Inhalt

Sechs Jahre, neun Monate und sechs Tage

23. Mai 2018

Am Strand von Malia

17. August 2011

Krisenintervention und andere Hindernisse

24. – 25. Mai 2018

Opfer oder Täter?

Malia, 18. – 20. August 2011

Ausgerissen

27. – 29. Mai 2018

Im Scheinwerferlicht

20.–26. August 2011

Zum Wohle aller

30. Mai – 12. Juni 2018

Zurück ohne Lisa

8. September – 26. Oktober 2011

Familientherapie

27.–11. Juli 2018

Talfahrt

30. Oktober – 30. Dezember 2011

Wachsende Gefühle

17.–22. Juli 2018

Tiefe Schnitte

17. Februar – 15. April 2012

Lea und die Liebe

2.–23. August 2018

Umzug nach Österreich

11. August 2012 – 23. Oktober 2013

Wie eine Gefangene

24. August – 6. September 2018

Trunkene Schritte

13.–15. November 2014

Ein Anruf aus der Schweiz

20.–21. Oktober 2018

Matteo aus der Bibliothek

26. Juni – 15. Dezember 2015

Die Mitwisserin

7. November 2018

Ein Kind in Genua

21. März 2018

Neue Perspektiven

19. Januar – 23. Mai 2019

 

Carolin Schairer

MEERES
SCHWESTER

Roman



Ulrike HELMER Verlag

 

 

ISBN (eBook) 978-3-89741-946-9

ISBN (Print) 978-3-89741-434-1

© 2019 eBook nach der Originalausgabe

© 2019 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. Darmstadt
Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL
unter Verwendung des Fotos »Thailand Kho Phangan Bay Zusammensetzung
eines blauen Goldes« © Ikpro_photocase.de

Ulrike Helmer Verlag

Blütenweg 29, 64380 Roßdorf b. Darmstadt

E-Mail: info@ulrike-helmer-verlag.de

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

Sechs Jahre, neun Monate
und sechs Tage

23. Mai 2018

Lisa trägt Shorts und ein billiges grünes Trägerhemd mit Mickymaus-Aufdruck. Sie sitzt auf einem Holzstuhl, die Hände vor der Brust verschränkt, und starrt uns aus kalten, blauen Augen unverwandt an. Mit diesem Blick, dem ovalen Gesicht und seinen weichen, kindlichen Zügen sieht sie aus wie das sehr junge Ebenbild von Eva. Sie ist schlank, feingliedrig und relativ groß für eine Elfjährige. Das blonde Haar fällt ihr offen und in leichten Wellen über die Schultern.

Auch Eva hat ihr Haar lang getragen, damals, als Papa, Lisa, sie und ich noch eine Familie waren. Sechs Jahre, neun Monate und sechs Tage hat Eva darauf gewartet, dass ihre Tochter wiedergefunden wird. All diese zermürbenden Jahre über hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der Lisa gedanklich längst begraben hatte. Während er sich nur mehr auf seine Karriere konzentrierte, hat meine Stiefmutter Eva allein der feste Glaube an ein Wiedersehen davon abgehalten, sich ihrer Verzweiflung völlig zu ergeben.

Jetzt steht Eva angespannt neben mir. Trotz der hohen Absätze wirkt sie wie ein Sprinter am Start. Ihre Augen sind starr auf das Mädchen gerichtet. Da ich dicht neben ihr stehe, kann ich ihre Nervosität fühlen. Sie wartet auf das Zeichen, auf irgendeine Anweisung, eine Reaktion.

Doch nichts passiert.

Die zwei italienischen Polizeibeamten in Zivil scheinen angesichts der Szene, die sich ihnen in diesem Genueser Büro bietet, überfordert. Auf der einen Seite die elegante Frau Mitte vierzig, die ein geblümtes Sommerkleid trägt und mit leicht zitternden Händen das Ende ihres Chiffonschals knetet – auf der anderen dieses Mädchen, das ihr so frappierend ähnlich sieht und unruhig auf dem Stuhl herumrutscht. Es fühlt sich sichtlich unwohl und schaut Eva an wie eine Fremde, von der es nichts Gutes erwartet.

»Lisa … Liebling«, bricht es nun aus Eva hervor. Sie macht einen schüchternen Schritt auf das Mädchen zu. Feindseligkeit flackert im Blick der Kleinen auf. Wie angewurzelt bleibt Eva stehen. Hilflos sieht sie mich an, als erwarte sie von mir eine Lösung. Ich wünsche mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dass mein Vater bald zu uns stößt. Natürlich hatten wir ihn sofort benachrichtigt, als das Amt anrief, bei der unser Fall aktenkundig ist.

Wie immer bei Anrufen dieser Art buchte Eva den schnellstmöglichen Flug. Und wie bei den Malen zuvor blockierte die Skepsis jede Erwartung in mir. Auch dieses Mädchen würde wieder nicht meine Schwester sein.

Vor rund einer Stunde sind wir in Genua gelandet und fuhren sofort auf das Inspektorat, zu dem man uns bestellt hatte. Mein Vater konnte seine Anreise nicht so zügig organisieren – als der Anruf kam, saß er gerade in einem internationalen Meeting in der Nähe von New York. Zudem rechnet sicherlich auch er diesmal wieder mit einer Enttäuschung.

Während er inzwischen bestenfalls im Flieger sitzt, weiß Eva bereits: Diesmal ist es wirklich Lisa. Sie weiß es. Das Mädchen dort auf dem Stuhl ist ihre Tochter und nicht irgendein anderes verschwundenes und wiedergefundenes Kind.

Eine Enttäuschung gibt es trotzdem: Lisa hat uns vergessen. Der Schock und die Desillusion, dass die Elfjährige nicht aufspringt und ihr vor Wiedersehensfreude um den Hals fällt, steht Eva ins Gesicht geschrieben. Sie sucht nach meiner Hand. Als sie mich berührt, fühle ich den kalten Schweiß auf ihrer Handfläche. Die naive Hoffnung, dass mein Vater in der nächsten Sekunde dieses Zimmer betritt, in dem die Luft trotz des leise surrenden Deckenventilators beinahe steht, wird drängender – auch wenn ich vor ein paar Wochen einundzwanzig geworden bin.

»Signora Dahlen, bitte kommen Sie nach nebenan.«

Das Deutsch des älteren der beiden Beamten ist gut, wenngleich er mit unverkennbar italienischem Akzent spricht. Tomaso Rossi. Ja, das war sein Name. Er macht eine ausladende Geste in Richtung des Nebenzimmers.

»Nein, nein!«

Panik flackert in Evas Augen auf. Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, welche irrationale Furcht in ihr aufkeimt: Kaum hat sie Lisa gefunden, wird sie auch schon wieder von ihr getrennt! Sie kann in diesem Moment nicht klar denken, will die Ablehnung in den blauen Kinderaugen nicht wahrhaben. Eilig huscht sie hinüber, schlingt ihre Arme um das Mädchen und lässt einen heftigen Wortschwall auf es niederprasseln.

»Liebes, Lisa … mein Engel! Ich bin’s … Mama! … Mäuschen! Alles wird gut …«

»No!«

Eine Kinderhand fährt ihr ins Gesicht. Reflexartig weicht sie zurück, aber da haben die Fingernägel des Mädchens schon blutige Striemen an ihrer linken Wange hinterlassen. Tränen glitzern in Evas Augen, doch der Schmerz hat nichts mit den Kratzern zu tun. Ich sehe ihr an, dass sie versucht, ihn zu unterdrücken. Vor Fremden Emotionen zuzulassen, fällt ihr seit jeher schwer. Die Mutter mit dem Herz aus Eis, hatten die Medien sie deshalb zeitweise genannt.

Während Eva mit einem Taschentuch ihre Augen abtupft und Tomaso Rossi offenbar nach den richtigen Worten sucht, springt das Mädchen auf und rennt an uns vorbei zur Tür. Der jüngere Beamte begreift ihr Vorhaben, stellt sich ihr in den Weg. Er hält das Kind an den Schultern fest, während es heftig um sich schlägt und aufgebracht schreit.

Unser Italienisch ist alles andere als perfekt, reicht aber aus, um zu begreifen, dass das Mädchen weder Deutsch spricht noch irgendwelche Sympathien für uns hegt.

»Voglio andare dalla mia mamma!«, wiederholt die Kleine stetig, und allen in diesem Raum ist klar, dass damit nicht Eva gemeint ist. Sie ist die fremde Frau, die verschwinden soll.

Da verliert Eva die Fassung. Das Gesicht in den Händen verborgen, weint sie hemmungslos.

Das Mädchen hat sich auf den abgewetzten Linoleumboden sinken lassen und schluchzt ebenfalls herzzerreißend. Der zierliche Körper bebt. Ein Geräusch lässt meinen Blick zum offenen Fenster wandern. Eine Taube ist herangeflattert, stakst auf dürren Beinchen übers Fensterbrett und linst neugierig ins Zimmer. Tomaso Rossi macht einen Schritt in ihre Richtung und verscheucht sie mit einer radikalen Handbewegung.

Ich sehe sie davonfliegen und wäre gern an ihrer Stelle.

Dann spüre ich, dass Rossi mich ansieht, und ich hebe den Kopf. Zunächst will ich es gar nicht glauben, denn auf seinen breiten Lippen zeichnet sich ein Lächeln ab. Mitten in dieser todtraurigen Szene steht dieser italienische Beamte da und amüsiert sich! Als er meine Irritation bemerkt, deutet er mit dem Kinn zunächst auf die weinende Eva, dann auf das Kind.

»Sehen Sie.«

Und dann sehe ich es wirklich: Die Kleine hält ihr Gesicht in derselben Art und Weise vergraben wie Eva – mit grotesk abgewinkelten, schlanken Fingern. Meine letzten Zweifel treten den Rückzug an. Es ist Lisa. Muss Lisa sein. Nach sechs Jahren, vier Monaten und dreiundzwanzig Tagen ist sie wieder da.

Ich sollte glücklich sein.

Doch stattdessen fühle ich nichts außer Leere.

*

Die dunklen Augenringe meines Vaters verraten mir, dass er auf der mehrstündigen Flugreise von New York nach Genua nicht geschlafen hat. Einmal hat er umsteigen müssen, mit zwei Stunden Aufenthalt. Er wirkt erschöpft und angespannt, strahlt weder Hoffnung noch Freude aus, allenfalls diese resignierte Gleichgültigkeit, die ihm seit Jahren wie ein Schatten folgt.

Ein flaches »Hallo« kommt ihm dabei über die Lippen, als er sich mit Trolley und Laptoptasche an mir vorbei in die Suite des Altstadt-Hotels drängt. »Wo ist Eva?«

Er stellt das Gepäck auf dem Parkettboden ab und entledigt sich seines dunklen Sakkos. Achtlos wirft er es über die Lehne des ausladenden Polstersessels im Wohnbereich der Suite.

»Eva liegt nebenan im Bett«, kläre ich ihn auf, als er sich suchend umblickt – fast so, als vermute er sie unter dem Ledersofa oder hinter der altmodischen Stehlampe. »Sie hat Schlafmittel genommen. Ich glaube nicht, dass …«

»Also wieder ein Fehlschlag«, zieht mein Vater seine eigenen Schlussfolgerungen. Er sinkt in das Sofa. Sein hellblaues Hemd hat Schweißflecken. Während er die Krawatte lockert, fährt er mit unüberhörbarem Sarkasmus fort: »Ist ja alles kein Problem. So ein Vertriebsmeeting mit hundertfünfzig Topmanagern ist ja nicht so wichtig, das kann jederzeit neu organisiert werden. Und es macht ja auch den besten Eindruck, wenn man ständig wegen irgendwelchem Familienkram fehlt!«

Er hätte mich ausreden lassen sollen. Dann wüsste er jetzt, dass es Lisa ist! Dass Eva diesmal nicht aus Gewohnheit ihre Schlaftabletten eingeworfen hat, sondern weil in ihr die Ungeduld tobt! Sie will ihr Kind mitnehmen, jetzt und sofort, und hält es kaum aus, dass man ihr genau dies untersagt hat.

Ich könnte ihm ein Foto seiner Tochter zeigen und von dem Gespräch mit der Dame von der Kriseninterventionsstelle berichten, die von den italienischen Behörden zur Betreuung unseres Falles hinzugezogen wurde. Doch so sitzt der Mann, der früher mit uns Sandburgen gebaut hat und ausgelassen in einem Baumhaus herumgetobt ist, mit grimmigem Gesichtsausdruck vor mir und ist gedanklich noch immer bei seinem Meeting.

»Wegen nichts breche ich also diese Konferenz ab und schicke die ganzen Topmanager nach Hause! Noch so eine Aktion, und der Konzern wird mich nach Kasachstan versetzen! Ich habe eure Hirngespinste allmählich satt«, sagt er schließlich, ohne mich anzusehen. »Lisa ist tot, begreift das doch endlich!«

Dass er mir nicht zuhört, kränkt mich. Noch schlimmer finde ich aber, dass er mich immerzu mit Eva in einen Topf wirft. Nur weil ich mich all die Jahre nicht hinter ihn gestellt und lautstark in die Welt hinausgeblasen habe, Lisa sei tot, sieht er mich automatisch auf Evas Seite.

»Papa, Lisa lebt! Diesmal ist sie es wirklich!«

Meine Stimme zittert leicht; ich weiß nicht einmal, wieso. Erst als ich mit der Hand durch meine störrischen Locken fahre, wird mir bewusst, wie nervös ich bin. Die Erlebnisse des Tages haben mich wohl doch mehr mitgenommen, als ich mir eingestehen will.

»Unsinn, Lea!« Mein Vater macht eine abfällige Handbewegung. »Woher wollt ihr das wissen? Gab es schon einen DNA-Test? Wenn nicht, interessiert es mich nicht. Dann sind das nichts als unbewiesene Behauptungen!«

»Der DNA-Test ist in Auswertung.« Ich stehe noch immer vor ihm und merke, wie abweisend er ist. »Aber glaube mir, auch ohne Test …«

»Ich will Tatsachen, bewiesene Tatsachen. Ich habe genug von allem anderen!« Sein Gesicht verfärbt sich. In letzter Zeit zeigt sich dieses ungesunde Rot sehr oft – wenn er einen seiner Mitarbeiter über das Telefon maßregelt, beispielsweise, oder wenn er an der Tankstelle warten muss.

»Ohne DNA-Test –«, setzt er erneut an und bricht ab, denn ich halte ihm das Foto unter die Nase, das die italienische Polizei von Lisa gemacht hat. Fassungslos starrt er das Bild an.

»Wo … wie … hat man sie gefunden?«

Seine Stimme klingt heiser. Langsam, ganz langsam, nimmt er den Blick von der Aufnahme und sieht mich an. Es kommt mir in diesem Moment vor, als würde er mich das erste Mal seit seiner Ankunft wirklich wahrnehmen.

»Es gab einen Autounfall auf einer Schnellstraße bei Genua. Eine Frau wurde dabei schwer verletzt. Über sie stieß man auf Lisa«, setzte ich ihn von dem in Kenntnis, was uns die italienische Polizei berichtet hatte. »Sie haben die Vermisstendatei durchsucht. Das Phantombild, wie Lisa jetzt aussehen könnte, hat es ziemlich genau getroffen. So kam der Stein ins Rollen.«

»Ist ihr … Ich meine, wurde sie … misshandelt?« Die Angst, dass Lisa Opfer eines Pädophilenrings geworden sein könnte, hat meine Eltern nie losgelassen.

»Nein, Papa. Es gibt keinen Hinweis darauf«, beruhige ich ihn. »Nichts Körperliches jedenfalls. Sie wirkt ganz normal … so, als wäre sie glücklich gewesen.«

»Glücklich?«

Ungläubigkeit und leichtes Entsetzen schlagen sich in seinen Gesichtszügen nieder. Er erhebt sich schwerfällig, geht zur Minibar. Mit einem Plop öffnet er eine Flasche Bier und kehrt damit zum Sofa zurück.

»Glücklich«, wiederholt er und nimmt einen tiefen Schluck. Dann stellt er sie abrupt auf den gläsernen Couchtisch. »Überhaupt – was ist das für eine unsinnige Geschichte? Eine Frau hatte einen Unfall, und über sie stieß man auf Lisa? Da fehlt jeder logische Zusammenhang!«

Bei seinem rüden Tonfall zucke ich unwillkürlich zusammen.

»Das war die Kurzversion«, verteidige ich mich und will zu einem längeren Bericht ansetzen, als sich die Türe zum Schlafzimmer öffnet. Eva kommt heraus, das Haar verdrückt, die Augen noch immer müde. Die langen, schlanken Beine unterm T-Shirt sind so blass wie das Gesicht. Seit Lisas Verschwinden hat sie immer die Sonne gemieden, fast so, als wolle sie sich die innere Kälte bewahren.

»Unser Kind ist wieder da«, sagt sie anstelle einer Begrüßung. Ein noch vom Schlafmittel sediertes Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen.

Mein Vater erhebt sich, geht auf sie zu. Die beiden umarmen sich kurz. Das Küssen haben sie schon lange vor ihrer Trennung aufgegeben.

»Nun, hier im Hotel ist sie aber nicht. Wenn alles so eindeutig ist – warum, bitteschön, habt ihr sie nicht gleich mitgenommen?«

Evas Lächeln erlischt. Einen Moment lang fürchte ich, sie könnte wieder zu weinen anfangen, und verspüre den Drang, meinen Vater einfach an den Schultern zu packen und kräftig zu schütteln. Natürlich tue ich das nicht. Allein meine Statur – ich bin eins sechsundfünfzig groß und wiege siebenundvierzig Kilo – macht das unmöglich.

»Die wollen sie uns nicht mitgeben!«, platzt es währenddessen schon aus Eva heraus. »Sie sitzt in einem Kinderheim fest, und wir dürfen sie nur unter Aufsicht sehen!«

»Wie bitte?« Mein Vater runzelt die Stirn. »Da sollten wir besser gleich Harry einschalten.«

Schon zückt er das Handy. Ich höre, wie er Harald Zellweger, seinen Jugendfreund und Anwalt, über Lisas plötzliches Auftauchen informiert und um Beistand im Umgang mit den italienischen Behörden bittet. Danach informiert er Eva, wozu ihm Harry geraten hat.

Ich stehe dabei und komme mir wieder einmal vor wie eine Statistin. Warum fragt eigentlich nie jemand, was ich dazu meine? Ich gebe mir die Antwort selbst: weil ich quasi unsichtbar bin. Das war noch nie anders und wird sich auch nicht ändern.

 

Am Strand von Malia

17. August 2011

Der Himmel war klar und wolkenlos. Die Sonne schien. Das Rauschen des Meeres vermischte sich mit den Rembetika-Rhythmen aus der Taverne hinter uns und sorgte für eine klangvolle Untermalung des gesamten Szenarios: Im Wasser zahlreiche Köpfe, zwei Jungs um die zwanzig, die mit einem Softball spielten, am Strand drei Reihen Liegen und Sonnenschirme. In Reihe zwei, links am Rand, hatten wir unser temporäres Quartier bezogen.

Eva lag bäuchlings auf einer der Liegen im Schatten und blätterte in einer Modezeitschrift aus Hochglanzpapier. Ihr Bikini-Oberteil hatte sie mit einer überdimensionalen Wäscheklammer am Schirm befestigt; es wehte wie eine kleine schwarze Fahne im Wind. Ihr Tanga offenbarte mehr, als er verbarg. Meine Stiefmutter hatte mit ihren fast vierzig Jahren eine phantastische Figur und war sich dessen durchaus bewusst.

Papa war gerade aus dem Wasser gekommen. Er trocknete sich kurz mit einem der gelben Hotelhandtücher ab, ehe er sich auf die Liege legte, die in der prallen Sonne stand. Seine Haut war bereits tiefbraun. Mit seinem dunklen Haar wurde er oft für einen Einheimischen gehalten.

Lisa, meine vierjährige Schwester, hatte sich direkt neben mir niedergelassen und füllte feuchten Sand in bunte Plastikförmchen. Aus ihrer roten Gießkanne verteilte sie immer wieder großzügig Salzwasser. Allmählich entstand direkt vor meiner Liege eine schlammige Pfütze. Super!

Als die Gießkanne leer war, lief Lisa zum Meer und füllte sie erneut. Ihr rot-weiß gepunkteter Badeanzug leuchtete von weitem. Plötzlich fiel ihr Sonnenhut ins Wasser, wurde prompt von einer Welle erfasst und ins Meer gezogen. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Lisa ihm hinterherlaufen. Und genau das wäre wohl der Moment gewesen, in dem ich hätte aufstehen und schnellstmöglich eingreifen sollen. Denn Lisa trug keine Schwimmflügel.

Doch ich war einfach nur genervt, nicht bloß von der Pfütze vor meiner Liege, sondern von einfach allem hier. Es pisste mich an, dass ich wieder einmal die einzige war, die Lisas Ausflug ans Meer überhaupt mitbekommen hatte. Papa schnarchte jetzt auf seiner Sonnenliege und Eva hatte sich in einen Artikel über Slow Food vertieft. Ich war doch nicht Lisas Babysitterin!

Ein Mann, der seinen Sohn im Schwimmreifen über die Wellen schob, kam unerwartet zur Hilfe, grabschte sich den Hut und drückte ihn Lisa über, die knietief im Wasser stand. Die Gießkanne in der einen, den Hut in der anderen Hand, rannte sie über den heißen Sand zurück. Bei uns angekommen, klatschte sie das nasse Stück auf meine Liege – mitten auf mein aufgeschlagenes Buch über die dramatische Flucht eines afghanischen Jungen, das mir Eva vor dem Abflug geschenkt hatte.

Nicht, dass ich dem Roman viel abgewinnen konnte. Ich las mit meinen vierzehn Jahren längst keine Jugendbücher mehr. Doch als Lisa sich nun wieder ihren Wasserspielchen zuwandte und dabei den Inhalt der Gießkanne voll über meine nagelneuen Flipflops mit den aufgedruckten Flamingos kippte, rastete ich aus.

»Spinnst du? – Pass doch auf!«, fuhr ich sie an und riss ihr die Kanne aus der Hand. Ein paar Sekunden starrte sie mich aus ihren großen blauen Augen an. Dann begann sie zu heulen und lief zu ihrer Mama, die sich aufgesetzt hatte. Eine steile Falte prangte auf Evas Stirn. Sie warf mir einen unfreundlichen Blick zu, während sie Lisa hochhob und tröstend in den Arm nahm.

»Was ist denn passiert, mein Schätzchen?«

»Ich hab das Wasser über Leas Schuhe gekippt.«

Zumindest war sie ehrlich, schniefte dabei jedoch so herzzerreißend, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst.

»Mensch, Lea!« Ich erntete einen zweiten unfreundlichen Blick. »Lisa hat das doch nicht absichtlich gemacht! Und überhaupt – was regst du dich auf? Das sind Plastikflipflops!«

»Sie hat auch ihren nassen Hut –«, setzte ich an, wurde aber von einer sonoren Stimme unterbrochen.

»Himmel noch mal, was zankt ihr denn schon wieder?« Papa war aus seinem Sonnenschläfchen aufgeschreckt. »Lea, deine Schwester ist zehn Jahre jünger als du! Jetzt genieß einfach mal unseren Urlaub, anstatt dich wegen Kleinigkeiten aufzuregen!«

Sein Blick fiel auf Lisa, deren Tränen wieder versiegt waren, und es klang gleich viel freundlicher, als er neu ansetzte: »Jetzt habt euch wieder lieb, ihr beiden Streithähne! – Und wenn der Papa dann ausgeschlafen hat, kauft er euch ein Eis!«

Das Versprechen verfehlte nicht seine Wirkung. Zumindest nicht bei Lisa. Ein Lächeln erhellte ihr Kindergesicht.

»Ein Eis!«, wiederholte sie begeistert. »Ein Erdbeereis?«

»Klar. Oder ein Schokoeis. Oder ein Bananeneis. Oder ein Nusseis. Oder ein Vanilleeis. Oder ein …«

Ich konnte es nicht mehr hören.

»Ja, Papa, schon kapiert! Lisa kriegt ein Eis, egal welche Sorte. Ich glaube, sogar sie hat es begriffen!«

»Jetzt sei doch nicht so gereizt!« Er klang eher verwundert als verärgert. »Was ist denn mit dir los, Lea? Warum bist du denn gleich auf hundertachtzig? Seit wir hier sind, bist du schlecht drauf! Ich versteh das nicht. Es ist so schön hier – die Sonne, das Meer, der Strand. Ich hatte das alles nicht, als ich in deinem Alter war! Wenn meine Eltern mit Rolf und mir mal irgendwo an einem See gezeltet haben, war das für uns schon der Hit!«

Diese Tirade schon wieder. Wenn Papas Vorträge mit »Ich hatte das alles nicht« begannen, klappte ich inzwischen schon die Ohren ein. Was konnte ich dafür, dass seine Eltern damals ihr Erspartes lieber in ein ödes Reihenhaus in einem Kaff bei Oberhausen steckten als in Ferienreisen?

Ich drehte mich weg und dachte an Tina und Nicki, meine besten Freundinnen, die derzeit auf einer Abenteuertour mit ihrer Pfadfindergruppe sein durften, während ich zum Familienurlaub verdammt worden war.

»Jetzt sei nicht so unzufrieden, Lea.« Papa gab nicht auf. »Wenn dir so langweilig ist, dann geh doch rüber zum Volleyballfeld und frag, ob du mitspielen darfst! Vielleicht lernst du ja nette Leute kennen.«

Ich hatte überhaupt keinen Bock auf Volleyball. Ich war schon in der Schule so schlecht in Ballspielen, dass ich beim Zusammenstellen einer Mannschaft immer als Letzte auf der Holzbank saß. Mehr Demütigung ging nicht.

Warum ausgerechnet Papa sich wunderte, dass ich unzufrieden war, wunderte mich nun wirklich. Schließlich war er derjenige gewesen, der mich hierher nach Griechenland gezwungen hatte, während die meisten aus meiner Klasse irgendwas Cooles unternahmen – ohne ihre Eltern.

Unsere Diskussionen im Vorfeld hatten zu nichts geführt. Darauf, dass ich mich mit meinen vierzehn Jahren zu alt für Familienferien fühlte, war mein Vater überhaupt gar nicht eingegangen. Stattdessen hielt er mir entgegen, dass er momentan bei seiner Firma mehr eingebunden ist, weshalb er seine Familie nicht mehr so oft sähe. Alles, was er während des Jahres mit uns verpasste, müsste er im Urlaub nachholen.

Was genau das sein sollte, fragte ich mich nun schon zwei Tage lang. Denn seit unserer Ankunft lag er die meiste Zeit nur schnarchend auf der Sonnenliege. Abends, wenn er ausgeschlafen hatte, nervte er in der Taverne herum, weil er mir ständig irgendwelches Fleischzeug aufdrängen wollte, obwohl ich doch vor den Ferien beschlossen hatte, Vegetarierin zu werden.

»Himmel, das kann ja wohl nicht wahr sein!« Eva stützte sich auf ihre Unterarme und wandte sich an Papa. »Kannst du dir das vorstellen: Irene Reinisch übernimmt die Redaktionsleitung vom Deutschland-Magazin!«

Ihrem Tonfall war klar zu entnehmen, dass sie die Frau, über deren Erfolg sie offenbar gerade in ihrer Frauenzeitschrift gelesen hatte, für eine komplette Fehlbesetzung hielt. »Ausgerechnet die!«

Papa gab ein kleines Grunzen von sich und drehte sich in ihre Richtung. »Noch nie von der gehört«, sagte er, und es klang, als wäre das Thema für ihn damit erledigt.

»Ach, natürlich! – Reinisch – Irene Reinisch! Das ist die, die letztes Jahr am Presseball bei uns am Tisch saß! Die mit den dunklen Haaren und dem Überbiss!«

»Kann mich nicht erinnern.«

Eva ließ nicht locker. »Die mit ihrem Journalistenpreis so angegeben hat – die, die über diesen Chemieskandal in Ungarn berichtet hatte und dann am Tisch mit dir über Rotschlamm diskutieren wollte! Du hast dich danach im Hotel noch über ihr dürftiges Fachwissen aufgeregt und dich gefragt, wie so jemand auch noch einen Preis gewinnen kann!«

»Ach ja … dieeee.«

Mein Vater hatte die Begegnung anscheinend komplett verdrängt, fügte aber dennoch hinzu: »Mit dem Überbiss ist sie jetzt also beim Fernsehen. Was es nicht alles gibt.«

»Darum geht es doch nicht. Sie steht ja sowieso nicht vor der Kamera!« Eva schlug die Zeitschrift zu. »Es geht darum, dass sie total unqualifiziert ist! Den Preis hat die damals auch nur bekommen, weil sie mit einem der Jurymitglieder …! Jeder in der Branche weiß das. – Ich meine, die hat nicht mal eine journalistische Ausbildung! Die ist da irgendwie reingerutscht!«

»Schatz, was regst du dich so auf? – So viel Spaß bringt ihr neuer Job sicher nicht mit sich. Deutschland-Magazin … das klingt schon so unerotisch! Nach öden Politikern und staubtrockenen Themen.«

»Zumindest anspruchsvoller, als Promis über ihren erlesenen Einrichtungsgeschmack zu befragen und dabei genau zu wissen, dass alles von irgend so einem Innenausstatter-Guru stammt!«

Sie hatte den letzten Satz etwas zu laut ausgesprochen. Das Ehepaar schräg hinter uns, das zuvor noch in die Bild-Zeitung vertieft gewesen war, sah neugierig herüber und steckte tuschelnd die Köpfe zusammen. Offenbar hatten sie meine Stiefmutter als die Frau aus dem Fernsehen erkannt, die einmal die Woche am späteren Nachmittag ein Wohn-Magazin moderierte. Es kam öfter vor, dass Leute Eva anstarrten oder gar auf der Straße ansprachen. Sogar in der Taverne gestern Abend hatte bereits eine deutsche Touristin um ein Autogramm gebeten.

»Ach, Eva.« Mein Vater seufzte. »Denk doch mal an die Vorteile: Du verdienst genauso viel wie ich, hast aber nur zweieinhalb Tage pro Woche zu tun. Meistens dreht ihr an wirklich schönen Orten«, er senkte die Stimme, »zum Beispiel in der Finca dieses schwulen Sängerpaares auf Mallorca … und die Produktionsfirma sitzt in Schwabing zehn Minuten zu Fuß von uns entfernt! Idealer kann es nicht sein. Zumindest, solange Lisa noch klein ist. Wenn sie mal so alt ist wie Lea, kannst du ja richtig durchstarten – wenn du das noch immer willst.«

»Dann bin ich fast fünfzig. Ideal für eine Fernsehkarriere!«, bemerkte Eva sarkastisch. »Mal im Ernst: Da will mich doch keiner mehr!«

»Also, ich will dich immer.«

Mein Vater lehnte sich über die Lücke zwischen ihren beiden Liegen und wollte sie küssen, doch sie wich ihm unwillig aus.

»Kann man mit dir nicht ein Mal ernst reden?«

»Doch.« Er rollte sich wieder zurück. »Aber nicht im Urlaub. Das sind doch überflüssige Diskussionen. Ich finde dich toll, und ich bin sicher, du wirst deine Chance auf Gehaltvolleres bestimmt noch kriegen!«

»Na, dann.«

Für ein paar Sekunden wirkte Eva gekränkt. Dann aber griff sie erneut zu der Zeitschrift und vertiefte sich darin. Die kleine Stirnfalte blieb.

Die Reaktion war klassisch für sie und regte mich echt auf. Bei Meinungsverschiedenheiten mit Papa gab sie immer irgendwann klein bei und zog sich zurück. Warum eine selbstständige und beruflich erfolgreiche Frau wie sie nie dafür kämpfte, sich durchzusetzen, verstand ich einfach nicht. Letztendlich entschied immer Papa: über das Urlaubsziel, über das Restaurant, in dem wir essen gingen, über den Kindergarten, in den Lisa geschickt wurde, und auch darüber, dass wir alle den Hausarzt wechselten, weil unserer ihn nicht rechtzeitig an die Tetanus-Auffrischung erinnert hatte. Dass der Rest der Familie mit dem Arzt zufrieden war, spielte keine Rolle.

In meinen Augen war Eva der Star in unserer Familie, nicht Papa. Er hatte nur diesen langweiligen Manager-Job bei irgendeinem deutschen Chemiekonzern. Evas Job beim Fernsehen verhalf mir dagegen in der Schule zu einer Prominenz, die ich aus eigenen Stücken nie erreicht hätte.

Klein, dürr und unscheinbar, wie ich war, hätten sich die meisten meiner Mitschüler höchstens für meine Lateinhausaufgaben interessiert. Mit meiner Brille – Drahtgestell, dicke Gläser – sah ich zugegebenermaßen aus wie eine Oberstreberin.

Nächstes Jahr würde ich Kontaktlinsen bekommen, hatte mir Eva versichert, die diese Probleme als Teenager ganz sicher nicht gehabt hatte. Mit ihren langen Beinen, ihrer Größe, ihrer schlanken Statur und dem hellblonden Haar, das ihr in leichten Wellen über die Schultern fiel, entsprach sie dem klassischen Schönheitsideal, nach dem sich viele Männer umdrehten. Für mich gab es keinen Zweifel, dass Lisa später einmal ganz in ihre Richtung schlagen würde – sie sah schon jetzt aus wie Eva im Miniaturformat. Der einzige Unterschied war, dass Lisas Haut im Sommer einen satten Braunton annahm, während Evas Teint nur um wenige Nuancen dunkler wurde.

Auch ich hatte Papas Pigmente geerbt, kam aber ansonsten wohl eher nach meiner eigenen Mutter. Sie hieß Esther und war keine ein Meter sechzig groß, dabei sehr dünn. Genauso wie ich hatte sie eine sehr prägnante Nase, schmale Lippen und braune Locken, die meiner Erfahrung nach nur Ärger machten. Es waren nicht diese schönen, sanften Wellen, mit denen Hollywood-Stars über den roten Teppich schwebten, sondern ein drahtiges, robustes Gewirr aus schlammbraunen Schlingen, an denen sogar ein cremiger Conditioner abperlte wie Mineralwasser auf einer Plastiktischdecke. Ich hasste meine Haare, und ich war sicher, dass es meiner Mutter ebenso ging. Warum sonst trug sie sie auf jedem Foto zu einem dicken Pferdeschwanz geflochten?

Ich kannte sie nur von diesen Fotos. Bei meiner Mutter war eine aggressive Art von Brustkrebs diagnostiziert worden, als ich gerade einmal ein Jahr alt war. Zwei Chemotherapien und einige Monate später hatten die Ärzte aufgegeben. Bereits in dieser Zeit hatte sich Eva, die seit der gemeinsam absolvierten Journalistenschule Esthers beste Freundin war, um mich gekümmert. Wenn ich mich an meine frühe Kindheit erinnerte, dann an irgendetwas, was ich mit Eva erlebt hatte.

Als ich in etwa so alt war wie Lisa heute, haben mein Papa und sie geheiratet. Für mich hatte sich damals nichts wesentlich verändert. Eva war auch vorher fast täglich bei uns gewesen.

»Lea, geh mit mir ins Wasser!«

Lisa, die eine Weile im Sand gespielt hatte, stand nun wieder vor meiner Liege. Sie streckte mir ihre Schwimmflügel entgegen, als wäre für sie von vornherein klar, dass ich einwilligte.

»Nein.«

Die Selbstverständlichkeit, mit der sie alles einforderte, was ihrem Vergnügen diente, war mir ein Dorn im Auge. Außerdem trug ich ihr die Sache mit den Flipflops nach. Und überhaupt konnte ich sowieso nicht ins Wasser – was vielleicht auch der Hauptgrund für meine schlechte Laune war.

Während des Flugs nach Heraklion hatte ich plötzlich Bauchschmerzen bekommen. Erst dachte ich, es läge daran, dass ich nicht gefrühstückt hatte. Um fünf Uhr früh brachte ich einfach noch keinen Bissen herunter. Doch selbst nach dem Snack im Flugzeug waren die Krämpfe nicht vergangen. Auf der Toilette am Flughafen bemerkte ich dann die Misere: ein tiefroter Fleck in meiner Unterhose. Auch mein Sommerrock hatte schon etwas davon abgekriegt. Ausgerechnet zu Beginn unseres Urlaubs hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben meine Tage bekommen!

Am liebsten hätte ich diese Toilette nie wieder verlassen, so unangenehm war mir das alles. Eva stattete mich prompt mit Binden und Tampons aus, und mein Vater versorgte mich mit Ibuprofen, um meine Bauchschmerzen einzudämmen.

Trotzdem kämpfte ich auf dem Weg zum Hotel mit den Tränen, was keiner verstand – nicht einmal ich selbst. Ich fühlte mich einfach nur elend.

Noch elender fühlte ich mich später bei dem Versuch, einen Tampon einzuführen. Es funktionierte einfach nicht! Es tat weh, es brannte, aber es klappte nicht. Und deshalb lag ich bei dreißig Grad im Schatten nun mit einer dicken Binde zwischen den Beinen missmutig auf dieser Liege und badete in meiner Unzufriedenheit anstatt im Meer. Dass Lisa trotzdem immer wieder versuchte, mich ins Wasser zu zwingen, kam mir schon wie ein perfides Spiel vor. Machte es ihr Spaß, mich zu ärgern?

»Leaaaa.« Sie zog an meinem Arm. »Komm schon! – Ich will baden!«

»Frag deine Mama.«

Ich konnte Evas kurzen, strafenden Blick in meinem Rücken spüren.

»Ich will aber mit dir baden!«

Lisa schob ihre Unterlippe nach vorne und sah mich einfach nur an. Sie machte das immer, wenn sie etwas erreichen wollte. Meistens hatte sie damit Erfolg. Kaum jemand konnte diesem blondlockigen Engel mit der Stupsnase widerstehen. Besonders wenn Ada, unsere Haushälterin, mit ihr die Einkäufe erledigte, hatte sie mit ihrer Masche Erfolg. Fast überall bekam sie Bonbons, Lutscher oder Schokolade zugesteckt. Ich dagegen ging immer leer aus und konnte mich auch nicht erinnern, dass mir in Lisas Alter so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Meine Schwester verstand es einfach, sich in Szene zu setzen. Wenn sie nicht ihre Unterlippe nach vorne schob und die Augen aufriss, setzte sie ein niedliches Lächeln auf, klimperte mit ihren langen Wimpern. Obgleich sie sehr auf Eva fixiert war, genoss sie es offensichtlich, im Mittelpunkt zu stehen, und plauderte mit jedem, der sie ansprach. Auch Papa war ihr völlig verfallen. Sie war genau das Kind, das ich nie sein würde. Sie war ein echter Sonnenschein: fröhlich, heiter, sehr aktiv und naseweis.

»Ich will aber baden«, nörgelte Lisa weiter, und Eva sah sich jetzt bemüßigt, einzuschreiten: »Später, Engelchen. Warte noch ein bisschen, dann geht die Mama mit dir ins Wasser.«

»Ich will aber jetzt

Ich griff demonstrativ nach meinem Buch. Eva studierte ihre Zeitschrift, als ginge es darum, den Inhalt auswendig zu lernen. Mein Vater schnarchte. Schließlich ließ sich Lisa in den Sand fallen und füllte ohne großen Elan ihre Förmchen.

Das deutsche Ehepaar hinter uns zankte sich gerade darüber, wer von beiden dem jeweils anderen einen Kaffee aus der Taverne holen sollte. Er rechnete ihr vor, dass er schon zweimal mehr gegangen war als sie; sie hielt ihm entgegen, dass sie dafür den Imbiss vom Supermarkt besorgt hatte. Das Ganze ging mich zwar nichts an, aber das Gemecker half mir nicht gerade dabei, mich in die Fluchtgeschichte zu vertiefen.

Die kleine Gruppe junger Italienerinnen, die fast die ganze erste Liegenreihe belegt hatte, war vom Mittagstisch an den Strand zurückgekehrt und schnatterte genauso laut durcheinander wie am Vormittag. Genervt legte ich das Buch zur Seite.

Mir war heiß. Das Meer lag nur ein paar Schritte entfernt. Doch das eklige Polster zwischen meinen Beinen hielt mir unweigerlich in Erinnerung, warum Baden keine Option war. Mir fiel ein, dass ich es seit dem Vormittag nicht mehr gewechselt hatte. Ich hätte in die Taverne hinter uns verschwinden können. Aber die Vorstellung, dort auf der Toilette mit einer blutigen Binde nicht zu wissen wohin, war der Gipfel an Peinlichkeit.

Ich beschloss, ins Hotelzimmer zu gehen. Aus der großen gemeinsamen Familienbadetasche fischte ich den Schlüssel zu unserem Appartement heraus und meldete mich bei meinen Eltern ab – bei Eva vielmehr, denn das tiefe Schnarchen meines Vaters verriet, dass er wieder im Reich der Träume weilte. Dann zog ich mein T-Shirt über das Bikinioberteil, schlüpfte in die noch immer feuchten Flipflops und wollte gerade losmarschieren, als Lisa quäkte: »Ich hab Hunger. Ich will ein Eis!«

Eva hob den Kopf.

»Dann gehe mit Lea mit und hol es dir am Hotelkiosk. Ihr könnt es auf das Zimmer schreiben lassen.«

Ich verdrehte die Augen. Das hatte gerade noch gefehlt: Lisa, die mir in ihrer anhänglichen Art bis ins Badezimmer folgen würde. Oder aber draußen vor der Tür herumheulte, weil ich hinter mir abgesperrt hatte. »Muss das sein?«, erwiderte ich gequält.

Eva schien zu begreifen, weshalb ich die Kleine nicht dabei haben wollte, und sagte: »Na gut. Dann gehst du eben alleine, und wenn du wiederkommst, fragt ihr in der Taverne nach einem Eis.«

»Aber ich hab jetzt Hunger!«

Ohne mich noch einmal umzudrehen, machte ich mich auf den Weg – vorbei an den Liegen, vorbei an den Surfbrettern, die die Segelschule weiter hinten stapelte, vorbei an der Taverne links und dem Bistro rechts. Dann stand ich auf der schmalen Straße, die sich durch den Ferienort schlängelte und auf der sich abends Touristen, Reisebusse und Motorräder drängten.

Jetzt war wenig los. Die Hitze flimmerte über dem Asphalt. Ein Lastwagen mit Melonen ratterte an mir vorbei; eine Griechin hob ihr Baby aus einem gerade geparkten Auto. Die Läden, die fast bis Mitternacht die Urlauber anlockten, hatten die Rollgitter nach unten gezogen. Nur der Supermarkt war geöffnet. Eine Frau in knappen Shorts, die überhaupt nicht zu ihrer Figur passten, nahm sich gerade eine Cola-Dose aus dem Getränkekühlschrank am Eingang, als ich daran vorbei ging.

Das Hotel lag zwei Häuser weiter – ein Großkomplex mit drei Pools, zwei Bars und einem Restaurant, das wir nur für das Frühstücksbuffet betraten. Meine Eltern konnten Hotelessen nichts abgewinnen.

Im Zimmer war es angenehm kühl. Ich wechselte schnell meine Binde und warf mich aufs Bett. Der Zimmerservice hatte bereits für Ordnung gesorgt. Es roch nach Putzmittel, aber auch nach dem Weichspüler, mit dem das Bettzeug gewaschen worden war.

Eine Weile lag ich einfach nur auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke, in der sich leichte Risse abzeichneten. Voller Neid dachte ich an Tina und Nicki, die in Kroatien sicher viel Spaß hatten. Tina und Nicki beim Wasserskifahren und Surfen, wie sie am Lagerfeuer hockten und zur Gitarre Pop-Songs sangen, mit ein paar Jungs. Denn dieses Pfadfinderlager war natürlich eines dieser Camps, an denen auch Jungs teilnahmen. Bei der Vorstellung war ich fast schon froh, nicht dabei zu sein. Denn bereits das vergangene Schuljahr hatte mich schmerzlich gelehrt, was passierte, wenn Tina und Nicki Gesellschaft von Jungs bekamen: Sie blendeten mich einfach aus.

Stattdessen kicherten sie herum wie alberne Kleinkinder, starrten die Jungs an wie Lisa, wenn sie irgendwas wollte, und steckten anschließend die Köpfe zusammen, um sich zu beraten, ob Jan, Tom, Niklas oder Daniel wohl mit ihnen gehen wolle.

Ich fand das einfach nur bescheuert, und die Jungs interessierten mich nicht. Mir reichten schon die Exemplare aus unserer Klasse, die uns im Schulhof immer dummes Zeug hinterherriefen oder Matching-Listen erstellten, nach denen sie die Miss 7c kürten. Miss 7c mit 35 von 35 möglichen Punkten war übrigens Vanessa Meier geworden, die es sogar geschafft hatte, in meine perfekte Lateinübersetzung beim Abschreiben sieben Fehler einzubauen. Tina landete mit 32 Punkten auf Platz 2.

Ich wurde mit 7 Punkten immerhin Vorletzte. Mit coolen Sprüchen konnte ich nicht dienen, aber wenigstens hielten sie mich für klug.

Dennoch, mein Urteil stand nach dieser Aktion fest: Mit solchen Vollidioten wollte ich nicht mehr als nötig zu tun haben! Im Pfadfindercamp in Kroatien wimmelte es bestimmt vor Blödmännern, und es war sicher wie das Amen im Gebet, dass Tina und Nicki zwar einerseits darüber schimpfen würden, wie dämlich doch alle seien, andererseits aber wieder grundlos kicherten, lächelten und mit ihren langen Haaren spielten, sobald nur einer von denen um sie herumzuschwänzeln begann.

Wenn das jetzt die Zukunft war – pickelige Penisträger, die erwarteten, dass man um ihre Aufmerksamkeit buhlte, dann konnte ich gleich ins Kloster gehen. Denn auf dieses Niveau würde ich mich nie herablassen! Ganz abgesehen davon, dass sich für mich sowieso keiner interessierte.

Insofern brauchte ich auch diese blöde Periode nicht und alles, was sonst noch zum Frausein dazu gehörte. Reine Zumutung, die dich am Leben hindert! Außerdem hatte ich noch nicht einmal einen richtigen Busen und nur einen Flaum von Schambehaarung. Wieso glaubte mein Körper überhaupt, dass er mir ab jetzt diesen monatlichen Mist bescheren musste?

Nun tu nicht so, als hätte dich ein tragischer Schicksalsschlag ereilt, hatte mir Eva gesagt, als sie mir die Binden in die Hand drückte. Das ist normal in deinem Alter; das gehört zum Erwachsenwerden dazu!

Vermutlich hatte sie in meinem Alter immer irgendwelche Rankings angeführt. Kein Wunder, dass sie sich nicht in mich hineinversetzen konnte.

In Augenblicken wie diesen wünschte ich mir, dass meine Mutter noch am Leben gewesen wäre. Sie hätte all meine Probleme bestimmt viel besser verstanden als Eva.

Oder nicht?

Auch in diesem Punkt kamen mir Zweifel, je länger ich darüber nachdachte. Aus Evas Erzählungen wusste ich, dass Esther in meinem Alter die erste Schülerzeitung an ihrer Schule gegründet hatte. Dass sie an der Uni eine Großdemo gegen Sexismus initiierte, nachdem sie dahinter gekommen war, dass ein Professor die Plätze in seinem Seminar bevorzugt an männliche Studierende vergab. Dass sie sich in der Hochschulpolitik stark machte und Fair-Trade-Kaffee in der Mensa durchsetzte.

Meine Mutter war vielleicht doch eines von den coolen Mädchen gewesen, wenn auch optisch keine Vanessa Meier. Möglicherweise hätte sie über meine Probleme bloß den Kopf geschüttelt.

Mir wurde bewusst, dass ich schon ziemlich lange im Hotelzimmer war. Wenn ich hier noch lange herumlag, würde sicher bald mein Vater vor der Tür stehen und vorwurfsvoll rufen: »Wo bleibst du denn so lange? Lisa will mit dir Eis holen gehen!«

Natürlich.

Und was meine kleine Schwester will, das bekommt sie.

Zurück am Strand, hatte sich wenig verändert. Die Italienerinnen schnatterten noch immer durcheinander, das deutsche Ehepaar las weiter Bild-Zeitung und Eva hatte inzwischen die Brigitte gegen die Vogue getauscht. Mein Vater döste weiter auf seiner Liege, war aber zwischendurch wohl im Wasser gewesen. Wasserperlen glitzerten noch frisch an seinem Oberkörper.

Ich verzog mich in den Schatten und stieß dabei gegen den metallenen Schirmständer. Mein Vater blinzelte in die Sonne.

»Na, habt ihr beide euch ein leckeres Eis geholt?«

Ihr beide?

Ich zuckte zusammen, sah mich um.

Jetzt registrierte ich, dass Lisa nicht hier war – nicht bei den Liegen, nicht am Meer. Ihre Gießkanne lag neben den Sandförmchen, genauso wie die Schwimmflügel.

Mir wurde heiß, dann eiskalt.

»Lisa?«, krächzte ich mit trockener Stimme.

Eva fuhr hoch. Die Vogue fiel ihr aus der Hand und in den Sand.

»Wo hast du Lisa gelassen?«

Mein Herz begann zu rasen.

»Ich … ich … aber sie ist doch bei euch geblieben!«

»Nein, das ist sie nicht!« Eva schrie jetzt. Angst stand in ihren Augen. »Ich habe dir doch nachgerufen, dass sie dir hinterherläuft!«

Das hatte ich nicht gehört. Mit blieben die Worte im Hals stecken. Mein Vater sprang von der Liege auf und ließ seinen Blick über den Strand schweifen.

»Verdammt!«, stieß er aus, als er Lisa nirgendwo entdeckte.

Wir begannen zu suchen. Am Strand, im Wasser, dann im Hotel. Schnell hatten wir Unterstützung. Zwei Kellner von der Taverne, ein paar Urlauber, eine Dame von der Hotelrezeption machten den Anfang. Irgendwann schien der ganze Ort nach ihr Ausschau zu halten. Wir fragten alle möglichen Leute. Keiner hatte meine Schwester gesehen.

Nach einer Stunde vergeblicher Suche schalteten wir die Polizei ein, die fast vierzig Minuten brauchte, bis sie vor Ort war.

Sie suchten mit; alarmierten sofort ihre Kollegen, die Küstenwache auf der gesamten Insel sowie alle See- und Flughäfen.

Doch Lisa blieb wie vom Erdboden verschluckt.