coverpage

Über dieses Buch:

Ein Moment, der ein ganzes Leben verändert … Mutterseelenallein, durstig und verlassen sitzt ein kleines Mädchen vor einem Zeitungskiosk – niemand scheint sich um das Kind zu kümmern. Als Isabella, die eigentlich nur zufällig vorbeikommt, nach ihr sieht, ist das Lächeln der kleinen Hannah wie ein Aufblitzen der Sonne und erfüllt ihr bis dahin ruheloses Herz. Schlagartig wird ihr bewusst, dass sie für dieses Mädchen bereit ist, alles aufzugeben: ihr geordnetes Leben in London und auch ihre attraktiven jungen Liebhaber. Denn Isabella erkennt ganz deutlich, dass sie die Einzige ist, die Hannah retten und glücklich machen kann …

Valerie Blumenthal versteht sich meisterlich darauf, lebendig und immer sensibel von der überwältigenden Macht der Gefühle zu erzählen.

Über die Autorin:

Valerie Blumenthal wurde in der Nähe von London geboren. Bevor sie sich der Schriftstellerei widmete, war sie als Journalistin tätig und unterrichtete unter anderem Creative Writing in einem Hochsicherheitsgefängnis. Heute lebt sie in einem Dorf in der Grafschaft Oxfordshire.

Valerie Blumenthal veröffentlicht bei dotbooks auch die Romane »Mit den Augen einer Tochter« und »Heute fängt das Morgen an«.

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2019

Dieses Buch erschien bereits 1999 unter dem Titel »Schattenkind« bei RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

Copyright © der englischen Originalausgabe 1998 by Valerie Blumenthal

Die englische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Saturday's Child« bei Hodder and Stoughton, a division of Hodder Headline PLC A Sceptre book.

Copyright © der deutschen Ausgabe 1999 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Andrew Mann Ltd.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / BlueOrange Studio / STILLFX / Helen Hotson / bbofdon

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96148-696-0

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Welt in meinen Armen« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Valerie Blumenthal

Die Welt in meinen Armen

Roman

Aus dem Englischen von Matthias Jendis

dotbooks.

Gewidmet allen verstoßenen Kindern,
Opfer einer Spezies,
die sich
Homo sapiens nennt
(von lateinisch
sapere,
was bedeutet ›weise sein‹)

Kapitel 1

Lügen: Vermehren sich wie Fliegen.

»Also, warum hast du es getan?« fragt er sie.

»Ich habe es getan, weil ... Kennst du das französische Wort éclat?«

»Ich bin nicht sicher, Sprachen sind nicht gerade meine Stärke.«

»Éclat de: éclat de soleil. Ein Aufblitzen der Sonne – das war ihr Gesicht für mich. Und tief in mir war ich ... es hat sich mir eingebrannt. Ich kann es nicht erklären. Es gehört zu den Dingen, die ich nicht erklären kann.«

»Aber das paßt gar nicht zu dir.«

»Das ist richtig. Bis dahin war ich noch nie von der Norm abgewichen. Mein Leben war sehr strukturiert.«

Allerdings hatte es Hinweise auf dem Weg dahin gegeben, wenn sie sie bloß aus ihrem Unterbewußtsein hervorgeholt und genau betrachtet hätte. Da hätte sich im Laufe der Jahre eine zufällige Ansammlung von Einflußfaktoren ergeben, auf die sich jeder Psychologe mit einem Fingerschnippen gestürzt hätte.

»Und jetzt bedauerst du es.« Eine Feststellung, keine Frage.

Sie legt die Arme um sich. Ein müder Blick geht hinauf zu ihm, dann zu ihren Fingernägeln, von denen der Lack abblättert, hinüber zu dem Fenster ohne Aussicht und ihrem silbernen Spiegelbild darin.

»Isabella? Sicher ...«

Sie wendet sich ihm zu, und er ist aufs neue überrascht, wie ihr gerade noch unscheinbares Gesicht durch ein einziges Aufflackern der ausdrucksvollen Augen schön wird. Sie schüttelt den Kopf, als sie mit einer ihrer typischen bedeutungsvollen Gesten die flache Hand vorstreckt: »Was soll ich sagen? Wie sollte ich es auch nur bedauern?«

Die Nacht vor der Tat. Da ist sie nun in ihrer Wohnung, auf dem Bett mit der alten chinesischen Seidenüberdecke und hat frenetischen Sex mit dem Mann, der seit eineinhalb Jahren ihr Liebhaber ist: Peter, bald siebenundzwanzig und dreizehn Jahre jünger als sie. Beide haben sie am selben Tag Geburtstag. Früher am Abend hat er ihr gesagt, sie habe zugenommen. Seit sie ihn kennt, ist er immer selbstsicherer geworden. Mag sein, daß sie zu seinem Selbstvertrauen beigetragen hat und er jetzt mit Hilfe ihrer Lebenserfahrung auf eigenen Beinen stehen kann. Am frühen Abend hat sie auch an sich etwas entdeckt: zwei parallellaufende Falten, schmale Sicheln in Form des jungen Mondes, je eine links und rechts vom Mund, und dazu eine winzig kleine Hauttasche im rechten Mundwinkel. Und sogar als sie sich in jener Nacht lieben und Isabella ihn nicht vergessen lassen will, daß er nie wieder jemanden finden wird wie sie, ist sie sich bewußt, wie ihr Gesicht aussehen muß, das sich da im Halbdunkel zu ihm runterbeugt, und wie schlaff ihr Fleisch nach unten fällt (die Schwerkraft, wie sie es grimmig nennt); ist sich ihrer ausladenden Schenkel bewußt, die sich gegen seinen flachen jungen Bauch drücken. Er ist Schauspieler. Als sie ihn kennenlernte, war er hoffnungsfroh und schüchtern; damals brauchte er ihren gesunden Menschenverstand, ihre Aufmerksamkeit. Mit seinem Talent zur Parodie konnte er sie zum Lachen bringen, und er kann es noch. Doch heutzutage hat seine Aufmerksamkeit nur noch niedriges Niveau. Also – Liebe ist das nicht. Das ist es niemals, und sie erwartet auch nichts dergleichen. Was immer es auch ist oder war, scheint nun langsam zur Neige zu gehen. Womit zu rechnen war, wie Isabella als intelligente Frau weiß.

»Wir sehen uns, wenn ich aus Nottingham zurück bin.« Wann wird das sein? Das hat er nicht gesagt. Dann noch ein zärtlicher Klaps auf ihren Hintern, als er um sechs Uhr morgens geht. Ein neckisches: »Na sieh mal an – was haben wir denn hier?« Der Griff an ihren nackten Hintern. Sie wirft ihm ein Kissen hinterher. In der Nacht hatte sie es sich noch unter die Pobacken geschoben.

Sie rollt sich auf den Bauch und liegt mitten auf dem verwüsteten Bett. Vermischte Gerüche von Sex und Knoblauch durchsäuern die Luft; diffus graues Licht sickert durch die Musselinvorhänge. Ihre Glieder sind schwer und schmerzen. Leere schwappt über sie. In letzter Zeit ist ihr diese Empfindung, die in ihrer Unbestimmtheit so schwer auf einen Punkt zu bringen ist, vertraut geworden. Immer häufiger fühlt sie sich so – verwirrend für eine Frau, die sich selbst für so zielstrebig und vernünftig hält und sicher zu wissen glaubt, was sie will und was nicht.

Es ist Samstag, und er entfaltet sich langsam. Samstag, der 31. August. Isabella wird Grund haben, dieses Datum nicht zu vergessen. Die übliche Routine: Wasserkessel aufsetzen, Kaffeebohnen mahlen, Vorhänge aufziehen – endlich einmal heller Sonnenschein. Draußen auf der Veranda verlieren die Geranien in ihren Terracotta-Übertöpfen den letzten Nachttau. Trocken ihr Mund, trocken die Haut am frühen Morgen. Die heranrückenden mittleren Jahre trocknen sie aus. Gott sei Dank noch nicht überall. Nimmt Garibaldi auf den Arm und knuddelt ihn.

»Tja, auch du gehst mit den Jahren so langsam in die Breite.« Über die Brust arbeitet er sich zu ihrem Hals vor und steckt den gestreiften Kopf unter ihr Kinn; an der Kehle spürt sie sein vibrierendes, tiefes Schnurren. »Nein, nein, laß das«, als der Kater die Krallen in die Seide ihres Morgenmantels schlägt.

Spricht mit der Katze, mit sich selbst, mit dem Auto und den Möbeln, die sie immer wieder neu arrangiert. »Nein, ich denke, hier stehst du besser«, sagt sie und schiebt einen Sessel oder einen Tisch von einer Stelle zur andern. Eine, alte Jungfer – so werden die Leute sie eines Tages sehen. Vielleicht tun sie das jetzt schon. Dabei war sie sogar einmal verheiratet: der jugendliche Versuch, die Unbill ihrer Kindheit mit der erwachsensten aller Erklärungen hinter sich zu lassen: Ja, ich will.

Sie nimmt ihren Kaffee und eine Orange (macht schlank, weil harntreibend), während sie gleichzeitig Today auf Radio Four hört und die Werbebroschüre eines Herstellers zu seinem neuesten Schwertransporter liest, die sie ins Italienische und Französische übersetzen soll. Wäscht ab, nimmt ein Bad, zieht sich an, gießt die Pflanzen, packt ein paar Sachen in eine Reisetasche, stellt Garibaldi Schälchen mit genug Milch und Futter für vierundzwanzig Stunden hin und verläßt die Wohnung. Als sie die Tür zuschließt und zum Auto geht, ist Isabella eine Frau wie tausend andere auch: Sie hat einige enge Freunde, ist unabhängig, attraktiv und beruflich erfolgreich, gern unter Menschen, tüchtig, lebenslustig und kinderlos aus eigener Entscheidung. Nichts an ihr wirkt irrational oder zwanghaft.

Allerdings fühlt sie sich an diesem Morgen recht erschöpft und ein wenig niedergeschlagen – Gefühle, die sie nicht analysiert; als sie in ihren siebzehn Jahre alten MG GT steigt. In Gedanken ist sie mehr damit beschäftigt, den Motor zum Laufen zu bringen: »Komm schon. Wenn du nicht aufpaßt, verkauf ich dich. Hab schon genug Geld in dich gesteckt ...« Endlich springt nach ein paar Umdrehungen der Motor an, und die Erleichterung läßt sie aufleben. »Ich spendier dir eine neue Batterie«, sagt sie und schiebt eine Kassette ein. Der Sportwagen ist das einzig Exzentrische an ihr, und wenn Leute sagen, sie sollte sich doch lieber etwas Verläßlicheres zulegen, erwidert sie, der MG habe Stil. Und Isabella hat auch viel Stil.

Sie fährt los, Hampstead High Street hinauf, die jetzt um zehn Uhr langsam zum Leben erwacht, hin auf den nördlichen Ring zu. Gleißend hell sticht ihr das Sonnenlicht durch die Windschutzscheibe in die Augen, und sie greift nach der Sonnenbrille neben dem Schaltknüppel. Domingo gibt den Pagliaccio und singt von seiner Seelenpein. Wieviel Zeit bleibt ihrer Beziehung wohl noch, bis das Verfallsdatum erreicht ist? Sie könnten sich noch bis zu ihrem gemeinsamen Geburtstag in ein paar Monaten durchschleppen, doch sie haßt jede Heuchelei. Besser wäre es, sich jetzt zu lösen. Ich denke, du brauchst Raum für dich, wird sie sagen, wie sie das früher schon gesagt hat. Nein: Ich denke, wir brauchen mehr Raum. Klischee, skandiert ihr Kopf.

Unzufriedenheit wallt in ihr auf, und sie verzichtet darauf, dies zu erforschen. Isabella ist die Frau geworden, die sie jetzt ist, ohne sich allzu unbequeme Fragen zu stellen, über Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.

Es ist wenig Verkehr. Auf halbem Weg die Ringstraße entlang merkt sie, daß sie gar kein Geschenk für ihre Freundin gekauft hat, und als sie eine kleine Ladenzeile erreicht, biegt sie ab und hält an. Bummelt an den Schaufenstern diverser Läden vorbei: ein Obst- und Gemüsehändler, ein Waschsalon, eine Apotheke, ein Zeitungsladen, ein indisches Restaurant, ein Spirituosenladen. Spar (24 Stunden geöffnet), Fleischer und ein Friseur mit einer Reihe altmodischer Trockenhauben, die durch das Fenster wie verwelkte Tulpen aussehen. Vor dem Zeitungsladen steht ein Buggy; ein kleines Kind ist darin festgeschnallt. Sie beschließt, irgendeine Flasche und vielleicht noch eine Schachtel Pralinen zu kaufen, und betritt den Spirituosenladen, wo sie die Beratung des hilfsbereiten jungen Verkäufers zurückweist; will sich lieber selbst umschauen. Zeit hat sie genug, hatte nicht erwartet, daß der nördliche Ring so frei sein würde – sie muß erst in ein paar Stunden in den Cotswolds sein. Im Laden ist sie die einzige Kundin; insgesamt eine ziemlich tote Gegend: ein seelenloser Ort, wo man nur durchfährt und sich die Schilder mit der Aufschrift »zu vermieten« auf etlichen Dächern drängen.

Sie läßt sich Zeit, entscheidet sich schließlich für einen chilenischen Chardonnay.

»Haben Sie, auch Pralinen oder etwas in der Art?« fragt sie den Verkäufer, als der die Flasche in grünes Seidenpapier einrollt und beide Enden zuklebt.

»Nein, aber vielleicht der Zeitungskiosk, oder Spar.«

Sie bedankt sich und verläßt das Geschäft, in der einen Hand ihre Tasche, in der anderen den Wein, und geht ein paar Türen weiter zum Zeitungsladen. Das Kind in der Karre ist immer noch dort.

»Hallo«, sagt Isabella zu dem Kind und öffnet die Tür.

Die Kleine schaut zu ihr hin: ernste, traurige Augen, ein zartes Elfengesichtchen. Auf einmal wird Isabella klar, daß das Kind seit geraumer Zeit allein ist, denn sie war mehr als zehn Minuten im Geschäft gewesen, um den Wein auszusuchen, und wer weiß, seit wann das Kind dort schon steht? Nach weiteren zehn Minuten im Zeitungsladen hat sie eine Schachtel Pralinen und für sich eine Vogue gekauft sowie spontan einen Lottoschein ausgefüllt. Und das Kind ist immer noch da, sitzt still in der Karre und spielt mit einer Art Strickpuppe.

Hier stimmt etwas nicht – so lange kann man ein Kleinkind nicht allein lassen. Keine Spur von der Mutter unter den gleichgültigen Passanten. Sie bleibt zögernd bei dem Kind stehen. Vielleicht sollte sie in einem der Läden nachfragen? Dann fällt ihr ein, daß die Mutter beim Friseur sein könnte. Schon betritt sie das Geschäft, empfangen von einer Wolke feuchtwarmer Luft, dem Summen der Trockenhauben und fröhlichen Frauenstimmen.

»Ist jemand von Ihnen hier vielleicht die Mutter des kleinen Mädchens da draußen vor dem Zeitungsladen?« fragt sie eine Friseurin, die gerade dabei ist, einer Kundin kleine Lockenwickler zu legen.

»Also, mir stand's bis hier ...« Die Frau bricht mitten im Satz ab und wendet sich Isabella zu. »Nein, meine Liebe. Die hier sind alle Großmütter. Und dann hab ich zu ihm gesagt: ›Wenn du mir noch einmal in diesem Ton kommst ...‹«

Die andere Möglichkeit ist der Waschsalon. Drinnen laute Musik, das surrende Kreisen und Dröhnen der Maschinen beim Schleudern, milchig weißes Waschmittelwasser hinter Sichtfenstern, aufblitzende Farben und wirbelndes Weiß. Dazu drei Männer, ein junges Mädchen, eine verwelkte Blondine mit müden Augen und eine ältere Frau. Eine platinblonde Angestellte faltet mechanisch Bettbezüge.

»Entschuldigung«, ruft Isabella gegen das Getöse an, »hat einer von Ihnen vielleicht ein kleines Mädchen vor dem Zeitungsladen allein gelassen?«

Ausdruckslose Augen starren sie an, einer der Männer grinst anzüglich. »Nee, Süße, aber dich würd' ich mit nach Hause nehmen.«

Sie macht auf dem Absatz kehrt was für ein deprimierender Ort – und geht zu dem Kind zurück, hockt sich neben ihm hin.

»Na du, wo ist denn deine Mami?«

Worauf das Kind sein Spielzeug fallen läßt. Isabella hebt es auf und gibt es ihm zurück.

»Da, dein Häschen.«

Und dann passiert es. Der éclat: Das Lächeln des Kindes ist ein strahlend heller Blitz. Als die Kleine die Finger um den Hasen krümmt, ist ihr Gesicht mit einem Mal wie in Sonnenlicht getaucht. Wie erstarrt verharrt Isabella in der Hocke, einem der Opfer von Pompeji gleich, versengt von einem überwältigenden Ansturm der Gefühle. Langsam erhebt sie sich, läßt den Ellbogen leicht auf der Lenkstange des Buggys ruhen. Innerhalb dieser wenigen Sekunden ist die Verwandlung vollzogen. Aus Isabella ist eine andere Frau geworden, und tief in sich spürt sie ein unerklärliches, in seiner Intensität fast schmerzhaftes Sehnen.

Ein paar Minuten wartet sie noch. Das Kind ist still und ernst, umklammert das Stofftier. Ein paar Leute gehen vorbei, dann niemand mehr. Isabella spürt, wie ihr Herz immer höher und schneller schlägt, und bemerkt mit einem Mal, daß sie den Atem anhält, als ob sie unter Wasser wäre. Weitere Minuten vergehen, in denen sie einer Entscheidung noch ausweicht und gegen den übermächtigen Drang ankämpft, der von ihr Besitz ergriffen hat. Und dann läßt die Kleine ihr Spielzeug noch einmal fallen, mit Absicht, wie es scheint. Wieder hebt Isabella es auf und gibt es ihr zurück.

»Armes Häschen.«

Sie streichelt die Hand des Kindes: so klein und voller Grübchen, so weich, daß es ihr die Kehle zuschnürt. Diesmal lächelt das Kind nicht, sondern starrt Isabella nur aus unergründlichen Augen an. Und plötzlich ist es, als stoße sie jemand in den Rücken und katapultiere sie vorwärts – diese Frau, Isabella und doch auch wieder nicht, geht mit eilig entschlossenen Schritten davon, schiebt den Kinderwagen an Apotheke, Waschsalon und Gemüsehändler vorbei in Richtung auf ihr Auto. Jeden Moment erwartet sie eine Hand auf ihrer Schulter: Entschuldigen Sie, aber was glauben Sie eigentlich, was Sie ... Sie hat mein Kind gestohlen, mein kleines Mädchen, schreit eine Frau ...

Das bin nicht ich. Das tue ich nicht wirklich. Sie beschleunigt ihre Schritte.

Erreicht ihr Auto und schließt auf. So stark zittern ihre Finger, daß sie zweimal ansetzen muß, bevor der Schlüssel ins Schloß findet. Dabei stellt sie fest, daß sie weder die Flasche Wein noch Pralinen und Vogue bei sich hat; in der Eile muß sie die Sachen irgendwo liegengelassen haben. Undenkbar, zurückzugehen und sie zu suchen. Sie löst die Haltegurte und will die Kleine gerade aus der Karre heben, als ihr aufgeht, daß es keinen Kindersitz für sie gibt. Dann ergibt sich sofort das nächste Problem: Was sie auch versucht, es will ihr nicht gelingen, den Buggy zusammenzuklappen. Mit der Linken hält sie das Kind fest umklammert, das keinerlei Widerstand leistet, während sie mit der Rechten an diversen Hebeln und Griffen herumprobiert, hier zieht, dort drückt. Alles vergebens.

»Haben Sie ein Problem?« Die Stimme hinter ihr läßt sie zusammenfahren. Sie wirbelt herum.

»Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Dachte nur, Sie brauchen vielleicht Hilfe.« Ein junger Mann grinst sie an.

»Es klemmt irgendwo, glaube ich.« Dabei schüttelt sie ihr langes Haar, so daß es nach vorne fällt und ihr Gesicht verdeckt, die sich rötenden Wangen.

»Offenbar haben Sie den Bogen noch nicht raus. Wir haben auch so einen, die sind sehr praktisch, man muß sich nur erst mal daran gewöhnen. Darf ich?«

Sie nickt und schaut genau zu, wie er die untere Querstange des Buggys mit dem Fuß anhebt, die Griffe herunterdrückt und den Sicherungshebel hinter dem Sitz hochzieht. Der Buggy läßt sich zusammenfalten wie ein Regenschirm.

»Madre«, seufzt Isabella. »Das ist ja toll.« Rasch verbessert sie sich: »Ich meine, toll, wie Sie das machen. Ich hab's einfach nicht hingekriegt.« Die ausdrucksstarke Gestik ihrer Hände begleitet diese Worte.

»Kein Problem.«

»Tja, also vielen Dank.« Der junge Mann steht einfach da und grinst sie an. Worauf wartet der noch? Sie befürchtet, er könne bemerken, daß das Auto keinen Kindersitz hat.

»Schöner alter MG. Einer aus der Jubiläumsserie, hab ich recht? Wollen Sie ihn verkaufen?«

»Nein. Bitte entschuldigen Sie, aber ich bin schon spät dran und ...«

»Verzeihung, ich wollte nicht ...«

»Nein, nein, schon in Ordnung. Haben Sie vielen Dank, es war sehr freundlich von Ihnen.« Jetzt beinahe überschwenglich als Ausgleich für ihre Schroffheit zuvor.

Sie beobachtet, wie er im Spar-Markt verschwindet, und hebt das Kind ins Auto. Hinten liegt oben auf dem Gepäck ihre Strickjacke; sie rollt sie fest zusammen und polstert den kleinen Körper damit ab. Dann legt sie der Kleinen den Sicherheitsgurt an, vergewissert sich, daß er straff sitzt, und verriegelt die Tür. Prüft zweimal, ob sie auch verschlossen ist.

»Das reicht, das muß reichen. O Madre!«

Klebriger Schweiß in ihren Achselhöhlen, beißend, wenig fraulich. Sie kann sich selbst riechen, und es ist drückend heiß. Eine Hitzewelle, seit Tagen geht das schon so. Die Windschutzscheibe ist mit den Überresten zahlloser Kamikaze-Fliegen verschmiert. Isabella schlägt das Herz bis zum Halse.

Sie steigt auf ihrer Seite ein; der MG springt sofort an, und sie fährt los, zurück nach Hampstead. Im Geiste sieht sie schon flackerndes Blaulicht im Rückspiegel, hört das Jaulen näherkommender Sirenen. Jede Ampel, jeder kleine Stau ist eine Belastungsprobe für ihre Nerven. Sie fürchtet, ein neben ihr haltender Fahrer könne das improvisierte Arrangement mit dem kleinen Kind und dem Gurt bemerken.

... Sie hatte langes rotes Haar, trug ein weißes Kleid – Isabella kann gleichsam hören, wie der junge Mann sie gerade in diesem Moment beschreibt – klassisch sportlich dunkelgrün, ein MG aus der Sonderserie. Sie wirkte sehr nervös ...

In regelmäßigen Abständen wirft Isabella einen Blick auf ihren kleinen Passagier. Seltsam ruhig sitzt die Kleine da, das gestrickte Stoffhäschen auf dem Schoß, und schaut sich um.

»Gleich sind wir zu Hause«, sagt sie und streckt die Hand aus, streicht ihr über den hellen Haarschopf. »Kannst du nicht sprechen? Wie alt bist du? Zwei? Drei?«

Ein paar Meter vor dem viktorianischen Haus aus rotem Backstein, in dem sie im Erdgeschoß eine Wohnung mit Garten hat, parkt sie und sitzt ein paar Augenblicke lang über das Steuer gekrümmt da, die Stirn gegen das Lenkrad gepreßt. Hier im gepflegten Grün ihrer gewohnten Umgebung meldet sich die Stimme der Vernunft wieder, und sie weiß, daß sie das Kind zur Polizei bringen muß. Bei dem Gedanken fühlt sie einen Verlust wie nach einer Fehlgeburt.

»Wir gehen kurz hinein, ich muß erst einmal zu mir kommen.«

Das Kind scheint es zu mögen, wenn sie redet. Ein Funken von Neugier glimmt in seinen teilnahmslosen Augen auf. Erst jetzt, da der Wind ihren Pony verweht hat, bemerkt Isabella das quadratische Pflaster auf der Stirn der Kleinen.

»Nanu, hast du Streit gehabt?«

O Madre, sie muß noch Sally anrufen und ihr absagen. Völlig undenkbar, da jetzt noch hinzufahren. Also hebt sie das Kind aus dem Auto, läßt den Buggy drin, nimmt das kleine Mädchen an der Hand – ein merkwürdiges, ganz bezauberndes Gefühl, wie ein kleines warmes Brötchen in der ihren – und geht die paar Schritte zur Pforte.

Von dort führen vier Stufen hinunter zu ihrer Wohnungstür. Auf einmal wird das Kind stocksteif und fängt an zu schreien.

»Was ist? Schsch, schsch, was hast du denn?«

Isabella ist schockiert, weiß nicht, was sie tun soll, hat Angst, die Nachbarn könnten sie hören. Das ist die kleine Tochter meiner Schwester ... Schon liegt ihr die Antwort auf der Zunge.

Das Kind ist ganz außer sich, das kleine Gesicht zu einer roten Fratze verzerrt. Isabella nimmt sie auf den Arm. »Cara, Liebes, was ist denn nur? Niemand wird dir weh tun.« Sie hat eine weiche Stimme. Leise und samtig, zieht sie die Menschen an, genau wie das rote Haar und ihre südländisch dunklen Augen: eine Mischung dominanter Gene der schottischen Mutter und des italienischen Vaters.

Langsam verebbt das Schluchzen, und der kleine Körper entspannt sich in ihren Armen, gibt den anfänglichen Widerstand auf. Allerdings hat sie sich in die Hosen gemacht; ihre Jeans ist ganz naß.

»Siehst du, ist ja gut, ist ja alles wieder gut. Komm, wir tragen dich jetzt runter, und dann ist alles in Ordnung, du wirst sehen. Hast du Angst vor den Stufen? Hier, eins und zwei und drei und vier – da sind wir schon, heil, gesund und munter. Das ist mein Zuhause.« Vorsichtig setzt Isabella sie ab und schließt die Tür auf.

Garibaldi begrüßt sie mit lotrecht aufgestelltem Schwanz. Die weiße Spitze zuckt hin und her.

»Ka«, ruft die Kleine und zeigt auf den Kater. »Ka!«

»Du kannst ja sprechen!« Lachend beugt sich Isabella zu ihr hinab und nimmt sie in die Arme. »Ja, eine Katze. Sein Name ist Garibaldi.« Den Namen spricht sie mit italienischem Akzent aus. Streichelt den Kater, der sich an beiden reibt und den Schwanz um die Beine des Kindes schlingt.

Vor Vergnügen kichernd, hüpft die Kleine von einem Fuß auf den anderen und wiederholt: »Ka, Ka.«

Isabella läßt sie im Wohnzimmer zurück und geht für ihren Anruf in die Küche. Nach endlosem Klingeln am anderen Ende meldet sich ihre Freundin.

»Sally, ich bin's, Isabella.«

»Ach, hallo. Ich war gerade im Garten und hab ein paar Tomaten für den Salat gepflückt.«

»Cara, ich kann nicht kommen.«

»Machst du Witze? Warum denn nicht?«

»Ich ...« Sally ist ihre älteste Freundin; vor vielen Jahren sind sie in Bristol zusammen an der Uni gewesen und haben damals eine weibliche Rockband gegründet. Isabella wollte ihr eigentlich die Wahrheit sagen, so wie sie sich ihr jetzt darbietet: daß sie ein Kind mitgenommen hat, das anscheinend ausgesetzt worden ist, und daß sie die Kleine gleich zur Polizei bringen wird.

»Ich glaube, ich habe die Grippe«, sagt sie statt dessen – sie, die sonst niemals lügt.

»Oje. Tut mir leid für dich.«

»Tja, mir auch.«

»Und ich hatte mich so auf dich gefreut, wie alle hier übrigens. Ist ja schon ewig her, daß wir – halt den Mund, Geoff ...« Ihr Mann. »Er schreit irgend etwas. Einen Moment ... Wie? Ach, er sagt nur, er wollte dich eigentlich beim Pingpong fertigmachen ... Was? ... Und jetzt sagt er, ich soll dir liebevoll in deinen süßen Popo beißen.«

»Sag ihm, was das erste angeht, soll er sich nur nicht zu sicher sein. Und zu Nummer zwei: Dafür ist mir die Freundschaft zwischen uns zu wichtig. Tut mir leid, daß ich dich enttäuschen muß.«

»Das braucht es nicht – da kann man eben nichts machen. Werd' du nur schnell wieder gesund. Nimm artig deine Medizin, hörst du?«

»Versprochen.«

Sie legt auf: ihre erste Lüge.

Im Wohnzimmer krabbelt das Kind auf allen vieren um den Lehnstuhl, hinter dem Garibaldi Zuflucht genommen hat.

»Na, was machen wir denn nun mit dir, du?« Isabella lehnt in der Tür. Beim Klang ihrer Stimme blickt die Kleine auf. »Ka«, stellt sie fest.

»Kannst du auch noch etwas anderes sagen? Möchtest du etwas trinken? Kennst du das Wort schon – trinken?« Sie spricht keine Babysprache mit dem Kind, käme sich idiotisch dabei vor. Sanft sind ihre Worte, doch sie redet wie mit einer Erwachsenen. Streckt den Arm nach ihm aus, aber das Kind schaut sie nur mit leerem Blick an. Isabella geht zu ihr und nimmt sie auf den Arm, spürt, wie sie zurückschreckt.

Seltsam, über Kinder weiß Isabella nichts, aber auch gar nichts. Früher hat sie immer sehr deutlich gemacht, daß sie keine eigenen will, hat betont, wie sie das eigene, wohlgeordnete Leben aus dem Gleichgewicht bringen, wie sie immer etwas wollen, wie selbstsüchtig sie sind. Man muß ja nur einmal in einen Supermarkt gehen, um ein für allemal kuriert zu sein. Trotzdem geht ihr das hier ganz natürlich von der Hand, und sie weiß instinktiv, was zu tun ist. Dieselbe Isabella von fast vierzig Jahren, in deren Leben noch niemand jemals einen Herzensplatz eingenommen hat, die noch nie einem anderen alles war, stellt jetzt fest, daß sie sich genau danach sehnt. Dieses kleine, geheimnisvolle Persönchen hat sie verzaubert und in seinen Bann geschlagen. Eine warme Welle reiner Freude überspült sie und füllt eine Leere in ihr, von der sie vorher nicht einmal geahnt hatte, daß es sie gab.

In der Küche gibt sie dem Kind ein paar Dosen und Deckel, mit denen es spielen kann, während sie Orangensaft in einen Becher gießt. Die Kleine jedoch sitzt ruhig auf dem Fußboden und macht keinerlei Anstalten zu spielen. Isabella fühlt ihren Blick, der jede ihrer Bewegungen verfolgt.

»Also, spielen willst du anscheinend nicht, oder? Hier hast du erst einmal etwas zu trinken.« Sie setzt sich zu ihr auf den Boden. »Ich helfe dir, ja?« Das Kind trinkt in kleinen Schlucken; während sie den Becher hält, legt es seine kleinen Hände auf Isabellas Finger, und die Frau, die fast nie weint, die sich noch nicht einmal erinnern kann, wann sie zuletzt Tränen vergossen hat nicht beim Tod ihrer Mutter und seither ganz sicher nicht –, bekommt auf einmal feuchte Augen.

Noch ist der Becher halb voll, als das Kind plötzlich das Interesse verliert und ihn wegstößt. Orangensaft spritzt über seine Kleidung und auf den Kachelfußboden. Tief verschreckt starrt die Kleine auf die Pfütze, dann verzerren und verdüstern sich ihre Gesichtszüge, und das hysterische Geschrei beginnt von neuem.

Sofort schließt Isabella sie in ihre Arme. Das Kind strampelt wild mit den Beinen und tritt sie. Selbst erschrocken, drückt sie die Kleine nur noch fester an sich.

»Aber, aber, was ist denn? Cara, was hast du? Das ist doch nur ein bißchen Saft, nichts weiter. Schsch, ist ja gut. Ist ja gut, Cara – komm, ich zeig dir was ...« Mit dem Kind auf dem Arm geht sie hinüber ins Wohnzimmer, wo ihre spanische Gitarre neben dem Schreibtisch an der Wand lehnt, setzt sich mit dem Kind auf einem Knie hin und beginnt zu spielen. Dazu singt sie.

»Der kleine Zauberdrache Puff lebte am großen Meer; der Herbst mit seinen Nebeln gefiel ihm zum Spielen sehr ...« Schon preßt sich eine heiße Wange gegen die ihre, eine kleine, bebende Brust drückt gegen ihre Brüste. Der süße Geruch von Kinderhaar. Und wieder beruhigt sich die Kleine, hört nach und nach auf mit dem Schluchzen. Allerdings hat sie sich wieder in die Hosen gemacht, sogar die Schuhe sind naß. Isabella beschließt, die Kleidung der Kleinen zu waschen und in den Wäschetrockner zu stecken und erst dann mit ihr auf die Polizeiwache zu gehen. Auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.

»Dann wollen wir dich mal ein bißchen sauber machen, in Ordnung?«

Noch nie hat sie ein Kind ausgezogen. Plötzlich steht ihr ein Bild vor Augen: sie selbst, allein, wie sie in der Wohnung über dem Restaurant mit einer Puppe spielt. Von der Küche unter ihr dringt das Gebrüll der Eltern zu ihr hinauf, die miteinander streiten. »Seid still«, schreit sie und stampft auf die Bodendielen. »Seid still, seid still, seid endlich still.« Niemand hört sie. Systematisch, Arm für Arm und Bein für Bein, reißt Isabella der Puppe die Glieder ab; dann rupft sie ihr das Haar aus. Damals muß sie ungefähr sieben gewesen sein.

Gehorsam steht das Kind auf – winzig, mager, ein kleines Würmchen. Zuerst die Jeans. Sie haben einen Gummizug, lassen sich leicht über die Hüften streifen und rutschen hinab zu den Knöcheln.

Isabella kniet vor dem Kind und starrt es schockiert an. Die Beine sind über und über mit Blutergüssen bedeckt.

»Madre mia. Madre mia«, flüstert sie, die Hand auf den Mund gelegt. Richtig schlecht ist ihr geworden. Sie zieht die Kleine an sich, die sich nun nicht mehr sträubt, und wiegt sie ohne ein weiteres Wort in den Armen. Dann nimmt sie sich zusammen und fährt damit fort, das Kind zu entkleiden, streift vorsichtig die völlig durchnäßte Unterhose herunter: noch mehr blaue Flecken auf den tassengroßen Pobäckchen. Als nächstes kommen die nassen Schuhe und Socken an die Reihe. O Madre, sie ist so zerbrechlich. Dünn wie Schilfrohr sind die Beine, und sie ist so still. Unverwandt blickt sie Isabella mit einem Ausdruck an, den diese jetzt als Mißtrauen erkennt. Es ist erschütternd, solches in den Augen eines so jungen Kindes zu finden. In ihrem Kopf hämmert es im Dreivierteltakt; der Puls pocht so stark in ihren Schläfen, als wolle die Haut jeden Moment platzen. Sachte knöpft sie die Strickjacke auf. Die Unterarme bieten das gleiche Bild wie Beine und Po.

»Arme Cara. Arme, kleine Carina.«

Isabella kann auf einmal nicht mehr anders. Mit dem einen Arm das Kind umfassend, legt sie den anderen schützend vor ihr Gesicht und weint. Es ist ein stummes Schluchzen tief innen, lautlos bis auf das leise Stöhnen, das sich ihrer Kehle entringt, und ihre Brust schmerzt von der Anstrengung, es in sich eingeschlossen zu halten.

Wieder gewinnt sie mühsam die Fassung zurück.

»Na, so geht das aber nicht, stimmt's?« sagt sie zu der Kleinen.

In diesem Moment sieht sie den Zettel, der mit einer Sicherheitsnadel an ihrem T-Shirt befestigt ist. Sie nimmt das zerknitterte, schmierige Papier ab. Eine Botschaft in ungelenken Buchstaben, geschrieben mit einem stumpfen Bleistift: »An unbekannt. Ich hab nich mer weiter gewust. Hab angst ich tu ir was an. Ir Name ist Hana. Suchen sie nich nach mir.«

Als sie diesmal die Entscheidung trifft, das Kind zu behalten, tut sie es nicht kopflos und überstürzt wie beim ersten Mal, sondern in der nüchternen Überzeugung, so und nur so handeln zu können. Kaum hat sie sich entschieden, spürt sie schon die Angst in sich aufsteigen. Isabella ist bei vollem Verstand, sie weiß genau, daß das, was sie im Begriff steht zu tun, vor dem Gesetz falsch ist und sich einer logischen Erklärung entzieht. Und sie weiß auch, daß ihr Leben kurz davor ist, aus der gewohnten Bahn geworfen zu werden. Durch diese Entscheidung hat sie ihrem Seelenfrieden gerade einen schweren Schlag versetzt, denn von nun an wird sie mit einer Lüge leben müssen. Auf einem ganz anderen Blatt steht, daß sie nun die Verantwortung für ein offensichtlich schwer traumatisiertes Kind übernommen hat. Wie seltsam, denkt sie, daß die Worte Traum und Trauma so ähnlich klingen und doch fast das Gegenteil voneinander bedeuten.

Ein paar Minuten später handelt sie nüchtern und vernünftig, als sie Bild um Bild mit der Polaroid-Kamera schießt und den nackten Körper des Kindes auf Film bannt. Aus nächster Nähe fotografiert sie die Blutergüsse, wobei sie vor Wut und Trauer stumm in sich hineinweint. Wie kann jemand ...? Wie kann irgend jemand einem kleinen Kind ...?

An jenem Abend schläft das Kind in dem Doppelbett, das in der Nacht zuvor noch als Sex-Trampolin gedient hat. Isabella sitzt im neutralen Bereich. ihres Wohnzimmers am Schreibtisch. In ihrem Schoß Garibaldi, zusammengerollt zu einem schlanken Quirl. In ein Notizbuch mit festem Einband schreibt sie: »Heute ist etwas ganz Außerordentliches passiert. Von jetzt an werde ich festhalten, was sich ereignet, sowohl als Vergewisserung für mich selbst wie auch als mögliches Beweismaterial, das in der Zukunft einmal wichtig werden könnte.

Ungefähr um 10:00 Uhr heute morgen, am Samstag, dem 31. August, hielt ich an einer Ladenzeile neben der nördlichen Ringstraße, um ein paar Sachen einzukaufen. Ich war unterwegs nach Süden, in Richtung auf die A 40. Vor einem Zeitungsladen ...«

Was den ersten Impuls zu ihrer Tat angeht, bleibt sie streng bei der Wahrheit: das Lächeln des Kindes, strahlend wie die plötzlich durchbrechende Sonne, das eigene, völlig untypische, sehnsüchtige Verlangen. (Sie malt sich den Staatsanwalt mit seiner Perücke aus: Wir reden hier nicht über irgendein geringfügiges Vergehen. Das hier ist kein Ladendiebstahl, meine Damen und Herren, die Angeklagte hat das Kind einer anderen Frau gestohlen.) Es ist wichtig, ihre ersten, instinktiven Gefühle zu erwähnen, um den späteren Sinneswandel plausibel zu machen, die Abkehr von der ursprünglichen Absicht, das Kind zur Polizei zu bringen.

»Es gibt eine Reihe von Gründen, warum ich meine ursprüngliche Entscheidung geändert und beschlossen habe, das Kind zu behalten ...«

Und was wären das für Gründe? Der Schock beim erschütternden Anblick des geschundenen Körpers? Daß die Polizei denken könnte, sie selbst habe der Kleinen die Verletzungen beigebracht? Das fast übermächtige Schutzbedürfnis, das dieses kleine Wesen in ihr hervorgerufen hat? Eine unerklärliche Seelenverwandtschaft? Oder eine Ahnung schicksalhafter Bestimmung? Vor allem ist es die Angst um das Kind daß es bestenfalls von einer Pflegefamilie zur anderen durchgereicht werden würde, schlimmstenfalls gar zu dem gewalttätigen Elternteil zurückgebracht werden könnte und weiter mißhandelt würde; ein weiteres Opfer der Bürokratie. Isabella ist entschlossen, beide Szenarien zu verhindern, koste es, was es wolle.

Außerdem hat das Kind jetzt einen Namen: Hana. Hannah.

Suchen Sie nicht nach mir, hat die Mutter verlangt.

Das Schicksal hat es so gewollt, daß Isabella an diesem bestimmten Morgen an jener Ladenzeile haltgemacht hat; und hat sie zur Mutter bestimmt.

Kapitel 2

»Isabella, cara Isabella«, murmelte ihr Vater aus dem Halbdunkel mit kehlig gurrender Stimme. Damals war sie fast dreizehn.

»Che cosa fa, Papa? Was machst du da? Tu das nicht.«

»Scusi. Mi scusi ... Sono spiacente, cara ...« Zog sich hastig zurück, stolperte, unterdrückte ein Schluchzen. »Facevo niente.« Ich habe nichts getan.

Am nächsten Morgen blieb es ihr erspart, ihm ins Gesicht sehen zu müssen. Er war verschwunden.

Das Restaurant wurde von ihrer Mutter allein weitergeführt, einer Frau mit hitzigem Temperament und harten Gesichtszügen. Ihre schottische Zunge war scharf wie ein Rasiermesser, und sie trieb sich und die Tochter bis an den äußersten Rand, unablässig nach vorn, weiter und weiter: Zeig her, was du in der Schule gemacht hast ... Nein, ich hab dir doch schon gesagt, du wirst nicht ausgehen ... Suttons Straßenlampen wie Perlen auf einer Schnur, und ihr Licht dringt durch die faltenlos fallenden Vorhänge in die Wohnung, während sie über den Hausaufgaben sitzt. Auf demselben Tisch die Nähmaschine der Mutter und der Globus auf seinem Ständer. Verhaßte, aufgezwungene Erdkunde. Mit dem Ende eines Bleistifts pflegte ihre Mutter die Namen von Orten abzudecken, um sie dann abzufragen.

»Willst du etwa am Ende auch so ein Leben führen müssen wie ich? Willst du das?« versetzte die Mutter, wenn Isabella einmal protestierte. »Denk ja nicht, das hätte ich noch nicht erlebt. Einer Generation nach der anderen geht das so, wieder und immer wieder.«

Von unten aus dem Restaurant drangen alte neapolitanische Melodien nach oben und verhökerten unerfüllbare Träume. Während des darauffolgenden Jahres war Isabella jeden Abend nach den Schularbeiten und an Wochenenden oder Feiertagen in der gefliesten Edelstahlküche zu finden, wo sie Zwiebeln und Kartoffeln schälte, Zucchini in streichholzdünne Streifen schnitt, Auberginenhälften füllte, riesige Dosen mit geschälten Tomaten öffnete und Kasserollen von der Größe mittlerer Kessel scheuerte, die von Hackfleischsoße à la Bolognese orangerot eingefärbt waren. Sie hörte das Gelächter der Gäste, und durch das Glasfenster im oberen Teil der Verbindungstür konnte sie verschwommen Frauenköpfe mit zurückgekämmten Haaren erkennen.

Wer war diese Frau, die sie Mutter nannte? Warum hatte sie Isabella überhaupt zur Welt gebracht, wenn doch ganz offenbar Mutterschaft für sie nur eine Last mehr bedeutete? Und warum hatte sie Isabellas Vater geheiratet – oder war es umgekehrt gewesen? Schottisches Presbyterianertum vertrug sich schlecht mit Katholizismus. Ob ihr Vater wohl im Beichtstuhl niedergekniet war und die Verirrung jener Nacht eingestanden hatte?

»Dieses Schwein«, sagte die Mutter an dem Morgen, als er sie verließ. »Nun, ich glaube kaum, daß wir nicht genausogut ohne ihn klarkommen können.« Wie zum Beweis trug sie zum erstenmal seit Jahren wieder Lippenstift.

Eine kurze Umarmung für die Tochter, die sich wie jeden Morgen auf den Weg zur Schule machen mußte, dann ein schneller; aber gründlich prüfender Blick auf Isabellas Schuluniform (der kirschrote Blazer biß sich immer mit ihrer Haarfarbe): ein rascher Griff, ein Zug an der Krawatte, damit sie korrekt in der Mitte hing.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja.«

»Gut wird's uns gehen, wirst schon sehen.«

Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß das Kind die Mutter vermißt. Isabella versucht, sie sich vorzustellen, doch ihr geistiges Auge liefert ihr nichts als ein aus Stereotypen zusammengesetztes Bild: jung, vielleicht keine zwanzig – eine gestreßte Frau, die der Mann verlassen hat; kein Geld, ein feuchtes Zimmer in einer dieser gottverlassenen Straßen zu beiden Seiten des nördlichen Rings. Die Hälfte der Fenster im Gebäude ist mit Brettern vernagelt. Oder sie wohnt vielleicht ganz oben in einem dieser graffitibeschmierten Hochhausblocks der Gegend. Dem Zettel nach zu urteilen kein schlechtes Mädchen, denn darauf fanden sich Spuren von Mutterliebe. Nur völlig verzweifelt. Es übersteigt Isabellas Vorstellungskraft, daß jemand ein so winziges Geschöpf, egal ob Mensch oder Tier, schlagen kann, und doch empfindet sie Sympathie für diese Frau, der es offenbar nicht gelungen ist, dem Zwang zur Wiederholung zu entrinnen. Vielleicht leidet sie unter Depressionen oder hat ihr unbezähmbares Temperament nicht im Griff. Möglicherweise ist sie von unterdurchschnittlicher Intelligenz. Ganz sicher ist sie ungebildet, und daß sie Hilfe braucht, steht außer Zweifel.

Isabella stellt sie sich mit langen, strähnigen Haaren vor, mit tiefliegenden Augen in Höhlen, die wie in die Schädelknochen eingemeißelt wirken. In einem bestimmten Licht sind die Augen des Kindes türkisblau, sonst grau: Augen voller Kummer und Leid. Ist die Mutter im nachhinein nun klüger, tut es ihr leid, ihr Kind im Stich gelassen zu haben? Ganz unzweideutig dürften ihre Gefühle nicht sein, denn eine solche Tat kann sie nicht ohne ein gewisses Maß an eigenem Schmerz und Kummer begangen haben. Hannah, das Opferlamm. Und in diesem Augenblick, in dem sich Isabella bestimmte Fragen stellt – wird sich die Mutter fragen: Wo ist mein Kind, wer hat es jetzt?

Stillschweigend versucht Isabella, Verbindung mit der Wohltäterin aufzunehmen, der sie dieses Zauberwesen verdankt. So nennt sie Hannah: »Cara, meine Liebste, mein kleines Zauberwesen.« Doch die Telepathie funktioniert nicht. Und selbst wenn die Mutter sich klar darüber sein sollte, wie ungeheuerlich das ist, was sie getan hat – auch Isabella ist sich der eigenen Tat bewußt. Beide können nichts mehr ungeschehen machen.

Nichts über ein vermißtes Kind in den Nachrichten, die sie seit eineinhalb Tagen zu jeder vollen Stunde hört. Keine verängstigte Mutter fleht reumütig um ihr Kind (und was würde Isabella tun, wenn sie es täte?), keine Suchmeldungen von der Polizei, keine Berichte in der Zeitung unter der Überschrift: »Kind vermißt«.

Montag. Knapp über drei Pfund hat sie verloren, wie ihr die Waage verrät. Angst und Sorge waren schon immer gut für ihre Figur. Andererseits ist auf der Innenseite eines Armes, in der Ellenbeuge und am Handgelenk, ihr altes Ekzem wieder aufgeflammt. Sie hat das Frühstücksfernsehen eingeschaltet, und Break fast Extra ist laut und deutlich überall in der Wohnung zu hören. Das Wochenende haben die beiden damit verbracht, einander kennenzulernen, denn alles, aber auch alles ist neu für Isabella. Trotzdem ist sie nahtlos und ganz natürlich in diese für sie fremde Rolle hineingeschlüpft: das Kind füttern, anziehen, auf dem Toilettensitz festhalten, ihr den Po abwischen, Arnikasalbe in die blutunterlaufenen Stellen einmassieren, die nun langsam die Farbe wechseln – Flecken von stumpfem Kadmiumgelb, die zum Teil ineinander übergehen. Pausenlos redet sie mit ihrer sanften, leisen Stimme auf die Kleine ein. Alles, was Hannah sagen kann, ist ihr »Ka«, wenn sie Garibaldi sieht, doch antwortet sie Isabella mit dem Neigen des Kopfes, einem Leuchten in den Augen oder dem Ausdruck abwartenden Mißtrauens auf ihrem Gesicht. Zweimal ist es Isabella gelungen, ihr jenes strahlende Sonnenscheinlächeln zu entlocken, das sie anfangs zu dem Kind hingezogen hat. Sie entdeckt bei sich einen schier unerschöpflichen Vorrat an Geduld, von dem sie bis dahin gar nichts geahnt hatte. Das besondere Mitgefühl mit dem Kind macht sie sensibel für dessen Bedürfnisse, Stimmungen und Ängste. Ihre blasse Haut, die Schatten unter den Augen und die Flecken auf ihrem Körper erinnern sie immer wieder daran, was die Kleine durchgemacht haben muß. Es sind Erlebnisse, die sie sich gar nicht vorstellen mag. Isabella reagiert instinktiv, wenn sie sich mit einer Situation konfrontiert sieht, ist von Natur aus eher phlegmatisch – leicht verärgert, aber nur schwer in Wut zu bringen. Sie hat einen schrägen Humor und findet Dinge zum Lachen, die anderen nicht auffallen würden. Manchen ist sie zu sehr sich selbst genug, ihnen jagt die Unabhängigkeit dieser Frau gehörigen Respekt ein; andererseits vermittelt sie den Eindruck, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen, und verströmt eine Ruhe, die sich dem Kind mitzuteilen scheint: Die Kleine zuckt nicht länger zurück, wenn Isabella sie anfaßt.

In der Nacht aber wimmert sie im Schlaf und wacht manchmal schluchzend auf. Auch ist es sehr schwer, sie zu baden, denn Hannah hat eine Heidenangst vor Badewanne und Dusche. Verschreckt hat sie sich in der Ecke verkrochen, als Isabella sie zum erstenmal ins Bad gebracht und den Wasserhahn aufgedreht hat. Wieder dieses zu Herzen gehende Wehgeschrei, und dann schoß sie splitternackt hinaus in den Flur, wo sie mit flatternden Ärmchen stehenblieb.

Ja, und auch den Besuch vom besorgten Nachbarn hat Isabella schon hinter sich. »Ich passe auf die kleine Tochter meiner Schwester auf. Sie hat ein bißchen Heimweh.« Könnte das nicht sogar stimmen, fragt sie sich.

Immer wenn sich die Kleine in die Hosen macht, schreit sie wie am Spieß, ebenso wenn sie etwas fallen läßt oder verschüttet. Isabella wird klar, daß dies die Verbrechen waren, für die sie bestraft wurde. Wenn sie an die panische Angst des Kindes vor der Außentreppe denkt, kann sie sich eine der Formen vorstellen, die diese Strafen angenommen haben. Auch andere Dinge können eine hysterische Panikattacke auslösen: der Fön, jeder plötzlich einsetzende Lärm, eine laute Stimme im Radio oder Fernsehen, Dunkelheit, Zigaretten ... Bis jetzt hat Isabella in Maßen geraucht – zwischen fünf und zehn pro Tag–, nun nicht mehr. Alles dies sind Mosaiksteinchen, aus denen sie ein Bild zusammensetzen kann, Hinweise, die sie sorgfältig in ihrem Bericht festhält.

»Alles, was ich getan habe«, hat sie in der vergangenen Nacht als Fazit aus den Ereignissen des Tages geschrieben, »ist, die Bürokratie zu umgehen.« Auf dem Papier billigt sie sich für die Zukunft schon einmal mildernde Umstände zu.

»... eine Frau ohne jedes Gewissen«, schnarrte der Ankläger mit Robe und Perücke verächtlich und zeigte mit dem Finger auf Isabella. Ein Traum, während sie schlief. Oder war es gar kein Traum? »Der Angeklagten fehlt jedes Gespür für den Unterschied zwischen Recht und Unrecht. Mildernde Umstände sind in diesem Fall nicht zu erkennen. Sie hat die Situation zu ihren Gunsten ausgenutzt, um einer Laune nachzugeben, eine persönliche Marotte zu befriedigen, nur weil, um es einmal bildlich auszudrücken, ihre biologische Uhr langsam ablief.«

Und dann hatte sie noch einen Traum, diesmal einen, in dem sie ganz rechtmäßig ein Kind in Pflege genommen hatte, aber Hannah war es nicht. Das Kind war ein Junge, ein Teenager mit Down-Syndrom. Ein Jahr darauf wurde der Junge wieder in die Obhut seiner Mutter übergeben, die mittlerweile eine Therapie gemacht hatte und auf einer Art Landsitz mit Wassergraben und Zugbrücke lebte, der sich als Teil des Campus der Universität von Bristol entpuppte. Isabella und der Junge wurden auseinandergerissen und trennten sich unter Tränen.

Und genau so könnte die Wirklichkeit aussehen. Oder besser: So hätte sie aussehen können, wäre sie die vorgeschriebenen Wege gegangen.

Isabella setzt sich im Bett auf und kreuzt schützend die Arme vor der Brust, umarmt sich selbst, versucht ganz bewußt, ihre Atmung zu beruhigen. Neben ihr schläft das Kind tief und fest. Regelmäßig hebt und senkt sich die kleine Brust, und aus dem leicht geöffneten Mund entweicht ein sanfter Hauch, der nach Honig duftet und Isabella an Schmetterlingsflügel denken läßt. Im Flur brennt das Licht, und durch die halbgeöffnete Tür fällt genug davon ins Schlafzimmer, daß sie im Dämmerlicht die Konturen von Hannahs Gesicht auf dem anderen Kissen ausmachen kann. Das weiche Haar, die eine Hand zur Faust geballt und im Kissen vergraben, die kleine Erhebung ihres Körpers unter dem Federbett (sie trägt eine weiße Bluse von Isabella) – all das ist so süß, so unglaublich süß. Isabella fühlt sich wie die Wölfin aus dem Dschungelbuch, voll von beschützender Zärtlichkeit. Die Wölfinnen, das war damals auch der Name ihrer Rockband an der Uni gewesen, und Isabella hatte die Lead Guitar gespielt. Sie legt sich wieder hin und birgt Hannah im sichelförmigen Bogen ihres Körpers, ohne sie allerdings zu berühren. Atmet tief den Duft ihrer Haut ein.