengerollt auf seinem schmalen Bett, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. Manchmal konnte ich mir morgens fast einbilden, dass noch ein leichter Rest Fernsehglanz an seinem Körper klebte.

*

Irgendwie war es peinlich, loszuziehen und in den schmuddeligen, alten Straßen nach Leuten zu suchen, die ich kannte, aber ich machte es trotzdem. Stolz war zu dem Zeitpunkt sowieso kein Thema mehr für mich. Ich hatte ihn hinter mir gelassen, hatte nicht vor, ihn jemals wiederzusehen. Meine Freundinnen, soweit noch vorhanden, waren reizende Mädchen — zahm, durchschaubar, aber sympathisch. Für einen jämmerlichen Abend versammelte ich uns alle in einer Kneipe. Aufgewachsen mit Müttern, die mit mürrischer Miene vor ihrem jährlichen Glas Wein hockten, tranken wir alle wie unsere Väter. Das war eine der großen Entscheidungen unserer Generation.

Hin und wieder erkundigten sie sich ganz beiläufig, was ich während meiner Abwesenheit eigentlich getrieben hätte. Sie waren stinksauer, dass es das jetzt gewesen sein sollte, dass sie immer noch hier waren, ihr selbstverwirklichtes Ich niemals kennenlernen würden. Sie waren vollauf bereit, sich von jetzt auf gleich gegen mich zu wenden. Im halbherzigen Versuch, feinfühlig zu wirken, meinte ich, ich hätte fortgehen müssen, um etwas über mich herauszufinden. Ich verschwieg, dass es da nicht viel herauszufinden gegeben hatte. Nur eine ganz normale Oberfläche und darunter eine verzweifelte Oberfläche. Ich bat sie, sich meinen neuen Gang anzuschauen. Den Großstadtgang. Ich machte ihn vor. »Das ist er«, rief ich, während ich die beliebte und tragischste aller Kleinstadtkneipen durchquerte.

Ich betonte, dass ich in der Stadt für etliche reiche Leute gearbeitet hatte. Ich hatte reichlich spektakuläre Aussichten zu sehen gekriegt, denn Schauen war schließlich einfach und unkompliziert. Ich war in diverse Penthousewohnungen geführt worden, die sich alle auf sture Weise glichen, hatte dort durch die Scheiben geblickt und in Anerkennung der Schönheit geseufzt. Mit fröhlicher Verachtung sezierte ich mein Leben für sie. Das fand ich amüsant.

Ich nahm eine gewisse Verärgerung über meine Geschichten wahr. Meine Mädchen, meine reizenden Mädchen, setzten plötzlich alle die misstrauische, erschöpfte Miene prekär Beschäftigter auf. Sie stöhnten, schlürften ganz undamenhaft ihre Drinks, sagten tausend Mal meinen Namen. Während ich herumgetan und auf den richtigen Moment gewartet hatte, um mich der Welt zu präsentieren, hatten sie sich tristeren Tätigkeiten hingegeben: dem Versuch, maßvoll zu trinken, dem Bezahlen von Mautgebühren.

Natürlich führten wir auch ein ruppiges, nervöses Gespräch über Geld. Mein Hauptproblem war, dass ich keins hatte und mich deswegen unwohl fühlte. In der Stadt war Bargeld kein Problem gewesen. Jedes Mal, wenn ich mein Portemonnaie öffnete, sprangen ein paar hässliche Scheine heraus, voller Freude, mich zu sehen. Geklaut habe ich nie. In der Hinsicht war ich ganz zivilisiert. Ich habe für mein Auskommen gesorgt. Das hieß kleine Tricksereien, es hieß, sich im genau richtigen Moment vorzubeugen, sich ganz flach und ganz still auf den Rücken zu legen. Armut war etwas für Frauen, die keine sanften gesellschaftlichen Anpassungen vornehmen konnten.

Meine Freundinnen meinten, ich müsse mich beschäftigt halten. Sie kannten meine Muster gut — meinen Hang, einfach alles wegzuvögeln. Sie hatten eine öde Liste mit Unternehmungen für mich zusammengestellt. An irgendeinem Punkt rückten sie damit heraus, verbunden mit der Andeutung, es sei schließlich kein Vollzeitjob, einfach nur gut auszusehen.

»Dann macht ihr’s doch mal«, sagte ich. »Macht es mal eine Woche lang, dann reden wir weiter.«

Wenn sich eine Gesprächspause ergab, wenn ich irgendwo eine Stelle fand, wo ich einhaken konnte, erzählte ich gern von den Großstadtfrauen im Zug, den Frauen, die nie ihre Sonnenbrillen abnahmen. Unglaublich, diese Ladys! Totenstill saßen sie da, die Augen vor der dunklen, metallischen Sonne geschützt, und dabei liefen ihnen Tränen über die Wangen, wie aus Versehen, als hätten sie rein gar nichts mit ihnen zu tun.

In solchen Momenten offenbarte ich viel Weisheit und Reife. Wo das herkam, wusste ich selbst nicht. Ich war wirklich extrem betrunken.

*

In der Tankstelle war ich fürs Interieur zuständig. Das bestand aus drei Konservendosen ungeklärter Herkunft, eine pro Regalbrett, einer Atmosphäre ewiger Melancholie, einer Postkarte, die einen Wolkenkratzer zeigte, und einem geisterhaften Kühlschrank, der mitten im Raum aus dem Boden wuchs. Wir redeten darüber, die Wände zu streichen. Farbe, Sortiment, Kunden — Kevin hatte die Pläne und die Einstellung eines hilflosen Idealisten.

Was Liebe und Freundschaft anging, hatte ich manchmal den Eindruck, dass das mit Kevin eher eine Einbahnstraße war. Meine Unbedarftheit war ihm peinlich, er bekam davon einen rötlich rauen Ausschlag auf den Wangen und zeigte sich von seiner schlechteren Seite. Ich bremse ihn, meinte er. Ich hindere ihn daran, meinte er, auf seinem Gebiet voranzukommen. Blablabla. Er hatte sich angewöhnt, meine Auffassungsgabe aufs Korn zu nehmen, die frühmorgens alles andere als schnell war. Mit ausgestreckten Armen und verdrehten Augen stakste er schwankend auf mich zu. Ich war seine Zombiefrau, seine Zombieschwester. Dann ergänzte er höflich und hilfsbereit, man könne auch so saufen, dass man keinen Mordskater davon bekam.

»Willst du denn nicht, dass es hier schön aussieht?«, schrie er mich an.

»Doch.« Klar wollte ich das.

»Sie hätten uns auch mehr als drei einsame Suppendosen dalassen können.«

»Wir wissen doch gar nicht, ob das Suppe ist.«

»Ich meine ja nur, sie geben sich nicht mal richtig Mühe. In den Ausbildungsbüros im Ort haben sie zwei funktionierende Rechner. Und was haben wir?«

Ich tippte zwei Mal auf die Postkarte.

*

Die Garage bot die theoretische Möglichkeit einer Beförderung, und diese Möglichkeit machte Kevin regelrecht verrückt. Ich hatte längst alle Bemühungen aufgegeben. Es gab nichts zu tun, und ich hatte keine Lust darauf. Einfach nur überleben — das war meine Aufgabe. Aber Kevin war ausgehungert. Die Geschäftsleitung wusste genau, wie sie ihn mit den ungeheuerlichsten Versprechungen, die dann komplett folgenlos blieben, die Wände hochtreiben konnte. Ich sagte, in einem Fantasieberuf Erfolg haben zu wollen sei doch billig. Ich war gern ehrlich, wenn ich das Gefühl hatte, es wäre nötig. 

Kevin meinte, er würde sich wünschen, dass ich allem in der Tankstelle das gleiche Maß an Sorgfalt und Aufmerksamkeit zukommen ließe wie der Pflanze, die ich täglich goss. Die Pflanze war im Sommer als neue Verantwortlichkeit eingeführt worden. Sie war das einzig Lebendige in unserem sortimentslosen Elend. Sie war grün, wie bei Pflanzen üblich, hatte aber auch etwas Exotisches an sich. Ich war sehr darauf bedacht, sie nicht zu starker Sonneneinstrahlung auszusetzen und sie außer Reichweite der gefräßigen Vögel zu halten.

»Kuschel nicht immer mit der Pflanze«, ermahnte Kevin mich oft.

»Ich halte sie nur ein bisschen fest«, log ich. Ich hatte sie gern in der Hand, die Finger sanft um den schwarzen Plastiktopf geschlossen. Unter Zwang hätte ich wahrscheinlich zugegeben, dass ich mich der Pflanze irgendwie verwandt fühlte: Es gab tausend Dinge auf dieser Welt, die wir nicht verstehen konnten, und nicht einen Menschen, dem daran gelegen hätte, sie uns zu erklären. Arme kleine, knubbelige Leidensgenossin.

Kevin machte meine passive Haltung für die schleppenden Geschäfte verantwortlich. Ich sei eine Vogelscheuche in Menschengestalt: eine sonderbare Frau mit wilden Haaren, mit Weltuntergangsaugen. Welcher Ort würde sich da nicht geschlossen abwenden? Seiner gelassenen Fassade zum Trotz konnte er ganz schön kratzbürstig sein. Er brüllte Fragen zum schuldlosen Himmel hinauf. Er schüttelte die Zapfschläuche, als könnte er allein sie in ihrer Leere überlisten. »Wir müssen Profit erwirtschaften«, erklärte er niemand Bestimmtem.

»Warum bewegst du dich so?«, fragte er mich einmal.

»Das ist ein Gang, den ich gerade ausprobiere. Ein neuer. Gefällt er dir?«

»Ehrlich gesagt sieht das aus, als wärst du irgendwie behindert.«

»Ich bin auch behindert«, sagte ich. »Als Kind bin ich sehr schnell gewachsen. Meine Mutter war mit mir beim Arzt, um meine Arme und Beine messen zu lassen, und die sind tatsächlich fast sechs Zentimeter länger, als sie sein dürften.«

Ich hatte meine Methoden, Kevin zum Schweigen zu bringen, ihn zu zwingen, den Blick starr in die Ferne zu richten, als würde es die größte Kraftanstrengung erfordern, in meiner Nähe zu sein. Er war ein junger Mensch mit einem Hang zu Anfällen von Wahnsinn und nervlicher Zerrüttung. Ich brachte mehrere Wochen damit zu, einfach nur seinen unsteten, schlüpfrigen Schatten durch die Scheibe zu beobachten, während er über das Tankstellengelände streunte. Er musste seine Launen überwinden, und zwar zackig. Aber ich machte mir auch Sorgen um Kevin. Wirklich. Ich machte mir immer schreckliche Sorgen um andere. Das nahm den Großteil meiner Tage in Anspruch. Ich hatte nicht darum gebeten, diese Sorte Frau zu werden, aber so war es eben gekommen. Es lag auf der Hand, warum ich in der Tankstelle gelandet war: Auf seine lustlose, arbeitsscheue Weise bestrafte mich das Universum damit, und das fand ich ehrlich gesagt einfach nur zum Lachen.

»Warum bist du hier, Kevin?«, wollte ich wissen.

»Mein Dad meinte, das kann auch noch der letzte Clown.«

*

Manchmal, wenn Leute von außerhalb auftauchten, zerzaust und kurz vorm Durchdrehen, weil sie zu viel Zeit mit der Familie verbracht hatten, wurde ich schüchtern. Es hätte sicher interessante Dinge zu erzählen gegeben, Möglichkeiten, ihnen die Tankstelle begreiflich zu machen, aber diese Leute strahlten eine Energie aus, die mich überforderte. Ich war scheu, schwitzte unnatürlich viel, nahm die irrwitzigsten Farbtöne an. Diese Leute hatten ein unheimliches Tempo drauf. Sie kamen mit ihren großen Forderungen an: Gespräche, Lutschbonbons, billiges Benzin. Ich kam mir vor wie ein Kind, das in einem blöden Plastikspielhaus vor den Erwachsenen hockt. Pflichtbewusst stotterte ich mich durch meinen Sermon: »Vielen Dank, dass Sie uns heute einen Besuch abstatten. Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, denn diese Einrichtung ist Teil eines praktischen Übungsprogramms, das mich dabei unterstützen soll, meine Fähigkeiten zu verbessern und mir langfristig eine Festanstellung zu ermöglichen. Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt denken. Aber Sie irren sich. Darf ich Ihnen ein Pfefferminzbonbon anbieten?«

Die Pfefferminzbonbons waren meine Idee gewesen, und ich hoffte, dass es herzlich wirkte, wenn ich den Kunden die Schale hinschob. Diese Leute hatten so eine Art, direkt durch mich hindurchzuschauen, es kam also gar nicht selten vor, dass ich ganz verstummte und mich steif von ihnen abwandte. Ich spürte sie dann immer noch hinter mir, spürte, wie ihre Ungeduld wuchs, schnaufte, immer todbringender wurde, aber ich drehte mich nicht mehr um. Mein starrer Rücken sagte alles. Ich kümmerte mich lieber wieder um die Pflanze oder blieb still-bescheuert stehen, die Hände auf den Oberschenkeln. Hätte es einen Notfallknopf gegeben, ich hätte ihn gedrückt. Kevin strahlte sie an, wenn sie wieder gingen. Kevin meinte, dieses einmalige Dienstleistungserlebnis dringe direkt in die Seele der Kunden vor. Irgendwas von wegen richtiger Mischung aus Blickkontakt und Unaufdringlichkeit. Hinterher schloss er sich dann meistens für eine halbe Stunde auf der Toilette ein. Gut möglich, dass er auf irgendetwas einzudreschen versuchte und es verfehlte oder auch nicht. Das wusste ich nicht. In der Regel kam er sichtlich verzweifelt wieder heraus und warf mir vor, ich sei asozial. In allerbester Verfassung war ich tatsächlich nicht, er hatte also recht.

*

Die Geschäftsleitung verfolgte offensiv ihr Streben nach Spaß. Obwohl sie eigentlich alles hasste — und die grauenvollsten Dinge mit Tieren anstellte —, war sie im Herzen ein lebenslustiger Mensch. Jeden Freitag hatten wir eine Stunde lang Spaß. Dann latschten Kevin und ich in die Büroräume im Ort, wo Henry und Lynn — die beiden anderen Teilnehmer des Programms — arbeiteten, und wir fanden uns alle mittelfröhlich im Hinterzimmer zusammen. Wir futterten Supermarktchips aus einer abgrundtiefen Schüssel, und der Feinstaub blieb uns an den Fingern kleben. Wir tranken Bier aus Flaschen mit bärtigen Männern auf dem Etikett. Die Männer mit ihren Angelruten und ihrem breiten Grinsen, das von heiterem Ruhestand sprach, empfahlen uns, abzuschalten. Trinkt einen auf unsere Kosten. Die Geschäftsleitung wollte, dass wir uns wohl fühlten, so wohl, dass wir uns gegenseitig auch mal scherzhaft den Kopf in den Schoß legten, falls uns die Lust überfiel. Das kam kein einziges Mal vor.

Bei diesen Zusammenkünften passierte es nicht selten, dass ich Ratschläge bekam, die eine »neue Frau« aus mir machen sollten. Wir waren uns ziemlich schnell einig, dass mein hübsches Gesicht und mein ansprechender Körper meine größten Vorzüge waren, ich mich aber sicher noch mehr zusammenreißen könnte, was alles andere betraf. Ich nahm mir wenig davon zu Herzen. Irgendwann hatte jeder in der Tankstelle mal eine schlechte Meinung von mir, aber das war nicht mehr so wichtig. Als wir uns kennenlernten, stellten wir uns zu einem Gruppenkreis auf — in meinem ganzen Leben ist noch nie etwas Gutes dabei herausgekommen, im Kreis zu stehen —, wir sagten unsere Namen, verkündeten unsere Lieblingsfarbe und beichteten die vielen Fehler, Dummheiten und lebensplanerischen Missgriffe, durch die wir hier gelandet waren.

Die Lieblingsfarben zählten wir routiniert auf; wir wählten sie ganz bewusst aus dem helleren Bereich des Regenbogens. Wir wollten nichts mit Braun, Schwarz oder irgendwelchen scheußlichen Graudefiziten zu tun haben, die womöglich zur Kündigung oder einem anderen unwägbaren Schicksal geführt hätten.

»Wisst ihr was?«, sagte die Geschäftsleitung. »Ich habe gar keine Lieblingsfarbe. Ich mag sie alle. Und wisst ihr, was ich am allerliebsten mag?«

Wir setzten unsere neugierigsten Mienen auf, als stünde gleich eine Offenbarung bevor.

»Wenn alle Farben als Team zusammenarbeiten.«

Das kam besonders bombig bei Lynn an, die in den Büroräumen als so eine Art Sekretärin für uns arbeitete und überschwenglich lächelte.

»Ja, ich behandele alle Farben gleich«, sagte die Geschäftsleitung, als wäre damit das letzte Wort zu dem Thema gesprochen.

»Das ist aber sehr christlich von Ihnen«, sagte ich. Religion machte mir immer gute Laune. Sie war so niedlich und altmodisch, wie Essengehen und hinterher ins Kino.

»Ich hänge keinem religiösen Glauben an.« Die Geschäftsleitung wurde rot. »Aber ich glaube an die Sünde.«

»Wenn das so ist«, sagte ich, »wird Ihnen das, was Sie gleich hören werden, wahrscheinlich eher nicht gefallen …«

Es gab so viele Bezeichnungen für das, was ich getan hatte, dass ich kaum wusste, wo ich anfangen sollte. Kein Mensch in diesem Hinterzimmer war auf meine Peinlichkeiten vorbereitet. Ich gab mir Mühe, in jeden Satz möglichst viel Schande zu packen, um keine Zeit zu verschwenden. Die anderen sollten auf jeden Fall auch noch drankommen. In der Hinsicht war ich rücksichtsvoll. Ich hatte nicht das Gefühl, mir mit dem Offenlegen all dieser Informationen einen fairen, angemessenen Einstieg in den Job verschafft, reinen Tisch gemacht zu haben. Aber das war, wie gesagt, nicht mehr so wichtig.

Lynn erzählte von ihrem Exmann. Die ganze Liebesgeschichte, von Anfang an. Mir war es so was von egal, aus welchem Loch sie den Penner gezogen hatte, wie düster sich alles entwickelt und wie sie sich noch eine ganze Zeit lang durchgewurschtelt hatten. War vielleicht irgendwo zwischendurch noch ein fettes Baby zur Welt gekommen? Mit Diabetes? Keine Ahnung. Mal hörte ich zu, mal nicht. Richtig dabei war ich erst wieder, als sie uns gestand, sie habe während ihrer ganzen gemeinsamen Zeit detailliert darüber Buch geführt, was ihr Mann alles aß. Jetzt war er irgendwo da draußen und aß hemmungslos — an fremden Tischen, mit anderen Frauen im Restaurant —, seine Mahlzeiten blieben undokumentiert, und das machte sie verrückt. Ich fand es widerlich.

»Das ist nicht richtig, Lynn«, sagte ich. »Die Leute müssen doch essen können, was sie wollen, ohne dass du dich einmischst.«

Lynn machte mich wirklich krank. Sie rannte aus dem Zimmer, stürmte in ihren flachen Schuhen den Gang entlang. Ein paar Minuten später kam sie mit verheultem Gesicht zurück. Es gab so viele Lynns auf der Welt, und alle wollten das Händchen gehalten kriegen, verhätschelt werden. Was fing man bloß mit denen allen an?

Henry war hier, weil er halbherzig versucht hatte, ein Postamt auszurauben, was sich dann aber als irrwitzig schwierig herausgestellt hatte, viel aufwendiger als die Fünf-Minuten-Aktion, die er sich vorgestellt hatte. Er hatte mittendrin abgebrochen.

»Zeig’s ihnen, Henry!«, befahl ich ihm. Ich war für jede Demonstration von Rebellion und Wildheit zu haben.

Henry hatte ein so kleines, beschissenes Leben hinter sich, dass es ihm wie eine bestärkende, bereichernde Erfahrung erschien, mit einem Teppichmesser vor ein paar leicht verängstigten Postangestellten herumzufuchteln. In einer anderen, besseren Welt hätte er auch ein Held sein können: Typ haariger Naturbursche mit weichem, offenem Gesicht. Stattdessen erstellte er bildschöne Tortendiagramme für eine Tankstelle, die gar keine war.

Er war bullig, kräftig, konnte mich mühelos hochheben und waghalsig herumwirbeln. Ich schrie dann immer: »Lass mich runter, Henry, lass mich runter!«, meinte es aber kein bisschen ernst. Das war nur Mädchengetue. Ich ließ mich wahnsinnig gern hochheben. Von oben wirkte alles so viel klarer. Trotz meiner früheren Konflikte war ich gegen solche Männer immer noch nicht immun.

Kevin hatte nichts zu beichten. Er brauchte das meiste der ihm zugeteilten Zeit, um sich dafür einzusetzen, dass wir zu unserer Uniform auch noch Kappen bekämen, und ich verliebte mich ein bisschen in ihn. Etwas aufgeregt wurde er, als er versuchte, seine Fernsehträume zu schildern, die dadurch nur noch vager und unsinniger wurden. Aus seiner Sicht lag das Problem heutigen Fernsehens darin, dass es zu viele Fernbedienungen gab. Die Leute wollten eine funktionierende Fernbedienung, die alles abdeckte, und er, mit seiner karierten Kleidung und seinem spätpubertären Gehabe, würde so eine erfinden. Ein gutes Beispiel für Hoffnung. Die Tankstelle sollte uns schließlich Hoffnung geben. Hoffnung auf eine strahlende Zukunft, Hoffnung auf eine hohe Steuerklasse.

Nach dem ersten Treffen war ich so voller Hoffnung, dass ich loszog und mir sieben, acht große Drinks genehmigte. Kevin kam mit, mein kleiner Anstandswauwau. Wir gingen in eine grauenhafte Kneipe, in die mich normalerweise keine zehn Pferde gebracht hätten, aber zu meiner damaligen Verfassung passte sie. Die kitschigen Thekenfunzeln hüllten uns beide in engelhaften Glanz. Kevin fand, ich tränke zu schnell; er legte seine Hand auf meine, meinte, alles werde besser, wenn man es langsam angehe. Also trank ich meine sieben, acht Drinks ganz langsam.

»Das Problem ist, dass mir keiner zuhört. Darum geht’s doch, Kevin«, sagte ich.

»Das liegt daran, dass du original nichts zu sagen hast.«

Am nächsten Morgen: die übliche Nummer. Mein Bett, staubtrockener Mund, allein, immer noch das ganze Leben vor mir.

Meine Mutter, die eins von den bunteren Golfhemden meines Vaters trug, stellte mich zur Rede: »Ich habe einfach nicht den Eindruck, dass dieser Job wirklich das Beste aus dir herausholt.«

*

Die Geschäftsleitung fand ständig einen Vorwand, in der Tankstelle »vorbeizuschauen«, bewaffnet mit einem riesigen Kaffeebecher und ihrer gewaltigen Macht. Ihr neuester Coup bestand darin, Stühle in allen Größen und Formen vor der Tankstelle zu postieren. Der Geschäftsleitung schwebte vor, dass die Ortsbewohner auf diesen Stühlen sitzen, fröhlich miteinander plaudern und ihre Jugend dabei begaffen würden, wie sie sich mit Erwerbstätigkeit die Zeit vertrieb. Die Stühle spürten anscheinend, was für unhaltbare Erwartungen in sie gesetzt wurden; sie kotzten ihre Polsterung aus, offenbarten gefährlich splittrige Stellen am Holz und verfärbten sich grässlich im Tageslicht.

Im Rahmen der Stuhlaufstell-Aktion tat ich mein Bestes, mich wohlerzogen, unoriginell und freundlich zu geben.

»Ganz schön kalt heute«, bemerkte ich einmal.

»Nur Dummköpfe reden übers Wetter«, erwiderte die Geschäftsleitung und musterte mich aus drohender Distanz.

Verblüffend oft versuchte ich zu gehen. Jedes Mal schob ich mir als Versuch, ordentlich auszusehen, das Haar hinters Ohr und zwängte mich in das winzige Kabäuschen der Geschäftsleitung. »Ich kündige. Vielen Dank«, sagte ich dann, und die Geschäftsleitung erwiderte: »Wir sehen uns dann morgen«, und irgendwie hatte sie immer recht damit, und ich sollte jedes Mal falschliegen.

*

Ich hatte Hochs und Tiefs. Ich erlebte Anfälle größter Zuneigung zu Kevin, zu den Tauben, die den Vorplatz der Tankstelle verschmutzten, sogar zu den leeren Stühlen. Ich floss über vor Nostalgie und Wehmut für die Tankstelle, obwohl ich streng genommen noch dort arbeitete.

»Kevin, weißt du noch, wie viel Spaß wir immer hatten?«

Er sah mich an. »Nee.«

Und dann: die angstvolle Düsternis, das immer stärkere Gefühl, ich könnte der Pflanze ohne jeden Grund alle Blätter abreißen, die vorweggenommene Wut auf den nächstbesten Menschen, der es wagen könnte, mich anzufassen.

»Ich finde es furchtbar hier, und falls es dir genauso geht, mein Freund, dann sollten wir zusammen abhauen«, sagte ich.

»Bist du nicht gerade erst vom Abhauen zurück?«

Die Tankstelle befürwortete Bildung — den Erwerb von Fähigkeiten, die sich auf neue, bessere Stellen übertragen lassen würden —, und auf ihre ganz eigene sterile Weise gelang ihr das auch. Ich gewann Einblicke in meine persönlichen Gewohnheiten, ohne die ich noch jahrzehntelang fröhlich weitergelebt hätte. Dieses innere Aufdröseln vollzog sich nicht sonderlich schnell. Selbst die Katastrophe meines eigenen Lebens bekam ich noch eindrucksvoll langsam hin.

*

Wie aus dem Nichts kam Weihnachten. »Wann ist das denn entschieden worden?«, hätte ich gern gefragt, aber es gab unserem Alltag eine neue Spannung und Richtung, darum wollte ich nichts dagegen sagen. Vom Chefstuhl aus, die glatten, überlegenen Hände auf dem Tisch, suchte die Geschäftsleitung nach Dekoideen. Und in einer Aufwallung von Freundlichkeit und Bereitschaft, mich einzubringen, die selbst mich überraschte, schlug ich vor, wir könnten es doch »weihnachtlich« machen.

»Und wie?«, wollte die Geschäftsleitung wissen.

»Na ja, so festlich halt, mit viel Lametta und Rot?«

Sie spitzte die kummervollen, runzligen Lippen.

»Fällt dir nichts anderes ein?«

»Nein.«

In diesem kurzen Moment blickten mir alle in den Kopf, und mein Kopf war frei von jeglicher Idee. Ich hatte gehofft, in dieser Lebensphase längst ein ganz anderer Mensch zu sein, dabei wurde ich in Wirklichkeit immer weniger jemand anders und immer mehr ich selbst. Ich fand das beunruhigend. Kevin ignorierte mich während der ganzen Weihnachtsdiskussion. Bei der Freitagsgruppe setzte er sich oft mir gegenüber, zu Henry und Lynn. Ich versuchte, ihm nur mit Blicken zu signalisieren, dass man uns hier in Geiselhaft hielt, aber ich konnte die Augen gar nicht weit genug aufreißen, um ihm zu zeigen, wie abgeschmackt und bescheuert das alles war. Manchmal sah ich, wie er hinter vorgehaltener Hand lachte — das galt dann mir.

»Jetzt machen Sie sie nicht gleich nieder, nur weil ihre Idee nicht so gut war«, sagte Lynn, auf ebenso geschickte wie versteckte Weise boshaft. Sie war die Sorte Frau, die andere zum Weinen brachte, damit sie ihnen dann die Tränen trocknen konnte. Für komplizierte Menschen oder Situationen hatte Lynn kein Gespür. Das war dermaßen widerlich und anstrengend. Wahrscheinlich hatte es ihr im Leben jede Menge Probleme eingebracht. Und im Job war sie das Hinterletzte. Dagegen wirkte sogar ich noch gewissenhaft. Sie sollte einfach nur Mails aufsetzen, traf aber nie den richtigen Ton; immer lag sie daneben. Uns machte ihre aufrichtige Stümperei nervös. Ich beispielsweise zerfloss vor Mitleid mit ihrem Kind.

»Ich mache sie doch gar nicht nieder«, sagte die Geschäftsleitung.

»Gut, weil, Sie wissen ja, sie hat sie nicht alle.«

»Wieso hat sie sie denn nicht alle?«, meldete sich Henry mit einem seltenen Gesprächsbeitrag zu Wort.

»Na, wegen der ganzen … du weißt schon«, flüsterte Lynn.

»Was hast du gesagt, Lynn?«, fragte ich.

Sie sah mir direkt ins Gesicht. »Du weißt schon«, wiederholte sie hölzern.

»Nein«, sagte ich. »Ich hab’s vergessen. Würdest du es mir bitte sagen?«

»Du« — sie räusperte sich taktvoll — »warst so ein Freudenmädchen.«

»Pornographie«, präzisierte die Geschäftsleitung nüchtern. »Prostitution.«

»Und das sind ja nur die Sachen, von denen sie uns erzählt hat.« Lynn schüttelte betrübt den Kopf. »Für mich war das sehr viel Arbeit, jede Menge Extraarbeit. Als ich die Dateien mit unserem jeweiligen Werdegang auf dem Rechner angelegt habe, wusste ich gar nicht, wie ich ihre nennen soll. Ich habe bis spätabends hier gesessen. Mir ist einfach nichts eingefallen.« 

»Und was hast du am Ende genommen?«, wollte die Geschäftsleitung wissen.

»Hurereien.«