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Oskar Jan Tauschinski

TALMI

Roman

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Evelyne Polt-Heinzl

GESCHRIEBEN IM GEDENKEN AN
ALMA JOHANNA KOENIG

Inhalt

EINLEITENDE INDISKRETIONEN

VON TÜREN UND KRIPPEN

TRAVIATA SINGT FÜR SPORTLICHE JUGEND

WER BIST DU?

BRIEFWECHSEL ÜBER DEN OZEAN

DER ERSTE AUFTRAG

UNTERRICHTSSTUNDEN

DER HEILIGE MARTIN UND FRAU MÜLLER

DIE GROSSE WELT IM TRIESTINGTAL

VON WEISER LIEBE

PROGRAMMÄNDERUNGEN

PIROSCHKA ODER DAS STÜMPFCHEN FÜR DEN TEUFEL

DIE FEHLENDEN SEITEN

SUSANNE GIBT AUSKUNFT

BUCKLIGE WELT

KITZBÜHELER EINDRÜCKE

SCHICKSAL PROKRUSTES

BRAUTSCHAU ZWEIGELEISIG

DER KONSTRUKTIONSFEHLER

DIE GROSSE RATLOSIGKEIT

GLANZLICHTER UND SCHLAGSCHATTEN

SEEPETER

DIE NEUE ZEIT

KONKURRENZ DER KATASTROPHEN

HIC RHODUS, HIC SALTA!

Oskar Jan Tauschinski oder Die Hoffnung auf Wirksamkeit am Epochenrand

EINLEITENDE INDISKRETIONEN

Gleich eingangs sei gesagt:

Die hier veröffentlichten Aufzeichnungen stammen nicht von mir, sondern von einer Dame, die unter keinen Umständen genannt werden will. Das wird jeder verstehen, der sich der Mühe unterzieht, das Folgende zu lesen. Nicht, daß die Dame Grund hätte, sich ihres Handelns zu schämen. Im Gegenteil! Sie schneidet recht gut bei ihren Bekenntnissen ab. Es liegt vielmehr an dem erzählten Stoff selbst, an dessen heiklem Charakter und an dem traurigen, nie so ganz aufgeklärten Ende des Helden.

Ich glaube, Frau Susanne befürchtet noch nachträglich, ins Gerede der Leute zu kommen und mit den in die Handlung verwobenen Personen – die sie nicht immer geschont hat – in Konflikt zu geraten. Der zweite, weit wichtigere Grund, der Frau Susanne veranlaßt, inkognito zu bleiben, ist die Tatsache, daß sie in verhältnismäßig späten Jahren ein neues Leben begonnen hat, gleichsam in einer neuen Welt wiedergeboren wurde und daher unbeschwert von jeder Erinnerung an ein früheres Erdendasein wie ein Kind ihr Glück genießen möchte. Ihr »voriges Leben«, wenn man sich dieser etwas metaphysischen Wendung bedienen darf, war schwer und traurig genug. Sie hat sich darin bewährt, hat den Mut nie sinken lassen, ist unverbittert und – trotz ihres verkrümmten Rückgrates – ziemlich aufrecht ihren Weg gegangen, und so muß man ihr das Glück gönnen, dessen sie in ihrer neuen Inkarnation teilhaftig geworden ist.

In Frau Susannens Fall lernt man wirklich an das Walten einer höheren Gerechtigkeit glauben, denn mit irdischen Dingen geht es nicht zu, wenn eine alleinstehende, verwachsene Frau nahe an Fünfzig, die obendrein kein Vermögen besitzt und von ihrer Hände Arbeit lebt, – heiratet. Nein, nicht einen verwitweten Pensionisten, auch keinen staubgrauen Buchhalter, der für drei unmündige Kinder sorgen muß und nun nach einer Verzweifelten sucht, die nichts mehr zu verlieren hat. – Susannens Mann, Mister Reginald C. Hopkins, war, als er um sie anhielt, ein recht hübscher, etwas blaß und kränklich aussehender Mensch Mitte der Dreißig. Er ist Botaniker, Leiter eines wissenschaftlichen Instituts in Montreal. Seine Schriften sollen in Fachkreisen bekannt und geschätzt sein. Ja, es ist möglich, daß der eine oder andere Leser seine Arbeiten kennt, ohne zu wissen, daß es die seinen sind, denn Mister Hopkins heißt natürlich in Wirklichkeit nicht Hopkins, sondern hat einen anderen englisch klingenden Namen, und sein Laboratorium ist auch nicht in Montreal, sondern in der Hauptstadt eines anderen Staates innerhalb des Commonwealth. Was aber stimmt, ist das Motiv seiner Heirat: Liebe. Ich kann seine Empfindung nicht teilen, aber ich kann sie doch gut verstehen. Susanne ist liebenswert, obgleich nicht immer liebenswürdig, und wenn man über die äußeren Mängel ihrer Erscheinung hinwegsehen lernt, so hat man wahrlich Chancen, sehr glücklich mit ihr zu werden. Jawohl! Die Chancen des Glücks sind durch diese Wahl für Mister Hopkins weit größer, als wenn er sich eine junge Person mit geradem Rücken ausgesucht hätte, deren Wesen noch nicht durch das Läuterungsverfahren des Lebens gegangen ist.

Ich habe Frau Susannens Manuskript für dieses Buch verwendet, indem ich die wirklichen Namen durch andere ersetzte, indem ich Begleitumstände, Ortschaften, Straßenbezeichnungen veränderte, indem ich ausließ, was mir allzu persönlich und intim erschien, und einflickte, was ich für wichtig und des Sagens wert erachtete.

Susanne Sedlak und Ernst Ronasek hießen in Wirklichkeit anders, wohnten in anderen Stadtvierteln und gingen anderen Beschäftigungen nach. Susanne ist nicht Keramikerin, wie ich es hier gleich behaupten werde, sondern in einer anderen Disziplin des Kunsthandwerks – als Meisterin ihres Faches! – tätig. Ja, sie ist nicht einmal bucklig, sondern hat ein anderes Körpergebrechen. Mehr sage ich nicht. Die platte Realität interessiert uns nicht weiter. Wir wollen ja eine literarische Gestaltung der Wirklichkeit, eine Deutung des alltäglichen Lebens in gekürzter, verdichteter und bewußt ins rechte Licht gerückter Form – wir wollen statt der Wahrheit die Wahrhaftigkeit, also einen Roman.

VON TÜREN UND KRIPPEN

Ich habe Susanne Sedlak im Jahre 1946 kennengelernt, im Herbst.

Wie alljährlich im November war ich auf der Suche nach passenden Weihnachtsgeschenken für meine Freunde. An Büchern und praktischen Dingen des täglichen Gebrauchs war noch nicht viel zu bekommen, so mußte man sich wohl oder übel zur Anschaffung von Sachen bequemen, die jeder mit den begeisterten Worten: »Wie hübsch! Ganz reizend! Nein, bezaubernd!« betrachtet, ohne daß in ihm auch nur der leiseste Wunsch keimt, sie zu besitzen. Ich meine die Erzeugnisse des Kunstgewerbes, das nach jedem Krieg eine kurze intensive Blüte erlebt und dann, ganz plötzlich wieder an den äußersten Rand der Produktion gedrängt, ein kümmerliches Eigenbrötlerdasein fristet.

Das Los der Kunstgewerbler ist nicht zu beneiden; da haben es die Wurst- und Textilfabrikanten doch erheblich besser. Wenn die Selchwaren und die Wollstoffe wieder in den Auslagen erscheinen, dann beginnen die kunstvoll glasierten Tongefäße, die geschnitzten Holzkassetten, die raffiniert gemusterten Strohmatten und edel geformten Lampenschirme langsam, aber unaufhaltsam auf ihren Regalen zu verstauben – bis zu dem Zeitpunkt, da alle wieder Fett ansetzen und die Kleiderkästen ihren Inhalt kaum noch bergen können.

Susannens Kunst allerdings war krisenfest. Ihr Name hatte sich durchgesetzt. Nicht nur in Fachkreisen wußte man von ihr und ihrer Arbeit; auch das Käuferpublikum kannte sie. Eine Sedlak-Keramik zu besitzen oder zu schenken, gehörte schon vor dem Krieg zum guten Ton, und man hatte nicht nur in den Schaufenstern der besseren Kunsthandlungen und in der geschmackvollen Auslagenvitrine, die ihr ein großes Porzellangeschäft am Graben zur Verfügung stellte, ihre originellen Fabeltiere und Figuren gesehen, sondern auch in Privathäusern.

Nun war ich darauf aus, eine Weihnachtsgabe für eine zartbesaitete und gefühlvolle Dame zu ergattern, welche sich diese unmodernen Eigenschaften bis in unsere Tage herübergerettet hatte. Vielleicht, so dachte ich, könnte man sie mit einer Krippe erfreuen.

Ich fand Susanne Sedlaks Adresse im Telephonbuch und begab mich in die Siebensterngasse. Das Haus hatte starke Bombenschäden davongetragen, war aber noch bewohnbar. Die Tür im zweiten Stock, an der ein getriebenes Messingschild mit der Inschrift »Atelier Sedlak« befestigt war, mußte der Luftdruck aus den Angeln gerissen haben. Sie war wohl wieder eingehängt worden, und ihre Wunden schienen mit Hilfe frischer Holzteile notdürftig ausgeheilt, aber noch hatte sich kein Lack über das Alte und das Neue vertuschend und ausgleichend gebreitet. Anstatt ihrer unpersönlichen Pflicht des schweigsamen Abschließens nachzukommen, sprach diese Tür in beredten Worten von ihren Erfahrungen. Davon, wie sie ursprünglich als Hüterin des intimen Friedens getischlert worden sei und wie sie im Lauf des letztvergangenen Jahrzehnts nur noch dem Schein nach das Privatleben der Bewohner vor der Außenwelt geschützt habe, denn in Wahrheit sei ein privates Dasein ja schon als solches staatsfeindlich und unstatthaft gewesen. Privatleben im Krieg – das wäre ja zum Lachen! Aber die Bewohnerin der Räumlichkeiten dahinter hatte sich lange in der Illusion gewiegt, die Tür sei imstande, sie vor zudringlichen Augen und Ohren zu bewahren, und war fern davon gewesen zu lachen, als sie anläßlich eines Gestapoverhörs erkennen mußte, auf einer offenen Schaubühne gelebt zu haben. Denn das Tosische Schloß der Eingangstür vermochte ja nur gegen bescheidene Diebe und Einbrecher Schutz zu gewähren, die Koryphäen des Verbrechens aber nicht im mindesten zu behindern.

Diesem jammervollen Scheindasein der Tür hatte ein Treffer, der ins Hinterhaus einschlug, ein Ende bereitet. Sie war trotz des Tosischen Schlosses mit Krachen an die Wand geflogen und mag diesen Schicksalsschlag vielleicht sogar als Erleichterung empfunden haben: als Befreiung von einer unwürdigen, verlogenen Rolle.

Und nun war man bemüht, sie wieder in ihre alten Rechte und Pflichten einzusetzen. Man hatte sie geleimt und genagelt und man verschloß sie. Würde sie wohl ihre ehemalige vornehm distanzierende Bedeutung wiedererlangen? Wer konnte das damals wissen! Im allgemeinen kommt ja Vergangenes nicht zurück, und wenn es kommt, so scheint es uns seltsam leblos, unzeitgemäß, oft sogar peinlich fremd, weil wir selbst uns verändert haben.

Dies alles sagte mir die Tür in dem kurzen Augenblick, ehe mir aufgetan wurde. Eine kleine Person von unbestimmbarem Alter, graublond, mit großer Nase und hoher, gebuckelter Stirn, stand vor mir. Ich nannte meinen Namen und mein Anliegen. Sie bat mich einzutreten. Es war die Künstlerin selbst. – Sie wandte sich, um mir den Weg ins Zimmer zu weisen, und nun, da ich sie von hinten sah, bemerkte ich die Ungleichheit ihrer Schulterblätter, von denen das linke deutlich hervortrat und so der ganzen gedrungenen Gestalt eine Krümmung nach rechts diktierte, während der Kopf auf dem zu kurzen Hals – als wolle er das verlorengegangene Gleichmaß wiederherstellen – nach links geneigt war.

Das Zimmer, das wir betraten, war recht groß, warm geheizt und sehr gemütlich. Eigentlich befand sich nichts darin, was besonders schön, kostbar oder originell gewesen wäre. Niedrige, bequeme Sitzgelegenheiten um einen ebenfalls niederen runden Tisch bildeten mit einer Stehlampe eine Ecke. Die den Fenstern gegenüberliegende Wand nahm ein einfaches schwarzes Bücherregal ein, das bis zur Decke hinauf vollgestopft war. Ein breiter Schlafdiwan und ein kleiner Schreibtisch bildeten den Rest der Einrichtung. In der Mitte des Raumes lag ein alter, etwas schadhafter Perserteppich.

»So. Also jetzt im November kommen Sie und wollen natürlich noch vor Weihnachten bedient sein«, sagte Frau Sedlak mit gespielter Entrüstung, aber ich fühlte, daß sie wirklich ein wenig ärgerlich über die Zumutung war.

Demütig gab ich zu, mein Ansinnen sei gewissermaßen eine Unbescheidenheit, wenn sie nun aber doch Gnade vor Recht ergehen lassen wolle … Und ich dachte im stillen: Die tut ja so, als ob sie Geschenke austeilen müßte!

»Nun, und wie stellen Sie sich Ihre Krippe vor? Haben Sie da konkrete Wünsche?« Sie bot mir einen der bequemen Kanadier an und nahm selber Platz.

»Nein«, sagte ich, »eigentlich nicht. Ich habe nur so vage an eine Gruppe von Hirten und Königen um das Jesuskind gedacht, ganz bescheidene, innige Gestalten …« Ich ließ den Satz unbeendet, denn ich wußte eigentlich nicht, was ich weiter sagen sollte. Auch schien mir, als habe sich um Frau Sedlaks Mund ein leiser Zug von Mißbilligung gezeigt. Eigentümlich ausdrucksreich war dieser Mund. Groß und schmallippig lag er als gerader Strich unter der langen Nase. Nur die äußersten Mundwinkel waren ein wenig aufwärts gezogen und verliehen zusammen mit der weichen Linie der Wangenpartien dem Gesicht etwas tröstlich Hoffnungsvolles und Tapferes, während die Augen unter der hohen Stirn eher resigniert dreinschauten.

»Innig?« sagte sie nach einer kurzen Pause. »Nun ja, das läßt sich hören. Eine gewisse Verinnerlichung müssen Krippenfiguren gewiß haben. Aber warum denn um Himmels willen bescheiden? Sind wir in unserem Alltag nicht ärmlich genug geworden? Sollen wir denn auch unsere Feste in Bescheidenheit feiern? Das liegt unserem Wesen doch gar nicht. Wir sind für die Sonnenseite des Lebens geboren hierzulande. In der Not versagen wir kläglich, das dürften Sie wohl auch in den letzten Jahren gemerkt haben. – Aber lassen Sie mich nur machen! Die Krippe können Sie am zwanzigsten Dezember abholen; und wenn sie Ihnen nicht gefällt, dann gnade Ihnen Gott!« Sie drohte mir energisch mit erhobenem Finger. Aber gleich danach schien sie sich eines Besseren besonnen zu haben und fuhr milder fort: »Übrigens können Sie schon früher anrufen; ich werde mich recht beeilen, denn – falls die Krippe Ihnen nicht zusagt, brauchen Sie sie auch nicht zu kaufen, dann müssen Sie aber noch etwas Zeit haben, um ein anderes Geschenk für die Dame zu besorgen.«

Ich verabschiedete mich mit gemischten und widerstrebenden Empfindungen, die zu analysieren ich jedoch vergaß. Wo käme man hin, wollte man jede flüchtige Bekanntschaft unter die Lupe nehmen?

Als ich das Haus verließ, hielt gerade ein Jeep am Rande des Gehsteigs. Ein schlanker, noch junger Mensch in Zivilkleidern, mit schmalen Schultern und einem liebenswürdigen Studierkopf sprang heraus, warf dem uniformierten Fahrer ein paar Worte in unverständlichem Englisch zu und verschwand fast laufend im Haustor.

Als ich mich etwa sechs Wochen später abermals zu Frau Sedlak begab, um die Krippe abzuholen, stand wieder der Jeep vor dem Haus, und auf der schlecht beleuchteten Stiege begegnete ich demselben Mann, der diesmal ebenso eilig seinem Auto zuzustreben schien.

Frau Sedlak war guter Dinge. Sie scherzte, als sie mich hereinführte, nannte mich einen gestrengen Auftraggeber und drückte übertriebene Befürchtungen aus, ob es ihr wohl gelungen sein mochte, sich ihrer Aufgabe zur Zufriedenheit des Brotherrn entledigt zu haben.

Über den runden Tisch im Wohnzimmer war eine grüne Samtdecke gebreitet, und darauf hatte die Keramikerin die Krippe gestellt. – Nur mit Mühe vermochte ich meine Überraschung zu meistern, die aus einfachem Erstaunen und sofortiger Bezauberung zusammengesetzt war.

Da standen die Figurinen. – Nein, sie standen gar nicht. Es war ein Kommen und Gehen, ein Niederknien und Herzudrängen, ein »Schaut her!« und »So kommt doch schneller!«, ein »Ach!« und »Oh!« und »Halleluja!« vor einer Gartenlaube mit breiter Steinterrasse, auf der die Heilige Familie ihren Sitz hatte. Das war beileibe kein Bethlehem im herkömmlichen Sinn, eher ein Volksfest, eine barocke Weihnachtspantomime im lampionerhellten Belvederegarten. Maria war ein süßes Mädel vom Grund, und der Josef mit dem Umhängebart konnte im Zivilberuf Fiaker sein. Das Morgenland der Heiligen Drei Könige mochte Währing oder Döbling heißen, und die Hirten und Bauernfrauen waren in Favoriten daheim und sprachen zu Hause böhmisch. Aber nun hatten sich alle mit großen Pelerinen und Umhängen drapiert, hatten seidene Schlafröcke angezogen und Papierkronen aufgesetzt und trugen ihre Gewandung mit einem selbstverständlichen, großsprecherischen Pomp, als seien sie es gar nicht anders gewöhnt. Freude und Ausgelassenheit herrschten in der bewegten Gruppe, die trotzdem etwas von wirklicher Frömmigkeit an sich hatte. Alle liebevollen Blicke und innigen Gebärden galten dem Jesuskind, das in der Mitte in einem Korb lag. – Nein, nicht dem Jesuskind, dem »Christkindl«! Es war denkbar, daß man nach der gebührenden Anbetung, nach den Weihnachtsliedern und Chorälen, den Weg zu lustigeren Noten ungeniert finden werde. »Mei Muatterl war a Weanerin« lag ja schon in der Luft und hätte zu Maria, die man daheim gewiß Mizzi nannte, ausgezeichnet gepaßt.

Mein Entzücken war so groß, daß es nicht einmal bei der Nennung des sehr hohen Preises nachließ. Ich zahlte. Wir packten die Figurinen vorsichtig in Seidenpapier und Holzwolle und betteten sie in den Koffer, den ich eigens dazu mitgebracht hatte.

Ja – nun hätte ich eigentlich gehen sollen. Aber wir waren unversehens ins Gespräch gekommen, und Frau Sedlak wurde mir mit jedem Satz sympathischer und vertrauter. Wahrscheinlich hatte ich erst auf dem Umweg über ihre Arbeit den Weg zur Künstlerin selbst gefunden.

Als ich aufbrach, war es elf Uhr abends.

In der Folgezeit habe ich unzählige gemütliche Stunden in Frau Sedlaks Wohnzimmer verbracht. Meist mit ihr und Mister Hopkins zu dritt. Aber dann wurde der junge Gelehrte aus dem Heeresdienst entlassen, der ihm ohnedies nur lästig war, und übernahm wieder die Leitung des biologischen Laboratoriums in Montreal.

An einem heißen Sommertag des Jahres 1949 habe ich die beiden zur Westbahn begleitet. Mister Hopkins’ Augen lachten und sein schmales Gesicht war gerötet, als er seiner körperbehinderten Frau beim Einsteigen behilflich war.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich winkte noch eine Weile mit der Hand und dann, als die Entfernung größer wurde, mit der Aktentasche, die mir plötzlich sehr schwer schien. – Ach richtig: Frau Susanne hatte mir im letzten Augenblick, ehe wir die leergeräumte Wohnung verließen, ein großes, flaches Paket übergeben.

»Das habe ich einmal geschrieben«, hatte sie gesagt und war mir dabei etwas verlegen erschienen. »Aber nun hat es keinen Wert mehr für mich. Es stammt aus einem anderen Leben, das abgelaufen ist. Ich wollte es schon verbrennen, aber dann sind Sie mir eingefallen. Für einen Literaten ist so etwas vielleicht interessant. Versprechen Sie mir nur, das Manuskript zu vernichten, sobald Sie es gelesen haben. Ich verlasse mich diesbezüglich auf Sie! – Und noch eines: Bitte, lesen Sie es nicht gleich, gönnen Sie sich – und mir – ein wenig Zeit.«

TRAVIATA SINGT FÜR SPORTLICHE JUGEND

(Susannens Aufzeichnungen vom 12. März 1945)

Wie glücklich bin ich über die Petroleumlampe, die mir Margot verschafft hat!

So weit haben wir es im Zeitalter der Technik gebracht, daß man sich heute in einer Zweimillionenstadt nur helfen kann, wenn man im Hof einen Brunnen und daheim einen altmodischen Kohlenherd besitzt. Wer überdies noch genügend Petroleum zum Leuchten hat, muß mit dem Neid der Nachbarn rechnen. Die elektrischen Lüster, die Gas- und Badeöfen, die Wasserleitungshähne und Radioapparate sind verkümmerte Organe im Wohnungskörper geworden – müßige Zeugen der Vergangenheit, Staubfänger, ebenso nutzlos wie die Makartbuketts und Streusanddosen unserer Großmütter.

Zwar stinkt meine Lampe höllisch und blakt wie ein Fabrikschlot, aber sie leuchtet doch auch, und ich kann im verdunkelten Zimmer vor meinem Schreibblock sitzen und an dich denken, Ernstl, anstatt mich im Finstern schlaflos auf dem Diwan herumzuwälzen und nur Gedanken über ein ungewisses Morgen und ein unwahrscheinliches Demnächst wiederzukäuen.

Was nützt es, daß der Krieg zu Ende geht? Wird man denn seine letzten Phasen überstehen? In längstens vier Wochen beginnt bei uns das, was Warschau und Budapest schon hinter sich haben. Warum sollte für Wien eine Ausnahme gemacht werden? Aber, mein Gott, vier Wochen! Vielleicht sorge ich mich da um eine Zukunft, die ich gar nicht mehr erleben werde.

Nur die Vergangenheit ist fester Boden, auf dem der Fuß nicht strauchelt, und darüber hat die Erinnerung einen soliden Laufteppich gelegt, breit oder schmal, bunt durchwirkt oder grau, aber wohlbekannt und vertraut, denn wir haben ihn ja aus eigenen Erlebnissen geknüpft.

Der meine ist weder farbenfroh noch breit, obwohl ich mein Leben lang bemüht war, ihn möglichst »kunstgewerblich« zu gestalten. Einem einsamen Krüppel stehen nicht viele bunte Fäden zur Verfügung. Alles, was rot und leuchtend daran ist, stammt von dir, Ernstl! Vielerlei Farben hast du für meinen Teppich geliefert, wohltuende und grelle, aber zum Schluß hast du das Muster heillos verwirrt.

Drei Jahre liegt dein Tod nun zurück, und ich grüble seither ununterbrochen darüber nach, ob es so hat kommen müssen. Vergeblich mühe ich mich, Logik in dieser wüsten Ungereimtheit zu finden, die du dein Leben nanntest, und denke oft, daß ich dich wohl nicht gut genug gekannt habe. Aber wer hat sich so viel mit dir beschäftigt wie ich? Wer hat jedes deiner Worte auf die Waagschale gelegt, jede deiner Taten und Untaten so genau registriert und kommentiert? Beinahe hätte ich jetzt geschrieben: Wer hat dich so geliebt? Aber das wäre falsch und unwahr. Nein, nein, geliebt habe ich dich nie! So viel Selbstachtung und Vernunft habe ich doch immer aufgebracht. – Da zeigt es sich schon, wie vorsichtig man beim Schreiben sein muß. Das Papier verleitet zur Übertreibung. Und dabei setze ich mich doch gerade darum zum Schreibtisch, um schwarz auf weiß die objektive Wahrheit niederzulegen. Das hier sollen nicht meine Memoiren werden, sondern nur Tagebuchblätter, die dich und dein vertanes Leben betreffen. Wenn erst dein Dasein in Worte und Schriftzüge gebannt vor mir liegt, werde ich vielleicht erkennen, warum es so mit dir gekommen ist, warum alle Gunst des Schicksals und alle Gaben der Natur an dir verschwendet waren. Vielleicht aber – und dies ist der Hauptzweck meiner Arbeit – gelingt es mir, nachzuweisen, daß du ganz bestimmt unschuldig warst an Schwester Josefas folgenschwerem Unfall und daß dein eigener Tod eine Verkettung tragischer Zufälle und nicht die Verzweiflungstat eines Verantwortungslosen gewesen ist.

Heute ist mir dieser Gedanke gekommen, als ich am Abend vor der brennenden Oper stand. Und während ich nun hier sitze, verglosen vielleicht die Sessel, auf denen wir damals saßen – damals, vor zwanzig Jahren, als wir einander kennenlernten. Wahrscheinlich gibt es bald überhaupt keine stummen Zeugen unseres Lebens mehr. Dies Zimmer hier, in dem du so oft saßest, ist vielleicht morgen von einer Bombe zerschlagen. Schon jetzt scheint es mir fremd und kahl, weil Margot die Vorhänge, die wir zusammen ausgewählt haben, die Bilder, die du so liebtest, die Bücher, deren Menge dich so beeindruckte, in den Keller geräumt hat.

Der Mantel, in dem ich fröstelnd sitze, ist voll Ruß und riecht nach Rauch. Kein Wunder. Es schneite ja dicke, glühende Flocken wie bei einem feurigen Schneegestöber. Ich stand in der verlängerten Kärntnerstraße, dicht hinter einer Kette von Polizisten; neben mir wortlose Menschen mit rot überflackerten Gesichtern und Pupillen, in deren Dunkel sich die lodernde Feuersäule des Heinrichshofes beweglich spiegelte. Woran mochten sie alle denken, meine lieben Kompatrioten, die damals so begeistert »Heil!« gerufen hatten, als diese Krankheit begann, deren letzten Phasen sie nun beiwohnen? – Ach, Ernstl, auch du hast »Heil!« gerufen, du Narr!

Vom Karlsplatz her wehte uns eisiger Nebelwind in den Rücken, aber die Gesichter glühten von der Brandhitze. Es war wie ein gigantisches Kaminfeuer in einem kalten, finsteren Saal.

Alles erinnert an dich, Ernst!! Unsere Oper brennt; wo die Tische deines »Café Heinrichshof« standen, fallen jetzt glühende Balken auf das Pflaster. Überall bist du, und dabei bist du längst nirgendmehr – drei Jahre nach deinem tödlichen Unfall.

Oder irre ich? War es doch kein Unfall?

Ich weiß es nicht; aber vielleicht werde ich es wissen, wenn alles genau aufgeschrieben vor mir stehen wird. Wie war das doch damals, bei jener Traviata-Aufführung im März 1925? – Ach, wie kalt es ist! Ich muß mir die Füße in eine Decke wickeln …

Wieder einmal stand ich im Stehparterre ziemlich weit vorne, aber doch leider nicht an der Brüstung, und wartete auf den Beginn der Vorstellung. Wie freute ich mich auf die Ouvertüre, die gleich ertönen sollte, mit ihrem tränenfeuchten Geigengesang, der später von einer festlich getragenen Tanzweise abgelöst wird und der, vor dem vierten Akt nochmals angestimmt, in das hoffnungslose Schluchzen einer Todgezeichneten ausklingt. Damals liebte ich dies Werk um seiner selbst willen. Heute kann ich es nicht hören, ohne daß sehr persönliche, mein eigenes Leben und Erleben betreffende Erinnerungen in mir wach werden.

Neben mir stand eine schöne blonde Person von ebenmäßigem Wuchs und selbstgefällig törichtem Gesicht, das trotz der frühen Jahreszeit tief gebräunt war. Allem Anschein nach kam sie gerade von einem Skiurlaub im Gebirge. Sie schien mit ihrem Äußeren durchaus zufrieden. Das neue geblumte Kleid und die Frisur taten ihre Schuldigkeit. Auch hätte sie keinen günstigeren Standort für ihre Schönheit wählen können als neben mir, obwohl sie sicherlich nur von dem Wunsch, gut zu sehen und zu hören, beseelt, so rasch nach vorne geeilt war. Auf mich wurde sie ohne Zweifel erst aufmerksam, nachdem sie die noch fast leeren Logenreihen und das Parkett einer genauen Musterung unterzogen hatte.

Der Lokalaugenschein war zu ihrer vollsten Zufriedenheit ausgefallen. In einer der Parterrelogen, der zweiten oder dritten von uns aus, hatte ein junger Mann Platz genommen, der seinerseits das Opernglas über die Köpfe der dicht gedrängten Stehplätzler streifen ließ, wobei er sichtlich beim Anblick meiner hübschen Nachbarin verweilte. Er mußte noch sehr jung sein, vielleicht ein Student im ersten oder zweiten Hochschuljahr. Die Art, wie er sein Glas handhabte, wie er den Kopf langsam hin und her wandte, während die Linke lässig über den Logenrand hing, hatte etwas vollendet Graziöses – fast zu Graziöses für einen jungen Burschen, der noch dazu recht breitschultrig und muskulös aussah und einen kurzen, sehnigen Hals hatte. Besonders im Profil kam die Kräftigkeit dieses Halses zur Geltung, der vom Kleinhirn abwärts in gerader, harter Linie in den Kragen hinablief. – Dies wird einmal ein Stiernacken werden, mußte ich unwillkürlich denken. Vorläufig war es noch ein entzückender Stierkalbnacken.

Nun hob der junge Logeninsasse in scheinbarer Kurzsichtigkeit das Programm nahe vors Gesicht. Er hielt das Heft in den großen, sehr weißen und langfingrigen Händen mit einer Behutsamkeit, die eines kostbaren Pergamentes wohl würdig gewesen wäre, und tat, als sei er in die Lektüre vertieft. Aber seine Augen glitten immer wieder zerstreut vom Papier fort und zu uns herüber; und dies war verständlich.

Meine Nachbarin war zusehends schlanker und größer geworden. In ihre sonnengebräunten Wangen stieg bezaubernde Röte und ließ mich an eine reife, sommerwarme Marille denken. Auch sie schien ihr Textbuch auswendig lernen zu wollen; dazwischen fand sie Zeit, hie und da ihre Locken ordnend aus der Stirn zu streifen oder an ihrem Kleid herumzunesteln. Nur ganz selten und mit völlig beherrschter Teilnahmslosigkeit sah sie sich im Zuschauerraum um, und wenn ihr Blick dann gelegentlich die dritte Loge links streifte, so verweilte er dort kaum einen Augenaufschlag länger als bei den übrigen.

Es mußte knapp vor Beginn der Vorstellung sein. Der Saal, der lange leer geblieben war, hatte sich plötzlich sehr rasch gefüllt. Immer mehr Abendkleider und Smokings wurden in den vorderen Sitzreihen sichtbar, immer mehr Boutons, Broschen und Brillantanhänger leuchteten aus dem Dunkelrot der Logen. Das Stimmengewirr der präludierenden Instrumente war jetzt von dem der schwatzenden Zuschauer fast ganz überdeckt. Im Stehparterre stand man Kopf an Kopf. Da hörte ich plötzlich unweit hinter mir eine sehr höfliche, gleichsam höfisch gezierte Baritonstimme vielerlei Entschuldigungsfloskeln fast pausenlos hintereinander hersagen. Das unwillige Murmeln der Stehenden, die beiseite traten, wirkte nur wie eine Geräuschkulisse, von der sich die klar skandierten Silben des »Verzeihen Sie bitte«, »Nur einen Augenblick …«, »Entschuldigen Sie«, »Ich nehme Ihnen Ihren Platz durchaus nicht weg«, »Ich möchte nur …«, »O pardon …« deutlich abzeichneten.

Als wir uns umdrehten – die »Marille« und ich –, stand der Besitzer des höfischen Baritons schon vor uns. Er machte eine vollendete Verneigung – ganz so, wie man sie den jungen Leuten damals in der Tanzstunde beibrachte –, indem er zuerst nur den sehr hellen Kopf im Stierkalbnakken, dann aber ganz leicht auch die Schultern beugte, und sagte mit der gezierten Anmut eines schüchternen Liebhabers auf dem Theater:

»Wollen Sie mich, bitte, nicht für zudringlich halten, aber ich habe zwei Logensitze … Der Platz neben mir bleibt leer. Ich sehe Sie hier im Gedränge stehen … Darf ich Ihnen die zweite Karte geben?«

Zu wem sprach er? – Doch wohl zu der sonnengoldenen Sportlerin. Aber er sah mich dabei an, streckte die große Hand aus und reichte die Eintrittskarte – wem reichte er sie? – mir.

Ich war bis zu diesem Augenblick ausschließlich Zuschauerin bei dem uneingestandenen Flirt gewesen, und nun fand ich gar keine Zeit, um selbst in die Rolle zu schlüpfen, die ich der Marille zugeschrieben hatte. Ich nahm also die Einladung mit der gleichen Selbstverständlichkeit an, mit der ich mir in der Straßenbahn Platz machen ließ. Zu sitzen, wenn andere standen, war das Recht der Körperbehinderten – eines der wenigen Rechte, gemessen an den vielen Pflichten, die mir mein krummer Rücken auferlegte. Unbefangen machte ich von diesem Recht Gebrauch. Ehe ich Zeit fand nachzudenken, ob ich das Richtige tat, hatte ich schon mechanisch »Oh, besten Dank, sehr liebenswürdig!« gesagt und schickte mich an, ihm zu folgen. Da fing ich noch einen eigenartigen, etwas verlegenen und doch auch wieder triumphierenden Blick auf, den der muskulöse Jüngling mit den Allüren eines altmodischen Schwerenöters zu meiner schönen Nachbarin gleiten ließ. Was dieser Blick bedeuten sollte, konnte ich in der Eile nicht bestimmen. Es fiel mir nur auf, daß bei der raschen Bewegung seiner Augen das linke um den Bruchteil einer Sekunde hinter dem rechten zurückblieb. Bei ungenauem Hinschauen hätte man diese merkwürdige Trägheit des linken Auges für ein Schielen halten können, das jedoch sofort verschwand, als der Blick des jungen Mannes wieder auf mir ruhte. Übrigens war im Moment keine Zeit, darüber nachzudenken, denn wir hatten alle Mühe, uns durch die Menge zurück und zum Ausgang zu drängen. Dann ging es eilig treppab, treppauf und durch mehrere Korridore. Als wir die Loge betraten, war das Licht im Saal gerade erloschen, und ehe wir im Dunkeln unsere Plätze gefunden hatten, setzte das leise Schluchzen der Primgeigen ein.

Ich hatte im ersten Augenblick also weder Zeit noch Lust, mir Gedanken darüber zu machen, was geschehen war. Erst nach der Ouvertüre, als der Vorhang aufging und die Ensembleszenen in Violettas Heim begannen, gönnte ich mir einen Blick zur Seite. Mein jugendlicher Wohltäter, der während des Vorspiels auf seinem Platz herumgewetzt hatte, saß nun wie hypnotisiert da. Mit seinem Opernglas – einer altmodischen Damenlorgnette aus Elfenbein – fixierte er jeden Auftritt, jede Verbeugung, jeden Handkuß auf der Bühne. Ob er auch die Musik hörte, weiß ich nicht; jedenfalls genoß er die Vorstellung mit allen Sinnen. Sein weiches, stark gelocktes, sehr blondes Haar, das fast wie entfärbt wirkte, fiel ihm ins Gesicht, aber er war von den gesellschaftlichen Ereignissen im Hause der Kameliendame dermaßen in Anspruch genommen, daß er vergaß, es aus der Stirn zu streichen.

Seine linke Hand lag auf der Logenbrüstung dicht vor mir, und ich hatte Muße, sie zu betrachten. Sie war groß, weiß und langfingrig – eigentlich war sie etwas zu schön für eine Männerhand. Dabei hatte sie nichts Vornehmes, Intellektuelles oder seelisch Verfeinertes, wie sie da hell schimmernd auf dem dunklen Plüsch lag. Im Gegenteil, die Vorstellung lag nahe, daß sie flink und sicher zupacken könne. Das breite Gelenk verstärkte diesen Eindruck noch, um so mehr, als die Armbanduhr, die es trug, wiederum klein und für einen Mann fast zu zierlich war.

»Von der Freude Blumenkränzen sei mein Leben heiter durchzogen … Jeder Abend soll mich finden, wo die Lust mich taumelnd umfängt …«, sang Violetta, und ihr energisches, fleischiges Gesicht, das zugleich intelligent und hochmütig war, strafte sie Lügen. Aber wie sollte man aussehen, um solchen Unsinn singend zu rechtfertigen? Stimmlich war die Frau – eine rumänische Gastsängerin mit kompliziertem Doppelnamen – übrigens ganz hervorragend, und der Beifall, den sie nach der Arie erntete, dementsprechend stark.

Als der Applaus einsetzte, lief es wie ein Ruck durch die Gestalt meines jungen Nachbarn, der bis dahin die Sängerin ununterbrochen beobachtet hatte. Mit einem Ausdruck, als wolle er sagen: »Ach ja, natürlich …«, legte er den Operngucker zur Seite und begann selbst geräuschvoll zu klatschen.

In der Pause wandte er sich dann mit überaus liebenswürdigem Lächeln zu mir und sagte:

»Oh, verzeihen Sie, es war sehr, sehr unartig von mir! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Dabei ergriff er meine Hand mit einer etwas zu familiären Selbstverständlichkeit und küßte sie, indem er einen Namen murmelte, der wie Ronalik oder Ronecek klang. Der Handkuß selbst war ihm jedoch wiederum vollkommen gelungen. Der blonde Kopf hatte sich dabei tief hinabgeneigt, und die Lippen streiften meinen rauhen Handrücken, als gelte der Kuß einem Heiligtum.

Ich sagte: »Sedlak. Sehr angenehm …« und fühlte, daß er meinen Namen ebenfalls nicht auffaßte. Er würde ihn wohl auch nicht verstanden haben, wenn ich ihn buchstabiert hätte, denn sein Blick war wieder zum Stehparterre hinabgeglitten, wobei das linke Auge sich um den Bruchteil einer Sekunde verspätete. Die schlanke Skiläuferin gönnte uns jedoch keinen Blick mehr. Sie schien überhaupt nur noch einen Rücken zu haben.

Der junge Herr neben mir sprach unausgesetzt. Er deutete auf die Logen und nannte die Namen mehrerer Insassen. Es waren wohlbekannte, adelige Namen, mitunter auch die von Großindustriellen, Bankiers und Regierungsmitgliedern. Er schien die Leute alle – wenigstens vom Sehen – zu kennen und sprach von ihnen mit ungezwungener Lässigkeit wie von Gleichgestellten. Was er sagte, war weiter nicht bemerkenswert, nur wie er es tat, beschäftigte mich ein wenig. Es war ausgesprochener Dialekt, dessen er sich bediente, aber in jener verweichlichten, verzärtelten, nasalen Betonung, wie ihn Schauspieler benützen, wenn sie altösterreichische Aristokraten darstellen. Einer ungeschriebenen Bühnenkonvention zufolge schien man in den »höheren Kreisen« so zu reden. Ich konnte damals nicht beurteilen, inwiefern dies den Tatsachen entsprach. Die wenigen Aristokraten, die ich vom Geschäft her flüchtig kannte, bemühten sich alle, möglichst ungezwungen, sportlich und amerikanisch zu wirken, um nicht in den Verdacht zu kommen, mit dem Grafen Bobby der Anekdote verwandt zu sein.

Mein junger Gastgeber war sich dieses Gefahrenmomentes sichtlich nicht bewußt. Seine breitschultrige, knabenhafte und doch schon gedrungene Sportlerfigur wirkte amerikanisch genug. Er konnte also in Gebärde und Sprache ruhig die Merkmale seiner Kaste zur Schau tragen. Denn daß es sich bei ihm um einen Angehörigen der oberen Zehntausend handelte, stand für mich nun schon fest. Auch die wesentlich gröbere rechte Hand, die ich jetzt im vollen Lampenlicht sah, konnte an dieser Meinung nichts mehr ändern. Die beiden abgebrochenen Nägel daran und die tiefen Rillen am Daumen und Zeigefinger, aus denen trotz sorgfältiger Maniküre nicht aller Schmutz zu entfernen gewesen war, deuteten darauf hin, daß der junge Mann wohl ein Motorrad, wenn nicht gar ein Kabriolett sein eigen nannte.

Inzwischen war Traviata wieder zu Wort gekommen. Die robuste Bukaresterin mit den fleischigen Zügen opferte zuerst ihren Schmuck für den Aufwand ihres Alfredo und dann ihre Liebe selbst, um seiner unbekannten Schwester zum Eheglück zu verhelfen. Schließlich war sie, um ihren Schmerz zu betäuben, zu einem »glanzvollen Freudenfest« geeilt und dort von dem übelberatenen Geliebten eine Dirne gescholten worden. Ja, Alfred hatte sich so weit vergessen, ihr das soeben im Kartenspiel gewonnene Geld vor die Füße zu werfen. Was blieb also einer Frau vom Format der Kameliendame übrig, als an Schwindsucht zu sterben?

Die massige Rumänin saß nun in ihrem Lehnsessel. Das große, intellektuelle Gesicht war weiß gepudert, und das rosaseidene Nachtgewand mit den Spitzen paßte schlecht zu ihren lebensvollen und zielbewußten Bewegungen. Es gehörte viel guter Wille dazu, um zu glauben, daß sie der Auszehrung zum Opfer gefallen war. Aber in ihrer Gesangskunst wurde sie dem Part gerecht. Wenn man die Augen schloß und über die verlogenen deutschen Worte hinweg den so ganz wahrhaftigen italienischen Tönen lauschte, dann wußte man um den Schmerz dieses einsamen Sterbens, um den Hoffnungsstrahl beim Anblick des reumütigen Geliebten, um die Euphorie, die dem plötzlichen Tod vorangeht.

Ein leises Zucken neben mir ließ mich die Lider auftun. Da saß mein Nachbar, hielt den Gucker vor die Augen, und während er aufmerksam die Gebärden der dahinsiechenden Traviata verfolgte, liefen ihm Tränen über das Gesicht.

Alles hatte ich eher erwartet als dies. Es würde mich nicht erstaunt haben, wenn er, um so recht up to date zu erscheinen, über die schwindsüchtige Karyatide spöttelnde Bemerkungen gemacht oder, ermüdet von der langen Aufführung, wohlerzogen gegähnt hätte. Aber so unverhohlene Tränen bei einem Sportsmann? – Meine Gefühle waren zwiegeteilt. Einerseits rührte es mich, daß seine junge Seele so beeindruckbar war, daß sie die Gabe hatte, sich hinreißen zu lassen, mitzugehen. Ich mußte ihm doch wohl unrecht getan haben, als ich ihn für oberflächlich und banal hielt. Wenn er das sentimentale Libretto und die vollendet interpretierte Musik nicht genau auseinanderzuhalten wußte, so lag das vielleicht nur an seiner Jugend. Aber anderseits war es auch wieder befremdlich, zu sehen, daß er gar keine Anstalten traf, seiner Rührung Herr zu werden. Auch als der Vorhang fiel und es hell wurde, zog er nicht sein Taschentuch hervor, sondern ließ die letzten Tränen unbekümmert auf seinen Wangen trocknen. Das Weinen hatte ihn auch nicht – wie zu erwarten gewesen – zum Kinde gemacht. Wie er so dastand, heftig applaudierend, wirkte sein Gesicht mit den stark geröteten Augen und den leicht geschwollenen Unterlidern, die zukünftige Tränensäcke ahnen ließen, wie das einer nicht mehr ganz jungen Frau. Übrigens schien er meinen Blick zu fühlen, denn er richtete wieder einmal mit gewandter Bühnenweltmannsgeste das Wort an mich:

»Ich habe vergessen, Ihre Garderobe in der Pause auszulösen und hierher zu bringen. Sind Sie mir böse deswegen?«

Ich stammelte etwas wie »Durchaus nicht!« und »Ich hol’ mir schon meinen Mantel«, aber er wollte nichts davon hören.

»Sie erlauben doch, Gnädigste, daß ich Sie auch heimgeleite, wenn Sie mir schon die Freude Ihrer Gesellschaft gemacht haben«, sagte er, und ehe ich Zeit fand, die romanhafte Unnatürlichkeit dieses Satzes zu erfassen, gingen wir schon über Treppen und Gänge der Stehparterre-Garderobe zu. Im Gehen summte, ja sang mein Begleiter halblaut die Duettmelodie des letzten Aktes, während er in seinen hellen Überzieher schlüpfte.

Bei der Kleiderausgabe herrschte arges Gedränge. Er nahm mir den Nummernzettel aus der Hand und stürzte sich ein wenig zu temperamentvoll in den Menschenknäuel. Ich stand wartend neben dem Spiegel. Jemand gebärdete sich so unbekümmert beim Ankleiden, daß ich einen heftigen Stoß in den Rücken abbekam. Unwillig sah ich mich um. Es war die Marille, die jedoch keine Anstalten traf, sich zu entschuldigen. Der Blick, der dem meinen begegnete, war zu zornig, um so verächtlich auszufallen, wie er gemeint war. Das nützt dir alles nichts, schienen die Augen der jungen Frau zu sagen, du hast ja doch einen Bukkel! – Dumme Gans, mußte ich meinerseits denken. Selten hat mir mein Buckel so gute Dienste geleistet. Wie müde wäre ich jetzt, hätte ich wie sonst drei Stunden lang auf den Zehenspitzen stehen müssen, um über so gerade Schultern wie die deinen hinwegzusehen!

Aber da kam man schon mit meinem Mantel. Die Marille wandte sich brüsk ab und ging, während die Augen meines jungen Schutzherrn ihr nun mit deutlichem Triumph folgten, wobei auch jetzt das linke sich um den Bruchteil einer Sekunde hinter dem rechten verspätete.

WER BIST DU?

(Susannens Aufzeichnungen vom 13. März 1945)

Ich bin gestern nicht weit mit meiner Schreiberei gekommen. Immer wieder versinkt man in Gedanken und ertappt sich dann nach einer Viertelstunde dabei, daß man tatenlos vor seinem Schreibblock sitzt. Schließlich war ich so müde, daß ich alles liegen ließ und schlafen ging. – Und doch habe ich kaum die Hälfte meiner ersten Begegnung mit Ernstl zu Papier gebracht! Also weiter, weiter, keine Zeit verlieren!

Auf der Gasse war es empfindlich kalt – nicht anders als jetzt, da ich dies alles niederschreibe. Aber der Ring war von Bogenlampen erleuchtet und nicht von Bränden. Die Fenster der Kaffeehäuser und Geschäfte strahlten. In vielen Wohnungen brannte Licht … Heute kann ich es kaum glauben, daß dies einst selbstverständlich war.

Übrigens muß ich morgen mit Margot in den Keller hinunter, um nachzusehen, ob wir dort nicht Notbetten aufschlagen können; vielleicht die Polsterbank aus dem Vorzimmer, die ist nicht so schwer zu tragen, und das alte Feldbett, aber das muß ich noch ausbessern. Es wird Zeit, an den Keller als Lebensraum zu denken. Da wird die Petroleumlampe erst ihre Triumphe feiern! – In solchen »irdischen« Belangen ist Margot nicht mit Gold aufzuwiegen. Es war doch gut, daß ich sie zu mir genommen habe, als sie sich mit der alten Blaschka überwarf, obwohl ich es weiß Gott nicht leichten Herzens tat. Dieses Geplapper mit norddeutschem Akzent den ganzen Tag zu ertragen – zuerst im Geschäft und dann abends wieder – ist ein bißchen viel. Aber schließlich ist sie ein armer Teufel, und außerdem … hat sie dich, Ernstl, gekannt. Grund genug, sich ihrer anzunehmen. Vielleicht ist es überhaupt gut, daß ich jetzt nicht allein bin. Es wäre trostlos, hätte man in der heutigen Zeit nur an sich selbst zu denken.

Am schlimmsten wird es mit Lebensmitteln sein. Wir haben gar keine Reserven. Ich wüßte auch keinen Menschen, der uns einen Schleichhändler empfehlen könnte. – Außer Berti. Berti kennt sicher solche Leute. Aber der findet ja, die Zukunft solle für sich selber sorgen, es gebe genug Menschen, die jetzt schon hungern, und es sei nicht der Augenblick, an Kommendes zu denken, wenn man gleich helfen muß.

Übrigens hat sich Berti lange nicht blicken lassen. Seit der Aktion für die ungarischen Juden habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ob damals wohl alles glatt abgelaufen ist? Wenn er nur aus Klugheit nicht kommt, so soll es mir recht sein. Ich habe jetzt immer das Gefühl, beobachtet zu werden, und was ihn betrifft, so ist gar nicht daran zu zweifeln, daß man ihn bespitzelt. Hoffentlich liegt kein ernsterer Grund für sein Fernbleiben vor. Diese Pfadfindernaturen, die meinen, jeden Tag etwas Edles tun zu müssen, geben immer neuen Stoff zur Beunruhigung. Manchmal glaubt man schon zu wissen, was in ihnen vorgeht, und dann steht man wieder vor einem Rätsel. Was riskiert Berti nicht täglich für die anderen! Und dabei liebt er die Menschen durchaus nicht. Im Gegenteil, er verachtet sie. Eigentlich hat er ja auch dich verachtet, Ernstl. Und doch kann ich ihm deswegen nicht zürnen, denn erstens hatte er recht, und zweitens hat ihn die Kenntnis deiner Schwächen nicht gehindert, dein Freund zu sein. – Oder nennt man so etwas nicht Freundschaft?

Ich bin vom Thema abgekommen und doch wieder nicht, denn alle Umwege führen zu dir. Margot und Berti – sie gehören ja auch mittelbar zu deinem Vermächtnis wie meine eigenen Erinnerungen an dich.

Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, also wir gingen den Ring entlang bis zur Bellaria. Dort gedachte ich in den 49er einzusteigen, um meinen Beschützer auf taktvolle Weise loszuwerden. Ich hüllte mich warm in meinen neuen Wollmantel, den ich mir nach langem Sparen und Rechnen erst gegen Ende des Winters beim Räumungsverkauf erstanden hatte. Ein Blick zur Seite genügte mir, um festzustellen, daß meines Begleiters Mantel – ein heller, nicht ganz sauberer Trenchcoat – für die Jahreszeit zu leicht und überdies etwas schadhaft war. Das bildete einen merkwürdigen Widerspruch zu der tadellosen Paßform seines schwarzen Sakkos und der graugestreiften Hose.

Wahrscheinlich wohnte der junge Mann allein in Wien und ging hier seinen Studien nach. Vielleicht war er der Sohn eines Gutsbesitzers oder eines in der Provinz lebenden Industriellen. Jedenfalls schien sich hier niemand um ihn zu kümmern. Man ließ ihm freie Hand in der Dosierung der bequemen Lebensgewohnheiten eines Studenten innerhalb der selbstverständlichen Ansprüche eines Jünglings aus reichem Haus.

Worüber sprachen wir? Natürlich über Traviata. Der junge Mann fand alles herrlich: die Aufführung, die Sänger, die Oper. Sein Enthusiasmus freute mich. Anscheinend hafteten dem Sprecher weder die Blasiertheit noch das Banausentum an, für die junge Leute aus begüterten Kreisen so anfällig sind.

Ich beeilte mich daher, ihn in seiner günstigen Meinung zu bestärken. Das fiel mir nicht schwer, da ja die Aufführung besonders geglückt gewesen war. Nur bezüglich des Librettos erlaubte ich mir einige Bedenken, indem ich sagte, man könne es heutzutage kaum noch begreifen, daß gesellschaftliche Vorurteile solcher Art zum Trennungsgrund für Liebende werden konnten.

Der junge Mann sah mich erstaunt an.

»Wieso?« fragte er. »Aber bedenken Sie doch, Alfred ist ein Baron, und sie, die Violetta … Er muß doch Rücksicht nehmen auf seine Familie, auf die Schwester, den Vater. Oh, ich kann mich am besten in den Vater hineindenken. Das ist ein wirklicher Gentleman. Aber ich wäre wohl noch strenger zu meinem Sohn.«

War es taktlos von mir gewesen, dies Thema zu berühren? Nun, wenn ja, dann war es doch auch ein wenig unfein und anmaßlich von ihm, seinen Klassendünkel mir gegenüber, die er doch unmöglich für eine Gleichgestellte halten konnte, so zu betonen. Jedenfalls war ich nun nicht gewillt, meinen Standpunkt aufzugeben.

»Da hätten Sie unrecht«, sagte ich, »und bis Sie einmal Ihrem Sohn gegenüber in eine solche Lage kommen, werden Sie Ihre Meinung sicherlich noch revidiert haben. In Ihren Jahren laufen Sie übrigens weit eher Gefahr, die Rolle Alfreds zu spielen.«

Ich konnte mir den strengen Ton erlauben, vor allem weil ich älter war, dann aber auch meines Buckels wegen, der mich von vornherein von jeder subjektiven Anteilnahme ausschaltete.

Er sah mich einen Augenblick an, ehe er antwortete: »Ich hab ja gar keinen Vater … Das heißt, ich hab längst keinen mehr!« setzte er überstürzt hinzu, als bedürfe der erste Teil seines Satzes einer Erläuterung.

Ich ließ nicht locker. »Was würden Sie dazu sagen, wenn man Ihnen einfach die Zukunft zerstörte, um Ihrer Schwester zu einem sehr zweifelhaften Eheglück zu verhelfen?«

»Meine Schwester?« verwunderte er sich. »Die kriegt bestimmt keinen Mann mehr … Wer redet von uns? Aber in diesen Kreisen hat man doch etwas Höheres, wofür man sich einsetzen muß, als Liebe …«

In diesen Kreisen? dachte ich. Das klingt nicht so, als ob er dazugehörte. Sollte ich mich getäuscht haben?

Aber warum verteidigt er dann den Standpunkt dieser Kreise?

»Ich wüßte nichts Höheres als die Liebe«, sagte ich streng und fühlte, daß meine Worte abgeschmackt und biedermännisch klangen. Dem jungen Mann schien das nicht aufgefallen zu sein. Er war durch meine Unerschütterlichkeit ins Wanken gekommen.

»Vielleicht haben Sie recht. Aber schauen Sie, es gibt doch auch andere Rücksichten … gesellschaftliche, meine ich. Ein guter Name, ein Stammbaum … solche Dinge verpflichten doch.«