Wer sind wir? Oder besser: Was sind wir? Diese Frage beantworten wir gewohnheitsmäßig mit kollektiven Kategorien wie Religion, Nationalität, Hautfarbe, Klasse oder Kultur. Kwame Anthony Appiah zeigt, dass hinter den politischen Kategorien von Zugehörigkeit und Abgrenzung häufig paradoxe Zuschreibungen stehen. Er schöpft dabei aus einem schier unendlichen Reservoir historischen Wissens wie persönlicher Erfahrungen – und schafft mit dem Handwerkszeug des Philosophen Ordnung und Orientierung in einer oftmals unübersichtlichen und politisch brisanten Diskussion.

 

 

 

Kwame Anthony Appiah

 

IDENTITÄTEN

 

Die Fiktionen der Zugehörigkeit

 

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

 

 

Hanser Berlin

 

 

Für die Enkelkinder meiner Schwestern auf ihrem Weg in die Welt.

Spes mihi quisque.

 

 

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

 

Dietrich Bonhoeffer, »Wer bin ich?« (1945)

 

 

INHALT

 

 

 

Prolog

 

 

 

EINS

Eine kleine Theorie der Identität

ZWEI

Religion

DREI

Land

VIER

Hautfarbe

FÜNF

Klasse

SECHS

Kultur

 

 

Epilog

 

 

 

Dank

 

Adinkra-Symbole

 

Anmerkungen

 

Register

 

 

 

 

PROLOG

 

 

 

Über die Jahre und rund um den Erdball stellten Taxifahrer ihre Fachkenntnisse auf die Probe, beim Versuch mich einzuordnen. In São Paulo sah man in mir einen Brasilianer und sprach mich auf Portugiesisch an. In Kapstadt hielt man mich für einen Farbigen, in Rom für einen Äthiopier, und ein Londoner Taxifahrer mochte gar nicht glauben, dass ich kein Hindi spreche. Der Pariser, der meinte, ich käme aus Belgien, hielt mich möglicherweise für einen Maghrebiner; und wenn ich einen Kaftan trage, kann ich in Tanger ganz unauffällig in der Menge untertauchen. Verwirrt von der Kombination meines Akzents und meines Aussehens, fragen Taxifahrer in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien mich regelmäßig während der Fahrt, wo ich geboren bin. »In London«, sage ich ihnen dann, aber das meinen sie nicht. Eigentlich wollen sie wissen, woher meine Familie ursprünglich stammt. Oder noch freier heraus: Was sind Sie?

Die Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen – die Frage nach dem Wo oder gar dem Was – lautet, dass ich aus zwei Familien stamme, die recht weit voneinander entfernt lebten. Als ich geboren wurde, hatte meine Mutter seit ihrer Kindheit immer wieder in London gewohnt, aber ihre eigentliche Heimat lag – vielleicht nicht nach der Distanz, wohl aber nach der Atmosphäre – weit entfernt am Rande der Cotswold Hills, wo sie auf einem Bauernhof in einem winzigen Dorf an der Grenze zwischen Oxfordshire und Gloucestershire aufgewachsen war. Ihr Großvater hatte einen Genealogen beauftragt, die Familiengeschichte zu erforschen, und der hatte den Stammbaum seiner Ahnen über achtzehn Generationen hinweg bis auf einen normannischen König des frühen 13. Jahrhunderts zurückverfolgt, der nur zwanzig Meilen von dem Ort entfernt lebte, an dem meine Mutter gut siebenhundert Jahre später geboren wurde.

So war meine Mutter in gewissem Sinne eine Londonerin, aber in ihrem Herzen war sie eine Frau vom Lande, die lediglich in London arbeitete – obwohl sie während des Zweiten Weltkriegs und danach lange Zeit im Ausland verbracht hatte, in Russland, dem Iran und der Schweiz. So war es angesichts ihrer internationalen Erfahrung vielleicht nicht verwunderlich, dass sie eine Stelle in einer Londoner Organisation fand, die sich für den Austausch der Kulturen in Großbritannien und dem gesamten Empire einsetzte, und zwar hauptsächlich durch die Unterstützung von Studierenden aus den Kolonien. Die Organisation trug den Namen Racial Unity. So begegnete sie meinem Vater, einem Jurastudenten von der Goldküste. Er war ein antikolonialer Aktivist, Vorsitzender der West African Student’s Union und Repräsentant Dr. Kwame Nkrumahs in Großbritannien, der Ghana 1957, nur wenige Jahre nach meiner Geburt, in die Unabhängigkeit führen sollte. Man könnte sagen, sie praktizierte, was sie predigte.

Die andere Seite meiner Familie kam aus Ghana oder genauer aus Asante, einer Region im Herzen der heutigen Republik Ghana. Mein Vater konnte seine Abstammung, wie er uns lehrte, bis auf Akroma-Ampim zurückführen, einen General des 18. Jahrhunderts, der durch seine kriegerischen Erfolge das Anrecht auf einen großen Streifen Land am Rande des Königreichs erworben hatte. Er gehörte zu einer militärischen Aristokratie, die das Asante-Reich schuf, das diese Region zwei Jahrhunderte lang beherrschte – und sein Name ist einer der beiden Vornamen, die meine Eltern mir gaben. Mein Vater erzählte uns viel von seiner Familie. Obwohl sie eigentlich nicht wirklich unsere Familie war. Angesichts der patrilinearen Abstammung auf Seiten meiner Mutter glaubte man dort, wir gehörten zur Familie des Vaters, während man auf dessen Seite wegen der dort herrschenden matrilinearen Abstammung meinte, wir gehörten zur Familie meiner Mutter. Ich hätte den Taxifahrern also auch sagen können, dass ich gar keine Familie habe.

Dieses Buch ist voller Familiengeschichten, weil ich erkunden möchte, in welcher Weise solche Narrative unser Empfinden davon prägen, wer wir sind. Das Selbstgefühl jedes Menschen wird von seiner Herkunft geprägt, angefangen bei der Familie, aber darüber hinaus auch von vielen anderen Dingen – von der Nationalität, die uns an einen Ort bindet; vom Geschlecht, das uns jeweils mit der Hälfte der Menschheit verbindet; und von Kategorien wie Klasse, Sexualität, race und Religion, die über unsere lokalen Bindungen hinausreichen.

Ich habe mir vorgenommen, einige der Ideen zu erörtern, die den modernen Aufstieg der Identität geprägt haben, und einige der Irrtümer genauer zu betrachten, die wir regelmäßig im Hinblick auf Identität begehen. Ich glaube, Philosophen leisten ihren Beitrag zur öffentlichen Diskussion des moralischen und politischen Lebens nicht, indem sie Ihnen sagen, was Sie zu tun haben, sondern indem sie Begriffe und Theorien bereitstellen, mit deren Hilfe Sie selbst entscheiden können, was Sie denken wollen. Ich werde zahlreiche Behauptungen aufstellen, aber so entschieden ich sie auch vertrete, sollten Sie doch niemals vergessen, dass ich sie Ihnen vorstelle, damit Sie selbst im Lichte Ihres Wissens und Ihrer eigenen Erfahrung darüber befinden. Meine Hoffnung ist es, Gespräche zu beginnen, nicht zu beenden.

Ich werde keine Erklärung dafür anbieten, weshalb das Reden über Identität während meiner Lebenszeit geradezu explodiert ist – das ist zwar eine interessante Frage, allerdings eher für Ideen- und Sozialhistoriker. Dass Vorstellungen von Identität in der Moderne eine derart herausragende Bedeutung erlangt haben, werde ich als gegeben hinnehmen, aber ich werde einige der Annahmen darüber in Frage stellen. Ich möchte Sie davon überzeugen, dass ein Gutteil unseres heutigen Denkens über Identität von Bildern geprägt ist, die in diversen Hinsichten wenig hilfreich oder rundheraus falsch sind. Zu anderen, hilfreicheren und näher bei der Wahrheit liegenden Bildern zu gelangen löst noch keine politischen Probleme. Ich denke jedoch, unsere Diskussionen würden dadurch produktiver, vernünftiger und vielleicht sogar weniger feindselig. Das ist jedenfalls meine Hoffnung. Rücksichtsvolle Diskussionen über Fragen, die tiefe Gefühle in uns ansprechen, sind von größter Bedeutung, wenn wir im Einklang miteinander leben wollen.

Im größten Teil meines erwachsenen Lebens spielten drei Faktoren die wichtigste Rolle, wenn ich jemandem zum ersten Mal begegnete: Ich bin ein Mann, ich bin kein Weißer, und ich spreche Queen’s English, wie man dies früher nannte. Hier geht es um die Kategorien Gender, race, Klasse und Nation. Es ist heute allerdings nur allzu natürlich, dass all diese Merkmale von derselben Art sind. Sie alle sind, wie wir heute sagen, eine Frage der Identität. Und wir alle unterstellen, dass Identitäten wie diese nicht nur bestimmen, wie andere Menschen auf mich reagieren, sondern auch, wie ich mich selbst sehe.

Fünf der nachfolgenden Kapitel konzentrieren sich jeweils auf eine Art von Identität: Religion, Heimat, Hautfarbe, Klasse und Kultur. Aber es dürfte hilfreich sein, gleich zu Beginn etwas über die äußerst naheliegende Frage zu sagen, die diese disparate Aufzählung aufwirft: Was in aller Welt haben sie alle gemeinsam? Oder kurz gesagt, wie entstehen Identitäten? Mein eigenes Nachdenken über diese Dinge hat mich mit den Jahren zu einer Antwort geführt, die mich in den nachfolgenden Ausführungen leiten wird. Es ist die Antwort eines Philosophen auf zwei miteinander zusammenhängende Fragen: Was sind Identitäten? Und warum sind sie überhaupt wichtig? Darum wird es im ersten Kapitel gehen – die Ausdrucksformen, Mechanismen und Motive der vielfältigen, von Menschen verwendeten Kategorisierungen zu erkunden.

Da manche kollektiven Identitäten hochgradig situationsbedingt sind, bedeutet »wir« in diesem Buch in aller Regel meine Leserinnen und Leser und ich, die wir alle in gewisser Weise mit Denkmustern verbunden sind, wie man sie bei gebildeten Menschen auf allen Kontinenten findet. Denn die intellektuellen Versuchungen, die ich zu bekämpfen versuche, sind solche, die ich selbst immer wieder an mir erlebe. Da ich mir eine Leserschaft vorstelle, die an vielen verschiedenen Orten lebt, erkläre ich gelegentlich, was einige von ihnen längst wissen dürften: was die Konfirmation für einen Anglikaner bedeutet; was ein Hindu-Gott ist; was die Sunna für Muslime darstellt. Bei einem Buch über ein breites Spektrum von Identitäten versteht es sich von selbst, dass man mit zahlreichen Mitlesern rechnen muss, die über unterschiedliche Erfahrungen verfügen und auf Wissen über unterschiedliche Dinge zurückgreifen.

Meine Hauptthese zu den fünf Formen von Identität in den Kapiteln zwei bis sechs lautet, dass wir mit dem Erbe von Denkweisen leben, die ihre moderne Gestalt im 19. Jahrhundert erhielten, und dass es höchste Zeit ist, sie mit den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu überdenken. Die europäischen und amerikanischen Intellektuellen, die im späteren 19. Jahrhundert die Anthropologie begründeten, neigten zu der Auffassung, die Religion sei von zentraler Bedeutung für die Dinge, die wir glauben, und dieser Gedanke ist auch in die allgemeine Kultur eingewandert. Ich werde dagegen die These vertreten, dass quer durch Raum und Zeit im Zentrum der Religion andere Dinge stehen als Glaubensinhalte. Und wenn wir erst einmal erkannt haben, dass den Glaubensinhalten keine zentrale Bedeutung zukommt, werden wir auch akzeptieren müssen, dass Schriften – als Quellen des Glaubens – weniger bedeutsam sind, als viele Menschen meinen.

Im Blick auf den modernen Staat, der von einer gleichfalls im 19. Jahrhundert entstandenen Form von Nationalismus geprägt wurde, sagen Recht und Commonsense, dass Völker ein Recht darauf haben, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen. Wir sprechen von Selbstbestimmung und Autonomie, von Unabhängigkeit und Freiheit. Ich werde jedoch die These aufstellen, dass auch hier an unseren Modellen etwas falsch ist, angefangen bei den Antworten, die wir auf die fundamentale Frage geben, was denn eine Ansammlung von Menschen zu einer Nation macht.

Die Unterscheidung von »Rassen« ist eine ewige Quelle von Problemen zwischen den Menschen, seit die Umrisse des modernen Denkens zu diesem Thema sich während des Aufstiegs neuer wissenschaftlicher Vorstellungen über den Menschen als Teil der Natur abzuzeichnen begannen. Diese Vorstellungen wuchsen im 19. Jahrhundert geradezu explosiv, ebenso wie die kulturelle Autorität der Biologie, der neuen Wissenschaft vom Leben. Ein Großteil des wissenschaftlichen Überbaus, der sich um die Kategorie Rasse herum entwickelte, wurde im 20. Jahrhundert wieder eingerissen, als Anthropologie und Biologie die Implikationen der von Darwin und Mendel vorgetragenen Ideen herausarbeiteten und in der Evolutionstheorie, der Populationsbiologie und der Genetik eine Entdeckung nach der anderen gemacht wurde. Doch die Welt jenseits der Wissenschaften hat davon nicht sonderlich viel zur Kenntnis genommen. Allzu viele von uns sind weiterhin gefangen in einer gefährlichen Kartografie der Hautfarben.

Das Problem mit der im fünften Kapitel erörterten Klassenzugehörigkeit liegt nicht so sehr darin, dass wir ein falsches Bild davon hätten, als vielmehr in der Tatsache, dass wir hier mit einer ganzen Reihe inkonsistenter oder widersprüchlicher Bilder operieren. Und die einflussreichste Lösung, die wir uns für Probleme im Zusammenhang mit der Kategorie Klasse ausgedacht haben, verschlimmert nur wie einst der Aderlass oder das Schröpfen der Ärzte des 18. Jahrhunderts das Leiden, das sie eigentlich heilen soll.

Ich werde nicht versuchen, die zahlreichen Irrtümer aufzuzählen, denen wir hinsichtlich unserer breiten kulturellen Identitäten erliegen, darunter nicht zuletzt auch die Idee des Westens als solcher. Hier sei nur gesagt, sie zeigen sich in der Vorstellung, ihre Herkunft mache Menschen entweder zu Erben oder zu Außenseitern der westlichen Zivilisation.

Wie wir in diesem Buch immer wieder sehen werden, bildet das Geschlecht – die wohl älteste Form menschlicher Identität – gleichsam die gemeinsame Schnittmenge der Probleme anderer Identitäten. Ein besseres Verständnis von Geschlechtsidentitäten, vor allem in ihrer sozialen Dimension, zu gewinnen – seit mehr als einer Generation das Anliegen der feministischen Philosophie – hilft uns auch beim Verständnis anderer Identitäten. Deshalb ist die Kategorie Gender von so zentraler Bedeutung für das erste Kapitel, in dem ich die allgemeine Vorstellung von Identität skizziere, auf die ich mich stütze. Aber jede Identität hat ihre eigenen Missverständnisse.

In allen fünf unten beschriebenen Testfällen erliegen wir einem Irrtum, den ich im ersten Kapitel beschreibe: der Annahme, im Kern jeglicher Identität gebe es eine tiefgründige Ähnlichkeit, die Menschen dieser Identität miteinander verbinde. Das ist falsch, sage ich und sage es immer wieder. Wie plausibel ich diesen Gedanken machen kann, wird von meinen Argumenten abhängen, doch auch von Details und von den vielen Geschichten, mit denen ich meine Thesen illustriere. Wir kommen nicht ohne Identitäten aus, aber wenn wir sie umgestalten möchten, müssen wir sie besser verstehen und uns von Irrtümern befreien, die oft schon mehrere hundert Jahre alt sind. Das Gefährliche an diesen Irrtümern hat viel mit der Tatsache zu tun, dass Identitäten uns voneinander trennen und gegeneinander stellen. Sie können Feinde der menschlichen Solidarität sein, Ursachen von Kriegen, Reiter zahlloser Apokalypsen von der Apartheid bis zu Völkermorden. Die Irrtümer sind jedoch auch von zentraler Bedeutung für die einigende Kraft, die Identitäten heute innewohnt. Wir müssen sie korrigieren, weil sie im besten Fall großen und kleinen Gruppen die Möglichkeit geben, etwas gemeinsam zu tun. Letztlich sind es Lügen, die verbinden.

 

 

EINS

 

 

 

Eine kleine Theorie der Identität

 

 

Warum bin ich so und nicht anders?

 

Stendhal, Rot und Schwarz (1830)